John le Carre
Dame, König, As, Spion
Aus dem Englischen von Rolf und Hedda Soellner
Titel der Originalausgabe: »Tinker, Tailor, Soldier, Spy«
Die Personen des Romans
In den Hauptrollen
Control
Percy Alleline
George Smiley
Peter Guillam
Bill Haydon
Roy Bland Toby Esterhase
Lauder Strickland Diana Dolphin
Ricki Tarr
SteveMackelvore
Lord Miles Sercombe
Oliver Lacon Inspektor Mendel
ehemals Chef des Circus, des Britischen Geheimdienstes neuer Chef des Circus ehemals Controls rechte Hand zur Zeit Chef der Skalpjäger in Brixton, Einsatzleiter des Teams unter Percy Alleline
Mitarbeiter von Bill Haydon
Leiter der Bankabteilung des Circus
die Gestrenge der Personalabteilung des Circus Außenagent im Fernen Osten, zu Guillams Section in Brixton gehörig
Außenagent in Paris
Staatssekretär in Whitehall
der Mann des Ministers
George Smileys Freund und Helfer
Sam Collins Jerry Westerby
Roddy
Martindale Karla, alias Gerstmann Gerald,
der »Maulwurf« Oberst Viktorow, alias Alexei Poljakow Boris
Irina
Mr. Thursgood
Jim Prideaux Max
Bill Roach Ann Camilla Ian
Connie Sachs
Mrs. Graham Pope
Manager eines Spielclubs
Sportjournalist
ein gefürchteter Schwätzer
der Große Geheimnisvolle auf der Gegenseite
sowjetrussischer Agent innerhalb des Circus Kulturattache der sowjetischen Botschaft in London
Mitglied einer russischen Handelsdelegation in Hongkong Boris' Frau
Direktor des Thursgoodschen Internats
Aushilfslehrer bei Mr. Thursgood ein tschechischer Babysitter a. D. ein schwieriger Zögling George Smileys schöne Frau Peter Guillams schöne Freundin Bill Haydons Freundin eine Dame mit phänomenalem Gedächtnis
Inhaberin des Hotels »Islay«
Ferner wirken mit
Angehörige beider Geheimdienste, Lehrerinnen, Lehrer und Schüler des Thursgoodschen Internats, einige Oxford-Professoren, Babysitter, Inquisitoren, Hausdamen, ein tschechischer General, eine tote Eule u.a.m.
Erster Teil
Jim Prideaux trifft im Thursgoodschen Internat ein und wird von einem Schüler adoptiert
Jim wäre nie zu Thursgood gekommen, wenn den alten Major Dover beim Taunton-Rennen nicht der Schlag getroffen hätte. Er fing dort ohne Einstellungsgespräch mitten im Quartal an - es war Ende Mai, obwohl man es dem Wetter nicht anmerkte. Vermittelt hatte ihn eine fragwürdige Agentur, die sich auf Aushilfslehrkräfte für Heimschulen spezialisierte, und er sollte die Fächer des alten Dover übernehmen, bis passender Ersatz gefunden wäre. »Er ist Linguist«, erklärte Thursgood im Lehrerzimmer, »ein Notbehelf«, und fegte kämpferisch die Haarlocke aus der Stirn. »Priddo.« Er buchstabierte den Namen »P-R-I-D-...« Französisch war nicht sein Fach, er konsultierte einen Zettel -»E-A-U-X, Vorname James. Ich glaube, bis Juli können wir uns mit ihm behelfen.« Der Lehrkörper konnte mühelos die Zeichen lesen. Jim Prideaux war ein armer Weißer aus dem Schulmeisterstand. Er gehörte der gleichen traurigen Gilde an wie die selige Mrs. Loveday, die einen Persischlamm-Mantel getragen und den Religionsunterricht in der Unterstufe erteilt hatte, bis ihre Schecks platzten; oder wie der selige Mr. Maltby, der Klavierlehrer, der mitten aus einer Chorübung abberufen worden war, um der Polizei bei ihren Nachforschungen behilflich zu sein, und ihr, nach allem was man wußte, noch heute behilflich war, denn Maltbys Reisekoffer lag noch immer im Keller und wartete auf seine Weisung. Einige Lehrer, vor allem Marjoribanks, waren dafür, daß man den Koffer öffnete. Er enthalte, sagten sie, verschwundene bekannte Kostbarkeiten: Aprahamians silbergerahmtes Bild seiner libanesischen Mutter zum Beispiel, Best-Ingrams Schweizer Armeemesser und Matrons Uhr. Aber Thursgood wehrte sich entschieden gegen ihr Drängen. Seit er die Schule von seinem Vater geerbt hatte, waren erst fünf Jahre vergangen, aber sie hatten ihn bereits gelehrt, daß manche Dinge am besten unter Verschluß bleiben.
Jim Prideaux kam an einem Freitag unter Regengüssen an. Die Schauer rollten wie Geschützrauch über die braunen Hänge der Quantocks herab und preschten dann über die leeren Kricketplatze gegen den Sandstein der alten Fassaden. Er kam kurz nach dem Lunch, in einem alten roten Alvis mit schrottreifem Wohnanhänger, der früher einmal blau gewesen war. Der frühe Nachmittag ist bei Thursgood eine friedliche Zeit, eine kurze Kampfpause im Rückzugsgefecht eines jeden Schultags. Die Jungens werden zur Mittagsruhe in ihre Schlafsäle geschickt, die Lehrer sitzen beim Kaffee im Lehrerzimmer und lesen Zeitung oder korrigieren Hefte. Thursgood liest seiner Mutter einen Roman vor. So kam es, daß Bill Roach als einziger von der ganzen Schule Jim ankommen sah, sah, wie der Dampf aus dem Kühler des Alvis brodelte, wie der Wagen den bröckeligen Fahrweg entlangkeuchte, die Scheibenwischer auf Hochtouren liefen und der Wohnanhänger durch die Pfützen hinterherrumpelte.
Roach war neu an der Schule und als lernschwach eingestuft, wenn nicht gar als geistesschwach. Thursgood war seine zweite Privatschule in zwei Halbjahren. Er war ein fettes, kurzbeiniges Kind mit Asthma und einem romantischen Herzen, und er verbrachte stets einen großen Teil der Ruhezeit damit, keuchend am Fußende seines Bettes zu knien und durchs Fenster zu schauen. Seine Mutter lebte in Bath auf großem Fuß, sein Vater galt allgemein für vermögender als die übrigen Väter, eine Auszeichnung, die den Sohn teuer zu stehen kam. Als Kind einer gescheiterten Ehe war Roach von Natur aus ein guter Beobachter. Wie Roach beobachtete, hielt Jim nicht vor den Schulgebäuden an, sondern nahm die Kehre zum Wirtschaftshof. Er kannte also die Anlage. Roach kam später zu dem Schluß, daß Jim sich eingehend erkundigt oder Pläne studiert haben mußte. Auch im Hof machte er noch nicht halt, sondern fuhr weiter ins nasse Gras, schnell genug, um nicht steckenzubleiben. Dann über die Koppel in die Senke, Kopf voran und weg war er. Roach erwartete fast, daß der Wohnanhänger am Grabenrand abknicken werde, so schnell riß Jim ihn hinter sich her, aber er lüpfte nur das Hinterteil und verschwand wie ein riesiges Karnickel in seinem Loch.
Die Senke gehört zur Folklore des Thursgoodschen Internats. Sie liegt in einem Stück Ödland zwischen dem Obstgarten, dem Vorratshaus und den Stallungen. Der Betrachter sieht weiter nichts als eine grasbewachsene Bodenmulde mit Erdhügeln an der Nordseite, etwa von Bubenhöhe und mit Gestrüpp überwuchert, das im Sommer morastig wird. Diese Erdhocken verliehen der Senke ihre besondere Eignung als Spielplatz, und ihre Legende, die je nach der Phantasie jeder neuen Jungengeneration wechselt. Sie sind die Reste einer aufgelassenen Silbermine, sagt der eine Jahrgang und buddelt begeistert nach Reichtümern. Sie waren eine römisch-britannische Befestigung, sagt ein anderer und inszeniert Schlachten mit Stöcken und Lehmgeschossen. Für wieder andere ist die Senke ein Bombenkrater aus dem Krieg, und die Erdhocken sind sitzende Menschen, die durch die Explosion ums Leben kamen. Die Wahrheit ist viel prosaischer. Vor sechs Jahren, kurz ehe er mit der Empfangsdame des Schloßhotels durchbrannte, hatte Thursgoods Vater den Bau eines Schwimmbeckens angeregt und die Jungens dazu gebracht, daß sie eine große Grube aushoben, mit einem tiefen und einem flachen Ende. Aber die eingehenden Gelder reichten nie ganz aus, um das ehrgeizige Vorhaben zu finanzieren, und so wurden sie an andere Pläne verzettelt, zum Beispiel einen neuen Projektionsapparat für den Kunstunterricht und die Vorarbeiten zur Einrichtung einer Champignonzucht in den Schulkellern. Und sogar, sagten die Zyniker, als Nestpolster für ein gewisses, sündiges Liebespaar, das inzwischen nach Deutschland, die Heimat der Dame, entfleucht war. Jim ahnte nichts von diesen Zusammenhängen. Aus schierem Glück hatte er die einzige Stelle des Thursgood-Anwesens gewählt, die, jedenfalls für Roach, mit übernatürlichen Eigenschaften ausgestattet war. Roach blieb am Fenster, sah aber nichts mehr. Der Alvis samt Anhänger waren im toten Winkel verschwunden, und wären nicht die nassen roten Fahrspuren auf dem Gras gewesen, so hätte er sich fragen können, ob er das Ganze nicht bloß geträumt habe. Aber die Spuren waren da, und als die Glocke das Ende der Mittagsruhe anzeigte, zog er seine Gummistiefel an und stapfte durch den Regen zum Rand der Senke. Als er hinunterlinste, sah er Jim, der einen Militär-Regenmantel trug und einen höchst absonderlichen Hut, breitrandig, wie ein Safarihut, aber aus Haarfilz und an einer Seite mit verwegenem Piratenschwung hochgeschlagen, und das Wasser rann herab wie aus einer Regenrinne. Der Alvis stand im Wirtschaftshof. Roach erfuhr nie, wie Jim ihn aus der Senke herausgezaubert hatte, aber der Anhänger war noch drunten, er stand am tieferen Ende auf verwitterten Ziegelsteinen aufgebockt und Jim saß auf der Treppe, trank aus einem grünen Plastikbecher und rieb sich die rechte Schulter, als hätte er sie an etwas gestoßen, und der Regen troff aus seinem Hut. Dann hob sich der Hut, und Roach starrte plötzlich in ein äußerst grimmiges rotes Gesicht, das im Schatten der Hutkrempe und durch einen braunen, vom Regen zu zwei Fangzähnen verklebten Schnurrbart noch grimmiger wirkte. Das übrige Gesicht war kreuz und quer von zackigen Furchen durchzogen, so tief und verwinkelt, daß Roach in einem seiner Phantasieblitze zu dem Schluß kam, Jim müsse einmal irgendwo in den Tropen sehr ausgehungert gewesen sein und inzwischen wieder zugenommen haben. Der linke Arm lag noch immer über der Brust, die linke Schulter war noch immer zum Hals hochgezogen. Aber die ganze verdrehte Gestalt verhielt sich regungslos, sah aus wie ein festgefrorenes Tier: ein Edelhirsch, lautete Roachs optimistische Interpretation, etwas Besonderes.
»Wer zum Teufel bist denn du?« fragte eine sehr militärische Stimme.
»Sir, Roach, Sir. Ich bin ein Neuer.«
Das ziegelrote Gesicht musterte Roach aus dem Hutschatten hervor noch eine Weile. Dann entspannten sich seine Züge zur großen Erleichterung des Jungen zu einem wölfischen Grinsen, die linke Hand, die über der rechten Schulter gelegen hatte, nahm ihr langsames Massieren wieder auf, und gleichzeitig hob die Rechte den Plastikbecher für einen Schluck.
»Ein Neuer, so?« wiederholte Jim, noch immer grinsend, in den Plastikbecher. »Na, das trifft sich ja großartig.« Dann stand Jim auf, wandte Roach den verkrümmten Rücken zu und machte sich, wie es schien, an eine gründliche Untersuchung der vier Beine des Anhängers, eine sehr kritische Untersuchung, einschließlich mehrmaligen Testens der Aufhängung, mehrmaligen Neigens des seltsam bedeckten Kopfs und Unterschiebens von Ziegelsteinen in verschiedenen Lagen und an allen möglichen Stellen. Inzwischen trommelte der Frühlingsregen auf alles herab: auf Jims Mantel, seinen Hut und das Dach des grünen Anhängers. Und Roach stellte fest, daß Jims rechte Schulter sich während aller dieser Manöver überhaupt nicht bewegt hatte, sondern zum Hals hochgeschoben blieb, als steckte ein Felsbrocken unter dem Regenmantel. Er überlegte daher, ob Jim vielleicht einen Buckel habe und ob alle Buckligen solche Schmerzen hätten wie Jim. Und ferner nahm er ganz allgemein zur Kenntnis, daß Leute mit schmerzendem Rücken lange Schritte machten, es mußte mit dem Gleichgewicht zusammenhängen.
»Ein Neuer also? Na, ich bin kein Neuer«, fuhr Jim nun viel freundlicher fort und zog an einem Bein des Anhängers. »Ich bin ein alter Hase. So alt wie Rip van Winkle, wenn du's genau wissen willst. Älter. Irgendwelche Freunde? Hast du Freunde?«
»Nein, Sir«, sagte Roach einfach, in dem müden Ton, den Schuljungen immer anschlagen, wenn sie »nein« sagen und jede positive Reaktion den Fragestellern überlassen. Von Jim kam jedoch überhaupt keine Reaktion, und Roach vermutete in jäher Hoffnung in ihm eine verwandte Seele.
»Mein Vorname ist Bill«, sagte Roach. »Bill bin ich getauft, aber Mr. Thursgood nennt mich William.«
»Bill ist schon in Ordnung.«
»Ja, Sir.«
»Hab' eine Menge Bills gekannt. Waren alle in Ordnung.« Damit war gewissermaßen die Bekanntschaft geschlossen. Jim schickte Roach nicht weg, also blieb Roach am Grabenrand stehen und linste durch seine regenverschmierten Brillengläser hinunter. Die Ziegel, so stellte er bewundernd fest, waren vom Gurkenbeet geklaut. Einige waren schon immer ein bißchen locker gewesen, und Jim mußte sie noch ein wenig mehr gelockert haben. Roach fand es wundervoll, daß jemand, der gerade erst im Thursgood angekommen war, so kaltblütig sein konnte, sozusagen die Bausteine der Schule für seine eigenen Zwecke zu klauen, und er fand es doppelt Wundervoll, daß Jim für seine Wasserversorgung den Hydranten angezapft hatte, denn dieser Hydrant war Gegenstand einer besonders strengen Schulregel: Schon das Berühren wurde mit Prügeln bestraft. »He du, Bill. Du hast nicht vielleicht zufällig so was wie eine Murmel bei dir?«
»Wie bitte, Sir, eine was, Sir?« fragte Roach und beklopfte verwirrt seine Taschen.
»Murmeln, alter Junge. Runde Glasmurmeln, kleine Kugeln. Spielen Jungens heute nicht mehr mit Murmeln? Haben wir getan zu meiner Schulzeit.«
Roach hatte keine Murmel, aber Kerani in III C besaß eine ganze Sammlung, die per Flugzeug aus Beirut gekommen war. Er brauchte ungefähr fünfzig Sekunden, um ins Schulgebäude zurückzurasen, trotz heftiger Gegenwehr eine Murmel an sich zu reißen und keuchend wieder an der Senke einzutreffen. Dort zögerte er, denn für ihn war die Senke bereits Jims Revier, und Roach würde es nicht ohne Erlaubnis betreten. Aber Jim war im Wohnwagen verschwunden, also stieg Roach nach einer Weile zaghaft den Abhang hinunter und reichte die Murmel durch die Tür hinein. Jim sah ihn nicht sofort. Er nippte an seinem Becher und starrte durchs Fenster auf die schwarzen Wolken, die in allen Richtungen über die Quantocks jagten. Dieses Nippen war, wie Roach feststellte, eine schwierige Sache, denn Jim konnte nicht einfach aufrechtstehend schlucken, er mußte den ganzen entstellten Rumpf nach hinten kippen, um den richtigen Winkel zu erzielen. Inzwischen war der Regen wieder heftiger geworden, er prasselte wie Hagel auf den Wohnwagen. »Sir«, sagte Roach, aber Jim bewegte sich nicht. »Nix wie Scherereien mit einem Alvis, hat praktisch keine Federung«, sagte Jim endlich, mehr zum Fenster als zu seinem Besucher. »Man fährt praktisch mit dem Hintern auf der Straße, was? Haut jeden zum Krüppel.« Und kippte den Rumpf zurück und trank. »Ja, Sir«, sagte Roach und wunderte sich, daß Jim anzunehmen schien, er könne Auto fahren.
Jim hatte den Hut abgenommen. Das sandfarbene Haar war kurz gestutzt, stellenweise mußte die Schere zu tief hineingeraten sein. Diese Stellen waren fast sämtlich auf einer Seite, und Roach schloß daraus, daß Jim sich das Haar selber geschnitten hatte mit seinem heilen Arm, wodurch er noch einseitiger wirkte. »Ich bringe Ihnen eine Murmel«, sagte Roach. »Sehr nett von dir. Danke alter Junge.« Jim nahm die Murmel und ließ sie langsam in seiner harten staubigen Handfläche herumrollen, und Roach wußte sofort, daß er in allen möglichen Dingen sehr geschickt sein mußte; daß er zu den Leuten gehörte, die mit Werkzeug und mit Gegenständen im allgemeinen umzugehen wußten. »Nicht eben, siehst du, Bill«, erklärte er, die Augen noch immer auf die Murmel geheftet. »Schlagseite. Wie ich. Paß auf«, und wandte sich energisch zum größeren Fenster. Ein Stück Aluminiumrinne lief an der Unterseite entlang, die das Kondensationswasser auffangen sollte. Jim legte die Murmel hinein und sah zu, wie sie ans andere Ende rollte und auf den Boden fiel. »Uneben«, wiederholte er. »Hecklastig. So geht's nicht, wie? He, he, wo bist du denn hin, du kleines Biest?«
Der Wohnwagen war nicht besonders wohnlich, stellte Roach fest, während er sich bückte, um die Murmel zu suchen. Er hätte irgend jemandem gehören können, war allerdings peinlich sauber. Eine Koje, ein Küchenhocker, ein Gaskocher, eine Propangasflasche. Nicht einmal ein Bild seiner Frau, dachte Roach, der außer Mr. Thursgood noch nie einem Junggesellen begegnet war. An persönlichen Gegenständen entdeckte er lediglich einen Werkzeugbeutel aus Sackleinen, der an der Tür hing, einiges Nähzeug, das neben der Koje verwahrt war und eine selbstfabrizierte Dusche, bestehend aus einer durchlöcherten und säuberlich am Dach festgelöteten Keksdose. Und auf dem Tisch eine Flasche, die ein farbloses Getränk enthielt, Gin oder Wodka, dachte Roach, denn das trank sein Vater, wenn er in den Ferien die Wochenenden bei ihm verbrachte.
»Ost-West scheint okay, aber Nord-Süd hängt ganz eindeutig«,
erklärte Jim nach einem Test an der anderen Fensterrinne. »In was bist du besonders gut, Bill?«
»Ich weiß nicht, Sir«, sagte Roach hölzern.
»In irgendwas bist du bestimmt gut, das ist jeder. Wie steht's mit Fußball? Bist du gut in Fußball?«
»Nein, Sir«, sagte Roach.
»Bist du am Ende ein Stubenhocker?« fragte Jim zerstreut, ließ sich mit einem kurzen Grunzton aufs Bett nieder und nahm einen Schluck aus dem Becher. »Aber du siehst mir wirklich nicht aus wie ein Stubenhocker«, fügte er höflich hinzu. »Obwohl du ein Einzelgänger bist.«
»Ich weiß nicht«, wiederholte Roach und schob sich einen halben Schritt auf die offene Tür zu.
»Also, was ist dann deine starke Seite?« Er tat wiederum einen langen Zug. »In irgendwas mußt du gut sein, ist jeder. Meine starke Seite war Steine übers Wasser hüpfen lassen.« Nun war das eine besonders unglückliche Frage, denn sie beschäftigte Roach ohnehin fast den ganzen Tag. Ja, in letzter Zeit bezweifelte er sogar, ob er überhaupt irgendeinen Daseinszweck hatte. Bei Arbeit und Spiel fand er sich bedenklich ungenügend; sogar die kleinen Alltagspflichten in der Schule, wie Bettenbau und Kleiderbürsten, schienen seine Fähigkeiten zu übersteigen. Auch seine Frömmigkeit ließ zu wünschen übrig, wie die alte Mrs. Thursgood ihm vorgeworfen hatte, in der Kapelle schnitt er sogar Grimassen. Er nahm sich diese Unzulänglichkeiten sehr zu Herzen, am meisten aber nahm er sich das Scheitern der elterlichen Ehe zu Herzen, das er hätte vorhersehen und verhindern müssen. Er fragte sich sogar, ob er nicht direkt dafür verantwortlich sei, ob er zum Beispiel abnorm bösartig oder träge oder ein Störenfried sei und sein schlechter Charakter den Bruch herbeigeführt habe. In seiner letzten Schule hatte er versucht, sich durch Schreikrämpfe und simulierte Anfälle von progressiver Paralyse, an der seine Tante litt, verständlich zu machen. Seine Eltern hatten den Fall gemeinsam beraten, wie sie es in ihrer vernünftigen Art zu tun pflegten, und ihn in eine andere Schule gesteckt. Und als ihn nun hier, in dem engen Wohnwagen, diese Frage aus dem Mund eines zumindest halbgottgleichen Wesens unversehens ansprang, hätte sie ihn um ein Haar in die Katastrophe gestürzt. Er fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoß, sah, wie seine Brillengläser sich beschlugen und der Wohnwagen in einem Meer von Kummer zu versinken schien. Roach erfuhr nie, ob Jim es bemerkt hatte, denn dieser hatte sich plötzlich abgewandt, war zum Tisch gegangen und bediente sich nun aus dem Plastikbecher, wobei er rettende Bemerkungen von sich gab.
»Also, ein guter Beobachter bist du mal auf jeden Fall, alter Junge. Das sind wir Eigenbrötler alle, haben keinen, auf den wir uns verlassen können, was? Außer dir hat mich kein Mensch entdeckt. Ganz schöner Schreck, steht da droben wie vom Himmel gefallen. Hab' gedacht, du bist ein Juju-Mann. Bill Roach ist der beste Beobachter im ganzen Stall, wetten? Wenn er seine Brille aufhat. Wie?«
»Ja«, stimmte Roach dankbar zu, »das bin ich.«
»Dann bleib jetzt mal hier und beobachte«, befahl Jim und stülpte sich den Safari-Hut wieder auf den Kopf, »während ich rausgehe und die Beine reguliere. Willst du?«
»Ja, Sir.«
»Wo ist die Murmel?«
»Hier, Sir.«
»Du rufst, wenn sie rollt, ja? Nord, Süd, eben in welcher Richtung,
verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Weißt du, wo Norden ist?«
»Hier«, sagte Roach prompt und streckte blindlings den Arm aus.
»Richtig. Also, du rufst, wenn sie rollt«, wiederholte Jim und verschwand in den Regen. Kurz darauf fühlte Roach den Boden unter seinen Füßen schwanken und hörte einen Aufschrei des Schmerzes oder der Wut, als Jim sich mit einem widerspenstigen Bein abquälte.
Im Lauf dieses Sommerquartals ehrten die Jungens Jim durch die Verleihung eines Spitznamens. Erst nach mehreren Anläufen fanden sie das Richtige. Sie hatten es mit Wüstenfuchs probiert, was den militärischen Einschlag traf, sein gelegentliches harmloses Fluchen und seine einsamen Streifzüge in die Quantocks. Trotzdem setzte Wüstenfuchs sich nicht durch, und sie versuchten Pirat und eine Weile Gulasch. Gulasch wegen seiner Vorliebe für heiße Gerichte, des Geruchs nach Gewürzen und Zwiebel und Paprika, der ihnen in Schwaden entgegenschlug, wenn sie auf ihrem Weg zur Abendandacht im Gänsemarsch an der Senke vorüberzogen. Gulasch wegen seines vollendeten Französisch, dem angeblich etwas Lasches anhaftete. Spikely aus Fünf B konnte es täuschend nachahmen: »Du hast die Frage gehört, Berger. Was blickt Emil an?« Eine ruckartige Bewegung der rechten Hand. -»Starr mich nicht so an, alter Junge, ich bin kein Juju-Mann. Qu'estce qu'il regarde, Emile, dans le tableau que tu as sous le nez? Mon cher Berger, wenn du jetzt nicht bald einen anständigen französischen Satz zusammenbringst, je te mettrai tout de suite a la porte, tu comprends, du Knallkopf.«
Aber diese schrecklichen Drohungen wurden nie wahr gemacht, weder auf französisch noch auf englisch. Wunderlicherweise trugen sie sogar noch zu der Aura von Güte bei, die Jim bald schon umgab, eine Güte, die nur Jungensaugen an großen, kräftigen Männern entdecken können.
Trotzdem, Gulasch war auch nicht das Richtige. Es fehlte der Hinweis auf die innere Kraft. Auch war Jims leidenschaftliches Englischsein nicht berücksichtigt, das einzige Thema, mit dem man ihn todsicher vom Unterricht ablenken konnte. Knallfrosch Spikely mußte nur eine geringschätzige Bemerkung über die Monarchie fallenlassen, die Vorzüge eines fremden - vorzugsweise warmen - Landes in den Himmel heben, und schon schoß Jim das Blut ins Gesicht, und er ereiferte sich gute drei Minuten lang über das Privileg, als Engländer geboren zu sein. Er wußte, daß sie ihn hochnahmen, aber er konnte sich einfach nicht zurückhalten. Oft beendete er seine Erbauungspredigt mit einem reuigen Grinsen und murmelte etwas von Ablenkungsmanövern und Betragensnoten und langen Gesichtern, wenn gewisse Herrschaften nachsitzen müßten und das Fußballspiel versäumten. Aber England war seine große Liebe; im Ernstfall würde er niemanden ihretwegen leiden lassen.
»Bestes Land in der ganzen verdammten Welt!« hatte er einmal gebellt. »Weißt du, warum? Weißt du warum, Knallfrosch?« Spikely wußte es nicht, also nahm Jim ein Stück Kreide und zeichnete einen Globus. »Im Westen ist Amerika«, sagte er, »voll gieriger Narren, die ihr Erbteil versauten. Im Osten China-Rußland«, er zog keine Grenze: »Arbeitskluft, Gefangenenlager und ein verdammt langer Marsch nirgendwohin. In der Mitte ...« Schließlich verfielen sie auf Rhino.
Es war zum Teil eine Art Reim auf Prideaux, zum Teil eine Anspielung auf seine Geschicklichkeit als Selbstversorger und auf den Bewegungshunger, den sie ständig an ihm beobachteten. Wenn sie morgens vor Kälte zitternd an der Dusche Schlange standen, sahen sie schon Rhino die Coombe Lane heranstiefeln, wie er mit einem Rucksack auf dem Buckel von seinem Morgenmarsch zurückkam. Beim Zubettgehen konnten sie seinen einsamen Schatten durch das Kunstglasdach der Ballspielhalle erspähen, wo Rhino unermüdlich die Betonmauer attackierte. Und an warmen Abenden beobachteten sie ihn manchmal durch die Fenster des Schlafsaals beim Golf spielen, wobei er den Ball mit einem gräßlichen alten Schläger im Zickzack über den Platz trieb, oft, nachdem er ihnen aus einem besonders englischen Abenteuerbuch vorgelesen hatte: Biggles, Percy Westerman oder Jeffrey Farnol, die er auf gut Glück aus der schäbigen Bibliothek geholt hatte. Sooft ein neuer Schlag fällig war, warteten sie auf das anfeuernde Grunzen beim Ausholen, und sie wurden selten enttäuscht. Sie führten genau Buch über seinen Leistungsstand. Beim Kricket-Match hatte er fünfundzwanzig geschafft, ehe er einen Ball absichtlich zu Spikely ins Aus schlug. »Fang ihn, du Knallfrosch, fang ihn, hüpf! Gut gemacht, Spikely, braver Junge, dafür bist du schließlich da.«
Außerdem wurde ihm, trotz seines Hanges zur Toleranz, eine gesunde Witterung für kriminelle Veranlagungen bescheinigt. Er hatte sie bereits mehrmals bewiesen, am überzeugendsten aber ein paar Tage vor Ferienbeginn, als Spikely in Jims Papierkorb den Entwurf für die morgige Klassenarbeit fand und reihum an Anwärter für jeweils fünf neue Pennies auslieh. Mehrere Jungen zahlten ihren Obolus und lernten die Antworten eine qualvolle Nacht hindurch beim Schein der Taschenlampen unter der Bettdecke auswendig. Als jedoch die Klassenarbeit geschrieben wurde, legte Jim ein völlig anderes Aufgabenblatt vor. »Das da könnt ihr gratis haben«, bellte er und setzte sich hinters Pult. Und nachdem er seine Daily Telegraph entfaltet hatte, widmete er sich in aller Ruhe den jüngsten Weisheiten der Juju-Männer, wie er, soviel die Jungens begriffen hatten, so ziemlich alle Leute mit intellektuellen Ansprüchen benannte. Dann war die Sache mit der Eule passiert, die in ihrer Meinung über ihn einen besonderen Platz einnahm, denn dabei hatte der Tod eine Rolle gespielt, etwas, worauf Kinder verschieden reagieren. Da das Wetter unverändert kalt war, brachte Jim einen Eimer Kohlen mit ins Klassenzimmer, und an einem Mittwoch zündete er ein Feuer an, setzte sich mit dem Rücken davor und las ein dictee. Zuerst fiel ein bißchen Ruß durch den Kamin, was Jim nicht beachtete, dann kam die Eule herunter, eine ausgewachsene Schleiereule, die zu Dovers Zeiten gewiß manchen ungestörten Winter und Sommer hindurch dort oben genistet hatte und nun ausgeräuchert war, benommen und schwarz und erschöpft vom verzweifelten Herumschlagen im Rauchfang. Sie purzelte über die Kohlen und dann als zusammengesunkenes Häuflein auf den hölzernen Fußboden, flatterte und prustete noch ein bißchen und hockte dann da wie ein Teufelsbote, verkrümmt, aber atmend und glotzte aus starren, rußverklebten Augen auf die Jungens. Es war keiner unter ihnen, der sich nicht gefürchtet hätte; sogar Spikely, der Held, fürchtete sich. Nur nicht Jim, der den Vogel ohne viel Federlesens zusammenfaltete und wortlos mit ihm hinausging. Sie hörten nichts, obwohl sie die Ohren spitzten. Eine Weile später ertönte Wasserplätschern hinten im Korridor, wo Jim sich offenbar die Hände wusch. »Er war pinkeln«, sagte Spikely und erntete ein nervöses Gelächter. Aber als sie im Gänsemarsch das Klassenzimmer verließen, entdeckten sie, säuberlich gefaltet, säuberlich getötet, die Eule, die auf dem Misthaufen neben der Senke auf ihr Begräbnis wartete. Jemand hatte ihr, wie die Beherzteren feststellten, den Hals gebrochen. Nur ein Wildhüter, erklärte Sudeley, verstehe sich darauf, eine Eule so perfekt zu töten.
Im anderen Teil des Hauses Thursgood waren die Meinungen über Jim weniger ungeteilt. Der Geist Mr. Maltbys starb schwer. Matron erklärte ihn, genau wie es Roach tat, für heldenhaft und schutzbedürftig: es sei ein Wunder, daß er mit diesem Rücken das Leben meisterte. Marjoribanks sagte, er sei in betrunkenem Zustand unter einen Bus geraten. Es war auch Marjoribanks gewesen, der bei jenem für Jim so glorreichen Lehrermatch auf den Sweater hingewiesen hatte. Marjoribanks war kein Kricketspieler, war aber hinuntergegangen und hatte an Thursgoods Seite zugesehen.
»Glauben Sie, daß der Sweater koscher ist?« hatte er in scherzhaftem Tonfall gekräht, »oder glauben Sie, er hat ihn geklaut?«
»Leonard, das ist sehr unfair«, rügte Thursgood und klopfte seiner Labradorhündin die Flanken. »Beiß ihn, Ginny, beiß den bösen Mann.«
Aber als Thursgood dann wieder in seinem Arbeitszimmer war, hatte seine Heiterkeit sich gelegt, und er wurde äußerst nervös. Mit falschen Oxford-Leuten wußte er umzugehen, hatte er doch während seiner Amtszeit schon mit Altphilologen zu tun gehabt, die kein Griechisch konnten, und mit Geistlichen, die keinen Schimmer von Theologie hatten. Wenn man solche Burschen mit den Beweisen für ihren Betrug konfrontierte, so brachen sie zusammen, weinten und gingen fort, oder sie blieben für das halbe Gehalt. Männer jedoch, die ihre tatsächlichen Fähigkeiten geheimhielten, gehörten einer unbekannten Spezies an, von der er nur wußte, daß er sie nicht mochte. Nachdem er im Universitäts-Almanach nachgeschlagen hatte, rief er die Agentur an, einen gewissen Mr. Stroll.
»Um welche bestimmte Information geht es?« fragte Mr. Stroll unter gräßlichem Röcheln.
»Um keine bestimmte.« Thursgoods Mutter saß über einer Näharbeit und schien nicht zuzuhören. »Nur, wenn man einen schriftlichen Lebenslauf anfordert, dann möchte man einen vollständigen. Der keine Lücken aufweist. Nicht, wenn man die volle Gebühr bezahlt.«
An dieser Stelle kam Mr. Thursgood der verzweifelte Verdacht, er habe Mr. Stroll aus einem Schlummer geweckt, in den sein Gesprächspartner nun wieder zurückgesunken sei. »Ein sehr patriotisches Haus«, bemerkte Mr. Stroll endlich. »Ich habe ihn nicht wegen seines Patriotismus engagiert.«
»Er war im Krankenhaus«, keuchte Mr. Stroll weiter wie durch greuliche Schwaden von Zigarettenrauch. »Bettlägerig. Rückenmark.«
»Meinetwegen. Aber ich nehme an, er hat nicht die ganzen letzten fünfundzwanzig Jahre im Spital verbracht. - Touche«, flüsterte er seiner Mutter zu und hielt die Hand über die Sprechmuschel, und wiederum fragte er sich, ob Mr. Stroll nicht eingeschlafen sei.
»Sie haben ihn bloß bis Quartalsende«, rasselte Mr. Stroll endlich. »Wenn er Ihnen nicht paßt, feuern Sie ihn. Sie wollten eine Aushilfe, Sie haben eine Aushilfe gekriegt. Sie wollten was Billiges, Sie haben was Billiges gekriegt.«
»Sei dem, wie ihm wolle«, entgegnete Thursgood unverzagt, »aber ich habe Ihnen eine Gebühr von zwanzig Guineas gezahlt, mein Vater hat viele Jahre lang mit Ihnen gearbeitet, und ich habe ein Recht auf verbindliche Auskünfte. Sie schreiben hier - darf ich vorlesen? - Sie schreiben hier, vor seiner Versetzung auf verschiedenen Auslandsposten mit kommerziellen Angelegenheiten und Recherchen beschäftigt. Das gibt doch wirklich wenig Aufschluß über sein Berufsleben, wie?«
Die Mutter nickte beipflichtend über ihrer Näharbeit. » Überhaupt keinen«, sagte sie laut.
»Das wäre das erste. Ich möchte aber noch einiges.«
»Nicht zu viel, Darling«, warnte seine Mutter. »Ich weiß zufällig, daß er anno 1938 in Oxford war. Warum hat er nicht fertiggemacht? Was ist schiefgegangen?«
»Ich vermeine mich zu entsinnen, daß es um jene Zeit ein Zwischenspiel gegeben hat«, sagte Mr. Stroll nach einem weiteren Jahrhundert. »Aber Sie sind wohl zu jung, um sich daran zu erinnern.«
»Er kann schließlich nicht die ganze Zeit im Gefängnis gesessen haben«, sagte seine Mutter nach sehr langem Schweigen, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken.
»Er hat irgendwo gesteckt«, sagte Thursgood erbittert, und starrte über die windgepeitschten Gärten hinweg zur Senke.
Während der ganzen Sommerferien, in denen er sich mühselig zwischen dem einen und dem anderen Haushalt hin und her bewegte, zwischen freudigem Willkommen und Zurückweichen, machte Bill Roach sich Sorgen über Jim, ob sein Rücken schmerzte, wie er sich jetzt Geld verdiente, nachdem er niemanden mehr zu unterrichten und nur das Gehalt für ein halbes Quartal zum Leben hatte; und vor allem, ob er noch da sein würde, wenn das neue Quartal beginnen würde; denn er hatte das vage Gefühl, Jim lebe so gefährlich auf der Weltoberfläche, daß er jeden Augenblick herunter und ins Leere stürzen könnte; denn er befürchtete, Jim könne, wie er selber, von keiner natürlichen Schwerkraft festgehalten werden. Er rief sich ihre erste Begegnung wieder ins Gedächtnis, insbesondere die Frage nach seinen Freunden, und er bekam eine Heidenangst, daß er nicht nur die Liebe seiner Eltern, sondern auch die Zuneigung Jims verspielt hatte, vor allem wegen ihres Altersunterschieds. Und daß Jim daher weitergezogen war und sich bereits anderswo nach einem Gefährten umsah, die blassen Augen in anderen Schulen umherschweifen ließ. Er stellte sich ferner vor, daß Jim, genau wie er selber, eine tiefgehende Bindung gehabt hatte, die ihn enttäuscht hatte und für die er einen Ersatz suchte. Aber hier war Bill Roach mit seinem Latein am Ende: Er hatte keine Ahnung, wie Erwachsene einander liebten. Er konnte praktisch so wenig für ihn tun. Er schlug in einem medizinischen Werk nach und fragte seine Mutter über Bucklige aus, und er hätte zu gerne eine Flasche von seines Vaters Wodka mitgehen lassen, um sie im Thursgood als Köder auszulegen, aber er getraute sich nicht. Und als ihn schließlich der Chauffeur seiner Mutter an den verhaßten Stufen absetzte, blieb er nicht einmal mehr stehen, um sich zu verabschieden, sondern rannte, so schnell er konnte, zum Rand der Senke, und da stand zu seiner grenzenlosen Freude Jims Wohnwagen noch immer am alten Platz in der Mulde, um eine Nuance verdreckter, und daneben war ein frischer Erdhaufen aufgeschüttet, für Wintergemüse. Und Jim saß auf der Stufe, grinste zu ihm auf, als hätte er Bill kommen hören und das Willkommen-Grinsen schon bereit gehabt, ehe Bill am Rand der Senke erschienen war. In diesem Quartal erfand Jim einen Spitznamen für Roach. Anstatt Bill nannte er ihn nur noch Jumbo. Er gab dafür keinen Grund an, und Roach war, wie dies bei Taufen üblicherweise der Fall ist, nicht in der Lage, Einspruch zu erheben. Dafür ernannte Roach sich selber zu Jims Beschützer, als Ersatzmann für Jims verschwundenen Freund, wer immer dieser Freund gewesen sein mochte.
George Smiley entdeckt, daß unerwünschte Gesellschaft deprimierender ist als gar keine
Im Gegensatz zu Jim Prideaux war Mr. George Smiley von der Natur nicht für Eilmärsche im Regen ausgerüstet, schon gar nicht mitten in der Nacht. Er hätte, genau gesagt, die Endform sein können, für die Bill Roach der Prototyp war. Der kleine, rundliche und, schonend ausgedrückt, mittelalte Mann gehörte dem Aussehen nach zu Londons Sanftmütigen, die nicht das Erdreich besitzen werden. Seine Beine waren kurz, sein Gang war alles andere als beschwingt, die Kleidung teuer, schlechtsitzend und ungemein durchnäßt. Sein Mantel, der etwas von einer Witwentracht an sich hatte, war aus jenem schwarzen lockeren Gewebe, das wie geschaffen ist, den Regen aufzusaugen. Entweder waren die Ärmel zu lang oder seine Arme zu kurz, denn wie bei Roach, wenn er seinen Regenmantel trug, verschwanden die Finger fast in den Stulpen. Aus Eitelkeit trug er keinen Hut, da er zu Recht annahm, daß Hüte ihn lächerlich machten: »Wie ein Eierwärmer«, hatte seine schöne Frau bemerkt, nicht lange, ehe sie ihn das letzte Mal verlassen hatte, und ihre Kritik war ihm, wie so oft, geblieben. So hatte der Regen sich in großen, nicht abzuschüttelnden Tropfen auf seinen dicken Brillengläsern gesammelt und zwang ihn, den Kopf abwechselnd zu senken oder in den Nacken zu werfen, während er den Gehsteig vor den geschwärzten Arkaden der Victoria Station entlangeilte. Er war auf dem Weg nach Westen, zur Freistatt in Chelsea, seiner Wohnung. Sein Schritt war aus irgendeinem Grund unsicher und wäre Jim Prideaux aus dem Schatten auferstanden und hätte ihn gefragt, ob er Freunde habe, hätte er wahrscheinlich geantwortet, ein Taxi wäre ihm lieber. »Ein Schwätzer, dieser Roddy«, brabbelte er vor sich hin, als ein neuerlicher Wasserschwall gegen seine ausladenden Backen klatschte und dann in sein durchweichtes Hemd rann. »Warum bin ich nicht einfach aufgestanden und gegangen?« Zerknirscht rief Smiley sich noch einmal die Gründe für sein augenblickliches Elend in den Sinn und kam mit einer vom demütigen Teil seines Charakters untrennbaren Sachlichkeit zu dem Schluß, daß er sie ausschließlich selber geliefert hatte.
Es war von Anfang an ein vertrackter Tag gewesen. Er war zu spät aufgestanden, nachdem er am Vortag bis spät in die Nacht hinein gearbeitet hatte, eine Gewohnheit, die sich trotz seines hartnäckigen Widerstands eingenistet hatte, seit er im Jahr zuvor aus dem Dienst ausgeschieden war. Dann hatte er entdeckt, daß ihm der Kaffee ausgegangen war, und sich im Laden angestellt, bis ihm auch die Geduld ausging und er hochgemut beschloß, sich der Regelung seiner geschäftlichen Angelegenheiten zu widmen. Sein Bankauszug, der mit der Morgenpost gekommen war, hatte ihm gezeigt, daß seine Frau den Löwenanteil seiner monatlichen Pension abgehoben hatte: Na schön, entschied er, dann würde er irgend etwas verkaufen. Die Reaktion war unsinnig, denn er stand sich recht gut, und die obskure City-Bank, auf die seine Pension überwiesen wurde, zahlte sie ihm regelmäßig aus. Dennoch verpackte er eine frühe Grimmelshausen-Ausgabe, einen bescheidenen Schatz aus den Oxforder Jahren, und machte sich feierlich auf den Weg zu Heywood Hills Buchhandlung in der Curzon Street, wo er mit dem Inhaber dann und wann freundschaftliche Gelegenheitskäufe ausfeilschte. Unterwegs steigerte er sich noch mehr in seinen Unmut hinein und traf von einer Telefonzelle aus eine Verabredung mit seinem Anwalt für den Nachmittag.
»George, wie können Sie so vulgär sein? Von Ann läßt man sich nicht scheiden. Schicken Sie ihr ein paar Blumen nach und kommen Sie zum Lunch.«
Dieser Rat richtete ihn auf, und frohen Herzens näherte er sich Heywood Hill, nur um Roddy Martindale, der vom wöchentlichen Haarschnitt kam, geradewegs in die Arme zu laufen. Martindale hatte keinen legitimen Anspruch auf Smiley, weder beruflich noch gesellschaftlich. Er arbeitete auf der nahrhaften Seite des Foreign Office, und seine Aufgabe bestand darin, auswärtige Würdenträger zum Lunch zu führen, die kein Mensch sonst auch nur in seinen Holzschuppen eingeladen hätte. Er war ein flatterhafter Junggeselle mit grauer Mähne und jener Behendigkeit, wie sie nur Dicke haben. Er hatte ein Faible für Knopflochblumen und zartfarbene Anzüge, und er machte sich unter fadenscheinigsten Begründungen einer intimen Vertrautheit mit den großen rückwärtigen Räumen von Whitehall anheischig. Vor ein paar Jahren, kurz vor ihrer Auflösung, hatte er eine untergeordnete Whitehall-Gruppe zur Koordinierung von Nachrichten seiner Mitwirkung gewürdigt. Während des Krieges war er dank einer gewissen mathematischen Begabung in die Randbereiche der Geheimwelt eingedrungen; und einmal hatte er, wie er zu berichten nie müde wurde, zusammen mit John Landsbury vom Circus an einer höchst delikaten Chiffriersache gearbeitet. Aber der Krieg lag, wie Smiley sich zuweilen selber in Erinnerung rufen mußte, dreißig Jahre zurück. »Hallo Roddy«, sagte Smiley. »Nett, Sie zu sehen.« Martindale sprach mit jenem dröhnenden Von-Mann-zu-Mann-Ton der Oberklasse, der Smiley bei Urlaubsaufenthalten im Ausland mehr als einmal aus seinem Hotel vertrieben hatte: »Mein lieber Junge, wenn das nicht der Maestro persönlich ist! Mir hat man gesagt, sie säßen bei den Mönchen in St. Gallen oder sonstwo und schwitzten über alten Handschriften! Gestehen Sie auf der Stelle. Ich will genau wissen, was Sie treiben, jede kleinste Einzelheit. Geht es Ihnen gut? Lieben Sie England noch immer? Was macht die entzückende Ann?« - sein unsteter Blick flackerte die Straße auf und ab, ehe er auf dem eingewickelten Grimmeishausen unter Smileys Arm zur Ruhe kam - »eins zu hundert, daß das ein Geschenk für sie ist. Hab' schon gehört, daß Sie sie maßlos verwöhnen.« Er senkte die Stimme zu vernehmlichem Flüstern: »Hören Sie, Sie sind doch nicht wieder auf Kriegspfad? Sollte das alles nur Tarnung sein, George, nur Tarnung"?« Seine feuchte Zunge fuhr rasch in die Winkel des kleinen Mündchens, dann verschwand sie wie eine Schlange zwischen den Wülsten. So beging Smiley die Torheit, sich durch das Versprechen loszukaufen, daß sie noch am gleichen Abend gemeinsam am Manchester Square in einem Club essen würden, dem sie beide angehörten, den Smiley jedoch mied wie die Pest, nicht zuletzt, weil Martindale dort Mitglied war. Am Abend war er noch immer knüppelsatt vom Lunch im White Tower, denn sein Anwalt, ein alter Genießer, hatte entschieden, daß nur eine gewaltige Mahlzeit George von seinen Depressionen heilen könne. Martindale war, wenn auch auf einem anderen Weg, zur gleichen Entscheidung gelangt, und vier endlose Stunden lang hatten sie sich, bei Speisen, die Smiley anwiderten, Namen zugeworfen, als wären sie vergessene Fußballer: Jebedee, Smileys einstiger Tutor: »Ein schwerer Verlust für uns, weiß der Teufel«, murmelte Martindale, der, soviel Smiley wußte, Jebedee noch nicht einmal vom Sehen gekannt hatte. »Und so begabt für das Spiel, was? Einer der wirklich Großen, sag' ich immer.« Dann Fielding, der Altfranzose in Cambridge: »Ach, dieser köstliche Sinn für Humor. Scharfer Denker, ganz scharf!« Dann Sparke, der Orientalist, und schließlich Steed-Asprey, der eben diesen Club gegründet hatte, um Nervensägen wie Roddy Martindale zu entkommen. »Ich kannte seinen armen Bruder, wissen Sie, halb soviel im Kopf und das Doppelte an Muskeln. Alles Hirn ging an den ändern, weiß Gott.« Und Smiley hatte sich durch den Alkoholdunst diesen Unsinn angehört, »ja« und »nein« gesagt und »ein Jammer«, und »nein, er wurde nie gefunden«, und einmal zu seiner lebenslänglichen Beschämung, »na, na, Sie schmeicheln mir«, bis Martindale mit fataler Unabwendbarkeit auf aktuellere Ereignisse zu sprechen kam, auf den Machtwechsel und Smileys Ausscheiden aus dem Amt.
Wie vorherzusehen war, begann er mit Controls letzten Tagen: »Ihr alter Boß, George, Teufel noch mal, der einzige, der je seinen Namen geheimgehalten hat. Natürlich nicht vor Ihnen: vor Ihnen hatte er nie Geheimnisse, George, nicht wahr? Ein Herz und eine Seele, Smiley und Control, heißt es, bis ans Ende.«
»Zuviel der Ehre.«
»Zieren Sie sich nicht, George, ich bin ein alter Hase, vergessen Sie das nicht. Sie und Control waren so miteinander.« Die plumpen Finger deuteten kurz zwei verschlungene Ringe an. »Deshalb sind Sie auch geflogen, machen Sie mir nichts vor, und deshalb hat Bill Haydon Ihren Job gekriegt. Deshalb ist er Percy Allelines Mundschenk, und nicht Sie.«
»Wenn Sie's sagen, Roddy.«
»Das tue ich. Ich sage noch mehr. Vielmehr.« Als Martindale sich näher zu ihm beugte, erhaschte Smiley den Hauch einer der kultiviertesten Trumperschen Duft-Kreationen. »Ich sage noch folgendes: Ich sage, Control ist überhaupt nicht gestorben. Er wurde unlängst gesehen.« Mit einer flatternden Handbewegung erstickte er Smileys Proteste. »Lassen Sie mich ausreden. Willy Andrewartha hat ihn im Flughafengebäude von Johannesburg, in der Wartehalle, aus nächster Nähe gesehen. Keinen Geist. Fleisch und Blut. Willy kauft sich an der Bar ein Sodawasser gegen die Hitze, Sie haben Willy lang nicht mehr gesehen, er ist ein Faß. Er dreht sich um, und da steht Control direkt neben ihm, in so einem gräßlichen Burenkostüm. Sowie er Willy sieht, wird er schneeweiß und stürzt davon. Wie finden Sie das? Jetzt wissen wir also Bescheid, wie? Control ist überhaupt nicht gestorben. Er wurde von Percy Alleline und seiner Drei-Mann-Kapelle verjagt und hat sich nach Südafrika abgesetzt, Teufel noch mal. Na ja, man kann's ihm nicht verübeln, wie? Man kann's einem Menschen nicht verübeln, daß er an seinem Lebensabend noch ein bißchen Frieden möchte. Ich jedenfalls nicht.« Die Ungeheuerlichkeit dieses Gerüchts, das durch einen immer dicker werdenden Wall geistiger Erschöpfung zu ihm drang, verschlug Smiley einen Augenblick die Rede.
»Das ist doch lächerlich! Das ist die idiotischste Geschichte, die ich je gehört habe! Control ist tot. Er starb nach langer Krankheit an Herzversagen. Außerdem haßte er Südafrika. Er haßte jeden Ort mit Ausnahme von Surrey, dem Circus und Lords Cricket Ground. Wirklich, Roddy, Sie dürfen solche Gerüchte nicht verbreiten.«
Er hätte hinzufügen können, ich hab' ihn selbst eingescharrt, in einem lausigen Krematorium im East End, am letzten Heiligen Abend, allein. Der Pfarrer hatte einen Sprachfehler. »Willy Andrewartha war schon immer der gottverdammteste Lügner«, überlegte Martindale gänzlich ungerührt. »Ich sagte genau das gleiche zu ihm: purster Unsinn, Willy, Sie sollten sich schämen.« Und nahtlos weiter, als hätte er niemals in Gedanken oder Worten diese alberne Annahme geteilt: »Der Tschechen-Skandal, der war wohl der letzte Nagel zu Controls Sarg. Der arme Kerl, der in den Rücken geschossen wurde und in die Zeitungen kam, und der angeblich immer so dick mit Bill Haydon war. Ellis mußten wir ihn nennen, und so nennen wir ihn noch, nicht wahr, auch wenn wir seinen wirklichen Namen so gut kennen wie unsern eigenen.«
Listig wartete Martindale, daß Smiley seinen Trumpf daraufsetzte: Aber Smiley war nicht gesonnen, auf irgend etwas irgendeinen Trumpf zu setzen, also versuchte Martindale eine dritte Tour: »Irgendwie finde ich Percy Alleline als Chef nicht recht glaubhaft, Sie etwa? Ist es das Alter, George, oder nur mein angeborener Zynismus? Sagen Sie's mir, Sie sind ein so guter Menschenkenner. Ich glaube, Macht paßt einfach nicht zu Leuten, mit denen man aufgewachsen ist. Könnte das die Lösung sein? Es gibt so wenige, die mir heutzutage noch imponieren können, und der arme Percy ist ein so durchsichtiger Mensch, finde ich immer, vor allem nach diesem Reptil, Control. Diese ganze kernige Kumpanei, wie kann man so jemanden ernst nehmen? Man muß sich nur an ihn erinnern, wie er in den alten Tagen an der Bar im Travellers lungerte, an seiner Stummelpfeife nuckelte und den großen Tieren Drinks spendierte: also, wenn einer schon intrigieren muß, sollte er's raffinierter anfangen, meinen Sie nicht auch? Oder finden Sie, daß der Erfolg die Mittel heiligt? Was ist sein Trick, George, sein Geheimrezept?« Er sprach mit höchster Eindringlichkeit, beugte sich mit gierigen und erregten Augen über den Tisch. Nur Essen konnte ihn normalerweise in solche Erregung versetzen. »Sich mit den Fähigkeiten seiner Untergebenen schmücken, das ist wohl heutzutage das Führungsprinzip.«
»Wirklich, Roddy, ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Smiley matt. »Ich habe Percy nie als Größe gekannt. Nur als -« Er fand das Wort nicht mehr.
»Als Gernegroß«, half Martindale mit glitzernden Augen aus, »immer mit einem Auge auf Controls Purpurkleid, Tag und Nacht. Jetzt trägt er es, und der Mob liebt ihn. Wer ist also sein starker linker Arm, George? Wer verdient ihm seine Lorbeeren? Er macht sich fabelhaft, hört man von allen Seiten. Kleine Lesesäle in der Admiralität, kleine Ausschüsse mit komischen Namen schießen aus dem Boden, roter Teppich für Percy in allen Whitehall-Korridoren, die sein Fuß betritt, jüngere Mitarbeiter werden von oberster Stelle beglückwünscht, Leute, von denen man nie gehört hat, kriegen Orden für nichts und wieder nichts. Ich hab' das alles schon mal gesehen, wissen Sie.«
»Roddy, ich kann Ihnen nicht helfen«, wiederholte Smiley und schickte sich an, aufzustehen. »Sie überfordern mich, ehrlich.« Aber Martindale zwang ihn, sitzen zu bleiben, hielt ihn mit einer feuchten Hand am Tisch fest, während er noch schneller auf ihn einsprach.
»Also wer ist der Pfiffikus? Percy nicht, das steht fest. Und sagen Sie nicht, die Amerikaner vertrauten uns auf einmal wieder.« Der Griff wurde härter. »Das kluge Kind Bill Haydon: unser moderner Lawrence von Arabien. Genau, Bill ist es, Ihr alter Rivale.« Martindales Zunge streckte wiederum den Kopf heraus, erkundete das Terrain und zog sich zurück, wobei sie eine kleine Schneckenspur hinterließ. »Ich habe gehört, Sie und Billy hätten einst alles miteinander geteilt«, sagte er. »Orthodox war er ja nie, was? Genies sind das niemals.«
»Noch einen Wunsch, Mr. Smiley?« fragte der Kellner. »Oder Bland: der letzte Strohhalm der Nation, der Akademiker aus der Proleten-Presse.« Noch immer wollte er nicht lockerlassen. »Und wenn diese beiden nicht den Laden schmeißen, dann ist es jemand im Ruhestand, wie? Ich meine, jemand, der angeblich im Ruhestand ist, ja? Und wenn Control tot ist, wer bleibt dann noch übrig? Außer Ihnen?«
Sie zogen ihre Mäntel an. Der Garderobier war schon heimgegangen, sie mußten sich selber von den braunen Ständern bedienen.
»Roy Bland ist nicht aus der Proleten-Presse«, sagte Smiley laut. »Er war am St. Anthony's College in Oxford, wenn Sie's genau wissen wollen.«
Gott sei mir gnädig, etwas Besseres ist mir nicht eingefallen, dachte Smiley.
»Seien Sie doch nicht albern, mein Lieber«, fuhr Martindale ihn an. Smiley hatte ihn gelangweilt, er schaute mürrisch drein und wie jemand, den man übers Ohr gehauen hatte, traurige senkrechte Falten hatten sich in der unteren Wangenpartie gebildet. »Natürlich ist St. Anthony's eine Proleten-Presse. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß in der gleichen Straße eine Elite ausgebildet wird. Oder daß Bland Ihr Protege war. Jetzt ist er vermutlich Bill Haydons Protege - geben Sie ihm kein Trinkgeld, ich habe eingeladen, nicht Sie. Bill ist ihnen allen ein Vater, immer gewesen. Zieht sie an wie Bienen. Nun ja, er hat eben etwas Strahlendes, das, was manchen von uns fehlt. Star-Qualität nenne ich es, einer der wenigen. Es heißt, die Frauen liegen ihm buchstäblich zu Füßen, und das ist noch das wenigste.«
»Gute Nacht, Roddy.«
»Vergessen Sie nicht, Ann zu grüßen.«
»Bestimmt nicht.«
»Ich will's hoffen.«
Und jetzt goß es in Strömen. Smiley wurde naß bis auf die Haut, und Gott hatte zur Strafe sämtliche Taxis vom Antlitz Londons getilgt.
George Smiley kommt vom Regen in die Traufe
»Purer Mangel an Willenskraft«, schalt er sich und lehnte das Anerbieten einer Dame unter der Tür dankend ab. »Man nennt es Höflichkeit, aber in Wahrheit ist es nur Schwäche. Martindale, du Strohkopf. Du aufgeblasener, falscher, weibischer, nichtsnutziger . . .« Mit einem weiten Schritt setzte er über ein vermutetes Hindernis hinweg. »Schwäche«, wiederholte er, »und die Unfähigkeit, ein erfülltes Leben unabhängig von Institutionen zu führen . . .«, eine Pfütze entleerte sich säuberlich in seinen Schuh, »und emotionale Bindungen, die ihren Sinn längst überlebt haben. Als da sind meine Frau, der Circus, mein Leben in London. Taxi!«
Smiley stürzte vor, aber zu spät. Zwei Mädchen, die unter einem gemeinsamen Regenschirm kicherten, stiegen von der Fahrbahnseite ein. Er schlug völlig sinnlos den Mantelkragen hoch und setzte seinen einsamen Marsch fort. »Letzter Strohhalm der Nation«, brummte er wütend. »Proleten-Presse. Du schwülstiger, neugieriger, impertinenter . . .« Und dann fiel ihm ein, zu spät natürlich, daß er den Grimmeishausen im Club gelassen hatte. »O verdammt!« rief er sopra voce aus und hielt zur Bekräftigung in seinem Trab inne. »Verdammt, verdammt, verdammt.« Er würde sein Londoner Haus verkaufen. Das stand fest. Während er sich wiederum unter dem Vordach des Clubs eng an den Zigarettenautomaten drückte, um das Ende des Wolkenbruchs abzuwarten, hatte er diesen schwerwiegenden Entschluß gefaßt. Die Immobilienpreise waren in London ins Unermeßliche gestiegen, das hörte man von allen Seiten. Gut. Er würde verkaufen und mit einem Teil des Erlöses ein Cottage in den Cotswolds erstehen. Burford? Zu viel Verkehr. Steeple Aston, das war ideal. Er würde sich dort als harmloser Sonderling etablieren, als zerstreuter, zurückgezogen lebender Kauz mit ein paar liebenswerten Eigenschaften, zum Beispiel Selbstgespräche führen, wenn er durch das Städtchen schlenderte. Ein bißchen rückständig vielleicht, aber wer war das heutzutage nicht? Rückständig, aber der eigenen Zeit treu geblieben. Für jeden Menschen kommt schließlich der Moment, da er sich entscheidet: wird er vorwärtsgehen, wird er rückwärtsgehen? Es war nicht unehrenhaft, wenn man sich nicht von jedem modernen Lüftchen durcheinanderwehen ließ. Es war besser, Bestand zu haben, sich zu verschanzen, eine Eiche aus der eigenen Generation zu sein. Und falls Ann zu ihm zurückzukommen wünschte, würde er ihr die Tür weisen. Oder ihr nicht die Tür weisen, je nachdem, wie sehr sie zurückzukommen wünschte.
Von diesen Zukunftsbildern getröstet, kam Smiley zur King's Road, wo er auf dem Gehsteig stehenblieb, als wollte er hinüber. Zu beiden Seiten strahlende Schaufenster. Vor ihm seine heimatliche Bywater Street, eine Sackgasse, genau 117 Smileyschritte lang. Als er hier eingezogen war, hatten diese georgianischen Cottages einen bescheidenen, vergammelten Charme besessen, junge Paare hatten sich hier schlecht und recht mit fünfzehn Pfund pro Woche und einem steuerfreien, im Kellergeschoß versteckten, Untermieter durchgeschlagen. Jetzt schützten Stahlgitter ihre unteren Fenster, und vor jedem Haus verstellten drei Autos den Weg. Aus alter Gewohnheit hielt Smiley unter ihnen Musterung ab, prüfte, welche ihm bekannt waren und welche nicht; bei den unbekannten, welche von ihnen Antennen und zusätzliche Spiegel hatten, welche zu jenen geschlossenen Lieferwagen gehörten, wie Observanten sie gern benutzten. Es war zum Teil ein Gedächtnistest, zum Teil ein privates Spiel, um seine Wachsamkeit vor dem Verkümmern im Ruhestand zu bewahren, genau wie er unlängst die Namen der Geschäfte an seiner Busstrecke zum Britischen Museum auswendig gelernt hatte; genau wie er wußte, wie viele Stufen jeder Treppenabsatz in seinem Haus zählte und in welche Richtung sich jede der zwölf Türen öffnete.
Aber Smiley hatte noch einen anderen Grund, und der war Furcht, die geheime Furcht, die jeden Professionellen bis ins Grab verfolgt. Daß nämlich eines Tages, aus dem Dschungel einer Vergangenheit, in der er sich mehr Feinde gemacht haben mochte, als er selber noch wußte, einer von ihnen ihn finden und Abrechnung halten würde.
Am Ende der Straße führte eine Nachbarin ihren Hund spazieren; als sie ihn sah, hob sie den Kopf und wollte etwas sagen, aber er tat, als sähe er sie nicht, denn er wußte, sie würde von Ann anfangen. Er überquerte die Straße. Sein Haus lag im Dunkeln, die Gardinen waren so, wie er sie zurückgelassen hatte. Er stieg die sechs Stufen zur Vordertür hinauf. Seit Anns Abreise hatte ihn auch seine Putzfrau verlassen: niemand außer Ann hatte einen Schlüssel. An der Tür waren zwei Schlösser, ein Riegelschloß und ein Chubb-Schloß, und zwei Splinte seiner eigenen Herstellung, daumennagelgroße Stückchen Eichenholz, über- und unterhalb des Riegelschlosses in die Tür geklemmt. Ein Überbleibsel aus seiner Zeit im Außendienst. In letzter Zeit pflegte er, ohne zu wissen warum, diese Holzsplinte wieder einzuklemmen; vielleicht wollte er nicht, daß Ann ihn überraschte. Mit den Fingerspitzen stellte er fest, daß beide an ihrem Platz waren. Nach dieser Routineprüfung schloß er die Tür auf, schob sie nach innen und spürte, wie die Mittagspost über den Teppich rutschte. Was war heute fällig, fragte er sich. German Life and Letters? Philologie? Philologie war fällig, entschied er. Er knipste das Licht in der Diele an, bückte sich und warf einen Blick auf seine Post. Eine »beiliegende Rechnung« von seinem Schneider für einen Anzug, den er nicht bestellt hatte und der, wie er vermutete, im Moment Anns Liebhaber zur Zier gereichte; eine Rechnung von einer Garage in Henley für ihr Benzin - was hatten sie bloß in Henley zu suchen, abgebrannt, am neunten Oktober? - ein Brief von der Bank betreffs einer Vollmacht für Barabhebungen bei einer Zweigstelle der Midland Bank in Immingham, zugunsten von Lady Ann Smiley.
Und was zum Teufel tun sie in Immingham? begehrte er von diesem Schriftstück zu wissen. Wer um Gottes willen hatte je eine Affäre in Immingham gehabt? Wo war überhaupt dieses Immingham?
Er sann noch immer über diese Frage nach, als sein Blick auf einen unbekannten Regenschirm im Ständer fiel, einen seidenen mit handgenähtem Ledergriff und einem goldenen Ring ohne Initialen. Und mit einer Schnelligkeit jenseits jeder meßbaren Zeit durchfuhr ihn der Gedanke, daß dieser Schirm trocken war und daher vor sechs Uhr fünfzehn hierhergekommen sein mußte, vor Einsetzen des Regens, denn auch im Schirmständer war keine Nässe. Auch daß es ein sehr eleganter Schirm war und die Zwinge kaum verkratzt, obwohl er nicht neu war. Und daß der Schirm folglich einem agilen Mann gehören mußte, sogar einem jungen wie Anns derzeitigem Galan. Daß aber sein Besitzer höchst wahrscheinlich auch Smiley kennen mußte, denn er hatte von den Holzsplinten gewußt und sie auch wieder angebracht, sobald er im Haus war, und war so schlau gewesen, die Briefe, nachdem er sie zusammengeschoben und zweifellos auch gelesen hatte, wieder hinter die Tür zu legen; und daß er kein Liebhaber war, sondern ein Profi wie er selber, der irgendwann einmal mit ihm zusammengearbeitet hatte und seine Handschrift, wie es im Fachjargon heißt, genau kannte.
Die Wohnzimmertür stand einen Spalt offen. Leise schob Smiley sie weiter auf. »Peter?« sagte er.
Durch die Türöffnung sah er zwei schwarze Schuhe bequem übereinandergeschlagen über das Sofaende ragen. »Ich an deiner Stelle würde den Mantel anbehalten, George, alter Junge«, sagte eine liebenswürdige Stimme. »Wir haben einen langen Weg vor uns.«
Fünf Minuten später saß George Smiley, angetan mit einem weiten braunen Reisemantel, einem Geschenk Anns und seinem einzigen trockenen Stück, erbost auf dem Beifahrersitz von Peter Guillams ungemein zugigem Sportwagen, der auf einem Platz in der Nähe geparkt gewesen war. Ihr Ziel war Ascot, berühmt für Frauen und Pferde. Und wohl nicht ganz so berühmt als Wohnort von Mr. Oliver Lacon vom Ministerium, Ehrenmitglied in mehreren gemischten Ausschüssen und Wachhund des Nachrichtendienstes. Oder, wie Guillam es weniger ehrerbietig ausdrückte, Vorturner in Whitehall.
Im Thursgoodschen Internat lag indessen Bill Roach wach im Bett und überdachte die jüngsten Wunder, die ihm im Lauf seiner täglichen Wacht über Jims Wohlergehen begegnet waren. Gestern hatte Jim den Gärtner Latzy in Erstaunen versetzt. Heute hatte er Miss Aaronsons Post gestohlen. Miss Aaronson lehrte Cello und die Bibel, und Roach verehrte sie wegen ihrer Sanftmut. Latzy, der Hilfsgärtner, war eine Displaced Person, ein Flüchtling, und wie alle DPs sprach er kein Englisch oder nur sehr wenig. Aber gestern hatte Jim mit Latzy gesprochen, ihn um seine Hilfe beim Auto-Club gebeten, und er hatte in der Flüchtlingssprache mit ihm gesprochen oder in der, die DPs eben sprechen, und Latzy war auf der Stelle um einen Kopf größer geworden. Die Sache mit Miss Aaronsons Post war schon verzwickter. Als Roach am Morgen nach dem Gottesdienst die Hefte seiner Klasse im Lehrerzimmer abgeholt hatte, hatten zwei Briefe auf dem Ablagetisch gelegen, einer an Jim adressiert und einer an Miss Aaronson. Jims Brief war mit Maschine geschrieben. Der für Miss Aaronson mit der Hand, und die Schrift war Jims Schrift nicht unähnlich. Das Lehrerzimmer war, als Roach diese Entdeckung machte, leer gewesen. Er nahm sich die Klassenhefte und ging gerade in aller Ruhe wieder hinaus, als Jim durch die andere Tür hereinstapfte, rot und keuchend von seinem Frühmarsch. »Beeilung, Jumbo, es hat schon geläutet«, und er beugte sich über die Briefe. »Ja, Sir.«
»Hundewetter, was, Jumbo?«
»Ja, Sir.«
»Also, ab mit dir.«
An der Tür blickte Roach sich um. Jim stand wieder aufrecht, zurückgelehnt und schlug den Daily Telegraph auf. Die Ablage war leer. Beide Umschläge waren verschwunden. Hatte Jim an Miss Aaronson geschrieben und es sich anders überlegt. Ihr vielleicht einen Heiratsantrag gemacht? Dann kam Bill Roach ein anderer Gedanke. Jim hatte unlängst eine alte Schreibmaschine erstanden, eine invalide Remington, und sie eigenhändig repariert. Hatte er auf ihr einen Brief an sich selber getippt? War er so einsam, daß er sich selber Briefe schrieb, und dazu noch die Briefe anderer Leute klaute? Roach schlief ein.
Peter Guillam fährt George Smiley zu später Stunde zu einem Whitehall-Beamten nach Ascot
Guillam fuhr lässig, aber schnell. Herbstgerüche füllten den Wagen, der Vollmond leuchtete. Zu beiden Seiten hingen Nebelstreifen über dem freien Feld, und es war bitter kalt. Smiley überlegte, wie alt Guillam sei, und schätzte vierzig, aber bei diesem Licht hätte er ein Student sein können, der ein Skullboot ruderte; denn er handhabte den Schalthebel mit einer langen fließenden Bewegung, als zöge er ihn durchs Wasser. Auf jeden Fall, überlegte Smiley gereizt, war der Wagen viel zu jugendlich für Guillam. Sie waren durch Runnymeade gerast und nahmen die Steigung nach Egham Hill. Zwanzig Minuten fuhren sie bereits, und Smiley hatte ein Dutzend Fragen gestellt und keine stichhaltige Antwort bekommen, und jetzt erwachte in ihm eine nagende Furcht, der er keinen Namen zu geben wagte.
»Ich wundere mich, daß Sie nicht auch mit uns zusammen hinausgeworfen wurden«, sagte er in nicht gerade liebenswürdigem Ton und wickelte die Mantelschöße enger um sich. »Sie hatten sämtliche Qualifikationen: gut bei der Arbeit, loyal, zurückhaltend.«
»Ich habe die Skalpjäger übernehmen müssen.«
»Ach du lieber Gott«, sagte Smiley schaudernd, zog den Mantelkragen über sein Doppelkinn hoch und überließ sich, statt noch unerfreulicheren Erinnerungen, der Rückschau auf Brixton und das freudlose steinerne Schulgebäude, das den Skalpjägern als Hauptquartier diente. Der offizielle Name der Skalpjäger war Reisestelle. Die Einheit war auf Bill Haydons Anregung hin von Control ins Leben gerufen worden, in den Pioniertagen des Kalten Krieges, als Mord und Kidnapping und Erpressung auf Tod und Leben an der Tagesordnung waren, und ihr erster Kommandant war von Haydon vorgeschlagen worden. Es war eine kleine Gruppe, ungefähr ein Dutzend Männer, und sie mußten die Blitzaktionen im Ausland erledigen, die für einen dort ansässigen Agenten zu schmutzig oder zu riskant waren. Gute Arbeit für den Nachrichtendienst, hatte Control immer gepredigt, sei Schritt für Schritt und auf die sanfte Tour zu erledigen. Die Skalpjäger waren die Ausnahme von seiner eigenen Regel. Sie arbeiteten weder Schritt für Schritt noch auf die sanfte Tour, worin sich eher Haydons als Controls Temperament spiegelte. Und sie arbeiteten solo, und deshalb hausten sie im Verborgenen hinter einer hohen Steinmauer mit Glasscherben und Stacheldraht obendrauf.
»Ich habe gefragt, ob das Wort Lateralismus Ihnen etwas sagt«, sagte Guillam. »Ganz gewiß nicht.«
»Es ist jetzt die Mode-Doktrin. Früher ging's hin und her. Jetzt geht's in einer Richtung.«
»Was soll das heißen?«
»Zu Ihrer Zeit hat der Circus regional funktioniert. Afrika, die Satellitenstaaten, Rußland, China, Südostasien, und was weiß ich noch alles: jede Region wurde von ihrem eigenen Juju-Mann geleitet, Control saß im Himmel und hielt die Fäden in der Hand. Erinnern Sie sich?«
»Kommt mir entfernt bekannt vor.«
»Und heute gehen alle Operationen von einer Stelle aus. Sie heißt London Station. Die Regionen sind out, Lateralismus ist in. Bill Haydon ist Befehlshaber von London Station, Roy Bland seine Nummer zwei, Toby Esterhase rennt wie ein Pudel zwischen ihnen hin und her. Sie sind eine Dienststelle innerhalb einer Dienststelle. Sie haben ihre eigenen Geheimnisse und verkehren nicht mit dem Plebs. Vergrößert unsere Sicherheit.«
»Hört sich an wie eine sehr gute Idee«, sagte Smiley und überhörte geflissentlich die versteckte Anspielung. Als die Erinnerungen aufs neue in sein bewußtes Denken heraufdrängten, überkam ihn ein wunderliches Gefühl: als lebte er diesen Tag zweimal, zuerst mit Martindale im Club, jetzt nochmals mit Guillam im Traum. Sie fuhren an einem Bestand junger Tannen vorbei, das Mondlicht lag in Streifen zwischen den Bäumen. »Hört man irgend etwas von ...« begann Smiley von neuem. »Was weiß man Neues über Ellis?« fragte er unverbindlicher. »In Quarantäne«, sagte Guillam kurz.
»Ach gewiß. Natürlich. Ich möchte nicht neugierig sein. Nur, ich meine, kann er sich behelfen und so? Er ist wieder gesund, aber kann er auch gehen? Der Rücken kann einem angeblich schwer zu schaffen machen.«
»Wie es heißt, kommt er ganz gut zurecht. Ach, ich hab' noch gar nicht gefragt, wie es Ann geht.«
»Gut, danke. Sehr gut.«
Es war plötzlich stockdunkel im Wagen. Sie waren von der Straße abgebogen und fuhren über Kies. Schwarze Mauern aus Blattwerk erhoben sich zu beiden Seiten, Lichter wurden sichtbar, dann ragte ein hohes Portal und der von Türmchen gekrönte Umriß eines weitläufigen Hauses aus den Wipfeln. Der Regen hatte aufgehört, aber als Smiley in die frische Luft hinaustrat, hörte er rundum das rastlose Ticken nasser Blätter.
Ja, dachte er, als ich letztes Mal hier war, hat es auch geregnet; damals als der Name Jim Ellis Schlagzeilen machte.
Sie hatten sich gewaschen und in dem geräumigen Ankleidezimmer Lacons Kletterausrüstung inspiziert, die gänzlich unpassend in einem wirren Haufen auf der Sheraton-Kommode lag. Jetzt saßen sie im Halbkreis vor einem leeren Stuhl. Es war das häßlichste Haus weit und breit, und Lacon hatte es für ein Butterbrot erworben. »Eine Berkshire-Gralsburg«, hatte er es einmal Smiley gegenüber genannt, »erbaut von einem millionenschweren Abstinenzler.« Der Wohnraum war eine riesige Halle mit sechs Meter hohen Buntglasfenstern und einer hölzernen Galerie über dem Eingang. Smiley zählte die bekannten Gegenstände nach. Ein Pianino, darauf Stöße von Noten, alte Porträts von Geistlichen in Amtstracht, ein Stapel gedruckter Einladungen. Er suchte das Universitätsruder aus Cambridge und sah es über dem offenen Kamin hängen. Das gleiche Feuer brannte darin, viel zu spärlich für den gewaltigen Rost. Eine Atmosphäre von Kargheit, die den Reichtum verdrängt hatte.
»Macht der Ruhestand Spaß, George?« fragte Lacon, als faselte er gedankenlos in die Ohrtrompete einer tauben Tante. »Die Wärme des menschlichen Kontakts fehlt Ihnen nicht? Würde mir schon fehlen, glaube ich. Die alte Arbeit, der alte Haufen.« Er war ein langes Gerippe von Mann, ohne Eleganz und alterslos jungenhaft: Der Spion, der aus der Kirche kam, sagte Haydon, der geistreiche Kopf im Circus. Lacons Vater war Kanonikus der schottischen Kirche gewesen und seine Mutter irgend etwas Adeliges. Gelegentlich schrieben die smarteren Sonntagsblätter über ihn und nannten ihn einen Vertreter des neuen Stils, weil er jung war. Sein Gesicht war vom hastigen Rasieren verschrammt.
»Ach, ich komme eigentlich ganz gut zurecht, vielen Dank«, sagte Smiley höflich. Und um das Gespräch in die Länge zu ziehen: »Ja, ja, wirklich recht gut. Und Sie? Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
»Keine großen Veränderungen, nein. Alles geht seinen Gang. Charlotte bekam ihr Stipendium für Roedean, was uns sehr gefreut hat.«
»Oh, gut.«
»Und Ihre Frau, gesund und blühend und so weiter?« Auch seine Ausdrucksweise war jungenhaft.
»Wie eine Rose, vielen Dank«, sagte Smiley in dem ritterlichen Bemühen, in gleicher Tonart zu antworten.
Sie hielten die Augen auf die Doppeltür gerichtet. In weiter Ferne hörten sie das Klappern von Schritten auf einem Fliesenboden. Smiley schätzte zwei Leute, beides Männer. Die Tür ging auf, und eine große Gestalt tauchte im Gegenlicht halb als Schattenbild auf. Den Bruchteil einer Sekunde lang erblickte Smiley dahinter einen zweiten Mann, dunkel und klein und aufmerksam; aber nur der erste betrat den Raum, und sofort schlossen unsichtbare Hände die Türflügel wieder.
»Bitte, schließen Sie uns ein«, rief Lacon, und sie hörten das Schnappen des Schlüssels. »Sie kennen Smiley, nicht wahr?«
»Ja, ich glaube«, sagte die Gestalt, während sie sich auf den langen Weg aus dem fernen Halbdunkel bis zu den drei anderen machte. »Ich glaube, er hat mir einmal einen Job gegeben, oder, Mr. Smiley?«
Seine Stimme war so sanft wie der Singsang eines Südstaatlers, aber der koloniale Akzent war nicht zu überhören. »Tarr, Sir, Ricki Tarr aus Penang.«
Das Flackern des Feuerscheins erhellte eine Seite des starren Lächelns und ließ das eine Auge wie ein Loch erscheinen. »Der Anwaltssohn, wissen Sie nicht mehr? Na aber, Mr. Smiley, Sie haben mir schon die Windeln gewechselt.«
Und dann standen sie lächerlicherweise alle vier aufrecht, und Guillam und Lacon sahen aus wie Taufpaten, während Tarr Smileys Hand schüttelte, dann nochmals, dann ein drittes Mal, wie für die Fotografen.
»Sehr erfreut, Mr. Smiley. Wirklich nett, Sie zu sehen, Sir.« Endlich ließ er Smileys Hand los und nahm Kurs auf den für ihn reservierten Stuhl, während Smiley dachte: Ja, bei Ricki Tarr wäre es möglich gewesen. Bei Ricki Tarr war einfach alles möglich. Mein Gott, dachte er, noch vor zwei Stunden habe ich mir eingeredet, ich würde mich in die Vergangenheit flüchten. Er war durstig und vermutete, es komme von der Furcht.
Vor zehn? Vor zwölf Jahren? Sein Zeitgefühl war in dieser Nacht nicht auf der Höhe. Damals hatte es zu Smileys Aufgaben gehört, die Rekruten zu sieben: keiner wurde genommen ohne sein Nicken, keiner ausgebildet ohne seine Unterschrift auf dem Lehrplan. Der Kalte Krieg lief auf Hochtouren, Skalpjäger waren gefragt, die Außenstellen des Circus hatten Anweisung von Haydon, sich nach geeignetem Material umzusehen. Steve Mackelvore aus Djakarta hatte Tarr angeworben. Mackelvore war ein alter Profi, als Schiffsmakler getarnt, und hatte seinen Schützling gefunden, als Tarr, reizbar und betrunken, in den Docks herumrandalierte und ein Mädchen namens Rose suchte, das ihn hatte sitzenlassen.
Nach Tarrs eigener Darstellung hatte er mit ein paar Belgiern zusammengearbeitet, die zwischen den Inseln und der Küste Waffenhandel trieben. Er haßte Belgier, und das Waffenschieben hing ihm zum Hals heraus, und er war erbost, weil sie ihm Rose gestohlen hatten. Nach Mackelvores Ansicht würde er auf Disziplin ansprechen, und zudem war er jung genug für das Nahkampftraining, das die Skalpjäger hinter den Mauern ihres unfreundlichen Hauses in Brixton betrieben. Nach den üblichen Erkundigungen wurde Tarr zu einer zweiten Inspektion nach Singapur weitergereicht und dann zu einer dritten an die Nursery in Sarratt. Hier schaltete Smiley sich ein, als Moderator bei einer Reihe von Interviews, darunter ein paar sehr unerfreulichen. Die Nursery war das Ausbildungslager, aber sie hatte auch Platz für andere Zwecke.
Tarrs Vater, ein australischer Advokat, lebte angeblich in Penang. Die Mutter, Provinzschauspielerin aus Surrey, war vor dem Krieg mit einer britischen Theatertruppe nach Asien gekommen. Der Vater war, wie Smiley sich erinnerte, missionarisch angehaucht und predigte in evangelischen Gemeindehäusern. Die Mutter hatte in England ein kleines Strafregister gehabt, aber Tarrs Vater wußte entweder nichts davon, oder es war ihm egal. Bei Kriegsausbruch übersiedelte das Paar des kleinen Jungen wegen nach Singapur, und Ricki Tarr erhielt seine erste Ausbildung im Gefängnis von Changi unter japanischer Aufsicht. In Changi predigte der Vater jedem, dessen er habhaft werden konnte, Gottes Barmherzigkeit, und wären die Japse ihm nicht auf den Pelz gerückt, so hätten seine Mitgefangenen diese Aufgabe für sie übernommen. Nach der Befreiung gingen alle drei nach Penang zurück. Ricki nahm einen Anlauf, das Strafrecht zu studieren, kam jedoch häufig damit in Konflikt, und der Vater hetzte ihm ein paar rauhe Gottesmänner auf den Hals, die ihm die Sünden aus der Seele prügeln sollten. Tarr setzte sich nach Borneo ab. Mit achtzehn war er regulär bezahlter Waffenschmuggler, der auf dem indonesischen Archipel Freund und Feind belieferte, und dabei war Mackelvore auf ihn gestoßen.
Als Tarr die Nursery absolviert hatte, war die Malaya-Krise ausgebrochen, und er wurde erneut in den Waffenhandel eingeschleust. So ziemlich die ersten, mit denen er zu tun bekam, waren seine alten belgischen Freunde. Sie waren von ihren Waffenlieferungen an die Kommunisten zu sehr in Anspruch genommen, um sich Gedanken darüber zu machen, wo er gesteckt hatte, und sie waren knapp an Leuten. Tarr übernahm ein paar Lieferungen für sie, um ihre Verträge platzen zu lassen, dann setzte er sie eines Nachts unter Alkohol, erschoß vier oder fünf von ihnen, einschließlich Rose, und steckte ihren Kahn in Brand. Er trieb sich in Malaya herum und erledigte noch einige Aufträge, dann wurde er nach Brixton zurückbeordert und für Sondereinsätze in Kenia umgeschult: oder weniger vornehm ausgedrückt: für die Mau-Mau-Jagd gegen Kopfprämie.
Nach Kenia hatte Smiley ihn mehr oder weniger aus den Augen verloren, aber einige Vorfälle blieben ihm in Erinnerung, weil sie sich zu Skandalen hätten auswachsen können und Control in Kenntnis gesetzt werden mußte. Im Jahr einundsechzig war Tarr nach Brasilien geschickt worden, um einem Rüstungsminister, dem das Wasser bis zum Hals stand, ein massives Bestechungsangebot zu unterbreiten. Tarr ging zu brutal vor, der Minister verlor die Nerven und informierte die Presse. Tarr hatte einen falschen holländischen Paß, und niemand konnte sich einen Vers auf die Geschichte machen, ausgenommen der niederländische Geheimdienst, der wütend war. Ein Jahr darauf erpreßte - oder verheizte, wie die Skalpjäger zu sagen pflegten - Tarr aufgrund eines von Bill Haydon gelieferten heißen Tips einen polnischen Diplomaten in Spanien, der sein Herz an eine Tänzerin verloren hatte. Die erste Lieferung war gut, Tarr erntete eine Belobigung und eine Prämie. Aber als er sich eine zweite Rate holen wollte, schrieb der Pole ein Geständnis an seinen Botschafter und stürzte sich, mit oder ohne Ermutigung, aus dem Fenster.
In Brixton bezeichneten sie ihn als einen Unfall-Magneten. Nach dem Ausdruck seines unreifen aber alternden Gesichts zu schließen, bezeichnete ihn Guillam als etwas weit Schlimmeres, während sie im Halbkreis um das kümmerliche Feuer saßen. »Tja, dann will ich jetzt mal loslegen«, sagte Tarr unbeschwert und nahm gelöst auf dem freien Stuhl Platz. Hinter ihm stießen graue Speere durch die Fensterläden, es wurde Tag.
Ricki Tarr berichtet, was eine russische Handelsdelegation in Hongkong alles treibt
»Es war vor etwa einem halben Jahr«, begann Tarr. »Im April«, fauchte Guillam. »Wir wollen uns an die genauen Daten halten, nicht wahr, auf der ganzen Linie?«
»Also es war im April«, sagte Tarr gleichmütig. »In Brixton war es ziemlich ruhig, ich glaube, wir waren ungefähr unser sechs auf Abruf. Pete Sembrini, der aus Rom zurück war, Cy Vanhofer hatte soeben in Budapest einen Coup gelandet«, er lächelte schelmisch - »Tischtennis und Billard im Wartesaal von Brixton, stimmt's, Mr. Guillam?«
»War die Sauregurkenzeit.«
»Als aus heiterem Himmel«, sagte Tarr, »eine Blitzanforderung der Außenstelle Hongkong eintraf.
Sie hatten eine zweitrangige sowjetische Handelsdelegation in der Stadt, die auf Elektroartikel für den Moskauer Markt Jagd machte. Einer der Delegierten machte fleißig die Nachtclubs unsicher. Ein gewisser Boris, Mr. Guillam hat die Einzelheiten. Noch nichts über ihn in den Akten. Sie hatten ihn seit fünf Tagen unter Beobachtung, die Delegation sollte noch zwölf weitere Tage bleiben. Politisch war der Fall zu heiß für die Jungens am Ort, aber sie dachten, mit direktem Vorgehen wäre Abhilfe zu schaffen. Das Ergebnis würde nicht umwerfend sein, aber was soll's? Vielleicht könnten wir ihn auf Vorrat kaufen, stimmt's, Mr. Guillam?« Vorrat bedeutete Verkaufs- oder Tauschobjekt für andere Geheimdienste: ein Handel mit Schmalspur-Verrätern, der den Skalpjägern oblag.
Guillam, der Tarr keinerlei Beachtung schenkte, sagte: »Südostasien war Tarrs Pfarrei. Er saß herum und hatte nichts zu tun, also gab ich ihm den Auftrag, sich an Ort und Stelle umzusehen und telegrafisch zu berichten.«
Sooft ein anderer sprach, versank Tarr in einem Traum. Sein Blick heftete sich auf den Sprecher, seine Augen verschleierten sich, und es entstand eine Pause, als komme er wieder zu sich, ehe er fortfuhr.
»Ich tat also, was Mr. Guillam angeordnet hatte«, sagte er. »Wie immer, nicht wahr, Mr. Guillam? Ich bin wirklich ein braver Junge, wenn auch ein bißchen impulsiv.«
Er flog in der nächsten Nacht, Sonnabend, den 31. März, mit einem australischen Paß, der ihn als Autoverkäufer auswies, und zwei unbeschriebenen Schweizer Notpässen, die im Futter seines Koffers versteckt waren. Es waren Pässe für unvorhergesehene Fälle, die je nach Bedarf ausgefüllt wurden: einer für Boris, einer für ihn. Er verabredete ein Treffen im Wagen mit dem Leiter der Außenstelle Hongkong, nicht weit von seinem Hotel, dem Golden Gate auf Kaulun.
Hier beugte Guillam sich zu Smiley hinüber und flüsterte: »Dusty Thesinger, dieser Hanswurst. Ex-Major, King's African Rifles. Von Percy Alleline ausgesucht.«
Thesinger brachte einen Bericht über Boris' Bewegungen zum Vorschein, das Ergebnis einer einwöchigen Überwachung: »Boris war ein komischer Vogel. Ich wußte nicht, woran ich bei ihm war. Nacht für Nacht pausenlos gezecht. Hatte eine Woche lang nicht geschlafen, und Thesingers Observanten waren schon die Knie weich. Den ganzen Tag trabte er mit der Delegation herum, besichtigte Fabriken, leistete Diskussionsbeiträge und war ganz und gar der brillante junge Sowjetfunktionär. »Wie jung?« fragte Smiley.
Guillam warf ein: »Laut Visa-Antrag geboren in Minsk, 1946.«
»Abend für Abend ging er zunächst ins Alexandra Lodge, eine alte Spelunke am North Point, wo die Delegation abgestiegen war. Er aß mit der Mannschaft, dann, gegen neun, verdrückte er sich durch die Seitentür, schnappte sich ein Taxi und ab ging's zu den bekannten Nachtlokalen um die Peddar Street. Sein Lieblingsplätzchen war das Cat's Cradle in der Queen's Road, wo er für die einheimischen Geschäftsleute Runden spendierte und den beliebtesten Mann des Jahrhunderts markierte. Er blieb meist bis Mitternacht. Aus dem Cradle brauste er straks zum Aberdeen Harbour, in ein Lokal namens Angelika, wo die Getränke billiger sind. Allein. Dort draußen sind vor allem schwimmende Restaurants und die dicken Brieftaschen, aber das Angelika ist ein Cafe auf dem Festland mit einem Spielzimmer im Keller. Er nahm meist drei, vier Drinks zu sich und verwahrte die Rechnung. Im allgemeinen trank er Brandy, aber dann und wann auch zur Abwechslung einen Wodka. Einmal hat er mit einer Eurasierin angebändelt, und Thesingers Observanten sind ihr nach und haben die Story gekauft. Sie sagt, er sei einsam gewesen und habe auf dem Bett gesessen und gejammert, daß seine Frau sein Genie nicht zu schätzen wisse. Das war ein echter Durchbruch«, fügte er sarkastisch hinzu, als Lacon sich geräuschvoll über das kärgliche Feuer hermachte und die einzelnen Kohlen zu neuem Leben schürte. »In dieser Nacht bin ich zum Cradle, um ihn mir selber anzuschauen. Thesingers Observanten wurden mit einem Glas Milch zu Bett geschickt. Sie brauchten davon nichts zu wissen.«
Während Tarr sprach, überkam seinen ganzen Körper manchmal eine völlige Bewegungslosigkeit, als lauschte er auf seine eigene Stimme, die ihm auf Band vorgespielt wurde.
»Er kam zehn Minuten nach mir an und brachte sich Gesellschaft mit, einen großen blonden Schweden mit einer Chinesenbiene im Schlepptau. Es war dunkel, und ich schob mich hinter den Nebentisch. Sie bestellten Scotch, Boris bezahlte, und ich saß anderthalb Meter entfernt, beobachtete die lausige Kapelle und belauschte ihre Unterhaltung. Die junge Chinesin verhielt sich schweigsam, der Schwede bestritt den Großteil des Gesprächs. Sie sprachen englisch. Der Schwede fragte Boris, wo er wohne, und Boris sagte, im Excelsior, was eine verdammte Lüge war, denn er wohnte mit dem übrigen Kirchenchor im Alexandra Lodge. Klar: das Alexandra steht recht weit unten auf der Liste. Excelsior klingt besser. Gegen Mitternacht bricht die Gesellschaft auf. Boris sagt, er muß nach Hause, und morgen ist ein arbeitsreicher Tag. Das war die zweite Lüge, denn er ging so wenig nach Hause, wie - welcher ist es doch gleich, Jekyll und Hyde, richtig! - der ehrenwerte Doktor, der sich in Schale wirft und auf den Schwoof geht. Also welcher war Boris?« Zunächst half ihm keiner.
»Hyde«, wiederholte Lacon zu seinen rotgeschrubbten Händen. Er saß jetzt wieder und hatte sie im Schoß gefaltet. »Hyde«, wiederholte Tarr. »Vielen Dank, Mr. Lacon. Ich wußte immer schon, daß Sie ein gebildeter Mann sind. Sie begleichen also die Rechnung, und ich troll mich runter nach Aberdeen, um schon vor ihm da zu sein, wenn er im Angelika anrückt. Aber ich bin jetzt schon fast überzeugt, daß ich an der falschen Adresse bin.«
An seinen trockenen langen Fingern zählte Tarr gewissenhaft die Gründe auf: erstens, er hatte noch nie eine sowjetische Delegation gesehen ohne ein paar Gorillas, deren Aufgabe es war, die Jungens von den Fleischtöpfen fernzuhalten. Also, wie ging Boris ihnen Nacht für Nacht durch die Lappen? Zweitens gefiel ihm die Art nicht, wie Boris mit seinen Devisen herumwarf. Das war unnatürlich bei einem Sowjetfunktionär, behauptete er: »Er hat einfach keine verdammten Devisen. Und wenn er welche hat, kauft er Glasperlen für seine Squaw. Und drittens, es gefiel mir nicht, wie er log. Zu glattzüngig, um seriös zu sein.« Tarr wartete also im Angelika, und tatsächlich tauchte nach einer halben Stunde sein Mr. Hyde mutterseelenallein auf: »Er setzt sich und bestellt sich zu trinken. Sitzt nur da und trinkt wie so ein Mauerblümchen!«
Wiederum war Smiley der Empfänger von Tarrs sonnigem Charme: »Also was soll das Ganze, Mr. Smiley? Sie wissen, was ich meine? Ich habe ein Auge für die kleinen Dinge«, gestand er, noch immer zu Smiley gewandt. »Zum Beispiel, wie er saß. Glauben Sie mir, Sir, wenn wir selber dort gewesen wären, wir hätten uns nicht günstiger setzen können als Boris. Er hatte die Ausgänge und die Treppe im Auge, überblickte den Haupteingang und alles, was im Lokal vorging, er war Rechtshänder und hatte linker Hand Deckung durch eine Wand. Boris war ein Profi, Mr. Smiley, daran war überhaupt nicht zu zweifeln. Er wartete auf eine Verbindung, betreute einen Briefkasten, oder er hat absichtlich auf die Pauke gehauen und auf einen Gegenzug von einem Tölpel wie mir gewartet. Und hören Sie: einen kleinen Pinscher von einer Handelsdelegation zu verheizen, ist eine Sache. Aber sich mit einem vollausgebildeten Nahkampfspezialisten anzulegen, ist eine ganz andere, stimmt's Mr. Guillam?« Guillam sagte: »Seit der Umorganisierung haben die Skalpjäger nicht mehr den Auftrag, Doppelagenten zu fangen. Sie müssen unverzüglich an London Station weitergereicht werden. Die Jungens haben stehende Order, sie ist von Bill Haydon persönlich unterzeichnet. Wenn es nur im geringsten nach der Gegenseite riecht: Hände weg.« Er fügte, vielleicht nur für Smileys Ohr hinzu: »Der Lateralismus hat unserer Autonomie den Garaus gemacht.«
»Und ich habe schon früher mit Doppel-Doppelspielern zu tun gehabt«, bekannte Tarr im Tonfall der gekränkten Tugend. »Glauben Sie mir, Mr. Smiley, sie sind ein Natterngezücht.«
»Das glaube ich Ihnen«, sagte Smiley und rückte affektiert an seiner Brille.
Tarr telegrafierte an Guillam »kein Verkauf«, buchte einen Rückflug und ging einkaufen. Aber, da seine Maschine erst am Dienstag abging, dachte er, er könne inzwischen noch, bloß um sein Fahrgeld zu verdienen, in Boris' Zimmer einbrechen. »Das Alexandra ist eine ganz baufällige Bude, Mr. Smiley, in der Nähe der Marble Road, lauter Holzbalkone übereinander. Und die Schlösser, also Sir, die gehen von alleine auf, wenn sie einen nur kommen sehen.«
Daher stand Tarr nach kürzester Zeit in Boris' Zimmer, mit dem Rücken zur Tür, und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Er stand noch immer dort, als ihn eine Frauenstimme schläfrig auf russisch vom Bett her anredete. »Es war Boris' Frau«, erklärte Tarr. »Sie weinte. Ich nenne sie einfach Irina, ja? Mr. Guillam hat alle Einzelheiten.« Smiley meldete bereits Einspruch an: »Frau war unmöglich«, sagte er. »Moskau hätte sie niemals beide gleichzeitig aus Rußland herausgelassen, sie hätten einen behalten und den anderen fortgeschickt.«
»Ehe nach dem Gewohnheitsrecht«, sagte Guillam trocken. »Inoffiziell, aber dauerhaft.«
»Es gibt heutzutage viele, die's auf die andere Tour machen«, sagte Tarr mit gemeinem Grinsen zu niemandem im besonderen und schon gar nicht zu Smiley, und Guillam warf ihm einen weiteren giftigen Blick zu.
Ricki Tarr erzählt, wie er einen schüchternen Fuß ins Land der Liebe setzte
Vom ersten Augenblick der Besprechung an hatte George Smiley eine undurchdringliche Buddha-Pose eingenommen, aus der ihn weder Tarrs Bericht noch Lacons und Guillams gelegentliche Zwischenbemerkungen aufzurütteln vermochten. Er saß zurückgelehnt, die kurzen Beine angewinkelt, den Kopf vorgereckt und die plumpen Hände vor dem ausladenden Magen gefaltet. Die Augen unter den überhängenden Lidern hatten sich hinter den dicken Brillengläsern geschlossen. Als einziges Zeichen von Unruhe polierte er von Zeit zu Zeit seine Brille am Seidenfutter der Krawatte, und sooft er das tat, hatten seine Augen einen verquollenen, nackten Blick, der jeden, der ihn in diesem Moment beobachtete, in leichte Verlegenheit setzte. Sein Einwand jedoch und der gekünstelte, nichtssagende Laut, den er auf Guillams Erklärung hin ausgestoßen hatte, wirkten nun auf die übrige Versammlung wie ein Signal und veranlaßte allgemeines Stühlescharren und Räuspern. Lacon meldete sich als erster: »George, was trinken Sie? Darf ich Ihnen einen Scotch geben oder sonstwas?« Er bot den Drink so fürsorglich an wie ein Aspirin gegen Kopfschmerz. »George, einen zum Aufwärmen, ja? Es ist schließlich Winter. Ein Schlückchen?«
»Ich bin ganz zufrieden, danke«, sagte Smiley. Er hätte gern eine Tasse Kaffee aus der Maschine gehabt, aber irgendwie fühlte er sich außerstande, darum zu bitten. Außerdem erinnerte er sich, daß Lacons Kaffee abscheulich war. »Guillam?« wandte Lacon sich an den nächsten. Nein; auch Guillam fand es unmöglich, von Lacon ein alkoholisches Getränk anzunehmen.
Tarr wurde nichts angeboten, und er fuhr in seiner Berichterstattung fort.
Er habe Irinas Anwesenheit gefaßt hingenomnen, sagte er. Ehe er ins Haus ging, hatte er sich einen Fluchtweg zurechtgelegt, und jetzt schritt er zur Tat. Er zog keine Kanone oder schlug sie mit der Hand auf den Mund oder dergleichen Humbug, wie er sich ausdrückte, sondern sagte, er sei gekommen, um mit Boris eine Privatangelegenheit zu besprechen, sie solle entschuldigen, aber er werde verdammt noch mal solange hier sitzenbleiben, bis Boris auftauche. In gutem Australisch, wie es einem erzürnten Autoverkäufer von dort unten anstand, erklärte er, er wolle sich zwar nicht in andrer Leute Angelegenheiten einmischen, aber er wolle verdammt sein, wenn er sich in einer einzigen Nacht sein Mädel und sein Geld stehlen lasse, von einem lausigen Russen, der für seinen Spaß nicht zahlen könne. Er steigerte sich in große Erbitterung, achtete jedoch darauf, leise zu sprechen, und dann wartete er, was sie tun würde. Und damit, sagte Tarr, fing die ganze Geschichte an. Er hatte Boris' Zimmer um elf Uhr dreißig betreten. Er ging um halb zwei, mit dem Versprechen, in der nächsten Nacht wiederzukommen. Inzwischen hatte die Situation sich völlig gewandelt: »Wir haben natürlich nichts Ungehöriges getan. Nur rein platonisch, ja, Mr. Smiley?«
Einen Augenblick schien es, als spielte dieses Geblödel auf Smileys kostbarste Geheimnisse an. »Ja«, bestätigte er schwach.
An Irinas Anwesenheit in Hongkong war nichts Ausgefallenes, und es war nicht einzusehen, daß Thesinger davon wissen mußte, erklärte Tarr. Sie war gelernte Textilverkäuferin: »Nebenbei, sie war bedeutend fähiger als ihr Alter, wenn ich ihn so nennen darf. Sie war keine Schönheit, ein bißchen blaustrümpfig für meinen Geschmack, aber sie war jung, und ihr Lächeln reizend, als sie zu weinen aufhörte.« Tarr malte ein Genrebildchen. »Sie war ein nettes Mädchen«, betonte er, als müsse er sie gegen eine Mehrheit verteidigen. »Als Mr. Thomas aus Adelaide in ihr Leben trat, war sie völlig am Ende vor Sorgen, was sie mit dem verteufelten Boris anfangen sollte. Für sie war ich der Engel Gabriel. Wem konnte sie von ihrem Mann erzählen, ohne damit die Hunde auf ihn zu hetzen? Sie hatte in der Delegation keine Freunde, auch zu Hause in Moskau hatte sie niemanden, dem sie vertrauen konnte, sagte sie. Niemand, der das nicht selber mitgemacht habe, könne je wissen, was es bedeute, eine zerbrochene Verbindung weiterzuführen, wenn man ständig unterwegs sei.« Smiley war wieder in tiefe Trance verfallen. »Ein Hotel nach dem anderen, eine Stadt nach der anderen, und nirgends dürfe man auch nur unbefangen mit den Einheimischen sprechen oder von einem Fremden ein Lächeln entgegennehmen, so hat sie ihr Leben beschrieben. Sie fand das einen recht erbärmlichen Zustand, Mr. Smiley, wofür Gott und alle Heiligen und die leere Wodkaflasche neben dem Bett als Zeugen herhalten mußten. Warum konnte sie nicht sein wie normale Menschen? fragte sie immer wieder. Warum konnte sie sich nicht der lieben Sonne freuen, wie alle anderen? Sie liebte Reisen, sie liebte fremde Kinder, warum konnte sie nicht ein eigenes haben? Ein Kind, das in der Freiheit zur Welt kam, nicht in der Gefangenschaft. Sie wiederholte ständig: In der Gefangenschaft geboren, freigeboren. >Ich bin ein fröhlicher Mensch, Thomas. Ich bin ein normales, umgängliches Mädchen. Ich mag die Menschen: warum muß ich sie betrügen, wenn ich sie liebe?< Und dann sagte sie, zu ihrem Unglück habe man sie schon vor langer Zeit für eine Arbeit bestimmt, die eine gefühllose alte Frau aus ihr mache und sie von Gott trenne. Deshalb habe sie auch einen Schluck trinken müssen und sich ausweinen müssen. Ihren Mann hatte sie inzwischen ganz vergessen, sie rechtfertigte sich nur noch für ihren Suff.«
Wieder zögerte er. »Ich konnte es wittern, Mr. Smiley. Sie war Gold wert. Hab's vom ersten Moment an gewittert. Wissen ist Macht, heißt es, Sir, und Irina hatte diese Macht, genauso wie sie die Fähigkeiten dazu hatte. Sie war vielleicht ein verrücktes Huhn, aber dennoch - sie konnte ganz und gar in einer Sache aufgehen. Ich kann die Großzügigkeit in einer Frau spüren, wenn sie vorhanden ist, Mr. Smiley. Dafür bin ich begabt. Und diese Frau war ganz und gar von Großzügigkeit durchdrungen. Herrje, wie soll man so ein Gespür beschreiben? Manche Leute können Wasser unterm Boden riechen . . .«
Er schien irgendeine Sympathiekundgebung zu erwarten, also sagte Smiley: »Ich verstehe« und zupfte sich am Ohrläppchen. Tarr beobachtete ihn mit einem seltsam erwartungsvollen Gesichtsausdruck und schwieg noch eine ganze Weile. »Am nächsten Morgen machte ich als erstes die Buchung rückgängig und zog in ein anderes Hotel«, sagte er schließlich. Smiley öffnete abrupt die Augen: »Was haben Sie London gesagt?«
»Nichts.«
»Warum nicht.«
»Vielleicht, weil ich glaubte, Mr. Guillam würde sagen, >Kommen Sie heim, Tarr<«, antwortete er mit einem schlauen Blick auf Guillam, der nicht erwidert wurde. »Wissen Sie, vor langer Zeit, als kleiner Junge, habe ich einmal einen Fehler gemacht und bin auf ein Lockvöglein reingefallen.«
»Er hat sich von einer Polin zum Narren halten lassen«, sagte Guillam. »Ihre Großzügigkeit hat er auch gespürt.«
»Ich wußte, daß Irina kein Lockvogel war, aber ich konnte nicht erwarten, daß Mr. Guillam mir glauben würde.«
»Haben Sie es Thesinger erzählt?«
»Kein Gedanke!«
»Welchen Grund haben Sie London für Ihre Verspätung angegeben?«
»Ich hätte am Donnerstag abfliegen sollen. Ich schätzte, daß mich zu Hause niemand vor Dienstag vermissen würde. Zumal, da Boris eine taube Nuß war.«
»Er hatte keinen Grund angegeben, und die Personalabteilung führte ihn ab Montag unter >Unentschuldigtes Fehlen<«, sagte Guillam schroff. »Er hat sämtliche eisernen Regeln gebrochen, und noch ein paar dazu. Mitte der Woche rührte sogar Bill Haydon die Kriegstrommeln. Und ich mußte es mir anhören«, fügte er erbittert hinzu.
Wie dem auch gewesen sein mochte, Tarr und Irina trafen sich am nächsten Abend wieder. Desgleichen am übernächsten. Das erste Rendezvous fand in einem Cafe statt und war eine lahme Sache. Sie mußten sich schrecklich in acht nehmen, nicht gesehen zu werden, denn Irina war ganz krank vor Angst, nicht nur vor ihrem Mann, sondern vor den auf die Delegation angesetzten Sicherheitsbeamten, den Gorillas, wie Tarr sie nannte. Sie wollte nichts trinken und zitterte dauernd. Am zweiten Abend wartete Tarr immer noch auf ihre Großzügigkeit. Sie fuhren mit der Tram hinauf zum Victoria Peak, eingekeilt zwischen amerikanischen Matronen mit weißen Söckchen und Lidschatten. Am dritten mietete er einen Wagen und fuhr sie in den New Territories herum, bis sie plötzlich das Zittern kriegte, weil sie so nah an der chinesischen Grenze waren, also mußten sie schleunigst kehrtmachen. Trotz alledem hatte die Fahrt ihr Spaß gemacht und sie sprach oft davon, wie schön es gewesen sei, die Fischteiche und die Reisfelder. Tarr hatte es auch Spaß gemacht, denn jetzt wußten sie beide, daß sie nicht beschattet wurden. Aber Irina hatte immer noch nicht ausgepackt, wie er es ausdrückte.
»Und jetzt will ich Ihnen sagen, was sich bei diesem Stand der Dinge Komisches herausgestellt hat. Anfangs habe ich Thomas von Australien überstrapaziert. Hab' ihr eine Menge blauen Dunst vorgemacht über eine Schafzucht in der Umgebung von Adelaide und einen eigenen Laden in der Hauptstraße mit Glasfront und Thomas als Star. Sie glaubte mir nicht. Sie nickte und tat als ob und wartete, bis ich mein Stückchen aufgesagt hatte, dann sagte sie >Ja, Thomas, nein, Thomas < und wechselte das Thema.« Am vierten Abend fuhr er sie zu den Hügeln über North Shore, und Irina gestand Tarr, daß sie sich in ihn verliebt habe und daß sie für die Zentrale in Moskau arbeite, sie und ihr Mann, und daß sie wisse, daß auch Tarr vom Bau sei, das sehe sie an seiner Umsicht und an der Art, wie er mit den Augen lausche. »Sie war zu dem Schluß gekommen, ich sei ein britischer Oberst vom Geheimdienst«, sagte Tarr ohne eine Spur von Lächeln. »Sie weinte und lachte im nächsten Moment, und meiner Meinung nach war sie auf dem besten Weg, meschugge zu werden. Halb redete sie wie eine übergeschnappte Groschenheft-Heldin, halb wie ein nettes einfaches Vorstadtmädchen. Kein Volk liebte sie so wie die Engländer. Gentlemen, sagte sie immer wieder. Ich hatte ihr eine Flasche Wodka mitgebracht, und sie hatte sie in ungefähr fünfzehn Sekunden halb ausgetrunken. Ein Hoch auf die englischen Gentlemen. Boris war der Vormann und Irina seine Assistentin. Es war eine Partner-Nummer, und eines Tages wollte sie mit Percy Alleline sprechen und ihm ein großes Geheimnis ins Ohr sagen. Sie kannte die großen Tiere des Circus, wie ein Junge seine Fußball-Kanonen kennt. Boris war auf Fischfang nach Geschäftsleuten in Hongkong und betreute nebenbei einen Briefkasten für die dortige sowjetische Dienststelle. Irina erledigte Gänge, entzifferte die Mikro-Punkt-Informationen und funkte die abgehenden Nachrichten in überhöhter Geschwindigkeit, damit sie nicht abgehört werden konnten. So las es sich auf dem Papier, verstehen Sie? Die beiden Nachtclubs waren Treffpunkte für Boris' lokale Verbindungen. Aber Boris wollte weiter nichts als trinken und den Tanzmädchen nachstellen und Depressionen haben. Oder fünfstündige Spaziergänge unternehmen, weil er es nicht im gleichen Zimmer mit seiner Frau aushielt. Und Irina tat nichts anderes als heulen und sich vollaufen lassen und sich ausmalen, wie sie allein mit Percy am Kamin saß und ihm alles erzählte, was sie wußte. Ich ließ sie sich aussprechen, dort oben auf dem Hügel im Wagen. Ich habe keinen Mucks getan, weil ich den Zauber nicht brechen wollte. Wir sahen zu, wie die Dämmerung sich über den Hafen senkte und der liebliche Mond darüber aufging und die Bauern mit ihren langen Stangen und ihren Kerosinlampen vorüberglitten. Fehlte nur noch Humphrey Bogart im Smoking. Ich hielt die Wodkaflasche unter Verschluß und ließ sie reden. Ich regte keinen Muskel. Tatsache, Mr. Smiley, Tatsache«, erklärte er mit der Hilflosigkeit eines Mannes, der um Glauben bettelt, aber Smileys Augen waren geschlossen und er war taub gegen jeden Anruf.
»Sie packte hemmungslos aus«, erklärte Tarr, als wäre das Ganze plötzlich ein Zufall, an dem er keinen Anteil hatte. »Sie erzählte mir ihre ganze Lebensgeschichte, von ihrer Geburt bis zu Oberst Thomas, das bin ich. Mammi, Pappi, erste Lieben, Anwerbung, Ausbildung, ihre lausige Halb-Ehe, alles von A bis Z. Wie sie und Boris als Partner-Nummer ausgebildet wurden und seither immer beisammen gewesen waren: eine der großen unzerstörbaren Beziehungen. Sie verriet mir ihren richtigen Namen, ihren Arbeitsnamen und die Decknamen, unter denen sie gereist war und Nachrichten übermittelt hatte, dann brachte sie ihre Handtasche zum Vorschein und zeigte mir ihr Zauberwerkzeug: den hohlen Füllhalter, darin aufgerollt die Codetabelle. Versteckte Kamera, den ganzen Klimbim. >Warte, bis Percy das sieht«, sage ich und lotse sie damit weiter. Alles Serienherstellung, wissen Sie, keine Spezialanfertigung, aber trotzdem erstklassiges Material. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fängt sie an, über die sowjetische Außenorganisation in Hongkong zu lästern: die Kuriere, die sicheren Häuser<, die Briefkästen, rein alles. Ich bin fast verrückt geworden, als ich es nachher wieder zusammenkriegen wollte.«
»Aber Sie haben's geschafft«, sagte Guillam kurz. Ja, bestätigte Tarr; so ziemlich. Er wußte, daß sie ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hatte, aber er wußte, wie schwer die Wahrheit einer Frau fallen mußte, die seit ihrem fünfzehnten Jahr unter falschem Namen gelebt hatte, und er fand, daß sie es für den Anfang schon recht nett machte.
»Ich fühlte sozusagen mit ihr«, sagte er, wiederum in seinem verlogenen Bekennerton. »Ich fühlte, daß wir auf der gleichen Wellenlänge waren, ungelogen.«
»Bestimmt«, ließ Lacon sich ausnahmsweise vernehmen. Er war sehr blaß, aber ob der Ärger daran schuld war oder das ständig heller werdende Licht des frühen Morgens, das durch die Läden kroch, ließ sich nicht sagen.
Ricki Tarr enthüllt seine Methoden, London Station hüllt sich in Schweigen
»Nun war ich in einer vertrackten Situation. Ich sah Irina am nächsten und übernächsten Tag, und ich schätzte, wenn sie nicht überhaupt schon schizoid war, so würde sie es verdammt bald werden. Im Augenblick faselte sie davon, daß sie von Percy einen Job im Circus kriegte und für Oberst Thomas arbeitete, brach dann einen Streit mit mir vom Zaun, ob sie Leutnant oder Major werden würde. Im nächsten Augenblick sagte sie, sie wolle nie wieder für irgend jemanden spionieren und werde Blumen züchten und sich mit Thomas im Heu tummeln. Dann kriegte sie die Klostertour: Baptistennonnen würden ihre Seele reinwaschen. Ich bin fast gestorben. Wer zum Teufel hat jemals von Baptistennonnen gehört, fragte ich sie. Egal, sagte sie, die Baptisten seien die Wucht, ihre Mutter sei Bäuerin und kenne sich aus. Das sei das zweitgrößte Geheimnis, das sie mir jemals anvertrauen werde. >Und was ist dann das größte?< frage ich. Fehlanzeige. Sie sagt lediglich, wir seien in tödlicher Gefahr, in größerer Gefahr, als ich wissen könne: keiner von uns hätte noch die geringste Chance, es sei denn, sie könne dieses Schwätzchen mit Bruder Percy halten. >Was für eine Gefahr, um Gottes willen? Was weißt du, was ich nicht weiß?< Sie war wahnsinnig stolz auf ihr Wissen, aber als ich sie drängte, klappte sie zu wie eine Auster, und ich bekam höllische Angst, sie könnte heimsausen und alles brühwarm Boris erzählen. Außerdem wurde die Zeit knapp. Es war schon Mittwoch, und die Delegation sollte am Freitag nach Moskau zurückfliegen. Irina war technisch gesehen nicht ganz ohne, aber wie konnte ich einer Irren wie ihr vertrauen? Sie wissen, wie Frauen sind, wenn sie sich verlieben, Mr. Smiley. Sie können kaum . . .« Guillam war ihm ins Wort gefallen. »Bleiben Sie gefälligst beim Thema, ja?« befahl er, und Tarr schwieg eine kleine Weile. »Mit Sicherheit wußte ich nur, daß Irina überlaufen wollte - mit Percy sprechen, nannte sie es -, sie hatte noch drei Tage Zeit, und je eher sie absprang, um so besser für alle. Wenn ich noch lange wartete, würde sie es sich wieder ausreden. Also riskierte ich es und suchte Thesinger auf, sofort, nachdem er seinen Laden aufgemacht hatte.«
»Mittwoch, der elfte«, murmelte Smiley. »In London ganz früh am Morgen.«
»Thesinger muß mich für ein Gespenst gehalten haben. >Ich muß nach London telegrafieren, persönlich für den Leiter von London Station<, sagte ich. Er wehrte sich mit Händen und Füßen, aber er ließ mich dann doch. Ich setzte mich an seinen Schreibtisch und verschlüsselte selber die Botschaft nach einem alten Code, während Thesinger mir zusah wie ein kranker Hund. Wir mußten das Ganze auf Handelscode zurechtstutzen, denn Thesingers Tarnung war das Exportgeschäft. Das dauerte nochmals eine halbe Stunde. Ich war völlig fertig, wirklich. Dann verbrannte ich den verdammten Code und tippte die Nachricht in den Apparat. Außer mir wußte damals kein Mensch auf der Welt, was die Zahlen auf diesem Blatt Papier bedeuteten, auch Thesinger nicht. Ich forderte volles Überläuferverfahren für Irina an, Schnellverfahren. Ich erbat alle die Vergünstigungen, von denen sie nicht einmal gesprochen hatte: Bargeld, Paß, neue Identität, kein Rampenlicht und einen Ort zum Leben. Schließlich war ich gewissermaßen ihr Sachwalter, nicht wahr, Mr. Smiley?«
Smiley blickte auf, als überraschte ihn die Anrede. »Ja«, sagte er ganz freundlich, »ja, ich nehme an, das waren Sie, gewissermaßen.«
»Und außerdem war er auch real beteiligt, wie ich ihn kenne«, sagte Guillam leise.
Tarr hatte es aufgeschnappt oder erraten und wurde wütend. »Das ist eine verdammte Lüge!« schrie er und wurde krebsrot. »Das ist eine . . .« Nachdem er Guillam haßerfüllt angestarrt hatte, kehrte er zu seiner Erzählung zurück.
»Ich umriß ihre Laufbahn bis dato und wo sie Zugang gehabt hatte, einschließlich ihrer Aufträge von der Zentrale. Ich bat um Inquisitoren und eine Militärmaschine. Sie glaubte, ich hätte um eine persönliche Unterredung mit Percy Alleline auf neutralem Boden gebeten, aber ich fand, diese Hürde sollten wir erst nehmen, wenn wir auf der anderen Seite wären. Ich schlug vor, sie sollten ein paar von Esterhases Aufklärern vorschicken, die sich um sie kümmern könnten, dazu vielleicht einen von unseren Ärzten.«
»Warum die Aufklärer?« fragte Smiley scharf. »Sie sind nicht autorisiert, Überläufer zu betreuen.«
Die Aufklärer waren Toby Esterhases Meute und nicht in Brixton stationiert, sondern in Acton. Sie hatten die Hilfsdienste bei Großaktionen zu leisten: Beschatten, Abhören, Transport und »sichere Häuser«.
»Ja, Toby hat's seit Ihrer Zeit ein Stück weitergebracht, Mr. Smiley«, erklärte Tarr. »Ich habe gehört, daß seine Pflastertreter jetzt sogar in Cadillacs rumfahren. Und stehlen den Skalpjägern das Brot vom Mund weg, wenn sie Gelegenheit dazu kriegen, stimmt's, Mr. Guillam?«
»Sie sind die offiziellen Straßenräuber von London Station geworden«, sagte Guillam kurz. »Im Zuge des Lateralismus«, fügte er hinzu.
»Ich schätzte, daß die Inquisitoren ein halbes Jahr brauchen würden, um sie auszuquetschen, und aus irgendeinem Grund war sie ganz erpicht auf Schottland. Ja, am liebsten hätte sie dort den Rest ihres Lebens verbracht. Mit Thomas. Unsere Babys im Brutkasten aufgezogen. Ich gab die Adresse von London Station an, kennzeichnete es als >sofort nach Empfang und nur an einen höheren Dienstrang zu übermitteln<.«
Guillam warf ein: »Das ist die neue Formel für maximale Geheimhaltung. Soll wahrscheinlich eine Bearbeitung in den Coderäumen ausschließen.«
»Aber nicht in London Station?« sagte Smiley. »Das ist deren Sache.«
»Sie haben vermutlich gehört, daß Bill Haydon den Job gekriegt hat?« sagte Lacon und fuhr zu Smiley herum. »Chef von London Station? Er ist praktisch der Einsatzleiter, was Percy zu Controls Zeiten war. Sie haben einfach alle Namen ausgetauscht. Sie wissen, wie Ihre alten Kollegen in bezug auf Namen sind. Sie sollten ihn aufklären, ihn up to date bringen.«
»Oh, ich glaube, ich bin im Bilde, vielen Dank«, sagte Smiley höflich. Mit trügerischer Verträumtheit erkundigte er sich bei Tarr: »Sie sprach von einem großen Geheimnis, sagten Sie?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie in Ihrem Telegramm nach London darüber eine Andeutung gemacht?«
Er hatte an irgend etwas gerührt, das war nicht zu übersehen; er hatte einen wunden Punkt berührt, denn Tarr blinzelte, warf einen argwöhnischen Blick auf Lacon, dann auf Guillam. Lacon, der erriet, worum es ging, ließ sofort ein Dementi los:
»Smiley weiß nur soviel, wie Sie ihm jetzt in diesem Zimmer berichtet haben«, sagte er. »Das stimmt doch, Guillam?« Guillam nickte bestätigend und beobachtete Smiley.
»Ich habe London das gleiche gesagt, was sie mir gesagt hat«, gab Tarr mürrisch zu, wie jemand, dem man eine besonders gute Geschichte gestohlen hat.
»In welchen Worten, ganz genau?« fragte Smiley. »Wenn Sie sich noch an den Wortlaut erinnern.«
>»Behauptet, weitere Informationen von höchster Bedeutung für Wohl des Circus zu besitzen, bisher ohne nähere Angaben.< Jedenfalls ganz ähnlich.«
»Danke. Haben Sie vielen Dank.« Sie warteten, bis Tarr fortfuhr.
»Ferner ersuchte ich den Chef von London Station, Mr. Guillam zu informieren, daß ich fündig geworden sei und mich nicht zum Spaß draußen rumtriebe.«
»Ist das geschehen?« fragte Smiley. »Mir hat niemand etwas gesagt«, sagte Guillam kalt. »Den ganzen Tag war ich dort und habe auf Antwort gewartet, aber am Abend war noch immer nichts da. Irina tat ihre Arbeit wie alle Tage. Darauf habe ich bestanden, verstehen Sie. Sie wollte einen kleinen Fieberanfall simulieren und im Bett bleiben, aber davon wollte ich nichts hören. Die Delegation sollte ein paar Fabriken auf Kaulun besichtigen, und ich sagte, sie solle hübsch mitzotteln und intelligent dreinschauen. Sie mußte mir schwören, nicht zu trinken. Ich wollte nicht, daß sie im letzten Moment eine Schau abzog, alles sollte bis zum Absprung normal wirken. Ich wartete bis zum Abend, dann stieß ich noch mal nach.« Smileys verschleierter Blick heftete sich auf das blasse Gesicht vor ihm.
»Sie bekamen natürlich Bestätigung?« fragte er. »>In Bearbeitung<. Sonst nichts. Ich habe die ganze verdammte Nacht wie auf Kohlen gesessen. Bei Tagesanbruch noch immer keine Antwort. Ich dachte: vielleicht ist die RAF-Maschine schon unterwegs. London macht's gründlich, dachte ich, knüpfen erst sämtliche Fäden, bevor sie mir grünes Licht geben. Ich meine, wenn man so weit von ihnen entfernt ist, muß man einfach glauben, daß sie's richtig machen. Was immer man von ihnen hält, daran muß man glauben. Und ich meine, ab und zu machen sie's tatsächlich richtig, stimmt's, Mr. Guillam?« Niemand kam ihm zu Hilfe.
»Ich habe mir Sorgen wegen Irina gemacht, verstehen Sie? Noch einen Tag, und sie würde schlappmachen. Endlich kam die Antwort. Es war überhaupt keine Antwort. Es war Verzögerungstaktik: >Teilen Sie uns mit, in welchen Abteilungen sie gearbeitet hat, die Namen früherer Kontakte und Bekannte innerhalb der Moskauer Zentrale, wie ihr jetziger Boß heißt, Eintrittsdatum in Zentrale. < Herrje, ich weiß nicht mehr, was noch alles. Ich setzte schnell eine Antwort auf, denn ich war für drei Uhr mit ihr verabredet, drunten an der Kirche . . .«
»An welcher Kirche?« Wieder Smiley.
»Englische Baptisten, Kennedy Road.« Zu jedermanns Erstaunen errötete Tarr aufs neue. »Sie ging so gern hinein. Nicht zum Gottesdienst, nur so'n bißchen rumschnuppern. Ich lungere am Eingang herum, aber sie kreuzt nicht auf. War das erste Mal, daß sie eine Verabredung nicht eingehalten hat. Unser Ausweich-Treff war drei Stunden später oben auf dem Hügel, danach jeweils zwei Minuten vor der vollen Stunde an der Kirche, bis es klappen würde. Falls sie in Schwierigkeiten wäre, würde sie ihren Badeanzug vors Fenster legen. Sie war eine leidenschaftliche Schwimmerin, ging alle Tage schwimmen. Ich rase zum Alexandra, kein Badeanzug. Ich mußte zweieinhalb Stunden totschlagen. Ich konnte nichts anderes mehr tun als nur warten.«
Smiley sagte: »Welchen Vermerk hatte das Telegramm der Zentrale an Sie?«
»Dringend.«
»Aber Ihres war ein Blitztelegramm.«
»Meine beiden waren Blitze.«
»Trug das Telegramm aus London eine Unterschrift?« Guillam schaltete sich ein: »Das ist nicht mehr üblich. Außenstehende haben immer mit London Station allgemein zu tun.«
»Hieß es >Persönlich entschlüsseln?«
»Nein«, sagte Guillam. Sie warteten, bis Tarr fortfuhr.
»Ich trieb mich in Thesingers Büro herum, aber dort erfreute ich mich keiner besonderen Beliebtheit, er hält nichts von Skalpjägern und er hatte eine große Sache auf dem chinesischen Festland laufen und fürchtete offenbar, ich würde dazwischenfunken.
Also setzte ich mich in ein Cafe, und dort fiel mir ein, ich könnte zum Flugplatz hinunterschauen. Es war nur ein Einfall: wie man sich sagt, >eigentlich könnte ich ins Kino gehen<. Ich setzte mit der Fähre über, nahm ein Taxi und wies den Chauffeur an, zu fahren wie der Teufel. Dann hat es sich zu einer Art Panik ausgewachsen. Ich drängte mich an der Auskunft vor und fragte nach sämtlichen Flügen nach oder aus Rußland. Ich bin fast verrückt geworden, während sie die Fluglisten durchgingen, und habe die chinesischen Clerks angebrüllt, aber die letzte Maschine war bereits gestern gestartet, und die nächste ging an diesem Abend um sechs. Aber jetzt hatte mich diese Ahnung gepackt. Ich mußte Gewißheit haben. Wie stand es mit Chartermaschinen, mit außerplanmäßigen Flügen, Fracht-, Sondermaschinen? War seit gestern vormittag nichts, wirklich gar nichts nach Moskau abgeflogen? Dann rückt diese Kleine mit der Antwort heraus, eine der chinesischen Hostessen. Ich gefalle ihr, verstehen Sie. Sie tut mir einen Gefallen. Eine außerplanmäßige Sowjetmaschine war vor zwei Stunden gestartet. Mit nur vier Passagieren an Bord. Die Attraktion war eine kranke Frau gewesen. Eine Dame. Im Koma. Sie mußte auf einer Bahre zum Flugzeug gebracht werden, und ihr Gesicht war mit Bandagen umwickelt. In ihrer Begleitung waren zwei Krankenpfleger und ein Arzt. Das war die ganze Reisegesellschaft. Ich rief als letzte Hoffnung das Alexandra an. Weder Irina noch ihr sogenannter Ehemann waren offiziell abgereist, aber aus ihrem Zimmer kam keine Antwort. Das windige Hotel wußte nicht mal, daß sie fort waren.«
Vielleicht hatte die Musik schon eine ganze Weile gespielt, und Smiley hörte sie erst jetzt. Sie drang in Fetzen aus verschiedenen Teilen des Hauses zu ihm: eine Tonleiter auf der Flöte, ein Kinderlied von einem Bandgerät, ein beherztes intoniertes Geigensolo. Die zahlreichen Lacon-Töchter erwachten.
Ein russisches Tagebuch, das allen spanisch vorkommt
»Vielleicht war sie wirklich krank«, sagte Smiley sachlich, mehr zu Guillam als zu einem der anderen. »Vielleicht war sie wirklich im Koma. Vielleicht wurde sie von echten Pflegern weggebracht. Nach dem, wie sie sich anhört, war sie ziemlich durchgedreht, gelinde gesagt.«
Mit einem Seitenblick zu Tarr fügte er hinzu: »Schließlich waren zwischen Ihrem ersten Telegramm und Irinas Abflug erst vierundzwanzig Stunden vergangen. Bei diesem knappen Timing können Sie die Schuld kaum London in die Schuhe schieben.«
»Eben doch«, sagte Guillam und blickte zu Boden. »Es ist äußerst knapp, aber es funktioniert gerade, wenn jemand in London . . .« - sie warteten alle - »wenn jemand in London Dampf dahinter macht. Und in Moskau ebenfalls, natürlich.«
»Genau das habe ich mir auch gesagt, Sir«, sagte Tarr voll Stolz in Beantwortung von Smileys Argument, während er Guillams Einwurf ignorierte. »Meine Rede, Mr. Smiley. Immer mit der Ruhe, Ricki, sage ich mir, wenn du nicht verdammt aufpaßt, schießt du noch auf Gespenster.«
»Oder aber die Russen haben sie geschnappt«, fuhr Smiley unerbittlich fort. »Die Beschatter haben von Ihrer Affäre Wind gekriegt und sie aus dem Verkehr gezogen. Es wäre ein Wunder, wenn sie es nicht rausgekriegt hätten, so wie ihr beide euch benommen habt.«
»Oder sie hat es ihrem Mann gebeichtet«, gab Tarr zu bedenken. »Ein bißchen verstehe ich auch von Psychologie, Sir. Ich weiß, was zwischen Mann und Frau passieren kann, wenn sie sich überworfen haben. Sie will ihm weh tun. Um ihn zu reizen, eine Reaktion zu provozieren, dachte ich mir. >Soll ich dir sagen, was ich getan habe, während du auf deinen Sauftouren warst? < - so in dieser Art. Boris geht auf der Stelle hin und erzählt's den Gorillas, sie ziehen ihr eins über und schaffen sie nach Haus. Ich bin alle diese Möglichkeiten durchgegangen, Mr. Smiley, glauben Sie mir. Ich habe sie durchgearbeitet. Ehrenwort. So wie's jeder Mann macht, dem die Frau abhaut.«
»Wir wollen uns auf den Bericht beschränken, ja?« zischte Guillam wütend.
Na also, sagte Tarr, er gebe zu, daß er vierundzwanzig Stunden lang den wilden Mann gespielt habe: »Und das passiert mir nicht oft, stimmt's, Mr. Guillam?«
»Oft genug.«
»Ich war ziemlich angeschlagen. Frustriert, könnte man sagen.« Die Überzeugung, daß man ihm mit brutaler Gewalt einen stolzen Preis vor der Nase weggeschnappt hatte, versetzte ihn in ziellosen Zorn, der sich in einer Sauftour durch alte Stammlokale austobte. Er ging ins Cat's Cradle, dann ins Angelika, und bis zum Morgengrauen hatte er ein halbes Dutzend weiterer Kneipen absolviert, ganz zu schweigen von ein paar Mädchen, die ihm dabei unterkamen. Einmal fuhr er ans andere Ende der Stadt und wirbelte in der Nachbarschaft des Alexandra ein bißchen Staub auf. Er hoffte, mit diesen Sicherheits-Gorillas ins Gespräch zu kommen. Als er wieder nüchtern wurde, fiel ihm Irina ein und ihr gemeinsames Abenteuer, und er beschloß, vor seinem Abflug nach London ihre toten Briefkästen aufzusuchen und nachzusehen, ob sie ihm zufällig noch hatte schreiben können, ehe man sie wegbrachte. Zum Teil einfach, damit er irgend etwas zu tun hatte. »Zum Teil habe ich wahrscheinlich den Gedanken nicht ertragen können, daß ein Brief von ihr irgendwo in einem Mauerloch herumliegt, während sie im Schwitzkasten sitzt«, gestand er, der verlorene Sohn, der immer wieder heimfand. Sie hatten zwei Verstecke, wo sie Briefe füreinander hinterlegten. Das erste war nicht weit vom Hotel auf einer Baustelle. »Haben Sie schon mal die Bambusgerüste gesehen, mit denen sie arbeiten? Phantastisch. Ich habe welche gesehen, die zwanzig Stockwerke hoch waren, und die Kulis krabbelten darüber mit Bauteilen aus Fertigbeton.« Ein unbenutztes Rohrstück, in Schulterhöhe. Wenn Irina in Eile gewesen war, so hatte sie höchstwahrscheinlich diesen Rohrpostkasten benutzt, aber als Tarr hinkam, war er leer. Der zweite war in der Kirche, »unten drin, wo sie die Traktate verwahren«, wie er sagte. »Der Stand war Teil einer ehemaligen Kleiderablage, wissen Sie. Wenn man im hintersten Kirchenstuhl kniet und herumtastet, findet man ein loses Brett. Dahinter ist ein Hohlraum voller Abfall und Rattendreck. Ich sage Ihnen, es gab ein reizendes Versteck ab, nicht zu überbieten.«
Eine kurze Pause trat ein, im Raum schwebte das Bild von Ricki Tarr und seiner Moskauer Liebsten, die Seite an Seite in der hintersten Bank einer Baptistenkirche in Hongkong knieten. In diesem toten Briefkasten, sagte Tarr, fand er keinen Brief, sondern ein ganzes verfluchtes Tagebuch. Die Handschrift war gut, und jedes Blatt zweiseitig beschrieben, so daß häufig die schwarze Tinte durchschlug. Es war in großer Eile geschrieben, ohne Verbesserungen. Er sah auf den ersten Blick, daß sie es in ihren lichten Momenten geführt hatte.
»Das ist natürlich nicht das Original. Das ist nur meine Kopie.« Seine lange Hand schlüpfte unter sein Hemd und brachte eine Ledertasche an einem breiten Riemen zum Vorschein. Er entnahm ihr ein schmuddeliges Päckchen Papier. »Ich nehme an, sie hat das Tagebuch hineingelegt, kurz bevor es sie erwischt hat«, sagte er. »Vielleicht hat sie bei dieser Gelegenheit noch ein letztes Gebet gesprochen. Ich habe die Übersetzung selbstgemacht.«
»Ich wußte nicht, daß Sie russisch sprechen«, sagte Smiley, nur für Tarr hörbar, der plötzlich grinste.
»Ah, heutzutage muß man in unserem Beruf auf Draht sein, Mr. Smiley«, erklärte er, während er die Seiten aufschlug. »Als Jurist bin ich vielleicht kein großes Licht, aber eine Fremdsprache kann entscheidend wichtig sein. Sie kennen vermutlich den berühmten Ausspruch: >Man ist sovielmal ein Mensch, wie man Sprachen spricht.< Stammt von einem großen Herrscher, Sir, von Karl dem Fünften. Mein Vater vergaß nie ein Zitat, das muß ich ihm lassen, und das Komische dabei ist, daß er außer Englisch kein Wort in einer anderen Sprache konnte. Ich lese Ihnen das Tagebuch vor, wenn es Ihnen recht ist.«
»Er versteht kein Wort Russisch«, sagte Guillam. »Sie haben die ganze Zeit englisch gesprochen. Irina hat einen dreijährigen Englischkurs absolviert.«
Guillam blickte zur Decke hoch, Lacon auf seine Hände. Nur Smiley behielt Tarr im Auge, der lautlos über seinen Scherz lachte.
»Sind wir so weit?« fragte er. »Also, dann fange ich an. >Thomas, hör mir zu, ich spreche mit dir.< Sie nannte mich bei meinem Nachnamen«, erklärte er. »Hab' ihr gesagt, ich hieße Tony, aber für sie war ich immer Thomas, ja? >Dieses Tagebuch ist mein Abschiedsgeschenk, falls sie mich fortschleppen, ehe ich mit Alleline sprechen kann. Ich möchte dir mein Leben schenken, Thomas, und natürlich meinen Körper, aber es sieht so aus, als würde dieses armselige Geheimnis alles sein, womit ich dich glücklich machen kann. Nutze es gut! < « Tarr blickte auf. »Das ist mit Montag datiert. Sie hat das Tagebuch während der vier Tage geführt.« Seine Stimme war ausdruckslos geworden, fast gelangweilt. »>In der Zentrale von Moskau geht mehr Klatsch um, als unseren Vorgesetzten lieb sein kann. Besonders die kleinen Würstchen machen sich gern wichtig und tun, als wüßten sie Bescheid. Zwei Jahre vor meiner Versetzung zum Handelsministerium habe ich nämlich in der Registratur unseres Hauptquartiers am Dzerzhinsky-Platz gearbeitet. Die Arbeit war furchtbar langweilig. Thomas, das Klima war unfreundlich, und ich war damals noch nicht verheiratet. Wir wurden angehalten, einander zu mißtrauen, es ist so zermürbend, nie unbefangen sprechen zu dürfen, niemals. Ich hatte einen Gehilfen namens Iwlow. Obwohl Iwlow mir weder gesellschaftlich noch im Dienstrang gleichgestellt war, brachte die bedrückende Atmosphäre eine Gleichgestimmtheit unserer Temperamente ans Licht. Verzeih mir, manchmal kann nur der Körper für uns sprechen, du hättest mir früher begegnen sollen, Thomas! Iwlow und ich machten mehrmals zusammen Nachtschicht, und schließlich kamen wir sogar überein, uns entgegen den Vorschriften außerhalb des Dienstgebäudes zu treffen. Er war blond, Thomas, wie du, und ich begehrte ihn. Wir trafen uns in einem Cafe in einem armen Stadtviertel von Moskau. In Rußland lehrt man, daß Moskau keine armen Stadtviertel besitzt, aber das ist eine Lüge. Iwlow erzählte mir, sein wirklicher Name sei Brod, aber er sei kein Jude. Er brachte mir Kaffee mit, den ihm ein Kamerad schwarz aus Teheran geschickt hatte, er war sehr süß, auch Strümpfe. Iwlow sagte, er bewundere mich sehr, und er habe einmal in einer Abteilung gearbeitet, wo über sämtliche von der Zentrale beschäftigten ausländischen Agenten bis ins kleinste Kartei geführt werde. Ich lachte und sagte, eine solche Kartei gebe es gar nicht, es sei ein Wunschtraum, anzunehmen, so viele Geheimnisse könnten an einer einzigen Stelle versteckt sein. Nun ja, wir waren wohl beide nur Träumer !<« Wieder unterbrach sich Tarr.
»Jetzt kommt der nächste Tag«, verkündete er. »Sie fängt an mit Gutenmorgengrüßen an Thomas, Gebeten und ein bißchen Liebesgeflüster. Eine Frau kann nicht an die Luft schreiben, sagt sie, also schreibt sie an Thomas. Ihr Alter ist früh weggegangen, und sie hat eine Stunde Zeit, Okay?« Smiley grunzte.
»>Beim zweiten privaten Zusammensein mit Iwlow traf ich ihn im Zimmer einer Cousine von Iwlows Frau, einer Lehrerin an der Staatsuniversität in Moskau. Wir waren allein. Bei diesem Zusammensein, das ganz verstohlen stattfand, kam es zu einem, wie wir es in einem Bericht nennen würden, inkriminierenden Akt. Ich glaube, Thomas, du selber hast auch schon einige Male einen solchen Akt begangen! Bei diesem Zusammensein erzählte Iwlow mir auch die folgende Geschichte, um uns noch fester aneinander zu binden. Thomas, du mußt dich in acht nehmen. Hast du schon einmal von Karla gehört? Er ist ein alter Fuchs, der listigste, der verschwiegenste in der Zentrale, sogar sein Name ist kein Name, den ein Russe versteht. Iwlow hatte schreckliche Angst, mir diese Geschichte zu erzählen, die angeblich mit einer großen Verschwörung zusammenhängt, vielleicht der größten überhaupt. Iwlows Geschichte lautete folgendermaßen. Du darfst sie nur absolut vertrauenswürdigen Personen erzählen, Thomas, weil sie äußerst konspiratorischer Natur ist. Du darfst sie keinem Menschen im Circus erzählen, denn man darf niemandem vertrauen, ehe das Rätsel gelöst ist. Iwlow sagte, es stimmte nicht, daß er eine Agentenkartei bearbeitet habe. Er habe diese Geschichte nur erfunden, um mir zu zeigen, wie gut er sich in der Zentrale auskenne und mir zu beweisen, daß ich mich nicht in einen Niemand verliebt habe. In Wahrheit hatte er in einer von Karlas großen Verschwörungen mitgewirkt und war als Karlas Helfer in England stationiert gewesen, als Chauffeur und Verschlüsselungsgehilfe bei der Botschaft getarnt. Für diese Aufgabe hatte er den Decknamen Lapin bekommen. Aus Brod war also Iwlow geworden und aus Iwlow Lapin: darauf war der arme Iwlow besonders stolz. Ich habe ihm nie gesagt, was lapin im Französischen bedeutet. Daß man den Wert eines Menschen nach der Zahl seiner Namen bemißt! Iwlows Aufgabe war, bei einem Maulwurf zu dienen. Ein Maulwurf ist ein Tiefen-Agent, und wird so genannt, weil er sich tief in das System des westlichen Imperialismus vorwühlt, in diesem Fall war es ein Engländer.
Maulwürfe sind für die Zentrale sehr wertvoll, denn es dauert viele Jahre, bis man sie ansetzen kann, oft fünfzehn oder zwanzig. Die meisten englischen Maulwürfe wurden vor dem Krieg von Karla angeworben und waren aus dem gehobenen Bürgertum, sogar Aristokraten und Adelige, die ihre Herkunft verabscheuten und zu heimlichen Fanatikern wurden, weitaus fanatischer als ihre Kameraden aus der englischen Arbeiterklasse, die eher trag sind. Einige bewarben sich um Aufnahme in die Partei, als Karla sie abfing und mit einer Spezialaufgabe betraute. Andere kämpften in Spanien gegen den Franco-Faschismus, wo Karlas Talentsucher sie aufstöberten und sie zur Anwerbung an Karla weiterreichten. Manche wurden während des Krieges angeworben, als Rußland mit den Briten ein Zweckbündnis hatte eingehen müssen, manche danach, als sie enttäuscht waren, weil der Krieg dem Westen keinen Sozialismus gebracht hatte. < Hier bricht sie ab«, verkündete Tarr, ohne von seinem Manuskript aufzublicken. »Ich habe vermerkt: >bricht ab<. Wahrscheinlich ist ihr Alter früher als erwartet zurückgekommen. Die Tinte ist ganz verwischt. Gott weiß, wo sie das verdammte Ding versteckt hat. Vielleicht unter der Matratze.« Falls dies ein Scherz sein sollte, so mißlang er. »>Der Maulwurf, für den Lapin in London arbeitete, wurde unter dem Decknamen Gerald geführt. Er war von Karla angeworben worden und war Gegenstand strengster Geheimhaltung. Hilfsdienste bei Maulwürfen werden nur von Genossen mit erstklassiger Befähigung versehen, sagt Iwlow. Iwlow-Lapin war an der Botschaft scheinbar eine bloße Null und mußte sich auf Grund dieser untergeordneten Stellung viele Demütigungen gefallen lassen, zum Beispiel bei festlichen Anlässen mit Frauen hinter der Bar stehen, in Wahrheit hingegen war er ein wichtiger Mann, der geheime Adjutant von Oberst Gregor Viktorow, dessen Arbeitsname bei der Botschaft Poljakow lautet.<« Hier meldete Smiley sich ein einziges Mal zu Wort; er ließ sich den Namen buchstabieren. Wie ein Schauspieler, der mitten im schönsten Monolog unterbrochen wird, antwortete Tarr ungnädig: »P-O-L-J-A-K-O-W. Haben Sie's jetzt verstanden?«
»Ja, vielen Dank«, sagte Smiley mit unerschütterlicher Höflichkeit und in einem Ton, der eindeutig besagte, daß der Name für ihn keinerlei Bedeutung habe. Tarr fuhr fort:
»>Viktorow ist selber ein alter Hase und mit allen Wassern gewaschen, sagte Iwlow. Seine Tarnung ist Kulturattache, und in dieser Eigenschaft verständigt er sich mit Karla. Als Professor Poljakow organisiert er an britischen Universitäten und bei Gesellschaften Vorlesungen über kulturelle Probleme der Sowjetunion, aber nachts arbeitet er als Oberst Gregor Viktorow. Nach Anweisung Karlas aus der Zentrale instruiert er den Maulwurf Gerald und holt dessen Informationen ein. Zu diesem Zweck setzt Oberst Viktorow Kuriere ein, und der arme Iwlow war eine Zeitlang einer von ihnen. Aber nach wie vor wird der Maulwurf Gerald von Karla in Moskau unmittelbar kontrolliert.< Jetzt ändert es sich völlig«, sagte Tarr. »Sie schreibt nachts und ist entweder blau oder halbtot vor Angst - ein einziges Gefasel die ganze Seite über. Über Schritte auf dem Korridor und Seitenblicke, die die Gorillas ihr zuwerfen. Nicht übernommen, o. k., Mr. Smiley?« Und auf ein sparsames Nicken hin fuhr er fort: »>Die Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz des Maulwurfs waren bemerkenswert. Schriftliche Berichte aus London an Karla wurden, auch wenn sie verschlüsselt waren, auseinandergeschnitten und durch getrennte Kuriere geschickt, andere waren unter der üblichen Botschaftskorrespondenz, nur mit Geheimtinte verfaßt. Iwlow erzählte mir, der Maulwurf Gerald habe zeitweise mehr Material geliefert, als Viktorow-Poljakow beim besten Willen bewältigen konnte. Vieles war auf unentwickelten Filmen, oft dreißig Rollen in einer Woche. Wenn der Behälter nicht auf eine bestimmte Art geöffnet wurde, war der Film verdorben. Anderes Material wurde vom Maulwurf bei streng geheimen Zusammenkünften mündlich geliefert und auf Spezialband aufgenommen, das nur über einen raffiniert konstruierten Apparat abgespielt werden konnte. Auch dieses Band wurde gelöscht, wenn man es dem Licht aussetzte oder auf einem falschen Gerät abzuspielen versuchte. Die Zusammenkünfte wurden von Fall zu Fall verabredet, immer anders, immer plötzlich, mehr weiß ich nicht, außer daß es sich um die Zeit handelte, als die faschistische Aggression in Vietnam ihren Höhepunkt erreicht hatte; in England hatten die reaktionären Kräfte wieder die Macht an sich gerissen. Auch daß, laut Iwlow-Lapin, der Maulwurf Gerald einen hohen Rang im Circus bekleidete. Thomas, ich sage dir dies alles, weil ich, seit ich dich liebe, alles Englische bewundere, dich am meisten. Ich mag nicht glauben, daß ein englischer Gentleman ein Verräter sein soll, obwohl ich es natürlich richtig finde, daß er sich für die Sache der Arbeiterklasse einsetzt. Auch fürchte ich für die Sicherheit eines jeden, der für den Circus arbeitet. Thomas, ich liebe dich, geh vorsichtig um mit diesem Wissen, es könnte auch dir schaden. Iwlow war ein Mann wie du, auch wenn sie ihn Lapin nannten . . .<« Tarr zögerte verschämt. »Am Ende kommt eine Stelle, wo ...«
»Lesen Sie«, brummte Guillam.
Tarr hob den Papierpacken leicht schräg an und las in der gleichen schleppenden Tonart weiter:
»>Thomas, ich sage dir alles auch deshalb, weil ich Angst habe. Als ich heute morgen aufwachte, saß er auf dem Bett und starrte mich an wie ein Irrer. Als ich zum Kaffee hinunterging, belauerten mich die Wächter Trepow und Nowikow wie Tiere, ihr Frühstück rührten sie kaum an. Sie waren bestimmt schon seit Stunden da, auch Awilow, ein Junge von der Außenstelle, saß bei ihnen. Hast du geplaudert, Thomas? Hast du ihnen mehr erzählt, als ich ahnen konnte? Jetzt begreifst du wohl, warum nur Alleline in Frage kommt. Mach dir keine Vorwürfe, ich kann erraten, was du ihnen erzählt hast. Im Herzen bin ich frei. Du hast nur meine schlechten Seiten zu sehen bekommen. Das Trinken, die Angst, die Lüge, in der wir leben. Aber tief in meinem Innern brennt ein neues und seliges Licht. Ich glaubte immer, die Geheimwelt sei ein hermetisch abgeschlossener Ort und ich sei für immer auf eine Insel von Halbmenschen verbannt. Aber Thomas, sie ist nicht abgeschlossen. Gott hat mir gezeigt, daß sie hier ist, inmitten der wirklichen Welt, in unserer Reichweite, und daß wir nur die Türen öffnen und hinaustreten müssen, um frei zu sein. Thomas, du mußt immer nach diesem Licht streben, das ich gefunden habe. Man nennt es Liebe. Jetzt werde ich dieses Buch zu unserem Versteck bringen und dort lassen, solange noch Zeit ist. Lieber Gott, ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Gott gewähre mir eine Freistatt in seiner Kirche. Erinnere dich: auch dort habe ich dich geliebt.<« Tarr war leichenblaß, und seine Hände, die das Hemd aufknöpften, um das Tagebuch wieder in die Ledertasche zu stecken, waren zittrig und feucht. »Es kommt noch ein Nachsatz«, sagte er. »Er lautet: >Thomas, warum weißt du nur noch so wenige Gebete aus deiner Kindheit? Dein Vater war ein großer und guter Mensch.< Wie ich schon sagte«, erläuterte er, »sie war verrückt.«
Lacon hatte die Läden geöffnet, und jetzt strömte das weiße Tageslicht voll in den Raum. Die Fenster gingen auf eine kleine Koppel hinaus, wo Jackie Lacon, ein fettes kleines Mädchen mit Zöpfen und Reitkappe, behutsam ihr Pony im Kanter laufen ließ.
Außerplanmäßige Flüge mit Landung in Ost und West
Ehe Tarr wegging, stellte Smiley ihm einige Fragen. Er blickte dabei nicht Tarr an, sondern stellte die kurzsichtigen Augen auf mittlere Distanz ein. Die Tragödie hatte einen trostlosen Ausdruck auf dem feisten Gesicht hinterlassen. »Wo ist das Original dieses Tagebuchs?«
»Ich habe es sofort wieder in den toten Briefkasten gelegt. Sie müssen es sich so vorstellen, Mr. Smiley: Als ich das Tagebuch fand, war Irina schon vierundzwanzig Stunden in Moskau. Meiner Vermutung nach würde sie nicht mehr viel Puste haben, wenn das Verhör losging. Höchstwahrscheinlich war sie schon im Flugzeug gründlich präpariert worden, dann folgte eine zweite Runde bei der Landung, dann Frage Eins, sobald die Obermacher mit dem Frühstück fertig waren. So machen sie's bei den Schüchternen: erst die Daumenschrauben und dann die Fragen, stimmt's? Es könnte daher nur einen, höchstens zwei Tage dauern, bis die Zentrale einen Strauchdieb losschicken würde, der sich ein bißchen dort hinten in der Kirche umsehen sollte, okay?« Und dann wieder affektiert: »Außerdem mußte ich auf mein eigenes Wohlergehen bedacht sein.«
»Er will sagen, daß die Moskauer Zentrale weniger daran interessiert sein würde, ihm die Kehle durchzuschneiden, wenn sie glaubten, er hätte das Tagebuch nicht gelesen«, sagte Guillam. »Haben Sie es fotografiert?«
»Ich trage keine Kamera. Ich habe mir ein dickes Schreibheft gekauft. In dieses Heft habe ich das Tagebuch abgeschrieben. Das Original habe ich wieder in sein Versteck gelegt. Die ganze Arbeit hat rund vier Stunden gedauert.« Er schaute Guillam an, dann von ihm weg. Das frische Tageslicht enthüllte plötzlich tiefverborgene Furcht auf Tarrs Gesicht. »Als ich ns Hotel zurückkam, war mein Zimmer völlig verwüstet: sie hatten sogar die Tapeten von den Wänden gerissen. Der Direktor schrie mich an, ich solle mich zum Teufel scheren. Er wollte von nichts gewußt haben.«
»Er hat eine Kanone bei sich«, sagte Guillam. »Er wird sie nicht mit hinausnehmen.«
»Da haben Sie verdammt recht, das werd' ich nicht.« Aus Smileys Magengegend kam ein mitfühlendes Grunzen: »Diese Zusammenkünfte, die Sie mit Irina hatten: die toten Briefkästen, die Warnsignale und Ausweichtreffpunkte. Wer hat diese fachmännischen Vorschläge gemacht: die Frau oder Sie?«
»Irina.«
»Worin bestanden die Warnsignale?«
»Körpersprache. Wenn ich den Kragen offen trug, wußte sie, daß ich die Umgebung abgesucht hatte und vermutete, daß die Luft rein sei. Wenn ich ihn geschlossen trug, Treffen abgeblasen bis zum Ausweichtermin.«
»Und Irina?«
»Handtasche. Linke Hand, rechte Hand. Ich kam als erster und wartete irgendwo, wo sie mich sehen konnte. Sie hatte die Wahl: Bleiben oder Abhauen.«
»Das Ganze ereignete sich vor einem halben Jahr. Was haben Sie inzwischen gemacht?«
»Geschlafen«, sagte Tarr grob.
Guillam sagte: »Er hat durchgedreht und sich nach Kuala Lumpur in eines der Bergdörfer verzogen. Sagt er jedenfalls. Er hat eine Tochter namens Danny.«
»Danny ist meine Kleine.«
»Er hat bei Danny und ihrer Mutter sein Lager aufgeschlagen«, sagte Guillam. Wie immer redete er Tarr ganz einfach dazwischen. »Er hat seine Weiber über den ganzen Globus verstreut, aber im Moment scheint sie die Lieblingsfrau zu sein.«
»Warum sind Sie ausgerechnet jetzt zurückgekommen?« Tarr sagte nichts.
»Hätten Sie nicht gern Weihnachten mit Danny verbracht?«
»Schon.«
»Also, was ist passiert? Hat Ihnen etwas einen Schreck eingejagt?«
»Es sind Gerüchte umgegangen«, sagte Tarr mürrisch. »Welche Art von Gerüchten?«
»So ein Franzose ist in KL aufgetaucht und hat herumerzählt, ich schuldete ihm Geld. Wollte mir einen Anwalt auf den Hals hetzen. Ich schulde niemandem Geld.«
Smiley wandte sich wieder an Guillam: »Im Circus wird er noch immer als Überläufer geführt?«
»Als mutmaßlicher.«
»Was haben Sie bisher unternommen?«
»Ich bin nicht zuständig. Ich habe auf Umwegen erfahren, daß London Station vor einer Weile mehrmals Kriegsrat über ihn gehalten hat, aber ich war nicht eingeladen und weiß also nicht, was dabei herauskam. Ich vermute, gar nichts, wie üblich.«
»Welchen Paß hat er benutzt?«
Tarr hatte die Antwort bereit: »Thomas habe ich abgeworfen, sobald ich in Malaya ankam. Wie ich annahm, war Thomas zur Zeit in Moskau nicht gerade Liebkind, und so machte ich ihm besser an Ort und Stelle den Garaus. In KL ließ ich mir einen Commonwealth- und britischen Paß anfertigen.« Er gab ihn Smiley. »Auf den Namen Poole. Nicht schlecht für den Preis.«
»Warum benutzten Sie nicht einen Ihrer Schweizer Pässe?« Wieder eine argwöhnische Pause.
»Oder kamen die Pässe bei der Durchsuchung Ihres Hotelzimmers abhanden?«
Guillam sagte: »Er hat sie sofort nach seiner Ankunft in Hongkong gut versteckt. Das Übliche.«
»Warum haben Sie sie dann nicht benutzt?«
»Sie waren numeriert, Mr. Smiley. Sie waren zwar nicht ausgefüllt, aber numeriert waren sie. Mir war ein bißchen mulmig, ehrlich gesagt. Wenn London die Nummern hatte, dann hatte Moskau sie vielleicht auch, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Und was taten Sie mit Ihren Schweizer Pässen?« wiederholte Smiley freundlich.
»Er sagt, er hat sie weggeworfen«, sagte Guillam. »Wahrscheinlich hat er sie verkauft. Oder für diesen da in Tausch gegeben.«
»Wie? Wie hat er sie weggeworfen? Haben Sie sie verbrannt?«
»Stimmt, ich habe sie verbrannt«, sagte Tarr, und seine Stimme klang frech, halb Drohung, halb Furcht. »Aber Sie sagten, dieser Franzose habe Sie gesucht...«
»Er suchte Poole.«
»Wer hat jemals etwas von Poole wissen können, außer dem Mann, der diesen Paß gefälscht hat?« fragte Smiley und blätterte darin. Tarr sagte nichts. »Sagen Sie mir, wie Sie nach England zurückgereist sind«, forderte Smiley ihn auf.
»Hinten rum, über Dublin. Kein Problem.« Tarr war ein schlechter Lügner, wenn er unter Druck gesetzt wurde. War vielleicht die Schuld seiner Eltern. Er reagierte überstürzt, wenn er nicht vorbereitet war, und zu aggressiv, wenn er eine Antwort in petto hatte.
»Wie sind Sie nach Dublin gekommen?« fragte Smiley und prüfte die Einreisestempel auf der Mittelseite.
»Ging wie geschmiert.« Er hatte sein Selbstvertrauen zurückgewonnen. »Ich habe ein Mädchen, die Stewardeß bei der South African ist. Ein Kumpel hat mich per Fracht zum Kap geflogen, dort hat mich mein Mädchen übernommen und mir dann durch einen der Piloten einen Freiflug nach Dublin verschafft. Für die Leute im Osten habe ich die Halbinsel überhaupt nicht verlassen.«
»Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um das zu prüfen«, sagte Guillam mit einem Blick zur Decke.
»Dann passen Sie verteufelt auf, Baby«, herrschte Tarr Guillam an.
»Hetzen Sie mir nicht die falschen Leute auf den Pelz.«
»Warum sind Sie zu Mr. Guillam gekommen«, erkundigte sich Smiley, der noch immer in Mr. Pooles Paß vertieft war. Es war ein benutztes, ein vielbenutztes Dokument, weder zu voll noch zu leer. »Abgesehen davon, daß Sie natürlich Angst hatten.«
»Mr. Guillam ist mein Boß«, sagte Tarr tugendhaft.
»Ist Ihnen überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß er sie kurzerhand an Alleline weiterreichen könnte? Schließlich sind Sie, jedenfalls in den Augen der Circus-Riesen, ein sehr begehrter Mann.«
»Klar. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Mr. Guillam mehr für die neue Gruppierung übrig hat als Sie, Mr. Smiley.«
»Außerdem liebt er England«, erläuterte Guillam mit beißendem Hohn.
»Klar. Ich hab' Heimweh gekriegt.«
»Haben Sie jemals erwogen, sich an jemanden anders als an ihn zu wenden? Warum zum Beispiel nicht an eine der Außenstellen, wo Sie weniger Gefahr liefen? Ist Mackelvore noch der Leiter in Paris?« Guillam nickte. »Na also: Sie hätten zu Mr. Mackelvore gehen können. Er hat Sie angeworben, Sie können ihm vertrauen: ein alter Circus-Mann. Sie hätten sicher in Paris sitzen können, anstatt hier Ihren Hals zu riskieren. Du lieber Gott. Lacon, schnell!«
Smiley war aufgesprungen, er hatte den Handrücken an den Mund gepreßt und starrte aus dem Fenster. Auf der Koppel lag Jackie Lacon schreiend auf dem Bauch, während ein reiterloses Pony zwischen den Bäumen davonraste. Sie schauten noch immer hinaus, als Mrs. Lacon, eine hübsche Frau mit langem Haar und dicken Winterstrümpfen, über den Zaun sprang und das Kind aufhob.
»Sie fallen oft runter«, bemerkte Lacon ziemlich ärgerlich. »In diesem Alter tun sie sich nicht weh.« Und nicht viel liebenswürdiger setzte er hinzu: »George, Sie sind nicht für Gott und die Welt verantwortlich.« Langsam setzten sie sich wieder zurecht.
»Und wenn Sie Paris zum Ziel gehabt hätten«, fuhr Smiley fort, »welche Route hätten Sie dann gewählt?«
»Die gleiche bis Irland, und dann wahrscheinlich Dublin-Orly. Was haben Sie gedacht: daß ich auf dem Wasser wandle?« Hier wurde Lacon rot, und Guillam sprang mit einem zornigen Ausruf hoch. Nur Smiley schien ganz ungerührt. Er nahm den Paß wieder zur Hand und kehrte langsam zum Anfang zurück. »Und wie haben Sie sich mit Mr. Guillam in Verbindung gesetzt?«
Guillam antwortete an seiner Stelle, er sprach schnell: »Er wußte, wo ich meinen Wagen unterstelle. Er schlug einen Treffpunkt vor und deutete an, wir sollten das Ganze zunächst als Privatsache betrachten. Ich nahm Fawn als Babysitter mit.« Smiley unterbrach: »Vorhin an der Tür, war das Fawn?«
»Er stand für mich Wache, während wir redeten. Seitdem ist er ständig bei uns. Sobald ich Tarrs Geschichte gehört hatte, rief ich von einer Telefonzelle aus Lacon an und bat um eine Unterredung. George, sollten wir das nicht unter uns besprechen?«
»Haben Sie Lacon hier angerufen oder in London?«
»Hier«, sagte Lacon.
Stille trat ein, bis Guillam erklärte: »Ich erinnerte mich zufällig an den Namen eines Mädchens in Lacons Büro. Ich erwähnte ihren Namen und sagte, sie habe mich gebeten, ihn dringend wegen einer Privatsache anzurufen. Es war nicht ideal, aber es war das Beste, was mir auf Anhieb einfiel.« Und um das Schweigen auszufüllen, setzte er hinzu: »Verdammt noch mal, es bestand kein Grund zur Annahme, daß die Leitung angezapft war.«
»Es bestand jeder Grund.«
Smiley hatte den Paß zugeklappt und prüfte den Einband im Licht einer neben ihm stehenden schäbigen Leselampe. »Recht ordentlich, wie?« bemerkte er leichthin. »Sogar sehr ordentlich. Ich würde sagen, Facharbeit. Ich kann keine schwache Stelle entdecken.«
»Bemühen Sie sich nicht, Mr. Smiley«, konterte Tarr und nahm den Paß wieder an sich, »er ist nicht made in Russia.« Als er an der Tür stand, war das Lächeln wieder zurückgekehrt. »Soll ich Ihnen mal was sagen?« fragte er die drei Männer über die Schneise des langen Raums hinweg. »Wenn Irina recht hat, dann werdet ihr Jungens einen ganz neuen Circus brauchen. Wenn wir also zusammenhalten, könnten wir die Kerntruppe bilden.« Er trommelte spielerisch an die Tür. »Mach auf, Darling, ich bin's. Ricki.«
»Danke! Geht in Ordnung! öffnen Sie bitte«, rief Lacon, und einen Augenblick später wurde der Schlüssel umgedreht, die dunkle Gestalt Fawns, des Babysitters, wurde einen kurzen Moment sichtbar, und die Schritte der beiden verklangen in den tiefen Gewölben des Hauses, zur Begleitmusik von Jackie Lacons fernem Gebrüll.
Worin der Name Ellis zum ersten, aber nicht zum letzten Mal fällt
Auf der Seite des Hauses, die der Pony-Koppel entgegengesetzt war, lag unter den Bäumen versteckt ein Tennisrasen. Es war kein guter Tennisrasen, er wurde selten gemäht. Im Frühling war das Gras sumpfig vom Winter und die Sonne konnte nicht hingelangen und es trocknen, im Sommer verschwanden die Bälle im Laubwerk, und an diesem Morgen war er knöcheltief von gefrorenen Blättern bedeckt, die sich überall aus dem Garten hier angesammelt hatten. Aber außen herum, ungefähr parallel mit dem Drahtrechteck, zog sich ein Pfad zwischen einigen Birken hin, und auf diesem Pfad gingen auch Smiley und Lacon fürbaß. Smiley hatte seinen Reisemantel angezogen, aber Lacon trug nur seinen fadenscheinigen Anzug. Vielleicht hatte er deshalb eine so scharfe rücksichtslose Gangart angeschlagen, daß jeder Schritt ihn ein Stück weiter über Smiley hinausbrachte und er ständig innehalten und - Schultern und Ellbogen angehoben -, warten mußte, bis der kleinere Mann aufgeholt hatte. Dann legte er sofort wieder los und gewann aufs neue Vorsprung. Auf diese Weise brachten sie zwei Runden hinter sich, bis Lacon das Schweigen brach. »Als Sie vor einem Jahr mit einem ähnlichen Vorschlag zu mir kamen, habe ich Sie leider hinausgeworfen. Ich nehme an, ich sollte mich entschuldigen. Ich war nicht auf der Höhe.« Angemessenes Schweigen herrschte, während er sein Pflichtversäumnis erwog. »Ich gab Ihnen Anweisung, Ihre Nachforschungen einzustellen.«
»Sie sagten, es sei Amtsanmaßung«, sagte Smiley betrübt, wie in Erinnerung an den gleichen Trauerfall.
»Habe ich diesen Ausdruck gebraucht? Großer Gott, wie schwülstig!«
Vom Haus her hörte man Jackie noch immer schreien.
»Sie hatten nie welche, wie?« quäkte Lacon plötzlich und hob lauschend den Kopf.
»Wie bitte?«
»Kinder. Sie und Ann.«
»Nein.«
»Neffen, Nichten?«
»Einen Neffen.«
»Ihr eigener?«
»Anns Neffe.«
Vielleicht bin ich nie von hier weggegangen, dachte er und blickte um sich, auf die wuchernden Rosen, die zerbrochenen Schaukeln und morastigen Sandgruben, das ungepflegte rote Haus, das im Morgenlicht so roh wirkte. Vielleicht sind wir noch vom letzten Mal da. Lacon rechtfertigte sich aufs neue: »Ich gebe zu, daß ich Ihren Motiven nicht hundertprozentig traute. Es ging mir durch den Kopf, daß Control Sie darauf angesetzt haben könnte, wissen Sie. Um sich an der Macht zu halten und Alleline nicht zum Zug kommen zu lassen«, und wieder rannte er los, mit langen Schritten, abgewinkelten Handgelenken.
»O nein, ich garantiere Ihnen, daß Control überhaupt nichts davon wußte.«
»Das ist mir jetzt klar. Damals nicht. Es ist nicht ganz einfach zu entscheiden, wann man euch trauen darf und wann nicht. Sie haben ganz andere Maßstäbe, nicht wahr? Ich meine, notwendigerweise. Ich akzeptiere sie. Ich will hier nicht richten. Schließlich haben wir alle das gleiche Ziel, wenn auch unsere Methoden verschieden sind« - er setzte über einen Viehgraben. »Einmal hörte ich jemanden sagen, Moral ist Methode. Sind Sie auch dieser Meinung? Wahrscheinlich nicht. Sie würden vermutlich sagen, die Moral sei durch das Ziel definiert. Nur, daß es schwer zu sagen ist, welche Ziele man wirklich hat, besonders wenn man Brite ist. Wir können von euch Leutchen nicht erwarten, daß ihr die Politik für uns festsetzt, wie? Wir können euch nur bitten, sie zu schützen. Habe ich recht? Knifflige Sache das.« Smiley, der keine Lust mehr hatte, hinter ihm herzujagen, setzte sich auf eine rostige Schaukel, wickelte den Mantel enger um sich und wartete, bis Lacon endlich zurückstelzte und sich neben ihm niederließ. Eine Weile schaukelten sie gemeinsam sanft im Rhythmus der ächzenden Federn.
»Wie zum Teufel ist sie auf Tarr verfallen«, brummte Lacon schließlich und ließ die langen Finger knacken. »Von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet den als Beichtvater zu wählen, der so ziemlich der unpassendste sein dürfte.«
»Ich fürchte, diese Frage werden Sie einer Frau stellen müssen,
nicht uns«, sagte Smiley und fragte sich wieder einmal, wo Immingham sein mochte.
»Wahrhaftig«, sagte Lacon mit übertriebener Betonung, »ein vollständiges Rätsel, das Ganze. Um elf Uhr bin ich beim Minister. Ich muß ihn ins Bild setzen. Ihren Parlamentsvetter«, fügte er als gezwungenen vertraulichen Scherz hinzu.
»Eigentlich Anns Vetter«, berichtigte ihn Smiley im gleichen abwesenden Tonfall. »Um etliche Ecken, sollte ich hinzufügen, aber trotz allem ein Vetter.«
»Und Bill Haydon ist auch Anns Vetter? Unser vornehmer Direktor von London Station.« Ach dies hatten sie schon einmal durchgespielt.
»Auf andere Weise, ja, ist Bill auch ihr Vetter.« Ziemlich überflüssig fügte er hinzu: »Sie kommt aus einer alten Familie mit einer starken politischen Tradition. Im Laufe der Zeit hat sie sich ziemlich ausgebreitet.«
»Die Tradition?« Lacon liebte es, auf Doppeldeutigkeiten hinzuweisen. »Die Familie.«
Hinter diesen Bäumen, dachte er, fahren Autos vorbei. Hinter diesen Bäumen liegt eine ganze Welt, aber Lacon hat seine rote Burg und sein christliches Pflichtgefühl, das ihm keinen anderen Lohn verspricht als einen Adelstitel, die Achtung seiner Peers, eine fette Pension und ein paar Aufsichtsratspöstchen in der City. »Auf jeden Fall sehe ich ihn um elf.« Lacon war aufgesprungen, und nun marschierten sie wieder. Smiley fing den Namen Ellis auf, den die herbstliche Morgenluft zu ihm zurückwehte. Einen Augenblick überkam ihn, genau wie neben Guillam im Auto, eine seltsame Nervosität.
»Schließlich«, sagte Lacon gerade, »haben wir beide nur unsere Pflicht getan. Sie glaubten, Ellis sei ein Verräter, und Sie verlangten eine Hexenjagd. Mein Minister und ich glaubten, es handele sich um schlimmste Unfähigkeit von Control - eine Ansicht, die, um es milde auszudrücken, das Foreign Office teilte -, und wir verlangten einen neuen Besen.«
»Oh, ich verstehe Ihr Dilemma sehr gut«, sagte Smiley mehr zu sich selber als zu Lacon.
»Freut mich. Und vergessen Sie nicht, George: Sie waren Controls Mann. Control hat Sie Haydon vorgezogen, und als er gegen Ende die Dinge nicht mehr im Griff hatte - und dieses ganze ungeheure Abenteuer begann -, haben Sie sich für ihn exponiert. Nur Sie, George. Es passiert nicht alle Tage, daß der Leiter eines Geheimdienstes einen Privatkrieg gegen die Tschechen beginnt.« Es war klar, daß die Erinnerung immer noch schmerzte. »Unter anderen Gegebenheiten hätte wahrscheinlich Haydon dran glauben müssen, aber Sie saßen schon auf dem Schleudersitz, und . . .«
»Und Alleline war der Mann des Ministers«, sagte Smiley so milde, daß Lacon seine Gangart zügelte und ihm zuhörte. »Sie hatten ja keinen Verdächtigen, nicht wahr? Sie wiesen nicht mit dem Finger auf einen bestimmten Mann. Eine ziellose Untersuchung kann außerordentlich viel Schaden anrichten.«
»Ein neuer Besen hingegen kehrt besser.«
»Percy Alleline macht seine Sache sehr gut. Er sorgt für Nachrichten statt für Skandale; er hält sich genau an die Abmachungen und hat das Vertrauen der Klienten gewonnen. Und soviel ich weiß, ist er noch nicht in tschechoslowakisches Gebiet eingedrungen.«
Sie waren zu einem leeren Schwimmbassin gelangt und starrten auf den Grund. Aus den schlammigen Tiefen vermeinte Smiley wieder Roddy Martindales hinterhältige Stimme zu hören: »Kleine Leseräume in der Admiralität, kleine Ausschüsse mit komischen Namen wachsen aus dem Boden . . .«
»Sprudelt Percys Spezialquelle noch immer?« erkundigte sich Smiley. »Das Witchcraft-Material oder wie man das heutzutage nennt.«
»Ich wußte nicht, daß Sie eingeweiht sind«, sagte Lacon keineswegs erfreut. »Da Sie danach fragen, ja. Quelle Merlin ist unser wichtigster Anhaltspunkt, und Witchcraft ist immer noch der Name des Produkts. Der Circus hat seit Jahren kein so gutes Material vorgelegt. Überhaupt nie, soweit ich mich erinnern kann.«
»Und es unterliegt noch immer diesen besonderen Sicherheitsbestimmungen ?«
»Gewiß, und nachdem das jetzt passiert ist, werden wir bestimmt noch weit strengere Vorsichtsmaßnahmen treffen.«
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun. Gerald könnte den Braten riechen.«
»Das ist der Haken, nicht wahr?« bemerkte Lacon rasch. Seine Zähigkeit war unglaublich, dachte Smiley. Im einen Augenblick war er ein dürrer, ausgepumpter Boxer, dem die Handschuhe zu groß waren für die mageren Gelenke; im nächsten hatte er ausgeholt, einen in die Seile geschickt und beobachtete sodann sein Opfer mit christlichem Mitgefühl. »Wir können nichts tun. Wir können keine Nachforschungen anstellen, weil das gesamte Instrumentarium für eine solche Untersuchung in den Händen des Circus liegt, vielleicht sogar beim Maulwurf Gerald persönlich. Wir können nicht beschatten oder abhören oder Post öffnen. Wir würden in jedem solchen Fall auf Esterhases Aufklärer zurückgreifen müssen, und Esterhase muß wie jeder andere auch suspekt sein. Wir können keine Verhöre anstellen, wir können nicht dafür sorgen, daß bestimmten Personen der Zugang zu heiklen Geheimnissen verwehrt wird. Wenn wir etwas Derartiges unternähmen, würden wir riskieren, den Maulwurf stutzig zu machen. Es ist die älteste Frage der Welt, George. Wer kann den Spion ausspionieren? Wer kann den Fuchs hetzen, ohne mit ihm zu rennen?« Er machte einen weiteren mißglückten Versuch, Humor zu beweisen: »Höchstens der Maulwurf«, sagte er im Verschwörerton.
In einer jähen Aufwallung von Energie hatte Smiley sich losgerissen und trabte vor Lacon den Pfad entlang, der zur Koppel führte.
»Dann gehen Sie doch zur Konkurrenz«, rief er, »Gehen Sie zum Sicherheitsdienst. Sie sind die Experten, sie werden Ihnen eine feine Arbeit liefern.«
»Der Minister möchte das nicht. Sie wissen sehr genau, was er und Alleline von der Konkurrenz halten. Und ganz zu recht, wenn ich das sagen darf. Eine Meute ehemaliger Verwaltungsbeamter aus den Kolonien, die in den Circus-Papieren herumstöbert: ebensogut könnte man das Heer ansetzen, um die Marine zu überprüfen!«
»Das ist überhaupt kein Vergleich«, wandte Smiley ein. Aber Lacon als guter Beamter hatte schon die zweite Metapher bereit: »Jedenfalls würde der Minister lieber unter einem undichten Dach wohnen, als sich von diesen Außenseitern seine ganze Burg einreißen zu lassen. Entspricht Ihnen diese Formulierung! Er hat einen absolut stichhaltigen Grund, George. Wir haben doch Agenten im Außendienst, und ich würde keinen Pfifferling mehr für sie geben, wenn die Herren vom Sicherheitsdienst angewalzt kämen.«
Jetzt war es an Smiley, sein Tempo zu mäßigen. »Wie viele?«
»Sechshundert, ein paar mehr oder weniger.«
»Und hinter dem Vorhang?«
»Auf dem Etat stehen hundertundzwanzig.« Bei Zahlen, bei Fakten kannte Lacon keine Unsicherheit. Sie waren das Gold, mit dem er arbeitete, das er im Schweiß seines Angesichts der grauen bürokratischen Erde entrungen hatte. »Soviel ich den Zahlungsquittungen entnehmen kann, sind Sie zur Zeit fast alle im Einsatz.« Er machte einen langen Satz. »Ich kann ihm also sagen, daß Sie es übernehmen, nicht wahr?« flötete er so ganz beiläufig, als wäre die Frage eine reine Formalität, nur damit dieser Punkt abgehakt werden könnte. »Sie übernehmen die Arbeit, misten den Stall aus? Gehen Sie zurück, vorwärts, alles was notwendig ist. Schließlich ist es Ihre Generation. Ihr Erbteil.«
Smiley hatte das Gatter der Koppel aufgestoßen und schlug es hinter sich zu. Sie maßen einander über den wackligen Zaun. Lacons rosig angehauchtes Gesicht zeigte ein unterwürfiges Lächeln.
»Wie komme ich auf Ellis?« fragte er im Konversationston. »Warum spreche ich von der Ellis-Affäre, wenn der arme Mensch doch Prideaux hieß?«
»Ellis war sein Arbeitsname.«
»Natürlich. So viele Skandale in letzter Zeit, man vergißt einfach die Details.« Unterbrechung. Schwingen des rechten Unterarms. Ausfall. »Und er war mit Haydon befreundet, nicht mit Ihnen?« erkundigte sich Lacon.
»Sie waren vor dem Krieg zusammen in Oxford.«
»Und während des Krieges und danach Stallgefährten im Circus.
Das berühmte Gespann Haydon-Prideaux. Mein Vorgänger sprach dauernd davon.« Er wiederholte: »Aber Sie standen ihm nie nah?«
»Prideaux? Nein.«
»Kein Vetter, meine ich?«
»In drei Teufels Namen«, japste Smiley.
Lacon wurde plötzlich wieder linkisch, aber irgendeine verbissene Absicht ließ ihn den Blick nicht von Smiley wenden. »Und es besteht kein emotionaler oder sonstiger Grund, der Sie veranlassen könnte, den Auftrag abzulehnen? Seien Sie ganz aufrichtig, George«, drängte er so besorgt, als wäre >aufrichtig sein< das letzte, was er sich wünschte. Er wartete einen Moment, dann warf er alle Bedenken beiseite: »Ich sehe eigentlich auch keinen Grund. Ein Teil unserer Person gehört wohl immer der Arbeit für die Öffentlichkeit, nicht wahr? Der Gesellschaftsvertrag hat seine zwei Seiten, das haben Sie gewiß schon immer gewußt. Und Prideaux ebenfalls.«
»Was soll das heißen?«
»Ja, du lieber Gott, er hat einiges abbekommen, George. Eine Kugel im Rücken gilt allgemein als ziemliches Opfer, nicht wahr, sogar in Ihrer Welt?«
Smiley stand allein am entfernten Ende der Koppel unter triefenden Bäumen und versuchte, seine Gefühle zu ergründen, während er um Atem rang. Wie ein altes Leiden hatte ihn der Zorn angefallen. Seit seinem Abtreten hatte er ihn verleugnet, alles gemieden, was ihn zum Ausbruch bringen könnte: Zeitungen, ehemalige Kollegen, Klatsch á la Martindale. Nachdem er ein Leben lang von seinem Verstand und seinem ernormen Gedächtnis gelebt hatte, widmete er sich nun hauptamtlich der Aufgabe des Vergessens. Er hatte sich gezwungen, wissenschaftliche Interessen zu pflegen, die ihm während seiner Dienstzeit im Circus hinlänglich als Zerstreuung gedient hatten, aber jetzt, in seiner Untätigkeit, waren sie nichts, absolut nichts. Er hätte laut schreien können: nichts!
»Verbrenn den ganzen Kram«, hatte Ann hilfsbereit vorgeschlagen und damit seine Bücher gemeint. »Zünde das ganze Haus an. Alles, nur nicht verschimmeln.«
Wenn sie mit »verschimmeln« resignieren meinte, dann hatte sie sein Bestreben richtig beurteilt. Er hatte versucht, ehrlich versucht, als er sich seinem, wie die Versicherungsprospekte es mit Vorliebe nannten, Lebensabend näherte, einen mustergültigen Rentier abzugeben; obgleich niemand, und am allerwenigsten Ann, ihm diese Mühe dankte. Sooft er am Morgen sein Bett verließ, sooft er es des Abends, meist allein, wieder aufsuchte, hatte er sich eingehämmert, daß er nicht unentbehrlich sei und es niemals war. Er hatte sich das Bekenntnis eingepaukt, daß er in jenen elenden letzten Monaten von Controls Amtsführung, als eine Katastrophe die andere jagte, die Dinge viel zu überspitzt gesehen hatte. Und wenn jetzt der alte Amtsadam in ihm rebellierte und sagte: du weißt, daß es mit dem Circus bergab ging, du weißt, daß Jim Prideaux verraten wurde; nun, hatte er erwidert, und wennschon? »Es ist schiere Eitelkeit, zu glauben, daß als einziger Mensch ein fetter, älterer Spion imstande wäre, die Welt zusammenzuhalten«, ermahnte er sich. Und bei anderen Gelegenheiten: »Ich habe noch nie gehört, daß irgendwer bei seinem Ausscheiden aus dem Circus keine unvollendete Arbeit zurückgelassen hätte.« Nur Ann weigerte sich, diesen Schluß anzuerkennen, zu dem er mit soviel Mühe gelangt war. Sie ereiferte sich sogar, wie nur Frauen sich über geschäftliche Dinge ereifern können, sie drängte ihn, umzukehren, seine Arbeit dort wieder aufzunehmen, wo er sie abgebrochen hatte, nicht unter billigen Argumenten vom Kurs abzugehen. Nicht daß sie etwas gewußt hätte, aber welche Frau hat sich jemals von einem Mangel an Wissen aufhalten lassen? Sie fühlte. Und verachtete ihn, weil er nicht in Übereinstimmung mit ihrem Fühlen handelte.
Und jetzt, genau in dem Moment, als er endlich so weit war, an sein eigenes Dogma zu glauben, ein Schritt, der ihm durch Anns Verliebtheit in einen stellenlosen Schauspieler nicht leichter gemacht wurde, was passiert jetzt? Die vollzählig versammelten Gespenster aus seiner Vergangenheit: Lacon, Control, Karla, Alleline, Esterhase, Bland und zu guter Letzt Bill Haydon persönlich stürmen in seine Zelle und teilen ihm strahlend mit, während sie ihn wieder zurück in den gleichen Garten zerren, daß alles, was er Eitelkeit genannt hatte, Wahrheit sei! Haydon, wiederholte er leise, denn er konnte sich nicht mehr gegen die Flut der Erinnerungen wehren. Schon der Name versetzte ihm einen Stoß. »Ich habe gehört, Sie und Bill hätten einst alles miteinander geteilt«, sagte Martindale.
Er starrte auf seine pummeligen Hände und sah, wie sie zitterten. Zu alt? Impotent? Angst vor der Jagd? Oder Angst vor dem, was er am Ende aufstöbern würde?
»Für das Nichttun gibt es immer ein Dutzend Gründe«, sagte Ann mit Vorliebe - es war tatsächlich eine treffliche Rechtfertigung vieler ihrer Seitensprünge. »Für das Tun gibt es nur einen Grund. Nämlich, daß man es will.« Oder muß? Ann würde das leidenschaftlich verwerfen: Zwang, würde sie sagen, ist nur ein anderes Wort für »tun, was man will«; oder für »nicht tun, wovor man sich fürchtet«.
Mittlere Kinder weinen länger als ihre Geschwister. Jackie Lacon lag an der Schulter ihrer Mutter, um ihren Schmerz und den verletzten Stolz zu beschwichtigen, und beobachtete den Aufbruch der Gäste. Zuerst zwei Männer, die sie noch nie gesehen hatte, der eine groß und schlank, der andere kurz und dunkel. Sie fuhren in einem kleinen grünen Lieferwagen weg. Niemand winkte ihnen nach, wie sie feststellte, oder sagte auch nur auf Wiedersehen. Dann fuhr ihr Vater in seinem Wagen weg und schließlich gingen ein schöner blonder Mann und ein kleiner fetter in einem viel zu großen Mantel zu einem Sportwagen, der unter den Birken geparkt war. Zuerst glaubte sie, mit dem Fetten müsse etwas nicht stimmen, er folgte dem anderen so langsam und mühselig. Aber als er sah, daß der schöne Mann ihm die Wagentür hielt, schien er aufzuwachen und fiel in einen schwerfälligen Trab. Aus unerfindlichen Gründen regte diese Szene sie von neuem auf. Eine Woge von Kummer erfaßte sie, und ihre Mutter konnte sie nicht trösten.
Peter Guillam folgt den Spuren eines »Maulwurfs« und findet die Jagd nicht ungefährlich
Peter Guillam war ein ritterlicher Mann, dessen bewußte Loyalität durch seine Gefühle der Zuneigung bestimmt wurde. Seine angeborene Loyalität gehörte seit vielen Jahren dem Circus. Sein Vater, ein französischer Geschäftsmann, hatte während des Krieges für Haydons reseau spioniert, während die Mutter, gebürtige Engländerin, geheimnisvollen Beschäftigungen mit Chiffren nachging. Guillam selber hatte bis vor acht Jahren, als Angestellter eines Transportunternehmens getarnt, seine eigenen Agenten in Französisch Nordafrika gehabt, ein ausgesprochenes Himmelfahrtskommando. Sein Netz flog auf, seine Agenten wurden gehenkt, und für ihn begannen die langen Jahre des gestrandeten Profis mittleren Alters. Er verrichtete in London Gelegenheitsarbeiten, manchmal für Smiley, leitete ein paar Inlandseinsätze, dirigierte ein Netz von Freundinnen, die, wie es im Fachjargon hieß, nicht rundgeschaltet waren, und als Allelines Clique ans Ruder kam, wurde er nach Brixton abgeschoben, vermutlich, weil er die falschen Beziehungen hatte, unter anderem Smiley. So hätte er bis vergangenen Freitag ganz entschieden seine Lebensgeschichte dargestellt. Seine Verbindung zu Smiley hätte er sich größtenteils für den Schluß aufgehoben. Guillam wohnte damals vorwiegend in den Londoner Docks, wo er unter den vereinzelten polnischen und russischen Matrosen, die er und einige Talentsucher aufgetan hatten, ein untergeordnetes Marinenetz zusammenstellte. Zwischendurch saß er immer wieder in einem kleinen Zimmer im Erdgeschoß des Circus, tröstete ein hübsche Sekretärin namens Mary und war ganz zufrieden, abgesehen davon, daß keiner, der etwas zu sagen hatte, jemals seine Aktennotizen beantwortete. Wenn er das Telefon benutzte, war entweder besetzt, oder es meldete sich niemand. Er hatte gerüchtweise etwas von Schwierigkeiten gehört, aber es gab dauernd Schwierigkeiten. So war zum Beispiel allgemein bekannt, daß Alleline und Control einander in der Wolle hatten, aber darin bestand schon seit Jahren ihre Hauptbeschäftigung. Er wußte ferner, genau wie alle anderen, daß eine großangelegte Sache in der Tschechoslowakei geplatzt war und daß Jim Prideaux, der Chef der Skalpjäger, der älteste Tschechen-Spezialist und Bill Haydons lebenslanger Gefährte, angeschossen und erwischt worden war. Daher vermutlich das unüberhörbare Schweigen und die düsteren Mienen. Daher auch Bill Haydons rasender Zorn, der durchs ganze Haus seine Wellen schlug; wie Gottes Zorn, sagte Mary, der ausgewachsene Leidenschaften imponierten. Später hörte er die Katastrophe als »Operation Testify« bezeichnen. Testify, so sagte Haydon ihm später, sei die stümperhafteste Operation gewesen, die jemals ein alter Mann um seines welkenden Ruhmes willen angezettelt habe, und Jim Prideaux sei der Preis dafür.
Einiges darüber war in die Zeitungen gelangt, es gab Anfragen im Parlament und sogar Gerüchte - die offiziell nicht bestätigt wurden -, daß britische Truppen in Deutschland in höchster Alarmbereitschaft seien.
Schließlich, nachdem er sich lange genug in allen möglichen Büros herumgetrieben hatte, ging ihm auf, was allen anderen schon vor sechs Wochen aufgegangen war. Der Circus schwieg nicht nur, er war eingefroren. Nichts kam herein, nichts ging hinaus; jedenfalls nicht auf der Ebene, auf der Guillam sich bewegte. Alle Mächtigen des Hauses waren wie vom Erdboden verschluckt, und als der Zahltag kam, steckten keine dicken Kuverts in den Fächern, weil, laut Mary, die Personalabteilung nicht die übliche allmonatliche Anweisung erhalten habe, sie auszugeben. Dann und wann berichtete jemand, er habe Alleline beim Verlassen seines Clubs gesehen, ausgesprochen verbiestert. Oder Control beim Einsteigen in seinen Wagen, ausgeprochen sonnig. Oder daß Bill Haydon seine Entlassung eingereicht habe, mit der Begründung, daß er übergangen oder unterlaufen worden sei, aber Bill reichte ständig seine Entlassung ein. Dieses Mal jedoch, wie das Gerücht wissen wollte, aus andersgearteten Gründen: Haydon sei wütend darüber, daß der Circus sich weigere, den Tschechen den Preis für Jim Prideaux' Freilassung zu zahlen; sie verlangten angeblich zu viel an Agenten oder an Prestige. Und daß Bill einen seiner Ausbrüche von Chauvinismus gehabt und erklärt habe, jeder Preis sei angemessen, wenn man dafür einen Engländer zurückbekomme: gebt ihnen alles, was sie wollen, aber holt Jim zurück.
Dann erschien eines Abends Smiley unter Guillams Tür und lud ihn zu einem Drink ein. Mary wußte nicht, wer er war, und sagte nur in ihrem einstudiert klassenlosen Tonfall «Hallo«. Als sie Seite an Seite den Circus verließen, wünschte Smiley den Kontrollbeamten ungewöhnlich knapp gute Nacht, und in der Kneipe an der Wardour Street sagte er: »Sie haben mich geschaßt«, und das war alles.
Vom Pub gingen sie in ein Weinlokal in der Nähe von Charing Cross, einem Keller mit Musik und ohne Gäste. »Haben sie irgendeinen vernünftigen Grund angegeben?« erkundigte sich Guillam. »Oder ist es nur, weil Ihre Figur gelitten hat?« Smiley hakte bei dem Wort »vernünftig« ein. Er war inzwischen ehrenhaft, aber gründlich betrunken, doch »vernünftige Gründe« drangen, während sie am Themseufer entlangschwankten, zu ihm durch.
»Vernünftig als logisch?« fragte er, und es klang weniger nach Smiley als nach Bill Haydon, dessen polemischer Stil aus der Vorkriegszeit in diesen Tagen jedermann in den Ohren zu klingen schien. »Oder vernünftig als begründet? Vernunft als Lebensform?« Sie setzten sich auf eine Bank. »Ich pfeife auf ihre vernünftigen Gründe<. Ich habe meine eigenen. Und zwar ganz andere«, räsonierte er hartnäckig weiter, während Guillam ihn sorgsam in ein Taxi verlud und dem Chauffeur Geld und Adresse gab, »ganz andere, als diese halbgare Toleranz, die nur der Interesselosigkeit entspringt.«
»Amen«, sagte Guillam, der dem entschwindenden Taxi nachschaute und in diesem Augenblick klar erkannte, daß nach den Regeln des Circus ihre Freundschaft, so wie sie bisher gewesen war, hier und jetzt endete. Am nächsten Tag erfuhr Guillam, daß noch mehr Köpfe gerollt waren und daß Percy Alleline als Nachtwächter mit dem Titel eines amtierenden Chefs zunächst den Laden übernehmen sollte, und daß Bill Haydon zu jedermanns Erstaunen, aber höchst wahrscheinlich aus nagendem Zorn auf Control, unter ihm arbeiten wolle; oder, wie die ganz Gescheiten sagten, über ihm. Weihnachten war Control tot. »Du wirst der nächste sein«, sagte Mary, die in diesen Ereignissen eine zweite Erstürmung des Winterpalastes sah, und sie weinte, als Guillam in die sibirische Verbannung nach Brixton zog, ironischerweise, um Jim Prideaux' Planstelle auszufüllen. Als Guillam nun an jenem feuchten Montagnachmittag, beschwingt von der Aussicht auf Treuebruch, die Stufen zum Circus hinaufstieg, ließ er sich alle diese Ereignisse nochmals durch den Kopf gehen und kam zu dem Schluß, daß heute sein Weg zurück begann.
Er hatte die vorangegangene Nacht in seiner geräumigen Wohnung am Eaton Place in Gesellschaft Camillas verbracht, einer Musikstudentin mit langgestrecktem Körper und traurigem schönem Gesicht. Obwohl sie erst zwanzig war, hatte ihr schwarzes Haar graue Strähnen, wie von einem Schock, über den sie niemals sprach. Als vielleicht weitere Folge des gleichen unausgesprochenen Traumas aß sie kein Fleisch, trug keine Lederschuhe und nahm keine alkoholischen Getränke zu sich; nur in der Liebe war sie, wie es Guillam schien, frei von solchen geheimnisvollen Hemmungen. Er hatte den ganzen Vormittag allein in seinem äußerst schäbigen Zimmer in Brixton Dokumente aus dem Circus fotografiert, mittels einer Kleinstbildkamera aus seinen eigenen Ausrüstungsbeständen; er tat das häufig, um in Übung zu bleiben. Der Lagerverwalter hatte gefragt »Tageslicht oder künstlich«, und sie hatten sich freundschaftlich über Lichtempfindlichkeit unterhalten. Er hatte seiner Sekretärin gesagt, daß er nicht gestört werden wolle, seine Tür abgeschlossen und sich nach Smileys präzisen Anweisungen an die Arbeit gemacht. Die Fenster waren hoch in der Wand eingelassen. Im Sitzen konnte er nur den Himmel sehen und das Dach der neuen Schule am Ende der Straße.
Er begann mit Nachschlagematerial aus seinem Privatsafe. Smiley hatte ihm die Reihenfolge angegeben. Zuerst das Mitarbeiterverzeichnis, nur an höhere Beamte auszuhändigen, mit den Privatadressen, Telefonnummern, Namen und Arbeitsnamen des gesamten im Inland stationierten Circuspersonals. Zweitens, Richtlinien der Aufgabenverteilung, mit Ausfalt-Diagramm des neuen Organisationsplans des Circus unter Alleline. In seinem Mittelpunkt lag London Station wie eine Riesenspinne in ihrem Netz. »Nach der Prideaux-Pleite«, hatte Bill zu wiederholten Malen gewettert, »wird es für uns keine Geheimarmeen mehr geben, keine linke Hand, die nicht weiß, was die linke tut.« Alleline war, wie Guillam feststellte, zweimal eingetragen, einmal als Chef, einmal als »Direktor der Abteilung Besondere Quellen«. Das Gerücht wollte wissen, daß diese Quellen den Circus am Leben hielten. Nach Guillams Dafürhalten war der minimale Arbeitsausstoß des Circus und das Ansehen, das er in Whitehall genoß, durch nichts anderes zu erklären. Diesen Dokumenten fügte er auf Smileys Drängen noch den revidierten Organisationsplan der Skalpjäger hinzu. Es handelte sich hierbei um einen Brief Allelines, der mit den Worten »Lieber Guillam« begann und ihm im einzelnen die Beschneidung seiner Befugnisse mitteilte. Sie gingen in mehreren Fällen an Toby Esterhase, den Chef der Aufklärer in Acton über, der einzigen Zweigstelle, die im Zuge des Lateralismus an Bedeutung gewonnen hatte. Danach ging er hinüber an seinen Schreibtisch und fotografierte, ebenfalls auf Anweisung Smileys, ein paar Routine-Rundschreiben, die als allgemeine Lektüre nützlich sein konnten. Unter ihnen war ein Klagelied der Verwaltung über den Zustand »sicherer Häuser« im Gebiet von London: »Es wird dringend gebeten, sie pfleglich zu behandeln«, und ein weiteres über den Mißbrauch nicht registrierter Telefone im Circus zu Privatgesprächen. Schließlich ein sehr massives persönliches Anschreiben der Dokumentenabteilung, worin er »zum unwiderruflich letzten Mal« darauf aufmerksam gemacht wurde, daß seine auf seinen Arbeitsnamen lautenden Autopapiere abgelaufen seien, und daß er, falls er sie nicht zu erneuern geruhte, »der Personalstelle zur Einleitung entsprechender disziplinarischer Maßnahmen gemeldet würde«.
Er legte die Kamera zur Seite und ging wieder zum Safe. Im untersten Fach lag ein Packen Aufklärerberichte, mit Toby Esterhases Unterschrift versehen und mit dem Codewort Axt gestempelt. Sie enthielten die Namen und Tarnberufe der zwei- bis dreihundert identifizierten sowjetischen Geheimdienstagenten, die in London unter legaler oder halblegaler Tarnung tätig waren: Handel, Tass, Aeroflot, Radio Moskau, konsularischer und diplomatischer Dienst. Gegebenenfalls auch die Daten von Nachforschungen, die durch die Aufklärer angestellt worden waren und die Namen von Nebenstellen, wie man in dar Fachsprache solche Kontakte nannte, die im Zug einer Überwachung entdeckt und nicht unbedingt immer weiter verfolgt wurden. Die Berichte waren in einem jährlichen Hauptband mit monatlichen Ergänzungsbänden zusammengefaßt. Guillam studierte zuerst den Hauptband, dann die Ergänzungen. Um elf Uhr zwanzig verschloß er den Safe, rief über die direkte Leitung London Station an und verlangte Lauder Strickland von der Bankabteilung. »Lauder, hier Peter in Brixton, wie geht das Geschäft?«
»Ja, Peter, was kann ich für Sie tun?«
Kurz und bündig. Wir in London Station haben wichtigere Freunde, besagte der Tonfall.
Es handle sich darum, ein paar Moneten abzustauben, erklärte Guillam, und damit einen französischen diplomatischen Kurier einzukaufen, der offenbar zu haben war. Mit seiner demütigsten Stimme brachte er die Frage vor, ob Lauder wohl Zeit finden könnte, daß sie sich treffen und die Sache besprechen würden. Ob das Projekt von London Station freigegeben sei? wollte Lauder wissen. Nein, aber Guillam habe die Papiere bereits mit dem Pendelbus an Bill abgeschickt. Lauder Strickland wurde eine Spur zugänglicher. Guillam ließ nicht locker: »Die Sache hat ein paar kitzlige Aspekte, Lauder, ohne Ihren Grips werden wir nicht auskommen.«
Lauder sagte, er könne eine halbe Stunde für ihn erübrigen. Auf dem Weg ins West End lieferte er seine Filme in der unansehnlichen Drogerie Lark in der Charing Cross Road ab. Lark, wenn er es selber war, war ein sehr fetter Mann mit riesigen Fäusten. Der Laden war leer.
»Die Filme von Mr. Lampton, zum Entwickeln«, sagte Guillam. Lark nahm das Päckchen mit ins Hinterzimmer, und als er wiederkam, sagte er mit gurgelnder Stimme: »Alle in Ordnung«, und stieß einen Luftschwall aus, als rauchte er, was er aber nicht tat. Er brachte Guillam zur Tür und schloß sie hinter ihm. Wo mag George sie nur immer auftreiben? fragte er sich. Er hatte eine Packung Hustenpastillen gekauft. Jeder einzelne Schritt muß zu begründen sein, hatte Smiley ihm eingeschärft: Nehmen Sie stets an, daß Tobys Hunde vierundzwanzig Stunden am Tag auf Ihrer Fährte sind. Das ist schließlich nichts Neues, dachte Guillam; Toby Esterhase würde seiner eigenen Mutter die Hunde auf die Spur hetzen, wenn es ihm ein Schulterklopfen von Alleline einbrächte.
Von Charing Cross ging er zu Chez Victor zu einem Lunch mit seinem Vorturner Cy Vanhofer und einem Halunken, der sich Lorimer nannte und behauptete, seine Mätresse mit dem ostdeutschen Gesandten in Stöckholm zu teilen. Lorimer sagte, das Mädchen sei bereit, mitzuspielen, aber sie benötige die britische Staatsbürgerschaft und einen Haufen Geld, zahlbar bei der ersten Lieferung. Sie würde alles tun, sagte er: Die Post des Botschafters abfangen, Mikros in seine Räume pflanzen »oder ihm Glasscherben ins Badewasser streuen«, was ein Witz sein sollte. Guillam hielt Lorimer für einen Lügner, und er hätte gern gewußt, ob auch Vanhofer einer sei, aber er wußte nur zu gut, daß keiner von beiden darauf kommen würde, nach welcher Seite er tendierte. Er mochte das Lokal Chez Victor, konnte sich aber nicht erinnern, was er gegessen hatte, und als er den Vorplatz im Circus betrat, war ihm klar, daß er schrecklich aufgeregt war. »Hallo Bryant.«
»Freut mich, Sie zu sehen, Sir. Nehmen Sie doch Platz, Sir, nur einen Augenblick, Sir, vielen Dank«, sagte Bryant, alles in einem Atemzug, und Guillam ließ sich auf der Holzbank nieder und dachte an Zahnärzte und Camilla. Sie war eine ganz neue und ziemlich schillernde Erwerbung; alles war so schnell gegangen wie schon seit langem nicht mehr. Sie hatten sich bei einer Party kennengelernt, wo sie bei einem Glas Karottensaft allein in einer Ecke saß und über die Wahrheit sprach. Guillam setzte alles auf eine Karte und sagte, Ethik sei nicht seine starke Seite und ob sie nicht lieber einfach ins Bett gehen sollten? Camilla überlegte eine Weile ernsthaft; dann holte sie ihren Mantel. Seitdem hing sie in Guillams Wohnung herum, briet Nuß-Frikadellen und spielte Flöte.
Der Vorplatz sah schäbiger aus denn je. Drei alte Aufzüge, eine Holzbarriere, ein Werbeplakat für Mazawatee-Tee, Bryants verglastes Schilderhäuschen mit einem Bilder-aus-England-Kalender und mehrere bemooste Telefone.
»Mr. Strickland erwartet Sie bereits, Sir«, sagte Bryant, als er wieder auftauchte, und stempelte bedächtig auf einen rosa Zettel die Tageszeit auf: Vierzehn Uhr fünfundfünfzig, P. Bryant, Portier. Das Gitter des mittleren Aufzuges klapperte wie ein Bündel trockener Stecken.
»Zeit, daß das Ding mal geölt wird, wie?« rief Guillam, während er wartete, bis der Mechanismus in Gang kam.
»Wir haben schon x-mal angemahnt«, sagte Bryant und stieg in seine Lieblingsklage ein. »Sie rühren keinen Finger. Man kann nachfragen, bis man schwarz wird. Wie geht's der Familie, Sir?«
»Bestens«, sagte Guillam, der keine hatte.
»Freut mich«, sagte Bryant. Von oben sah Guillam den sahnefarbenen Kopf zwischen seinen Füßen verschwinden. Mary nannte ihn immer Erdbeer mit Vanille, fiel ihm ein: rotes Gesicht, weißes Haar und breiig.
Im Lift betrachtete er seinen Besuchsschein. »Berechtigt zum Betreten von LS«, lautete die erste Zeile. »Zweck des Besuches: Bankabteilung. Dieses Dokument ist vor Verlassen des Gebäudes zurückzugeben.« Und neben »Unterschrift des Besuchten« ein freier Platz.
»Tag, Peter. Begrüße Sie. Sie haben sich ein bißchen verspätet, aber das macht nichts.«
Lauder wartete an der Schranke, das ganze 1 Meter 80 hohe Nichts von ihm, mit weißem Kragen und voll heimlichen Stolzes, weil er aufgesucht wurde. Zu Controls Zeiten war diese Etage ein einziges Hin und Her geschäftiger Leute gewesen. Heute verschloß eine Schranke den Zutritt. Ein rattengesichtiger Portier prüfte eingehend seinen Besuchsschein.
»Du lieber Gott, seit wann haben Sie denn dieses Ungetüm?« fragte Guillam und blieb vor einem glänzenden neuen Kaffeeautomaten stehen. Ein paar Mädchen, die ihre Becher füllten, blickten auf und sagten: »Hallo, Lauder«, wobei sie Guillam anschauten. Die große erinnerte ihn an Camilla: das gleiche langsam glimmende Auge, das die männliche Unzulänglichkeit ächtete.
»Ach, Sie ahnen gar nicht, wie viele Mann-Stunden das einspart«, schrie Lauder plötzlich. »Phantastisch. Ganz phantastisch«, und hätte in seiner Begeisterung beinah Bill Haydon überrannt. Haydon war aus seinem Zimmer getreten, einem sechseckigen MG-Stand mit Blick über New Compton Street und Charing Cross Road. Er bewegte sich in der gleichen Richtung wie sie, aber im Tempo von einer halben Meile pro Stunde, was bei Bill innerhalb des Hauses Vollgas bedeutete. Im Freien verhielt er sich anders; Guillam hatte auch das gesehen, bei Übungsspielen in Sarratt und einmal bei einem nächtlichen Überfall in Griechenland. Im Freien war er flink und gewandt; das scharfgeschnittene Gesicht, das in diesem dumpfen Korridor fahl und verschlossen wirkte, schien unter freiem Himmel von den fernen Orten geprägt, an denen er gearbeitet hatte. Sie waren Legion: für Guillams bewundernde Augen gab es kein Einsatzfeld, das nicht irgendwo Haydons Siegel getragen hätte. Er war in seiner eigenen Karriere immer wieder den Spuren von Bills ungewöhnlicher Laufbahn begegnet. Vor ein paar Jahren, als er noch für den Marine-Geheimdienst arbeitete und unter anderem die Aufgabe hatte, ein Team von Küstenbewachern für die chinesischen Häfen Wentschou und Amoy zusammenzustellen, entdeckte Guillam zu seinem Erstaunen, daß es in beiden Städten noch chinesische Agenten gab, die Bill Haydon während irgendeines vergessenen Kriegseinsatzes rekrutiert, mit Geheimsendern und allem Zubehör ausgestattet hatte und mit denen man sich in Verbindung setzen konnte. Und ein anderes Mal, als er die Berichte über Himmelfahrtskommandos von Circus-Kämpfern während des Krieges durchging - weniger, weil er für die Gegenwart Wichtiges zu finden hoffte, als in wehmütigem Rückblick -, stieß Guillam zweimal innerhalb von zwei Minuten auf Haydons Arbeitsnamen: Im Jahr einundvierzig hatte er französische Fischkutter aus der Heiford-Bucht gefahren; im gleichen Jahr richtete er, mit Jim Prideaux als Sozius, Kurierstafetten quer durch Südeuropa ein, vom Balkan bis Madrid. Für Guillam gehörte Haydon jener einmaligen, aus sterbenden Circus-Generation an, zu der auch seine Eltern und Smiley gehörten - exklusiv und in Haydons Fall von blauem Blut. Aus einem einzigen Dasein, das er in unsteter Hast zubrachte, hatten sie in aller Gelassenheit ein Dutzend Leben gemacht, und noch heute, nach dreißig Jahren, verdankte der Circus ihnen seinen ersterbenden Hauch von Abenteuer.
Als er die beiden Männer sah, blieb Haydon wie angewurzelt stehen. Seit Guillam zuletzt mit ihm gesprochen hatte, war ein Monat vergangen; vermutlich war er in ungenannten Geschäften verreist gewesen. Als er jetzt, das Licht im Rücken, vor seiner offenen Bürotür stand, sah er seltsam schwarz und groß aus. Er trug irgend etwas, Guillam konnte nicht feststellen, was es war, eine Zeitschrift, eine Akte oder ein Bericht; sein Büro, das von seinem Schatten entzweigeschnitten wurde, war ein Mittelding zwischen Mönchszelle und unaufgeräumter Studentenbude. Überall lagen Berichte, Manuskripte und Akten herum; ein filzbespanntes Anschlagebrett an der Wand war mit Postkarten und Zeitungsausschnitten besteckt; daneben hing, schief und ungerahmt, eines von Bills frühen Bildern, konsequent abstrakt, in harten, flachen Wüstenfarben. »Hallo Bill«, sagte Guillam.
Haydon ließ seine Tür offenstehen — ein eklatanter Bruch der Hausordnung - und setzte sich, noch immer wortlos, vor ihnen in Bewegung. Er war wie immer sagenhaft verschroben gekleidet. Die Lederflecke auf seinem Jackett waren sternenförmig aufgenäht, nicht viereckig, so daß er von hinten wie ein Harlekin aussah. Die Brille hatte er über die graue Stirntolle geschoben wie eine Schutzbrille. Eine Weile trabten sie unsicher hinter ihm her, bis er sich plötzlich unversehens umdrehte, in ganzer Figur, wie eine Statue, die langsam auf ihrem Sockel herumschwenkt, und den Blick auf Guillam richtete. Dann grinste er, so daß die sichelförmigen Augenbrauen sich hoben wie die Brauen eines Clows, und sein angespanntes Gesicht wurde hübsch und unwahrscheinlich jung.
»Was, zum Teufel, haben Sie denn hier zu suchen, Sie Paria?« erkundigte er sich liebenswürdig.