Lauder, der die Frage ernst nahm, stürzte sich in Erklärungen über Belgrad und das nötige Kleingeld.

»Schließen Sie besser die Löffel weg«, sagte Bill und redete einfach durch Lauder hindurch. »Diese Skalpjäger stehlen Ihnen das Gold aus den Zähnen«, und setzte mit einem weiteren freundschaftlichen Grinsen seinen Weg fort, nachdem er sie vorbeigelassen hatte. »Und verschließen Sie auch die Mädchen«, rief er ihnen noch nach, »wenn sie sich's gefallen lassen. Seit wann stauben die Skalpjäger ihr Geld selber ab? Das ist unsere Arbeit.«

»Lauder staubt ab. Wir verpulvern's nur.«

»Unterlagen an mich«, sagte Haydon mit plötzlicher Barschheit zu Strickland. »Mit dem Kuddelmuddel ist jetzt Schluß.«

»Sind schon an Sie unterwegs«, sagte Guillam. »Liegen wahrscheinlich bereits in Ihrem Einlaufkorb.«

Ein letztes Nicken forderte sie zum Überholen auf, so daß Guillam auf dem ganzen Weg bis zur nächsten dunklen Biegung spürte, wie Haydons blaßgrauer Blick sich in seinen Rücken bohrte.

»Phantastischer Kerl«, erklärte Lauder, als hätte Guillam Bill zum erstenmal gesehen. »London Station könnte gar nicht in besseren Händen sein. Unglaubliche Befähigung. Unglaubliche Beurteilung. Glänzend.«

Während ihr, dachte Guillam, vom Abglanz profitiert. Indem man euch mit Haydon identifiziert, mit dem Kaffeeautomaten, mit den Banken. Seine Betrachtungen wurden durch die ätzende Cockney-Stimme Roy Blands unterbrochen, der aus der nächsten Tür vor ihnen auftauchte.

»He, Lauder, Moment mal: haben Sie Bloody Bill irgendwo gesehen? Er wird dringend gewünscht.«

Darauf folgte unmittelbar Toby Esterhases getreues mitteleuropäisches Echo aus der gleichen Richtung: »Umgehend, Lauder, wir haben sogar schon seinetwegen Alarm geschlagen.« Sie waren in den letzten engen Korridor eingeschwenkt. Lauder hatte vielleicht drei Schritt Vorsprung und setzte bereits zu seiner Antwort an, als Guillam die offene Tür erreichte und hineinschaute. Bland lungerte in Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch. Schweißringe umzogen die Achselhöhlen. Esterhase beugte sich wie ein Oberkellner zu ihm, ein sehr kleiner Mann mit steifem Rücken, eine Miniatur-Exzellenz mit Silberhaar und einem verkrampften unfreundlichen Kiefer, und er hatte eine Hand nach dem Schriftstück ausgestreckt, als wollte er eine Spezialität empfehlen. Sie hatten offenbar gerade das gleiche Dokument gelesen, als sie des vorbeigehenden Lauder ansichtig wurden. »Doch Roy, ich habe Bill Haydon gesehen«, sagte Lauder, der die Gabe hatte, ungebührliche Fragen in eine anständige Form umzufunktionieren. »Mir schwant sogar, daß Bill zu Ihnen unterwegs ist, er kommt schon hinten im Korridor, wir haben nur kurz über ein paar Dinge gesprochen.«

Blands Blick glitt langsam zu Guillam und blieb auf ihm haften; dieses frostige Abschätzen erinnerte unangenehm an Haydon. »Hallo, Peter«, sagte er. Im gleichen Moment reckte sich Klein Toby zu voller Höhe und wandte die Augen gleichfalls auf Guillam; braun und still wie die Augen eines Schützen. »Hei«, sagte Guillam, »worüber wird gelacht?« Ihre Begrüßung war nicht nur frostig, sie war schlichtweg feindselig. Guillam hatte während eines sehr kniffligen Einsatzes in der Schweiz drei Monate lang eng mit Toby Esterhase zusammengearbeitet, und Toby hatte die gleiche Zeit über nicht ein einziges Mal auch nur gelächelt, daher war sein eisiges Glotzen keine Überraschung für Guillam. Aber Bland war eine von Smileys Entdeckungen, zu warmherzig und impulsiv für diese Welt, rothaarig und stämmig, von unverdorbenem Intellekt, und ein erfreulicher Abend bestand für ihn darin, daß man in den Kneipen rund um Kentish Town über Wittgenstein diskutierte. Er hatte zehn Jahre als Spitzel in der Kommunistischen Partei gearbeitet, die akademische Route in Osteuropa abgeklappert, und jetzt war er, genau wie Guillam, zurückgepfiffen worden, was immerhin eine Gemeinsamkeit darstellte. Zu seinem Begrüßungsstil gehörten im allgemeinen ein breites Grinsen, ein Schlag auf die Schulter und eine abgestandene Bierfahne. Aber nicht so heute. »Es wird überhaupt nicht gelacht, Peter, alter Junge«, sagte Roy schließlich und rang sich ein reichlich verspätetes Lächeln ab. »War nur überrascht, Sie zu sehen, weiter nichts. Wir sind so daran gewöhnt, dieses Stockwerk ganz für uns allein zu haben.«

»Da kommt Bill«, sagte Lauder, hoch befriedigt, weil seine Prognose sich so prompt bestätigte. Als Haydon in einen Lichtstreifen trat, fiel Guillam die merkwürdige Färbung seiner Wangen auf. Eine tiefe wallende Röte hoch auf den Backenknochen, die von geplatzten Äderchen stammte. Sie verlieh ihm, wie Guillam in seiner Erregtheit dachte, eine gewisse Ähnlichkeit mit Dorian Gray.

Seine Unterredung mit Lauder Strickland dauerte eine Stunde und zwanzig Minuten. Guillam hatte sie nach Kräften in die Länge gezogen, und während der ganzen Zeit dachte er über Bland und Esterhase nach und fragte sich, was den beiden so sehr im Magen liegen mochte.

»Ich gehe jetzt wohl besser und kläre das Ganze mit dem Delphin«, sagte er schließlich. »Wir wissen ja, wie sie sich hat, wenn's um Schweizer Banken geht.« Die Personalabteilung hauste zwei Türen von der Bankabteilung entfernt. »Das lasse ich hier«, fügte er hinzu und warf den Paß auf Lauders Schreibtisch. Diana Dolphins Zimmer roch nach Deodorant; ihre Kettentasche lag auf dem Safe neben einer Nummer der Financial Times. Diana war eine jener modebewußten Circus-Bräute, die nie jemand wirklich heiratet. Ja, sagte er müde, die Unterlagen habe er London Station bereits eingereicht. Ja, er verstehe, daß das Herumwerfen mit schmutzigem Geld der Vergangenheit angehöre.

»Wir werden die nötigen Schritte unternehmen und Ihnen Bescheid geben«, verkündete sie, was heißen sollte, daß sie Phil Porteous fragen würde, der nebenan saß. »Ich werd's Lauder bestellen«, sagte Guillam und ging. Weiter, dachte er.

Bei »Herren« wartete er dreißig Sekunden am Waschbecken, beobachtete im Spiegel die Tür und horchte. Seltsame Stille hatte sich über das ganze Stockwerk gesenkt. Los, dachte er, du wirst alt, weiter. Er überquerte den Korridor, trat ungeniert ins Büro des Diensthabenden, knallte die Tür zu und sah sich um. Er schätzte, daß er zehn Minuten Zeit haben würde, und er schätzte, daß eine zugeknallte Tür weniger Lärm in dieser Stille verursachte als eine leise und verstohlen geschlossene Tür. Weiter. Er hatte die Kamera bei sich, aber das Licht war miserabel. Das Fenster mit der Netzgardine ging auf einen Innenhof voll geschwärzter Rohre. Er hätte keine hellere Glühbirne wagen können, selbst wenn er eine bei sich gehabt hätte, also strengte er sein Gedächtnis an. Seit dem Machtwechsel schien sich nicht viel verändert zu haben. Das Zimmer war tagsüber als Ruheraum für Damen bestimmt gewesen und war es wohl noch immer, nach dem billigen Parfümgeruch zu schließen. An einer Wand stand das Kunstledersofa, das nachts als Behelfslager diente; daneben der Erste-Hilfe-Kasten mit dem abblätternden roten Kreuz auf dem Deckel und ein aufgeklapptes Fernsehgerät. Der Stahlschrank stand noch am alten Platz zwischen dem Schaltbrett und den gesperrten Telefonen, und er ging straks darauf zu. Es war ein alter Schrank, er hätte ihn mit einem Dosenöffner aufgekriegt. Er hatte seine Dietriche und einiges Leichtmetallwerkzeug mitgebracht. Dann fiel ihm ein, daß die Kombination 312211 gelautet hatte, und er probierte sie, vier linksrum, drei rechtsrum, zwei linksrum, rechtsrum, bis er aufgeht. Die Scheibe war so ausgeleiert, daß sie ihre Tour von alleine lief. Als er die Tür öffnete, quoll eine Staubwolke hervor, kroch ein Stück am Boden entlang und entschwebte dann langsam zum dunklen Fenster. Im gleichen Augenblick hörte er einen Ton wie eine einzelne Note, die auf der Flöte gespielt wurde; wahrscheinlich hatte auf der Straße ein Auto gebremst; oder das Rad eines Aktenkarrens auf dem Linoleum gequietscht; aber für ihn war es in diesem Moment einer der langgezogenen klagenden Töne, aus denen Camillas Tonleiter-Übungen bestanden. Sie spielte, wann immer sie dazu Lust hatte. Um Mitternacht, frühmorgens, egal wann. Die Nachbarn konnten ihr gestohlen bleiben; sie schien überhaupt völlig skrupellos zu sein. Er erinnerte sich, wie sie an jenem ersten Abend gewesen war: »Welche Bettseite ist dir lieber? Wo soll ich meine Kleider hintun?« Er hielt sich einiges auf seinen Takt in solchen Dingen zugute, aber Camilla hatte dafür keinen Sinn, Technik war für sie bereits ein Kompromiß, ein Kompromiß mit der Wirklichkeit, sie würde sogar sagen, eine Flucht aus der Wirklichkeit. Na schön, dann hilf mir mal raus aus dem Salat hier.

Die Dienst-Tagebücher waren im obersten Fach, gebunden, die Daten klebten auf den Einbandrücken. Sie sahen aus wie Haushaltsbücher. Er nahm den Band »April« heraus und studierte die Namensliste auf dem Innendeckel, wobei er überlegte, ob er vom Kopierraum über dem Hof gesehen werden konnte, und wenn ja, würden sie stutzig werden? Er ging die Eintragungen durch, seine Suche galt der Nacht vom 10. zum 11. des Monats, in der die Codeverbindung zwischen London Station und Tarr angeblich stattgefunden hatte. Hongkong war zeitlich acht Stunden voraus: sowohl Tarrs Telegramm wie Londons erste Antwort waren in die Zeit außerhalb der Dienststunden gefallen. Vom Korridor kam plötzlich ein Stimmenschwall, und eine Sekunde lang glaubte er sogar, das humorlose Scherzen von Allelines schottisch gefärbtem Brummbaß herauszuhören, aber was er glaubte, war im Moment keinen Pfifferling wert. Er hatte sich eine Ausrede zurechtgelegt, und ein Teil seiner Person hielt sie bereits für wahr. Sollte er erwischt werden, so würde seine ganze Person sie für wahr halten, und falls die Inquisitoren in Sarratt ihn in die Zange nehmen würden, hatte er einen Helfer in der Not, er reiste niemals ohne. Dennoch packte ihn Entsetzen. Die Stimmen erstarben, und der Geist Percy Allelines mit ihnen. Schweiß rann ihm über die Rippen. Ein Mädchen trippelte vorbei und summte eine Melodie aus Hair. Wenn Bill dich hört, Mädchen, bringt er dich um, dachte er; wenn es etwas gibt, was Bill in Fahrt brachte, dann war es Summen. »Was haben Sie hier zu suchen, Sie Paria?«

Dann hörte er zu seiner flüchtigen Erheiterung tatsächlich Bills wütendes Gebrüll, das aus Gott weiß welcher Entfernung erscholl: »Schluß mit dem Gewinsel. Wer ist denn dieses Kamel?« Weiter. Sobald du stehenbleibst, kommst du nie mehr los; dieses Lampenfieber macht dich fertig, du vergißt deinen Text und läufst weg, deine Finger verbrennen, sobald du fündig wirst, und das Herz fällt dir in die Hosen. Weiter. Er stellte den April-Band zurück und nahm auf gut Glück Februar, Juni, September und Oktober heraus. Er blätterte sie rasch durch, suchte nach ähnlichen Fällen, stellte sie ins Fach zurück und ging in die Hocke. Wenn sich doch der Staub legen wollte, er schien unerschöpflich zu sein. Warum beschwerte sich niemand? Immer das gleiche, wenn viele Leute den gleichen Gegenstand benutzen: keiner ist verantwortlich, keiner schert sich einen Deut. Er suchte jetzt die Anwesenheitslisten der Nachtportiers. Er fand sie im untersten Fach, zwischen den Teebeuteln und der Dosenmilch: ganze Bündel, in großen Kuverts. Die Portiers füllten sie aus und brachten sie einem zweimal während der zwölfstündigen Dienstzeit: um Mitternacht und um sechs Uhr morgens. Man bestätigte ihre Richtigkeit, was praktisch unmöglich war, denn das Personal vom Nachtdienst war über das ganze Gebäude verstreut — zeichnete sie ab, behielt eine dritte Kopie und schmiß sie in den Stahlschrank, niemand wußte, warum. Das jedenfalls war das Verfahren vor der Sintflut gewesen und war es anscheinend auch jetzt noch.

Staub und Teebeutel im gleichen Fach, dachte er. Wann hat zum letztenmal jemand Tee gemacht?

Wiederum konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf den 10./11. April. Das Hemd klebte ihm an den Rippen. Was ist los mit mir. Herrgott, ich bin auf dem absteigenden Ast. Er blätterte vor und zurück, dann wieder vor, zweimal, dreimal, dann stellte er alles zurück und schloß den Schrank. Er wartete, lauschte, warf einen letzten besorgten Blick auf die Staubwolke und schritt dann kühn über den Korridor und zurück in die Geborgenheit von »Herren«.

Unterwegs fielen ihn die Geräusche an: »Wo ist der verdammte Wisch, ich hab ihn in der Hand gehabt«, und wieder dieses geheimnisvolle Flöten, aber es klang nicht mehr wie Camillas Spiel im Morgengrauen. Nächstes Mal bring' ich sie dazu, daß sie's tut, dachte er grimmig, ohne Kompromiß, Auge in Auge, wie das Leben sein sollte.

In »Herren« standen Spike Kaspar und Nick de Silsky Schulter an Schulter an den Waschbecken und flüsterten einander im Spiegel zu: Kuriere für Haydons sowjetisches Netz, seit Jahren im Haus und nur unter dem Namen »die Russen« bekannt. Als sie Guillam sahen, hörten sie sofort zu sprechen auf. »Hallo, ihr zwei! Herrgott, ihr seid wirklich unzertrennlich!« Sie waren blond und vierschrötig und sahen russischer aus als jeder Russe. Er wartete, bis sie weg waren, wusch sich den Staub von den Fingern und spazierte zurück in Lauder Stricklands Büro. »Du meine Güte, dieser Delphin redet wie ein Buch«, sagte er nonchalant.

»Sehr tüchtige Kraft. Nahezu unentbehrlich, mehr als jeder andere. Äußerst kompetent, ich weiß, was ich sage«, sagte Lauder. Er blickte pedantisch auf die Uhr, ehe er den Zettel unterschrieb, und begleitete ihn zu den Aufzügen. Toby Esterhase stand an der Schranke und sprach mit dem unfreundlichen jungen Portier. »Fahren Sie zurück nach Brixton, Peter?« Sein Tonfall war beiläufig, seine Miene wie immer undurchdringlich. »Warum?«

»Ich hab' draußen einen Wagen stehen. Dachte, ich könnte Sie vielleicht mitnehmen. Wir haben dort draußen etwas zu erledigen.«

Toby sprach keine bekannte Sprache perfekt, aber er sprach sie alle. In der Schweiz hatte Guillam sein Französisch gehört, und es hatte einen deutschen Akzent gehabt; sein Deutsch klang slawisch, und sein Englisch war voller winziger Fehler und Stockungen und falschklingender Vokale.

»Sehr nett, Toby, ich glaube, ich geh' nach Hause. Gute Nacht.«

»Direkt nach Hause? Ich würde Sie hinbringen.«

»Danke, ich muß noch Besorgungen machen. Alle diese verwünschten Patenkinder.«

»Klar«, sagte Toby, als hätte er auch welche und zog das kleine steinharte Kinn enttäuscht zurück.

Was zum Teufel will er? dachte Guillam wieder. Beide, der kleine Toby und der große Roy: Warum sind sie so scharf auf mich? Hatten sie vorhin etwas Bestimmtes gelesen oder etwas in den falschen Hals bekommen?

Draußen schlenderte er die Charing Cross Road entlang und beäugte die Schaufenster der Buchläden, während die andere Hälfte seiner Aufmerksamkeit den beiden Seiten des Gehsteigs galt. Es war bedeutend kälter geworden, Wind kam auf, und Erwartung stand in den Gesichtern der Vorüberhastenden zu lesen. Er fühlte sich beflügelt. Bisher hatte er viel zu sehr in der Vergangenheit gelebt, fand er. Zeit, daß ich mich wieder auf de Gegenwart einschieße. Bei Zwemmer schaute er sich einen repräsentativen Bildband an mit dem Titel »Musikinstrumente im Wandel der Jahrhunderte«, und erinnerte sich, daß Camilla eine Abendlektion bei Doktor Sand, ihrem Flötenlehrer, hatte. Er ging bis zu Foyle zurück und sah sich im Vorbeigehen die Busschlangen genau an. Betrachten Sie alles wie ein fremdes Land, hatte Smiley gesagt. Wenn er sich an das Dienstzimmer und Roy Blands kalte Fischaugen erinnerte, hatte Guillam keine Schwierigkeiten. Und auch an Bill: Teilte Haydon ihren Verdacht? Nein. Bill war eine eigene Klasse, dachte Guillam in einer unwiderstehlichen Aufwallung von Loyalität gegenüber Haydon. Bill würde nie etwas teilen, was nicht ursprünglich seine eigene Idee war. Neben Bill waren die beiden anderen nur Pygmäen.

In Soho nahm er ein Taxi und fuhr zur Waterloo Station. Am Bahnhof rief er von einer übelriechenden Telefonzelle aus eine Nummer in Mitcham, Surrey, an und sprach mit einem Inspektor Mendel, einem ehemaligen Mitglied der Sonderabteilung, den Guillam und Smiley aus einem früheren Leben kannten. Als Mendel sich meldete, fragte er nach Jenny und hörte, wie Mendel ihm kurz angebunden mitteilte, hier wohne keine Jenny. Er entschuldigte sich und hängte ein. Er wählte die Zeitansage und mimte ein heiteres Gespräch mit seiner automatischen Partnerin, denn draußen wartete eine alte Dame auf das Ende des Gesprächs. Inzwischen müßte er da sein, dachte er. Er hängte ein und wählte eine zweite Nummer in Mitcham, dieses Mal eine öffentliche Sprechzelle am Ende von Mendels Straße. »Hier Will«, sagte Guillam.

»Und hier Arthur«, sagte Inspektor Mendel fröhlich. »Wie geht's, Will!«

Er war ein gewiefter, unbeirrbarer Spürhund mit scharfen Zügen und scharfen Augen, und Guillam konnte sich genau vorstellen, wie er sich jetzt mit gezücktem Stift über sein Notizbuch beugte.

»Ich möchte Ihnen die Schlagzeilen durchgeben, falls ich unter einen Bus geraten sollte.«

»Sehr richtig, Will«, sagte Mendel tröstlich. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.« Er berichtete langsam und in Ausdrücken aus der Universitätswelt, was sie als letzte Sicherung gegen etwaiges Abhören vereinbart hatten: Examen, Studenten, gestohlene Prüfungsaufgaben. Sooft er absetzte, hörte er nur ein schwaches Kratzen. Er stellte sich vor, wie Mendel bedächtig und leserlich mitschrieb und nicht sprach, ehe er alles zu Papier hatte.

»Ich hab' übrigens die phantastischen Präparate aus der Drogerie gekriegt«, sagte Mendel schließlich, nachdem er alles nochmals überlesen hatte. »Eine wahre Freude. Kein einziges verdorben.«

»Vielen Dank. Das freut mich.« Aber Mendel hatte bereits eingehängt.

Apropos Maulwürfe, dachte Guillam, ihr Leben muß ein einziger dunkler Tunnel sein. Aber als er die Tür für die alte Dame offenhielt, sah er den Telefonhörer auf der Gabel liegen und den Schweiß in Tropfen darüberkleben. Er bedachte noch einmal seine Botschaft an Mendel, dachte wieder an Roy Bland und Toby Esterhase, wie sie ihn von der Tür her angestarrt hatten und überlegte fieberhaft, wo Smiley sein mochte und ob er sich in acht nehmen würde. Er kehrte zum Eaton Place zurück, sehnte sich nach Camilla und fürchtete sich ein bißchen vor seinen Gründen. War ihm wirklich plötzlich sein Alter so im Weg? Zum erstenmal im Leben hatte er sozusagen gegen sein eigenes Elitedenken gesündigt. Er fühlte sich schmutzig, empfand Ekel vor sich selbst.


George Smiley sucht wieder einmal Oxford auf und konsultiert eine Gedächtnis-Akrobatin


Es gibt alte Männer, die Oxford wieder aufsuchen und in jedem Stein einen Gruß aus ihrer Jugend erblicken. Smiley gehörte nicht zu ihnen. Vor zehn Jahren hätte er vielleicht ein leises Ziehen gespürt. Jetzt nicht mehr. Als er an der Bodleian Library vorüberkam, dachte er: dort habe ich gearbeitet. Beim Anblick des Hauses seines alten Tutors in der Parks Road erinnerte er sich, wie in diesem langgestreckten Garten, vor dem Krieg, Jebedee mit dem Vorschlag herausgerückt war, Smiley könne, wenn er Lust habe, »mit ein paar Leuten, die ich in London kenne«, sprechen. Und als er vom Tom Tower die sechste Abendstunde schlagen hörte, fielen ihm Bill Haydon und Jim Prideaux ein, die im gleichen Jahr hierhergekommen sein mußten, in dem Smiley abgegangen war, und die dann der Krieg in seinen Strudel gerissen hatte, und er überlegte flüchtig, wie sie damals wohl nebeneinander ausgesehen haben mochten, Bill, der Maler, Polemiker und Sozialkritiker; Jim, der Sportsmann, der an jedem seiner Worte hing. Während ihrer gemeinsamen Blütezeit im Circus hatte diese Verschiedenheit sich, wie Smiley noch wußte, nahezu ausgeglichen: Jim wurde ein flinker Denker, und Bill konnte im Außendienst keiner mehr etwas vormachen. Erst am Ende bestätigte sich die alte Gegensätzlichkeit: das Zugpferd kehrte wieder in seinen Stall zurück, der Denker an seinen Schreibtisch. Einzelne Regentropfen fielen, aber er sah sie nicht. Er war mit dem Zug gekommen und vom Bahnhof aus auf allerlei Umwegen - Blackwells, immerhin sein früheres College, dann nordwärts - zu Fuß gegangen. Wegen der Bäume war die Dämmerung hier früh eingefallen.

Vor einer Sackgasse hielt er aufs neue inne, machte aufs neue Inventur. Eine Frau, in einen Schal gehüllt, radelte durch die Lichtkegel der Straßenlampen, soweit sie die Nebelschwaden durchstachen, an ihm vorbei. Sie stieg ab, zog ein Gittertor auf und verschwand. Auf der anderen Straßenseite führte eine vermummte Gestalt, ob Mann oder Frau, war nicht zu unterscheiden, einen Hund spazieren. Sonst war die Straße leer, desgleichen die Telefonzelle. Dann gingen plötzlich zwei Männer an ihm vorbei, die sich laut über Gott und Krieg unterhielten. Der jüngere sprach die meiste Zeit und der ältere stimmte ihm zu, woraus Smiley schloß, daß er der Professor sei.

Er ging an einem hohen Staketenzaun entlang, durch den Buschwerk quoll. Das Tor zu Nummer fünfzehn hing windschief in den Angeln, nur einer der beiden Flügel wurde benutzt. Er drückte, das Schloß war zerbrochen. Das Haus stand weit zurück, die meisten Fenster waren erleuchtet. In einem der oberen Räume beugte sich ein junger Mann über einen Schreibtisch. In einem anderen schienen zwei Mädchen zu streiten, an einem dritten Fenster spielte eine Frau auf der Bratsche, aber er konnte keinen Ton hören. Auch im Erdgeschoß waren die Fenster erleuchtet, aber die Gardinen zugezogen. Der Vorplatz war gefliest, die Haustürfüllung aus Buntglas, am Pfosten hing ein alter Zettel: Nach 23 Uhr nur Seiteneingang benutzen. Über den Klingeln weitere Zettel: »Prince, 3 x klingeln«, Lumby 2 x«, »Buzz: bin den ganzen Abend weg, Gruß Janet.« An der untersten Klingel stand »Sachs«, und dort klingelte er. Sofort erscholl Hundegebell und die scheltende Stimme einer Frau.

»Flush, du dummer Kerl, ist doch bloß einer von den Eselsbänklern. Schluß jetzt, Flush. Flush!«

Die Tür ging einen Spalt auf, eine Sperrkette war vorgelegt; ein Körper zwängte sich in den Türspalt. Während Smiley sich fieberhaft bemühte, zu sehen, wer sonst noch im Haus sei, musterten ihn zwei schlaue Augen, feucht wie Babyaugen, schätzten ihn ab, registrierten seine Aktenmappe und die verspritzten Schuhe, huschten nach oben, um über seine Schultern hinweg die Auffahrt abzusuchen, und nahmen ihn sich noch einmal im ganzen vor. Endlich erstrahlte das weiße Gesicht in einem reizenden Lächeln, und Miß Connie Sachs, Ex-Königin der Recherchen-Abteilung im Circus, gab ihrem spontanen Entzücken Ausdruck. »George Smiley«, rief sie mit schüchtern verwehendem Lachen und zog ihn ins Haus. »Sie lieber, netter Mensch, und ich dachte, Sie wollten mir einen Staubsauger verkaufen und dabei ist es unser George!« Sie schloß hinter ihm schnell die Tür. Sie war eine stattliche Frau, einen Kopf größer als Smiley. Wirres, weißes Haar rahmte das zerfließende Gesicht. Sie trug einen braunen Blazer und Hosen mit Gummizug um die Taille, und sie hatte einen Hängebauch wie ein alter Mann. Im Kamin schwelte ein Koksfeuer. Katzen lagen davor, und ein räudiger grauer Spaniel, bis zur Unbeweglichkeit verfettet, lungerte auf dem Sofa. Auf einem Teewagen standen die Konservendosen, aus denen sie aß, und die Flaschen, aus denen sie trank. Aus einem Mehrfachstecker bezog sie den Strom für ihr Radio, ihre Kochplatte und die Brennschere. Ein Junge mit schulterlangem Haar lag auf dem Boden und bereitete Toast. Als er Smiley sah, legte er die Blechgabel weg.

»Ach Jingle, Darling, könntest du wohl morgen kommen?« flehte Connie. »Es passiert nicht oft, daß meine allerälteste Liebe mich besucht.« Er hatte ihre Stimme vergessen. Sie spielte ständig damit, zog sämtliche Register. »Ich gebe dir eine Freistunde, Lieber, ganz unter uns: einverstanden? - Einer von meinen Eselsbänklern«, erklärte sie Smiley, längst ehe der Junge außer Hörweite war. »Ich gebe immer noch Stunden, warum weiß ich nicht, George«, murmelte sie und beobachtete ihn stolz über das Zimmer hinweg, während er die Sherryflasche aus der Aktenmappe nahm und zwei Gläser füllte. »Von all den lieben, netten Männern, die ich je gekannt habe - er ist zu Fuß gegangen«, erklärte sie dem Spaniel.

»Schau nur seine Stiefel an. Den ganzen Weg von London hierher zu Fuß, nicht wahr, George?«

Das Trinken fiel ihr schwer. Ihre gichtigen Finger waren nach unten gekrümmt, als hätte sie sie allesamt beim gleichen Unfall gebrochen, und ihr Arm war steif. »Sind Sie allein marschiert, George?« fragte sie und fischte eine lose Zigarette aus der Jackentasche. »Hat uns niemand begleitet?«

Er zündete ihr die Zigarette an, und sie hielt sie wie ein Erbsenblasrohr, die Finger an der Spitze, und visierte ihn aus ihren schlauen rosa Augen damit an. »Und was möchte er von seiner Connie, der böse Junge?«

»Ihr Gedächtnis.«

»Welchen Teil?«

»Wir gehen einiges aus der Vergangenheit durch.«

»Hast du das gehört, Flush?« schrie sie zu dem Spaniel. »Erst stellen sie uns den Stuhl vor die Tür, dann möchten sie bei uns schnorren. Welche Vergangenheit, George?«

»Ich habe Ihnen einen Brief von Lacon mitgebracht. Er ist heute abend um sieben in seinem Club. Wenn Sie Bedenken haben, rufen Sie ihn von der Telefonzelle an der Ecke aus an. Mir wäre lieber, Sie täten's nicht, aber wenn's sein muß, wird er die nötigen ergreifenden Geräusche von sich geben.«

Sie hatte sich an ihn geklammert, aber jetzt fielen ihre Hände herab und eine ganze Weile tappte sie im Zimmer herum, suchte Rast und Stütze an den vertrauten Plätzen und fluchte: »Fahr zur Hölle, George Smiley, und alle, die im gleichen Boot sitzen.« Am Fenster schob sie, wohl aus Gewohnheit, die Gardine beiseite, aber draußen schien nichts ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. »O George, der Teufel soll Sie holen«, murmelte sie. »Wie können Sie einen Lacon zuziehen? Dann könnten Sie auch gleich die Konkurrenz zuziehen.«

Auf dem Tisch lag die heutige Times, Kreuzworträtsel obenauf. Jedes Quadrat war mit schwerfälligen Buchstaben ausgefüllt. Nicht eines war weiß.

»War heute beim Fußballspiel«, sang sie aus dem Dunkel unter der Treppe, wo sie sich am Teewagen stärkte. »Der liebe Will hat mich mitgenommen. Mein Lieblingsesel, war das nicht super von ihm?« Ihre Kleinmädchenstimme, dazu gehörte ein Schmollmündchen. »Connie hat gefroren, George. Richtig eisig, arme Connie, Zehen und alles.«

Er nahm an, sie weinte, holte sie aus dem Dunkeln und führte sie zum Sofa. Ihr Glas war leer, und er füllte es zur Hälfte. Seite an Seite auf dem Sofa sitzend tranken sie, während Connies Tränen über den Blazer auf seine Hände tropften. »O George«, sagte sie immer wieder, »wissen Sie, was sie gesagt hat, als sie mich rauswarfen? Diese Personalkuh?« Sie hielt eine Ecke von Smileys Kragen fest und zwirbelte sie zwischen Finger und Daumen, während sie sich beruhigte. »Wissen Sie, was diese Kuh gesagt hat?« Ihre Feldwebelstimme: >Sie verlieren den Sinn für die Realität, Connie. Zeit, daß Sie rauskommen in die reale Welt!< Ich hasse die reale Welt, George. Ich mag nur den Circus und alle meine lieben Jungens.« Sie nahm seine Hände und versuchte, ihre Finger in die seinen zu flechten. »Poljakow«, sagte er ruhig. »Alexei Alexandrowitsch Poljakow, Kulturattache, Sowjetbotschaft London. Er ist wieder auferstanden, genau wie Sie vorhergesagt haben.« Ein Wagen bog in die Straße ein, er hörte nur das Geräusch der Reifen, der Motor war bereits abgestellt. Dann Schritte, sehr behutsam.

»Janet schmuggelt ihren Freund ein«, flüsterte Connie, und ihre rosageränderten Augen hefteten sich auf die seinen, während sie mit ihm lauschte. »Sie glaubt, ich wüßte es nicht. Haben Sie gehört? Eisen an den Schuhen. Passen Sie auf.« Die Schritte hielten inne, man hörte ein leises Scharren. »Sie gibt ihm den Schlüssel. Er glaubt, er kann leiser damit aufschließen als sie. Kann er nicht.« Das Schloß drehte sich mit lautem Schnappen. »Ach, ihr Männer«, hauchte Connie mit hoffnungslosem Lächeln. »Ach, George. Warum müssen Sie Alex ausgraben?« Und eine Zeitlang weinte sie um Alex Poljakow.

Ihre Brüder waren Akademiker, erinnerte Smiley sich; ihr Vater war Universitätsprofessor. Control hatte sie beim Bridge kennengelernt und einen Job für sie erfunden.

Sie begann ihre Geschichte wie ein Märchen: »Es war einmal, vor vielen, vielen Jahren, anno dreiundsechzig, ein Überläufer namens Stanley«, und sie ging dabei mit der gleichen Pseudo-Logik zu Werke, teils Intuition, teils intellektueller Opportunismus, wie sie ein großartiger Verstand hervorbringt, der nie erwachsen wurde. Auf ihrem formlosen weißen Gesicht erschien der großmütterliche Glanz beglückten Erinnerns. Ihr Gedächtnis war so umfangreich wie ihr Körper, und sie liebte es sicherlich mehr, denn um ihm zu lauschen, hatte sie alles andere beiseite geschoben: den Drink, die Zigarette, eine Weile sogar Smileys geduldige Hand. Sie saß nicht mehr zusammengekauert, sondern kerzengerade, den großen Kopf zur Seite geneigt, und zupfte an dem weißen Wollhaar. Er hatte angenommen, sie würde sofort mit Poljakow beginnen, aber sie begann mit Stanley; er hatte ihre Leidenschaft für Stammbäume vergessen. Stanley also; der Deckname für einen fünftklassigen Überläufer aus der Moskauer Zentrale. März dreiundsechzig. Die Skalpjäger hatten ihn aus zweiter Hand von den Holländern gekauft und nach Sarratt verfrachtet, und wenn nicht Sauregurkenzeit gewesen wäre und die Inquisitoren zufällig wenig Arbeit gehabt hätten, wer weiß, ob irgend etwas von der ganzen Geschichte ans Licht gekommen wäre. In Brüderchen Stanley steckte ein Goldkörnchen, ein einziges winziges Körnchen, und sie fanden es. Den Holländern war es entgangen, aber die Inquisitoren fanden es, und eine Kopie ihres Berichts fand den Weg zu Connie: »Was ein weiteres Wunder war«, bellte Connie erzürnt, »wenn man bedenkt, daß alle, und besonders Sarratt, dem Grundsatz huldigten, die Recherchen-Abteilung nicht auf ihrer Verteilerliste zu führen . . .« Smiley wartete geduldig auf das Goldkörnchen, denn Connie war in einem Alter, wo ein Mann ihr nur noch seine Zeit schenken konnte.

Stanley sei während eines bewaffneten Einsatzes in Den Haag übergelaufen, erklärte sie. Er war ein berufsmäßiger Killer und nach Holland geschickt worden, um einen russischen Emigranten zu ermorden, der der Zentrale auf die Nerven ging. Statt dessen beschloß er, sich der Gegenseite zu stellen. »Irgendein Mädchen hat ihm den Kopf verdreht«, sagte Connie voll Verachtung. »Die Holländer hatten diesen Lockvogel auf ihn angesetzt, und er ist ihm mit weit geschlossenen Augen ins Garn gegangen.«

Um ihn auf diese Mission vorzubereiten, hatte die Zentrale ihn in ein Trainingslager in der Nähe von Moskau gebracht, zwecks Auffrischung in den schwarzen Künsten: Sabotage und lautloses Töten. Die Holländer, die ihn zunächst hatten, waren darüber schockiert gewesen und hatten ihre Verhöre auf diesen Punkt konzentriert. Sie brachten ein Foto in die Zeitungen und ließen ihn Zeichnungen von Zyanidkugeln und all den anderen schmutzigen Waffen anfertigen, die der Zentrale so teuer sind. Aber die Inquisitoren in der Nursery kannten das alles in- und auswendig, sie interessierten sich für das Trainingslager, das neu eingerichtet und wenig bekannt war. »Eine Art Nobel-Sarratt«, erklärte sie. Sie erstellten eine Skizze der Anlage, die Hunderte von Morgen Wald- und Seenland umfaßt, und zeichneten alle Gebäude ein, an die Stanley sich erinnern konnte: Wäschereien, Kantinen, Vortrags-Baracken, den ganzen Plunder. Stanley war mehrmals dort gewesen und erinnerte sich an eine Menge. Sie glaubten schon, ziemlich alles zu haben, als Stanley sehr still wurde. Er nahm einen Bleistift und malte in die Nordwestecke fünf weitere Baracken und rundum einen Doppelzaun für die Wachhunde, der Gute. Diese Baracken seien neu, sagte Stanley, erst in den letzten Monaten errichtet. Man erreichte sie über eine Privatstraße; Stanley hatte sie von einem Hügel aus gesehen, als er mit seinem Instrukteur Milos einen Spaziergang machte. Laut Milos, der Stanleys Freund war, sei dort eine unlängst von Karla gegründete Spezialschule untergebracht, die Offiziere für Verschwörungen ausbildete.

»Da hatten wir's also, mein Lieber«, schrie Connie. »Seit Jahren kamen uns Gerüchte zu Ohren, wonach Karla versuchte, innerhalb der Moskauer Zentrale seine eigene Privatarmee aufzubauen, aber, das arme Schaf, er hat es nicht geschafft. Wir wußten, daß er Agenten rund um den Globus hatte und natürlich mit zunehmendem Alter immer besorgter wurde, er könne sie eines Tages nicht mehr allein unter Kontrolle halten. Wir wußten, daß er, wie jeder, schrecklich eifersüchtig auf sie war und den Gedanken, sie den Außenstellen in den Zielländern zu überlassen, nicht ertragen konnte. Ganz klar: Sie wissen, wie er Außenstellen haßte: zu viele Leute, zu wenig Sicherheit. Genau, wie er die alte Garde haßte - Kriechtiere, nannte er sie. Stimmt. Jetzt aber hatte er die Macht, und er nutzte sie, wie jeder echte Mann. März dreiundsechzig«, wiederholte sie, falls Smiley das Datum entgangen sein sollte.

Dann war natürlich Sense. »Das übliche Spiel: abwarten, inzwischen etwas anderes tun.«

Drei Jahre lang hatte sie gewartet, bis Major Mikhail Fedorowitsch Komarow, stellvertretender Militärattache an der Sowjetischen Botschaft in Tokio, in flagranti bei der Übernahme von sechs streng geheimen Filmrollen erwischt wurde, die ein höherer Beamter des japanischen Verteidigungsministeriums beschafft hatte. Komarow war der Held ihres zweiten Märchens: kein Verräter, sondern ein Soldat mit den Schulterstücken der Artillerie.

»Und Orden, mein Lieber! Jede Menge Orden!« Komarow hatte Tokio so überstürzt verlassen müssen, daß sein Hund in der Wohnung zurückblieb und später verhungert dort aufgefunden wurde, etwas, das Connie nicht verzeihen konnte. Komarows japanischer Agent wurde indessen gebührend ausgequetscht, und durch einen glücklichen Zufall konnte der Circus von der Toka das Protokoll erwerben.

»Übrigens, George, da fällt mir ein, Sie haben ja den Handel arrangiert!«

In seiner beruflichen Eitelkeit geschmeichelt, schürzte Smiley kokett die Lippen und räumte ein, daß dies durchaus möglich sei.

Der Inhalt des Protokolls war im wesentlichen ganz einfach. Der japanische Verteidigungsbeamte war ein Maulwurf. Er war vor dem Krieg im Schatten des japanischen Einfalls in die Mandschurei von einem gewissen Martin Brandt angeworben worden, einem deutschen Journalisten, der mit der Komintern in Verbindung stand. Brandt, sagte Connie, sei in den dreißiger Jahren einer von Karlas Namen gewesen. Komarow habe selber nie der offiziellen Tokioter Außenstelle innerhalb der Botschaft angehört, er habe solo gearbeitet, mit einem Kurier und einem direkten Draht zu Karla, dessen Waffenbruder er im Krieg gewesen war: »Es kommt noch besser: Vor seiner Ankunft in Tokio hatte er eine Spezialausbildung in einem neuen Trainingslager in der Umgebung von Moskau absolviert, das für Karlas eigens ausgesuchte Schüler eingerichtet worden war. »Schlußfolgerung«, sang Connie, »Brüderchen Komarow war unser erster und leider nicht sehr glänzender Absolvent von Karlas Ausbildungsstätte. Er wurde erschossen, der arme Kerl«, fügte sie hinzu und senkte theatralisch die Stimme. »Sie hängen sie nie, was? Zu ungeduldig, die kleinen Schlingel.« Jetzt sah Connie ihre Zeit gekommen, sagte sie. Sie wußte, wonach sie suchen mußte, und sie nahm sich Karlas Akte vor. Sie verbrachte drei Wochen in Whitehall bei den Moskau-Onkels und kämmte die sowjetischen Armee-Postbücher nach verschlüsselten Einträgen durch, bis sie aus einem Heer von Verdächtigen drei neue, identifizierbare Karla-Schüler aussortiert hatte. Alle Militärs, alle persönlich mit Karla bekannt, alle zehn bis fünfzehn Jahre jünger als er. Als ihre Namen gab sie Bardin, Stokowsky und Viktorow an, alle drei Oberst.

Bei der Erwähnung des dritten Namens senkte sich Schläfrigkeit über Smileys Züge, seine Augen blickten sehr müde, als müsse er verzweifelt gegen die Langeweile ankämpfen. »Und was ist aus ihnen geworden?« fragte er. »Aus Bardin wurde Sokolow und dann Rusakow. Wurde Mitglied der sowjetischen Delegation bei den Vereinten Nationen in New York. Keine offene Verbindung zur dortigen Außenstelle, keine Teilnahme an kleinen Fischzügen, keine Provokationsversuche, ein guter, solider Tarnposten. Ist noch immer dort, soviel ich weiß.«

»Stokowsky?«

»In die Illegalität gegangen, hat in Paris unter dem Namen Grodescu, Franco-Rumäne, ein fotografisches Unternehmen aufgezogen. Errichtete eine Zweigstelle in Bonn, betreut angeblich eine von Karlas westdeutschen Quellen von jenseits der Grenze.«

»Und der dritte? Viktorow?«

»Spurlos untergetaucht.«

»So was«, sagte Smiley, und seine Langeweile schien sich zu vertiefen.

»Ausgebildet und vom Erdboden verschwunden. Kann natürlich gestorben sein. Man neigt dazu, die natürlichen Ursachen zu vergessen.«

»Stimmt«, pflichtete Smiley bei. »Ja, das stimmt.« In einem langen Leben im Geheimdienst hatte er die Fertigkeit entwickelt, mit sorgsam geteilter Aufmerksamkeit zuzuhören; die vordergründigen Ereignisse direkt vor sich abrollen zu lassen, während eine zweite, völlig unabhängige Begabung die historische Verknüpfung herzustellen suchte. Der rote Faden lief über Tarr zu Irina, über Irina zu ihrem armen Geliebten, der so stolz darauf war, Lapin zu heißen und bei einem gewissen Oberst Gregor Viktorow zu dienen, »dessen Arbeitsname an der Botschaft Poljakow lautete«: In seiner Erinnerung waren diese Dinge gleichsam Teil einer Kindheit. Er würde sie nie vergessen. »Waren Fotos vorhanden, Connie? Haben Sie überhaupt Personenbeschreibungen an Land gezogen?«

»Von Bardin bei den Vereinten Nationen, selbstverständlich. Von Stokowsky möglicherweise. Wir hatten ein altes Zeitungsfoto aus seiner aktiven Soldatenzeit, aber wir konnten die Übereinstimmung nie völlig nachweisen.«

»Und vom spurlos untergetauchten Viktorow?« Es hätte jeder beliebige Name sein können. »Auch von ihm kein hübsches Bildchen?« fragte Smiley und durchquerte das Zimmer, um die Gläser frisch zu füllen.

»Viktorow, Oberst Gregor«, wiederholte Connie mit liebevollem zerstreutem Lächeln. »Hat wie ein Löwe bei Stalingrad gekämpft. Nein, ein Foto hatten wir nie. Schade. Es hieß, er sei mit Abstand der Beste gewesen.« Sie reckte sich: »Obwohl wir's natürlich bei den anderen nicht sicher wissen. Fünf Baracken und ein zweijähriger Kursus: mein Lieber, nach so vielen Jahren muß einiges mehr herausgekommen sein als drei Absolventen!« Mit einem kleinen Seufzer der Enttäuschung, der besagen sollte, daß an dem ganzen Bericht weiter nichts daran gewesen sei, ganz zu schweigen von der Person Oberst Gregor Viktorows, was ihn in seiner mühevollen Suche voranbringen könnte, schlug Smiley vor, daß sie sich dem damit in keinerlei Zusammenhang stehenden Phänomen Poljakow, Alexei Alexandrowitsch, von der Sowjetischen Botschaft in London, Connie besser bekannt als der liebe Alex Poljakow, zuwenden und herauszufinden suchen sollten, wie und wo er in Karlas Schema paßte und wieso man Connie verboten hatte, ihre Nachforschungen nach ihm fortzusetzen.


George Smiley stellt zerstreuten Blicks gezielte Fragen


Sie war jetzt viel munterer. Poljakow war kein Märchenheld, er war ihr lieber Alex, obwohl sie nie mit ihm gesprochen, ihn vermutlich nie in Person gesehen hatte. Sie hatte in einen Sessel neben der Leselampe übergewechselt, einen Schaukelstuhl, der gewisse Beschwerden linderte: sie konnte nirgends lang sitzen bleiben. Sie hatte den Kopf zurückgelegt, so daß Smiley das weiße Gewoge ihres Halses sehen konnte, eine der steifen Hände ließ sie kokett baumeln, während sie Indiskretionen bekannte, die sie nicht bedauerte. Dabei erschienen Smileys akkuratem Verstand ihre Spekulationen, gemessen an der klassischen Arithmetik des Nachrichtendienstes, sogar noch wilder als zuvor. »Ach, er war ja so gut«, sagte sie. »Sieben lange Jahre war Alex schon hier gewesen, ehe wir auch nur die kleinste Spur hatten. Sieben Jahre, mein Lieber.«

Sie zitierte seinen ersten Visa-Antrag vor jenen sieben Jahren: Poljakow, Alexei Alexandrowitsch, promoviert an der Staatsuniversität von Leningrad, stellvertretender Kulturattache im Rang eines Legationsrats zweiter Klasse, verheiratet, aber nicht von Ehefrau begleitet, geboren am dritten März neunzehnhundertzweiundzwanzig in der Ukraine als Sohn eines Transportarbeiters, Partei-Ausbildungsgang nicht angegeben. Ein Lächeln war in ihrer Stimme, als sie geläufig die erste Routinebeschreibung der Aufklärer hersagte: »Größe 1 Meter 79, robust, Augenfarbe grün, Haarfarbe schwarz, keine weiteren besonderen Kennzeichen. Fideler Riese von einem Kerl«, erklärte sie lachend. »Kolossaler Spaßvogel. Schwarze Tolle, hier über dem rechten Auge. Ganz bestimmt ein Popo-Kneifer, obwohl wir ihn nie dabei erwischt haben. Ich hätte ihm ein paar von unseren Popos angeboten, wenn Toby gespurt hätte, aber er wollte nicht. Nicht daß Alexei Alexandrowitsch auf so etwas hereingefallen wäre, wohlgemerkt. Alex war viel zu gerissen«, sagte sie stolz. »Hinreißende Stimme. Melodisch wie die Ihre. Ich habe die Bänder oft zweimal abgespielt, nur um ihm zuzuhören. Ist er wirklich noch im Lande, George? Am liebsten würde ich nicht danach fragen. Aus Furcht, sie könnten alle wechseln und ich würde sie nicht mehr kennen.« Er sei noch immer hier, versicherte ihr Smiley. Gleiche Tarnung, gleicher Rang.

»Und wohnt er noch immer in diesem gräßlichen kleinen Vorstadthaus in Highgate, das Tobys Beschatter so haßten? Meadow Close Nummer vierzig, oberster Stock. Eine schauderhafte Bude. Ich mag Männer, die ihre Tarnung wirklich leben, und Alex gehörte zu ihnen. Er war der emsigste Kulturmanager, den die Botschaft je gehabt hat. Wenn irgend etwas sofort benötigt wurde: Vortrag, Konzert oder was auch immer, Alex hat dem Amtsschimmel Beine gemacht.«

»Wie hat er das angestellt, Connie?«

»Nicht so, wie Sie denken, George Smiley«, sang sie, und das Blut stieg ihr ins Gesicht. »O nein. Alexei Alexandrowitsch war nur das, als was er sich ausgab, fragen Sie Percy Alleline oder Toby Esterhase. Rein wie frisch gefallener Schnee war er. Nicht einen Spritzer auf der Weste, das kann Toby Ihnen bestätigen!«

»He«, murmelte Smiley und füllte ihr Glas. »He, ruhig, Connie. Regen Sie sich ab.«

»Blödsinn«, schrie sie, keineswegs besänftigt. »Schierer ausgewachsener Blödsinn. Alexei Alexandrowitsch Poljakow war ein ehemaliger Klassenprimus bei Karla, wenn ich Augen im Kopf habe, aber sie wollten nicht auf mich hören! >Sie sehen schon Spione unterm Betts sagt Toby. >Die Aufklärer sind voll ausgelastet sagt Percy« — ihr schottischer Tonfall - »>Für Marotten haben wir hier keinen Platz. < Von wegen Marotten!« Jetzt weinte sie wieder. »Armer George«, sagte sie immer wieder. »Armer George, Sie wollten helfen, aber was konnten Sie tun? Sie waren selber auf der Abschußliste. O George, jagen Sie nicht mit den Lacons. Bitte tun Sie's nicht.« Behutsam geleitete er sie wieder zurück zu Alex, und warum sie so überzeugt war, daß er Karlas Spion war und aus Karlas Schule kam.

»Es war am Heldengedenktag«, schluchzte sie. »Wir haben seine Orden fotografiert, klarer Fall.«


Zurück zum Jahr eins, zum ersten Jahr ihrer Liebschaft mit Alex Poljakow. Das Seltsame war, sagte sie, daß sie vom ersten Augenblick seines Eintreffens ein Auge auf ihn geworfen hatte:

»Hallo, dachte ich. Mit dir werde ich bestimmt einigen Spaß haben.«

Warum eigentlich, wußte ich nicht. Vielleicht war es sein sicheres Auftreten, vielleicht sein strammer Gang, direkt vom Exerzierplatz: »Hart wie eine Nuß. Der Militär durch und durch.« Oder vielleicht seine Wohnung. »Er hat sich das einzige Haus in ganz London ausgesucht, an das die Aufklärer nicht auf fünfzig Schritt herankamen.« Oder vielleicht seine Arbeit: »Es gab bereits drei stellvertretende Kulturattaches, zwei von ihnen waren Gorillas, und der dritte tat nichts anderes, als die Blumen für den armen Karl Marx zum Highgate-Friedhof karren.«

Sie war ein bißchen benebelt, und er führte sie wieder im Zimmer herum und fing ihr ganzes Gewicht auf, wenn sie strauchelte. Also, sagte sie, zuerst war Toby Esterhase einverstanden, daß Alex auf die A-Liste kam, und die Aufklärer beschatteten ihn in unregelmäßigen Abständen, an zwölf von dreißig Tagen, und sooft sie ihm nachspürten, war er so rein wie frisch gefallener Schnee.

»Mein Lieber, man konnte meinen, ich hätte ihn angeklingelt und zu ihm gesagt: >Alex Alexandrowitsch, seien Sie auf der Hut, denn ich lasse Klein Tobys Hunde auf Sie los. Leben Sie also ausschließlich Ihre Tarnung und keine faulen Tricks! <« Er ging zu Begräbnissen, Vorträgen, spazierte im Park, spielte ein bißchen Tennis und hätte nicht respektabler sein können, fehlte nur noch, daß er Süßigkeiten an die Kinder verteilte. Connie kämpfte um weitere Beschattung, aber es war von Anfang an eine verlorene Schlacht. Die Maschinerie ging ihren schwerfälligen Gang, und Poljakow kam auf die B-Liste: nachzuprüfen alle sechs Monate oder je nach Arbeitsanfall. Die halbjährlichen Nachprüfungen ergaben nicht das geringste, und nach drei Jahren hatte er bei uns seinen Persilschein: Erschöpfend überprüft, Resultat: ohne Interesse für den Geheimdienst. Connie konnte nichts unternehmen, ja, sie hatte beinah schon begonnen, mit dieser Auflage zu leben, als eines prächtigen Novembertags der reizende Teddy Hankie ziemlich atemlos von der Laundry in Acton bei ihr anrief und sagte, Alex Poljakow habe seine Tarnung fallenlassen und endlich Farbe bekannt. Eine Farbe, die zum Himmel schrie.

»Teddy war ein alter, alter Freund. Alter Circus-Mann und ein wahrer Schatz, wenn er auch an die Neunzig ist. Er war auf dem Heimweg, nach Dienstschluß, als der Wolga des sowjetischen Botschafters, der sich zur Kranzniederlegung begab, an ihm vorüberfuhr. Darin saßen die drei Attaches vom Dienst. Drei weitere folgten in einem zweiten Wagen. Einer war Poljakow, und er war mit Orden behängt wie ein Weihnachtsbaum. Teddy raste mit seiner Kamera nach Whitehall und fotografierte sie über die Straße. Mein Lieber, alles war auf unserer Seite: das Wetter war genau richtig, ein bißchen Regen und dann die schöne Abendsonne, er hätte noch aus dreihundert Meter Entfernung jeden Fliegenklecks daraufgebracht. Prachtvoll. Wir haben die Fotos vergrößert, und da waren sie: zwei Tapferkeitsmedaillen und drei Felddienstorden. Poljakow war Kriegsteilnehmer gewesen und hatte in sieben Jahren keinem Menschen ein Wort davon gesagt. Ich war wahnsinnig aufgeregt! Unnötig, die Feldzüge zu identifizieren. >Toby<, sagte ich - ich rief ihn sofort an - >Jetzt hören Sie mir mal kurz zu, Sie ungarischer Giftzwerg. Es ist soweit, endlich ist meine Wenigkeit einmal schlauer gewesen als jede Tarnung. Sie müssen mir den lieben Alex Alexandrowitsch um- und umstülpen, keine Wenns und Abers, unsere kleine Connie hat richtig getippt. <«

»Und was hat Toby gesagt?«

Der graue Spaniel ließ einen wehen Seufzer hören und schlief wieder ein.

»Toby?« Connie war plötzlich sehr einsam. »Oh, Klein Tobys Stimme klang wie ein toter Fisch, und er sagte, jetzt sei Percy Alleline der Einsatzleiter, nicht wahr? Es sei Percys Job, nicht der seine, die Anweisungen zu erteilen. Ich wußte sofort, daß irgend etwas faul war, aber ich dachte, es sei Toby.« Sie verstummte. »Verdammtes Feuer«, brabbelte sie mißmutig. »Sobald man ihm den Rücken kehrt, geht es aus.« Ihr Interesse war erloschen. »Den Rest kennen Sie. Der Bericht ging an Percy. >Na und?< sagte Percy. > Poljakow war in .der russischen Armee. Es war eine ziemlich große Armee, und nicht jeder, der in ihr kämpfte, war Karlas Agent. < Sehr komisch. Warf mir unwissenschaftliche Deduktion vor. >Von wem stammt dieser Ausdruck?< fragte ich ihn. >Es ist überhaupt keine Deduktion<, sagt er, >es ist Induktion.< - >Mein lieber Percy, wo immer Sie solche Ausdrücke gelernt haben, Sie hören sich an wie so ein widerlicher Doktor oder so.< Mein Lieber, er war wütend! Pro forma setzt Toby die Hunde auf ihn an, aber sonst passiert nichts. >Sein Haus anzapfen<, sagte ich. >Seinen Wagen, alles! Fotos schießen, ihn um — und umstülpen, die Abhorcher auf ihn ansetzen. Schützen Sie eine Personenverwechslung vor und durchsuchen Sie ihn. Was immer Sie wollen, aber tun Sie um Gottes willen irgend etwas, denn ich wette ein Pfund gegen einen Rubel, daß Alex Poljakow einen englischen Maulwurf betreut ! < Daraufhin läßt Percy mich rufen, sehr ungnädig« - wieder der schottische Akzent -: »>Sie lassen jetzt gefälligst Poljakow in Ruhe. Schlagen Sie ihn sich aus ihrem albernen Weiberkopf, verstanden? Sie und ihr verfluchter Polly - oder wie er heißt — hängen mir langsam zum Hals raus, also Schluß damit.< In Bestätigung des Gesprächs ein grober Brief. >Wie bereits mündlich vereinbart<, Kopie an die Leitkuh. Ich schrieb darunter >Ja, wiederhole nein<, und schickte ihm den Brief zurück.« Sie stellte um auf ihre Feldwebelstimme: »>Sie verlieren den Sinn für die Realität, Connie. Zeit, daß Sie rauskommen in die reale Welt.<« Connie hatte jetzt einen Katzenjammer. Sie war wieder über ihrem Glas zusammengesunken. Die Augen hatten sich geschlossen und der Kopf fiel immer wieder zur Seite. »O Gott«, flüsterte sie, als sie wieder erwachte. »O himmlischer Vater!«

»Hatte Poljakow einen Kurier?« fragte Smiley. »Wozu? Er ist Kulturmanager. Die brauchen keine Kuriere.«

»Komarow in Tokio hat einen gehabt. Das sagten Sie.«

»Komarow war Militär«, erwiderte sie mürrisch. »Poljakow auch. Sie haben seine Orden gesehen.« Er hielt ihre Hand und wartete. Lapin, der Hase, sagte sie, Bürodiener, Chauffeur an der Botschaft, Mädchen für alles. Anfangs war sie nicht aus ihm klug geworden. Sie vermutete, er sei ein gewisser Iwlow alias Brod, aber sie konnte es nicht nachweisen, und es half ihr ja auch keiner. Bummelte die meiste Zeit bloß durch London, guckte nach den Mädchen, wagte aber nicht, eine anzusprechen. Aber nach und nach bekam sie die Fäden zu fassen. Poljakow gab einen Empfang, Lapin, der Hase, half beim Servieren der Getränke. Poljakow wurde spätnachts zur Botschaft beordert, und eine halbe Stunde später tauchte auch Brüderchen Lapin dort auf, vermutlich um ein Telegramm zu entziffern. Und als Poljakow nach Moskau flog, übersiedelte Lapin regelrecht in die Botschaft und schlief auch dort, bis Poljakow zurückkam. »Er war mit von der Partie«, sagte Connie entschieden. »Sah man von weitem.«

»Und Sie haben auch das berichtet?«

»Natürlich.«

»Und was geschah?«

»Connie wurde geschaßt und Meister Lampe hoppelte nach Hause«, sagte Connie und kicherte. Sie gähnte. »Heia hoh«, sagte sie. »Halkyonische Tage. Hab' ich den Erdrutsch ausgelöst, George?«

Das Feuer war erstorben. Irgendwo oben hörte man einen Plumps, vielleicht war es Janet mit ihrem Liebhaber. Langsam begann Connie zu summen und sich dann zu ihrer eigenen Musik zu wiegen. Er gab ihr noch mehr zu trinken, und endlich erwachte sie wieder zum Leben.

»So«, sagte sie, »jetzt will ich Ihnen meine verdammten Orden zeigen.«

Erneutes Getümmel im Schlafgemach. Sie hatte sie in einer abgeschabten Diplomatenmappe, die Smiley unter dem Bett hervorziehen mußte. Zuerst einen richtigen Orden in einem Etui und eine maschinengeschriebene Belobigung, die auf ihren Arbeitsnamen Constance Salinger lautete und sie auf die Empfangsliste des Ministerpräsidenten setzte.

»Weil Connie ein so braves Mädchen war«, erläuterte sie und schmiegte ihre Wange an die seine. »Und sie liebte alle ihre Prachtjungens.«

Dann Fotos ehemaliger Mitglieder des Circus; Connie in der Uniform des weiblichen Hilfscorps, die zwischen Jebedee und dem alten Bill Magnus, dem Funker, stand, irgendwo in England aufgenommen. Connie mit Bill Haydon auf der einen und Jim Prideaux auf der anderen Seite, die Männer im Kricket-Dreß und alle drei schauten typisch »bitte recht freundlich« drein, wie Connie sich ausdrückte. Das Bild war während eines Sommerkurses in Sarratt aufgenommen, hinter ihnen lagen die Kricketplätze, gemäht und sonnenhell, und die Seitenabschirmungen glänzten. Daneben ein riesiges Vergrößerungsglas, auf dessen Linse Autogramme eingeritzt waren: von Bill und Percy, von Toby und vielen anderen. »Für Connie mit allen guten Wünschen, und, wer weiß, auf Wiedersehen!«

Schließlich eine Karikatur Connies, wie sie über ganz Kensington Palace Gardens hingestreckt liegt und mit einem Teleskop die sowjetische Botschaft beobachtet: »Mit allen guten Wünschen und lieben Erinnerungen, liebe, liebe Connie.«

»Man erinnert sich hier noch immer an ihn, wissen Sie. Der Goldjunge. Christ Church besitzt ein paar von seinen Bildern, Sie werden ziemlich oft ausgestellt. Neulich hielt Giles Langley mich auf der Straße an: ob ich gelegentlich von Haydon hörte? Weiß nicht, was ich sagte: Ja. Nein. Betreut Giles' Schwester immer noch >sichere Häuser<, wissen Sie das zufällig?« Smiley wußte es nicht. »>Sein Flair fehlt uns sehr< sagt Giles, >diese Züchtung gibt es heutzutage nicht mehr.< Giles sagt, er sei Bills Lehrer in Neuer Geschichte gewesen, damals, als Empire noch kein Schimpfwort war. Fragte auch nach Jim. >Sein alter ego, sozusagen, hem, hem, hem, hem. < George, Sie haben Bill nie gemocht, wie?« Connie plapperte weiter, während sie alles wieder in Plastiktüten und Lappen verpackte. »Ich habe nie rausbekommen, ob Sie auf ihn eifersüchtig waren oder er auf Sie. Zu attraktiv, nehme ich an, Sie haben dem Äußeren immer mißtraut. Nur bei Männern, wohlgemerkt.«

»Meine liebe Connie, wie kommen Sie auf diesen Unsinn«, protestierte Smiley, ausnahmsweise unvorsichtig. »Bill und ich waren immer gute Freunde. Was um alles in der Welt bringt Sie auf solche Gedanken?«

»Nichts.« Sie hatte es schon fast vergessen. »Ich habe mal gehört, er habe mit Ann eine Runde im Park gedreht, das ist alles. Ist er nicht ein Vetter von ihr oder so was ? Ich habe mir immer gedacht, Sie und Bill hätten ein so gutes Team abgegeben, wenn es geklappt hätte. Ihr beide hättet den alten Geist wieder zurückgebracht. Statt dieses schottischen Fatzkes. Bill erbaut ein neues Camelot« - wieder das Märchentanten-Lächeln- »und George . . .«

»George sammelt die Brosamen auf«, sagte Smiley, indem er auf ihren Ton einging, und sie lachten beide, Smiley gezwungen. »Geben Sie mir einen Kuß, George. Geben Sie Connie einen Kuß.«

Sie begleitete ihn durch den Küchengarten hinaus, den Weg, den ihre Mieter benutzten, sie sagte, das würde ihm lieber sein als der Anblick der gräßlichen neuen Bungalows, den die Harrison-Schweine im Garten nebenan errichtet hatten. Leichter Regen fiel, die Sterne standen groß und bleich im Nebel, auf der Landstraße donnerten Lastwagen nordwärts durch die Nacht. Plötzlich wurde Connie von Furcht erfaßt und klammerte sich an ihn. »Sie sind abscheulich, George. Hören Sie? Sehen Sie mich an. Sehen Sie nicht dort hinüber, da gibt's nur Neonlampen und Sodom. Küssen Sie mich. Auf der ganzen Welt sind garstige Menschen am Werk, die uns die Zeit stehlen, warum müssen Sie ihnen helfen? Warum?«

»Ich helfe ihnen nicht, Connie.«

»Natürlich tun Sie's. Sehen Sie mich an. Es war eine gute Zeit, hören Sie? Eine echte Zeit. Damals konnten die Engländer stolz sein. Lassen Sie ihnen jetzt diesen Stolz.«

»Das liegt nicht ganz in meiner Macht, Connie.« Sie zog sein Gesicht zu sich herab, also küßte er sie auf den Mund. »Die armen Lieben.« Sie keuchte schwer, nicht aus einer bestimmten Erregung, sondern aus einem Durcheinander von Erregungen, das in ihr herum schwappte wie verschiedene Sorten Alkohol. »Die armen Lieben. Für das Empire erzogen, erzogen, um die Meere zu beherrschen. Alle dahin. Alle fort. Gute Nacht, schöne Welt. Sie sind der letzte, George, Sie und Bill. Und ein bißchen auch der gräßliche Percy.« Er hatte gewußt, daß es so enden würde; aber doch nicht ganz so schlimm. Er hatte die gleiche Geschichte mit ihr bei jeder der kleinen Weihnachtsfeiern erlebt, die im Circus in stillen Winkeln abgezogen wurden. »Sie kennen Millponds nicht, oder?« fragte sie jetzt. »Was ist Millponds?«

»Da wohnt mein Bruder. Schönes klassizistisches Haus, reizende Umgebung, in der Nähe von Newbury. Dann haben sie eine Straße gebaut. Krach. Bumm. Autostraße. Das ganze Grundstück dahin. Ich bin dort aufgewachsen, verstehen sie. Sarratt ist nicht verkauft worden, oder? Ich habe es immer befürchtet.«

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

Er hätte sich gern von ihr freigemacht, aber sie klammerte sich noch verzweifelter an ihn, und er fühlte, wie ihr Herz pochte. »Wenn es schlimm ist, dürfen Sie nicht wiederkommen. Versprechen Sie's? Ich bin zu alt, ich kann nicht mehr umdenken. Ich möchte euch alle so in der Erinnerung behalten, wie ihr damals wart. Liebe, liebe Jungens.«

Er wollte sie nicht allein und schwankend im Dunkeln unter den Bäumen zurücklassen, also ging er wieder ein Stück mit ihr zum Haus zurück; keiner von ihnen sprach. Als er in die Straße einbog, hörte er sie wieder summen, so laut, daß es wie ein Aufschrei war. Aber es war nichts im Vergleich zu dem Tumult in seinem Inneren, die Wogen von Panik und Erbitterung und Ekel über diesen Nachtmarsch mit geschlossenen Augen, an dessen Ende sich Gott weiß wessen Leichen finden würden.

Er fuhr mit dem Personenzug nach Slough, wo Mendel ihn mit einem Mietwagen erwartete. Während sie langsam auf das orangefarbene Leuchten der Stadt zufuhren, hörte er sich das Ergebnis von Peter Guillams Nachforschungen an. Das Dienstbuch enthalte keine Einträge für die Nacht vom zehnten auf den elften April, sagte Mendel. Die Seiten seien mit einer Rasierklinge herausgetrennt worden. Auch die Listen der Portiers für die gleiche Nacht fehlten, desgleichen die Signallisten.

»Peter glaubt, es sei erst kürzlich geschehen. Auf die folgende Seite ist eine Anmerkung gekritzelt: >Alle Nachfragen an Chef von London Station.< Es ist Esterhases Handschrift und mit Freitag datiert.«

»Letzten Freitag?« fragte Smiley und fuhr so jäh herum, daß sein Sicherheitsgurt einen klagenden Laut von sich gab. »Das ist der Tag von Tarrs Ankunft in England.«

»Das alles sagt Peter«, erwiderte Mendel stoisch. Und schließlich, daß betreffs Lapin alias Iwlow, und Legationsrat Poljakow, beide von der Sowjetischen Botschaft in London, Toby Esterhases Aufklärerberichte nicht die geringste verdächtige Spur aufzeigten. Über beide Männer war eingehend ermittelt worden, beiden wurde der Persilschein ausgestellt: das strahlendste Weiß, das es je gab. Lapin war vor einem Jahr nach Moskau zurückbeordert worden.

Mendel hatte eine Mappe mit Guillams Fotos mitgebracht, die Ergebnisse seines Raubzugs in Brixton, alle entwickelt und auf Normalgröße gebracht. Beim Bahnhof Paddington stieg Smiley aus und Mendel reichte ihm die Mappe durch die Tür. »Soll ich wirklich nicht mitkommen?« fragte Mendel. »Vielen Dank. Es sind nur ein paar Schritte.«

»Ein Glück für Sie, daß der Tag vierundzwanzig Stunden hat, wie?«

»Ja, wirklich.«

»Manche Leute schlafen.«

»Gute Nacht.«

Mendel hielt die Mappe noch immer fest. »Kann sein, daß ich die Schule gefunden habe«, sagte er. »Heißt Thursgood, in der Nähe von Taunton. Er hat ein halbes Quartal irgendwo in Berkshire ausgeholfen und ist dann anscheinend nach Somerset getreckt. Soll einen Wohnwagen haben. Möchten Sie, daß ich's nachprüfe?«

»Wie wollen Sie das machen?«

»An seine Tür bollern. Ihm einen Staubsauger verkaufen, ihn gesellschaftlich kennenlernen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Smiley plötzlich bekümmert. »Es sieht so aus, als sähe ich schon Gespenster. Entschuldigen Sie, das war unfreundlich von mir.«

»Der junge Guillam sieht auch schon Gespenster«, sagte Mendel mit Entschiedenheit. »Behauptet, er würde im ganzen Haus so komisch angesehen. Behauptet, da gehe was vor, und sie steckten alle drin. Hab' ihm gesagt, er soll einen Strammen kippen.«

»Ja«, sagte Smiley nach weiterem Nachdenken. »Ja, das ist das einzig Richtige. Jim ist ein Profi«, erläuterte er. »Ein Außenagent der alten Schule. Er ist gut, was immer sie ihm auch angetan haben.«


Camilla war spät zurückgekommen. Soviel Guillam wußte, war die Flötenstunde bei Sand um neun zu Ende, aber es war schon elf, als sie die Tür aufschloß. Er war entsprechend kurz angebunden mit ihr, er konnte nicht anders. Jetzt lag sie im Bett, das grauschwarze Haar über das Kissen gebreitet, und beobachtete ihn, während er am dunklen Fenster stand und auf den Platz hinausstarrte.

»Hast du gegessen?«

»Doktor Sand hat mir was gegeben.«

»Was?« Sand war Perser, hatte sie ihm erzählt. Keine Antwort. Träume vielleicht? Nußkroketten? Liebe? Im Bett rührte sie sich nie, außer um ihn zu umarmen. Im Schlaf atmete sie kaum; manchmal lag er wach, beobachtete sie und überlegte, wie ihm wohl zumute wäre, wenn sie tot wäre. »Hast du Sand gern?« fragte er. »Manchmal.«

» Gehst du mit ihm ins Bett ?«

»Manchmal.«

»Vielleicht solltest du mit ihm zusammenwohnen statt mit mir.«

»So ist es nicht«, sagte Camilla. »Das verstehst du nicht.« Nein, das verstand er nicht. Zuerst dieses Pärchen, das auf dem Rücksitz eines Rover seine Spiele trieb, dann ein einsamer Bubi mit Schlapphut, der seinen Sealyham spazierenführte, dann ein Mädchen, das ein stundenlanges Gespräch von der Telefonzelle vor seiner Haustür aus führte. Nichts von alledem mußte etwas bedeuten, nur daß sie alle hintereinander aufgezogen waren wie bei der Wachablösung. Jetzt hatte ein Lieferwagen geparkt, und niemand stieg aus. Noch ein Liebespaar oder eine Aufklärer-Nachtschicht? Der Lieferwagen hatte zehn Minuten dagestanden, als der Rover wegfuhr.

Camilla schlief. Er lag neben ihr wach und wartete auf morgen. Morgen wollte er auf Smileys Anweisung die Akte über den Fall Prideaux stehlen, auch bekannt als der Ellis-Skandal - oder für Eingeweihtere - Operation Testify.


Im Thursgood übernimmt Bill Roach das Steuer von Jim Prideaux' Wagen


Bis zu diesem Augenblick war dies der zweitglücklichste Tag in Bill Roachs kurzem Leben gewesen. Der glücklichste war kurz vor der Auflösung seines Elternhauses, als sein Vater unterm Dach ein Wespennest entdeckt und Bill als Hilfskraft beim Ausräuchern herangezogen hatte. Der Vater war kein Naturmensch, auch nicht sehr geschickt, aber nachdem Bill in seinem Lexikon alles über Wespen nachgelesen hatte, waren sie gemeinsam zur Drogerie gefahren und hatten Schwefel gekauft, den sie auf einer großen Platte unter der Dachrinne verbrannten und damit den Wespen den Garaus machten.

Der heutige Tag jedoch hatte die feierliche Eröffnung von Jim Prideaux' Automobil-Club-Rallye gesehen. Bisher hatten sie nur den Alvis auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, aber heute hatten sie zum Lohn und mit Latzys Hilfe eine Slalompiste mit Strohballen auf der steinigen Seite der Strecke angelegt, dann hatte reihum jeder sich ans Steuer gesetzt und war mit Jim als Stopper unter dem brausenden Jubel der Supporters durch die Tore gekeucht und gewedelt. »Bester Wagen, den England je gebaut hat«, hatte Jim sein Auto vorgestellt. »Wird heute nicht mehr hergestellt, von wegen Sozialismus.« Jetzt war der Alvis frisch lackiert, trug auf der Kühlerhaube einen Rallye-Union-Jack und war unbestritten der schönste und schnellste Wagen der Welt. Im ersten Durchgang hatte Roach den dritten Platz unter vierzehn Teilnehmern belegt, und jetzt, im zweiten, war er, ohne ein einziges Mal abzubremsen, beim Kastanienbaum angelangt und startbereit für die Endrunde. Eine Rekordzeit! Er hätte nie gedacht, daß ihm etwas so viel Spaß machen könnte. Er fand das Auto herrlich, und zum erstenmal in seinem Leben hätte er es herrlich gefunden, zu siegen. Er hörte, wie Jim brüllte: »Sachte, Jumbo«, und er sah Latzy auf und ab hüpfen und die improvisierte Zielfahne schwingen, aber als er um den Pfosten radierte, wußte er bereits, daß Jim nicht mehr auf ihn achtete, sondern über die Rennstrecke hinweg zu den Birken hinüberstarrte. »Sir, wie lange, Sir?« fragte er atemlos und hörte nur ein leises Psst!«

»Stopper!« rief Spikely und riskierte eine Lippe. »Die Zeit, bitte, Rhino.«

»War prima, Jumbo«, sagte Latzy und blickte ebenfalls auf Jim. Ausnahmsweise fanden weder Spikelys Frechheit noch Bills Flehen Beachtung. Jim starrte über das Spielfeld zum Fahrweg hinüber, der die östliche Grenze bildete. Neben ihm stand ein Junge namens Coleshaw, ein Repetierer aus III B, bekannt dafür, daß er den Lehrern um den Bart ging. Das Gelände war hier sehr flach, ehe es zu den Hügeln anstieg; nach ein paar Regentagen stand oft alles unter Wasser. Deshalb lief auch keine ordentliche Hecke am Fahrweg entlang, sondern nur ein Drahtzaun mit Holzpfosten; und es gab auch keine Bäume, nur den Drahtzaun, die Ebene und da und dort dahinter die Quantocks, die heute im alles beherrschenden Weiß verschwunden waren. Die Ebene hätte daher auch Sumpfland sein können, das zu einem See führte oder einfach in die weiße Unendlichkeit. Vor diesem farblosen Hintergrund wanderte eine einzelne Gestalt dahin, ein normaler, unauffälliger Fußgänger, ein Mann mit schmalem Gesicht, weichem Filzhut und grauem Regenmantel; er trug einen Spazierstock, den er kaum benutzte. Roach, der ihn gleichfalls beobachtete, kam zu dem Schluß, daß der Mann gern schneller gegangen wäre, aber aus einem bestimmten Grund den Schritt zügelte. »Hast du die Brille auf, Jumbo?« fragte Jim und starrte unverwandt auf diese Gestalt, die sich nun dem nächstgelegenen Pfosten näherte. »Ja, Sir.«

»Wer ist denn der? Sieht aus wie Salomon Grundy.«

»Weiß nicht, Sir.«

»Noch nie in der Gegend gesehen?«

»Nein, Sir.«

»Kein Lehrer, keiner aus dem Dorf. Also was ist er? Räuber? Dieb? Warum schaut er nicht zu uns herüber, Jumbo? Was paßt ihm nicht an uns? Würdest du nicht hinschauen, wenn du einen Haufen Jungens sehen würdest, die im Auto um ein Feld rasen? Mag er keine Autos? Mag er keine Jungens?« Roach überlegte noch immer eine Antwort auf alle diese Fragen, als Jim anfing, zu Latzy in der DP-Sprache zu reden. Sein tonloses Flüstern verriet Roach sofort, daß zwischen den beiden ein Einvernehmen bestand, ein besonderes fremdartiges Band. Der Eindruck wurde durch Latzys Antwort verstärkt, die mit der gleichen unerschütterlichen Zurückhaltung erteilt wurde und deutlich negativ war,

»Sir, bitte, Sir, ich glaube, er hat was mit der Kirche zu tun, Sir«, sagte Coleshaw. »Ich hab' ihn mit Wells Fargo sprechen sehen, Sir, nach der Andacht.«

Der Name des Vikars lautete Spargo, und er war sehr alt. Die Thursgood-Legende wollte, daß er in Wahrheit der große Wells Fargo sei, der sich hierher zurückgezogen hatte. Jim dachte eine Weile über diese Erklärung nach, und Roach war wütend und fand, Coleshaw wolle sich nur interessant machen.

»Gehört, worüber sie geredet haben, Coleshaw?«

»Sir, nein, Sir. Sie haben die Sitzordnung der Kirche studiert, Sir.

Aber ich könnte Wells Fargo fragen, Sir.«

»Unsere Sitzordnung? Die Sitzordnung von Thursgood?«

»Ja, Sir. Die Sitzordnung der Schule. Von Thursgood. Mit den ganzen Namen, Sir, und wo wir sitzen.«

Und auch wo die Lehrer sitzen, dachte Roach erbittert. »Wer ihn nochmals sieht, sagt mirs. Ihn oder sonstige trübe Figuren, verstanden?« Jim wandte sich an alle und lieferte dabei eine einfache Erklärung. »Hab' nichts übrig für komische Vögel, die sich um Schulen rumtreiben. An meiner letzten war's eine richtige Bande. Haben alles mitgehen lassen. Silber, Geld, Ambanduhren der Jungens, Radios, Gott weiß, was sie nicht geklaut haben. Er wird nächstens den Alvis klauen. Bester Wagen, den England je gebaut hat, und wird nicht mehr hergestellt. Haarfarbe, Jumbo?«

»Schwarz, Sir.«

»Größe, Coleshaw?«

»Sir, einsachtzig, Sir.«

»Für Coleshaw sieht jeder wie einsachtzig aus, Sir«, sagte ein Spaßvogel, denn Coleshaw war ein Zwerg und angeblich mit der Ginflasche aufgezogen.

»Alter, Spikely, du Knallfrosch?«

»Einundneunzig, Sir.«

Die Situation löste sich in Gelächter auf, Roach durfte den Durchgang wiederholen und schnitt schlecht ab, und in dieser Nacht lag er in qualvoller Eifersucht wach und fürchtete, der ganze Automobilclub, ganz zu schweigen von Latzy, könnte in Bausch und Bogen in den ehrenvollen Rang von Beobachtern erhoben worden sein. Es tröstete ihn kaum, daß er sich sagte, ihre Wachsamkeit könne sich nie und nimmer mit der seinen vergleichen; daß Jims Anweisung nur für diesen einen Tag Geltung habe; oder daß Roach von nun an seine Anstrengungen verdoppeln müsse, um dieser eindeutig näherrückenden Bedrohung zu begegnen. Der Fremde mit dem schmalen Gesicht war wieder verschwunden, aber anderntags stattete Jim dem Kirchhof einen seltenen Besuch ab; Roach sah ihn mit Wells Fargo sprechen, vor einem offenen Grab.

Von diesem Tag an stellte Bill Roach an Jim eine verschlossene Miene fest und eine Sprungbereitschaft, die manchmal wie Zorn hervortrat, wenn er allabendlich durch das Zwielicht stapfte oder vor dem Wohnwagen auf den Erdhocken saß, unempfindlich gegen Kälte oder Nässe, und seine dünne Zigarre rauchte und am Whisky nippte, während die Dunkelheit ihn einhüllte.


Zweiter Teil


Mrs. Pope Graham vom Hotel Islay kommt zu einem verdächtigen Gast, Inspektor Mendel zu einem billigen Babysitter


Das Hotel Islay in Sussex Gardens, wo George Smiley am Tag nach seinem Besuch in Ascot unter dem Namen Barraclough sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, war ein für diese Lage sehr ruhiges Haus und für Smileys Zwecke vorzüglich geeignet. Es stand in einer Reihe älterer Herrschaftshäuser knapp hundert Meter südlich von Paddington Station und war von der Hauptstraße durch eine Reihe gleichhoher Bäume und einen Parkplatz getrennt. Draußen dröhnte der Verkehr die ganze Nacht hindurch. Das Innere jedoch war trotz der Anhäufung scheußlicher Tapeten und kupferner Lampenschirme ein Hort der Stille. Nicht nur, daß sich im Hotel nichts regte: Auch in der Außenwelt regte sich nichts, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Besitzerin, Mrs. Pope Graham, Majorswitwe, deren furchtbar schleppende Stimme Mr. Barraclough genau wie jedem anderen, der das gastliche Haus aufsuchte, ein Gefühl grenzenloser Müdigkeit vermittelte. Inspektor Mendel, dessen Informantin sie seit vielen Jahren war, behauptete, ihr Name sei schlicht Graham. Das Pope habe sie zwecks größerer Vornehmheit oder als Huldigung an Rom hinzugefügt. »Ihr Vater war nicht zufällig bei der Greenjacket-Brigade?« erkundigte sie sich gähnend, als sie den Namen Barraclough im Register las. Smiley zahlte ihr fünfzig Pfund Vorschuß für einen zweiwöchigen Aufenthalt und sie gab ihm Zimmer Nummer acht, weil er ungestört arbeiten wollte. Er bat um einen Schreibtisch, und sie gab ihm einen wackeligen Bridgetisch, Norman, der Hotelboy, schleppte ihn an. »Er ist georgianisch«, seufzte sie, als sie die Lieferung überwachte. »Sie werden ihn doch sorgsam behandeln, nicht wahr, mein Lieber? Eigentlich sollte ich ihn gar nicht ausleihen, er hat dem Major gehört.« Zu den fünfzig Pfund fügte Mendel privatim weitere zwanzig a conto aus seiner eigenen Brieftasche hinzu, Schmierlappen, wie er sagte, die er später wieder von Smiley kassierte. »Wo nichts ist, kann auch nichts stinken, wie?« meinte er.

»So könnte man sagen«, bestätigte Mrs. Pope Graham und barg die Scheine hoheitsvoll in ihren Dessous.

»Ich will jeden Dreck erfahren«, schärfte Mendel ihr ein, als sie in ihrer Souterrainwohnung bei einer Flasche ihrer Lieblingsmarke saßen. »Genaue Zeiten von Kommen und Gehen, Kontakte, Lebensweise und vor allem« — er hob einen mahnenden Finger - »vor allem, und das ist wichtiger, als Sie wissen können, müssen mir alle verdächtigen Personen gemeldet werden, die sich für ihn interessieren oder unter irgendeinem Vorwand Ihr Personal aushorchen wollen.« Er warf ihr seinen Lage-der-Nation-Blick zu. »Auch wenn sie behaupten, sie wären die Königliche Leibgarde und Sherlock Holmes in einer Person.«

»Wir sind allein hier, ich und Norman«, sagte Mrs. Pope Graham und wies auf einen fröstelnden Jungen in einem schwarzen Mantel, den Mrs. Pope Graham mit einem beigen Samtkragen herausgeputzt hatte. »Und bei Norman werden sie kein Glück haben, nicht wahr, Lieber, du bist viel zu taktvoll.«

»Außerdem alle Briefe, die für ihn kommen«, sagte der Inspektor. »Briefmarken und Poststempel, wenn irgend lesbar, notieren, aber nicht dran rumpfuschen oder zurückhalten. Außerdem seine Sachen.« Er ließ einen Engel durch den Raum schweben, während er den mächtigen Safe betrachtete, der einen so wesentlichen Bestandteil des Mobiliars darstellte. »Hin und wieder wird er etwas hinterlegen wollen. Es werden hauptsächlich Papiere sein, manchmal Bücher. Außer ihm darf nur ein einziger Mensch auf der Welt diese Dinge zu Gesicht bekommen« - er ließ ein kurzes Seeräubergrinsen aufblitzen -, »ich. Verstanden? Niemand sonst darf auch nur wissen, daß sie hier sind. Und murksen Sie nicht dran herum, er merkte es, er ist ein scharfer Hund. Es müßte meisterhaft gemurkst sein. Mehr sage ich nicht«, schloß Mendel. Smiley gegenüber bemerkte er nach seiner Rückkehr aus Somerset, wenn der Preis nicht höher sei als zwanzig Lappen, dann seien Norman und seine Herrin die billigsten Babysitter in der Branche. Worauf er zu Unrecht stolz war, verzeihlicherweise, denn er konnte schließlich nicht wissen, daß Jim den gesamten Automobilclub eingespannt hatte; und ebensowenig konnte er wissen, auf welche Weise es Jim in der Folge möglich war, den Pfaden von Mendels mißtrauischen Nachforschungen zu folgen. Und weder Mendel noch irgend jemand sonst ahnte das Ausmaß elektrisierter Alarmbereitschaft, in die der Zorn, die Anspannung des Wartens und vielleicht ein kleiner Knacks Jim versetzt haben mochten.

Zimmer acht lag im obersten Stock. Das Fenster ging auf die Dachbrüstung hinaus. Gegenüber, in einer Seitenstraße, war eine zweifelhafte Buchhandlung und ein Reisebüro mit dem Namen »Weite Welt«. Im Handtuch war Swan Hotel Marlow eingewebt. Lacon kam noch am gleichen Abend mit einer dicken Aktenmappe angestelzt, die eine erste Portion Papiere aus seinem Büro enthielt. Zu ihrer Unterredung setzten sie sich nebeneinander aufs Bett, und Smiley ließ ein Transistorradio spielen, um ihre Stimmen zu übertönen. Lacon nahm das ungnädig auf, irgendwie schien er zu alt für solche Scherze. Anderntags holte Lacon auf dem Weg zum Dienst die Papiere wieder ab und gab die Bücher zurück, mit denen Smiley die Mappe ausgestopft hatte. In dieser Rolle war Lacon miserabel. Er gab sich gekränkt und zerfahren und machte kein Hehl daraus, daß er diese Unregelmäßigkeit haßte. Die Röte, die sein Gesicht in der Kälte annahm, schien nicht mehr weichen zu wollen. Aber bei Tag konnte Smiley die Papiere nicht lesen, da sie Lacons Mitarbeitern jederzeit zugänglich sein mußten, und ihr Verschwinden hätte Staub aufgewirbelt. Er hätte es auch nicht gewollt. Er wußte besser als jeder andere, daß die Zeit verzweifelt drängte. In den nächsten drei Tagen änderte sich sein Programm nur sehr wenig. Allabendlich lieferte Lacon auf dem Weg zum Bahnhof Paddington seine Papiere ab, und allnächtlich meldete Mrs. Pope Graham Mendel verschwörerisch, daß der lange Griesgram wieder dagewesen sei, der Norman immer so scheel ansehe. Allmorgendlich, nach drei Stunden Schlaf und einem widerlichen Frühstück aus halbgaren Würsten und zerkochten Tomaten - etwas anderes war nicht zu haben - wartete Smiley auf Lacons Kommen, dann floh er dankbar hinaus in den kalten Wintertag, um seinen Platz in der menschlichen Gesellschaft wieder einzunehmen.

Es waren schon außergewöhnliche Nächte für Smiley, so allein dort oben im Dachgeschoß. Wenn er später nach einer Zeit, die ebenso erfüllt und nach außen hin weit ereignisreicher war, an sie zurückdachte, so erschienen sie ihm wie eine einzige Reise, fast wie eine einzige Nacht. Ich kann ihm doch sagen, daß Sie es übernehmen, hatte Lacon schamlos im Garten geflötet. Vorwärts, zurück ? Während Smiley Pfad um Pfad in seine eigene Vergangenheit zurückwanderte, verschwand dieser Unterschied: Vorwärts oder rückwärts, es war die gleiche Reise, und sein Ziel lag vor ihm.

Nichts in diesem Zimmer, kein einziger Gegenstand in diesem Sammelsurium schäbigen Hotelkrams, trennte ihn von den Zimmern seiner Erinnerung. Er war wieder in der obersten Etage des Circus, in seinem eigenen schäbigen Büro mit den Drucken von Oxford, genau wie er es vor einem Jahr verlassen hatte. Jenseits der Tür war das niedrige Vorzimmer, wo Controls grauhaarige Damen, die Mütter, leise tippten und Anrufe beantworteten; während hier im Hotel ein unentdecktes Genie ein paar Türen weiter Tag und Nacht geduldig auf einer alten Schreibmaschine klapperte. Am anderen Ende des Vorzimmers - in Mrs. Pope Grahams Haus befand sich dort ein Badezimmer mit einem Schild, das die Benutzung verbot - war die verbotene Tür zu Controls Allerheiligstem: ein Schlauch von Zimmer, mit alten Stahlschränken und alten roten Büchern, einem Geruch nach süßem Staub und Jasmintee. Hinter dem Schreibtisch Control persönlich, damals schon nur mehr ein Gerippe von Mann, mit seinem schütteren grauen Stirnhaar und dem warmen Lächeln eines Totenschädels. Diese geistige Verwandlung war so vollständig, daß Smiley, als sein Telefon klingelte - der Anschluß war eine zusätzliche Leistung und in bar zu bezahlen - sich erst wieder erinnern mußte, wo er war. Andere Geräusche übten eine ähnlich verwirrende Wirkung auf ihn aus, zum Beispiel das Scharren von Tauben auf dem Dach, das Knarren der Fernsehantenne im Wind, und bei Regen der gurgelnde Bach in der Dachrinne. Denn auch diese Geräusche gehörten zu seiner Vergangenheit und waren in Cambridge Circus nur in der fünften Etage zu vernehmen gewesen. Das war wohl der Grund, warum sein Ohr sie nun heraushörte: Sie waren die Geräuschkulisse seiner Vergangenheit. Als Smiley einmal frühmorgens im Hotelkorridor Schritte hörte, ging er tatsächlich zur Tür, weil er mit dem Chiffreur vom Nachtdienst rechnete. Er war gerade in Guillams Fotos vertieft und versuchte, an Hand viel zu spärlicher Informationen das Verfahren auszutüfteln, nach dem eingehende Telegramme aus Hongkong unter dem Circus-Lateralismus bearbeitet werden mochten. Aber anstatt des Chiffreurs hatte er Norman vorgefunden, der barfuß im Schlafanzug vor der Tür stand. Über den Läufer waren Konfetti verstreut, und vor der Tür gegenüber standen zwei Paar Schuhe, ein Paar Damen- und ein Paar Herrenschuhe, obwohl kein Mensch im Islay, am allerwenigsten Norman, sie jemals putzen würde.

»Laß das Spionieren und geh zu Bett«, hatte Smiley gesagt. Und als Norman ihn nur anglotzte; »Ach, so geh doch, ja?« - und beinahe, aber er hielt sich zurück- »Du schmieriger Knirps.«

»Operation Witchcraft« lautete der Titel des ersten Bands, den Lacon ihm an diesem Sonntag brachte. »Vorschriften zur Verteilung besonderer Produkte.« Der übrige Einband war mit Warnzetteln und Benutzungsanweisungen vollgeklebt, darunter eine, die mit entzückender Naivität dem zufälligen Finder nahelegte: »Diese Akte ungelesen zurück an den Chefarchivar im Kabinettsbüro.«

»Operation Witchcraft« stand auf dem zweiten Band. »Antrag auf zusätzliche Mittel an Schatzamt, Wohnmöglichkeit in London, besondere Zahlungsvereinbarungen, Prämie etc.«

»Quelle Merlin«, stand auf dem dritten, der mittels einer rosa Kordel mit dem ersten zusammengebunden war. »Auswertung durch Konsumenten, Kosteneffektivität, weitere Auswertung, siehe auch geheimer Anhang.« Aber der geheime Anhang war nicht angehängt, und als Smiley nach ihm fragte, schlug ihm ein Eishauch entgegen. »Der Minister verwahrt ihn in seinem Privatsafe«, knurrte Lacon. »Kennen sie die Kombination?«

»Wo denken Sie hin!« erwiderte Lacon wütend. »Wie lautet der Titel des Anhangs?«

»Das kann für Sie von keinerlei Interesse sein. Ich begreife nicht, warum Sie Ihre Zeit überhaupt damit vergeuden sollen, hinter diesem Material herzujagen. Es ist streng geheim, und wir haben alles Menschenmögliche getan, um den Leserkreis auf ein Minimum zu beschränken.«

»Auch ein geheimer Anhang muß einen Titel haben«, sagte Smiley milde.

»Dieser hat keinen.«

»Gibt er Merlins Identität an?«

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Der Minister würde sie nicht kennen wollen, und Alleline würde ihn nicht aufklären.«

»Was bedeutet weitere Auswertung?«

»Sie haben kein Recht, mich auszufragen, George. Sie gehören nicht mehr zur Familie, wie Sie wissen. Von Rechts wegen hätte ich Sie erst einmal genau durchleuchten lassen müssen.«

» Witchcraft-durchleuchten?«

»Ja.«

»Gibt es eine Liste der Personen, die solche Durchleuchtungen hinter sich haben?«

Sie liegt im Kabinettsbüro, gab Lacon zurück und hätte um ein Haar die Tür hinter sich zugeknallt, doch kam er zurück, während sanft das Lied »Sag mir, wo die Blumen sind« erklang. »Der Minister . . .« begann er von neuem. »Er hat nichts übrig für umschweifige Erklärungen. Er sagt immer: Ich glaube nur, was auf einer Postkarte Platz hat. Er wartet ungeduldig auf handgreifliche Resultate.«

»Sie vergessen Prideaux nicht, ja? Einfach alles, was Sie über ihn finden können; jeder kleinste Wisch ist besser als gar nichts.« Smiley ließ Lacon eine Weile hierüber nachglotzen, dann zu einem zweiten Abgang ansetzen: »Verrennen Sie sich auch nicht in eine fixe Idee, George? Es ist Ihnen doch klar, daß Prideaux höchstwahrscheinlich kein einziges Wort von Witchcraft gehört hat, ehe er angeschossen wurde? Ich begreife wirklich nicht, warum sie nicht bei der Hauptsache bleiben können, anstatt dieses Herumwühlens in . . .« Aber inzwischen hatte er sich bereits aus dem Zimmer hinausgeredet.

Smiley wandte sich dem letzten Stoß zu: »Operation Witchcraft, Schriftwechsel mit Department.« Department war eine von Whitehalls zahlreichen beschönigenden Umschreibungen für den Circus. Dieser Band bestand aus offiziellen Aktennotizen, gewechselt zwischen dem Minister einerseits und - sofort zu erkennen an seiner berühmten Schulschrift - Percy Alleline andererseits, der damals noch auf den unteren Sprossen von Controls hierarchischer Leiter schmachtete.

Ein recht glanzloses Denkmal, fand Smiley bei der Durchsicht dieser vielbenutzten Akten, für einen so langen und grausamen Krieg.


George Smiley füttert sein Gedächtnis mit Akten aus Oliver Lacons Geheimarchiv


Als Smiley nun in die Lektüre von Lacons Akten einstieg, erlebte er diesen langen und grausamen Krieg in seinen wichtigsten Schlachten noch einmal. Die Gegenspieler waren Alleline und Control, der Ursprung des Krieges im dunkeln. Die Akten enthielten einen denkbar dürftigen Bericht; Smileys Gedächtnis enthielt weit mehr. Bill Haydon, der die Ereignisse ebenso sorgfältig wie besorgt verfolgt hatte, behauptete, die beiden Männer hätten einander in Cambridge hassen gelernt, wo Control sich kurze Zeit als Lehrer und Alleline als Student aufgehalten hatten. Laut Bill sei Alleline Controls Schüler gewesen, ein schlechter Schüler, und Control habe sich über ihn mokiert, was sehr wohl möglich war. Die Geschichte war so grotesk, daß Control nicht umhin konnte, sie noch hochzuspielen:

»Percy und ich sind Blutsbrüder, höre ich. Haben uns gemeinsam in diesen Stechkähnen, den Punts, getummelt, man stelle sich vor!« Er sagte nie, ob es wahr war.

Derartige Halbmythen konnte Smiley mit ein paar Tatsachen aus dem früheren Leben der beiden Männer zurechtrücken. Während Controls Herkunft unbekannt war, stammte Percy Alleline aus dem Süden Schottlands und war in einem Pfarrhaus geboren; sein Vater war ein presbyterianischer Eiferer, und wenn Percy auch nicht seinen Glauben hatte, so hatte er doch zweifellos seine sektiererische Unduldsamkeit geerbt. Er verpaßte den Krieg um ein paar Jahre und kam von einer Firma in der City zum Circus. In Cambridge hatte er sich ein bißchen als Politiker (gleich rechts von Dschingis Khan, sagte Haydon, der weiß Gott selber kein Scheiß-Liberaler gewesen war) und ein bißchen als Sportler hervorgetan. Er war von einem unbedeutenden Menschen namens Maston angeworben worden, der eine Zeitlang versucht hatte, sich ein Plätzchen bei der Gegenspionage einzurichten. Maston sah für Alleline eine große Zukunft voraus, fiel jedoch selber in Ungnade, nachdem er seinen Schützling frenetisch feilgeboten hatte. Die Personalabteilung des Circus expedierte Alleline, um ihn loszuwerden, nach Südamerika, wo er unter konsularischer Tarnung zwei volle Dienstperioden ableistete, ohne nach England zurückzukehren.

Sogar Control gab später zu, wie Smiley sich erinnerte, daß Alleline dort vorzüglich gearbeitet habe. Den Argentiniern gefiel die Art, wie er ritt und Tennis spielte, und sie hielten ihn für einen Gentleman - so Control - und nahmen daher an, er müsse dumm sein, was Percy niemals völlig war. Als er die Stelle an seinen Nachfolger übergab, hatte er an beiden Küstenstrichen seine Agentenkette gezogen und war auch schon auf dem Vorstoß nach Norden. Nach einem Heimaturlaub und einer mehrwöchigen Instruktion wurde er nach Indien versetzt, wo seine Agenten ihn als den wiedererstandenen britischen Sahib zu betrachten schienen. Er predigte ihnen Loyalität, zahlte ihnen so gut wie gar nichts und verbriet sie, wenn es ihm in den Kram paßte. Von Indien aus ging er nach Kairo. Dieser Posten hätte für Alleline schwierig, wenn nicht unhaltbar sein müssen; denn der Nahe Osten war bis dato Haydons Stammrevier gewesen. Die Netze in Kairo blickten zu Bill auf wie zu einem modernen Lawrence von Arabien — buchstäblich das gleiche Bild, das Martindale in jener schicksalhaften Nacht in seinem obskuren Club von ihm gezeichnet hatte. Sie waren bereit, seinem Nachfolger das Leben zur Hölle zu machen. Trotzdem boxte Percy sich verbissen durch, und wenn er den Amerikanern aus dem Weg gegangen wäre, hätte Haydon in ihm noch seinen Meister gefunden. So aber kam es zu einem Skandal und einem offenen Zusammenstoß zwischen Percy und Control.

Die Umstände lagen noch immer im dunkeln: der Zwischenfall hatte sich lange vor Smileys Ernennung zu Controls oberstem Kammerherrn ereignet. Alleline hatte sich offenbar ohne Autorisation Londons in ein albernes amerikanisches Komplott zur Absetzung eines einheimischen Potentaten, der durch eine genehmere Figur ersetzt werden sollte, eingelassen: Alleline war schon immer ein großer Bewunderer der Amerikaner gewesen. In Argentinien hatte er staunend ihre Rotte linksgerichteter Politiker um den halben Erdball verfolgt; in Indien entzückte ihn ihre Geschicklichkeit bei der Zunichtemachung der Zentralisierungsbestrebungen. Während Control, wie die meisten im Circus, die Amerikaner ebenso verachtete wie alle ihre Werke, die er häufig zu sabotieren suchte.

Das Komplott platzte, die britischen Ölgesellschaften waren wütend, und Alleline mußte sich, wie es so bildhaft im Jargon heißt, barfuß auf die Socken machen. Später behauptete Alleline, Control habe ihn zuerst dazu gedrängt und ihm dann den Teppich unter den Füßen weggezogen. Wie dem auch gewesen sei, Alleline kam nach London und fand dort den Befehl vor, sich in der Nursery einzustellen, wo er die Ausbildung von Neulingen übernehmen sollte. Diese Planstelle war normalerweise Vertragsangestellten vorbehalten, die noch ein paar Jährchen bis zu ihrer Pensionierung hatten. Heutzutage, erklärte Bill Haydon, damals Personalchef, gebe es in London so furchtbar wenige Jobs für einen Mann von Percys Dienstalter und Fähigkeiten. »Dann werden Sie verdammt noch mal einen für mich erfinden müssen«, sagte Percy. Er hatte recht. Wie Bill sich wenig später Smiley gegenüber in schöner Offenheit ausdrückte: Er hatte die Rechnung ohne die Alleline-Lobby gemacht. »Aber wer sind diese Leute?« hatte Smiley immer wieder gefragt. »Wie können sie Ihnen einen Mann aufzwingen, wenn Sie ihn nicht wollen?«

»Golfer«, knurrte Control. Golfer und Konservative, denn Alleline liebäugelte damals mit der Opposition und wurde mit offenen Armen empfangen, nicht zuletzt von Miles Sercombe, Anns leider nicht geschaßtem Vetter und Lacons Minister. Doch Control konnte wenig dagegen machen. Im Circus herrschte Flaute, und es ging sogar die Rede, man wolle die ganze Mannschaft ausrangieren und irgendwo mit einer anderen neu anfangen. In dieser Welt treten Fehlschläge traditionsgemäß in Serien auf, aber dies war eine ungewöhnlich lange Pechsträhne gewesen. Das Produkt war zurückgegangen; immer mehr Material hatte sich als verdächtig erwiesen. Dort, wo es darauf ankam, hatte Control nicht allzuviel zu sagen.

Diese vorübergehende Ohnmacht trübte Controls Freude bei der Abfassung von Percy Allelines Eignungsgutachten für den Posten des Operationsleiters nicht im geringsten. Damit machte er Percy, wie er sagte »hofnarrenfähig«.

Smiley konnte nichts unternehmen. Bill Haydon war damals in Washington und versuchte, mit den, wie er es ausdrückte, faschistischen Puritanern der amerikanischen Dienststelle erneut über ein Informationsabkommen zu verhandeln. Aber Smiley war in die fünfte Etage aufgestiegen, und dort gehörte es zu seinen Aufgaben, Control alle Bittsteller vom Hals zu halten. Folglich hatte Alleline mit Smiley zu tun, sooft er kam und fragte: »Warum?« Suchte ihn in seinem Büro auf, wenn Control nicht da war, lud ihn in seine trübselige Wohnung ein, nachdem er seine Geliebte vorsorglich ins Kino geschickt hatte und fragte immer wieder in seinem klagenden Tonfall: »Warum?« Einmal hatte er sogar eine Flasche Malzwhisky erstanden, den er Smiley nachgerade aufdrängte, während er selber der billigeren Sorte treu blieb.

»Was habe ich ihm denn so Furchtbares angetan, George? Wir haben uns ein paarmal gekabbelt, aber was ist daran so ungewöhnlich, können Sie mir das sagen? Warum hackt er auf mir herum? Ich will doch nichts als einen Platz am obersten Tisch. Gott weiß, daß meine Qualifikation mich dazu berechtigt.« Mit obersten Tisch meinte er die fünfte Etage. Die Kompetenzen, die Control ihm zugewiesen hatte und die auf den ersten Blick höchst eindrucksvoll wirkten, gaben Alleline das Recht, sämtliche Einsatzpläne zu überprüfen, ehe sie durchgeführt würden. Das Kleingedruckte machte dieses Recht von der Zustimmung der betroffenen Abteilungen abhängig, und Control sorgte dafür, daß es nicht so weit kam. Der Dienstvertrag verpflichtete ihn zur »Koordinierung von Quellen und Schlichtung regionaler Kompetenzstreitigkeiten«, eine Aufgabe, die Alleline später mit der Einrichtung von London Station erfüllt hat. Aber die für Quellen zuständigen Abteilungen, wie zum Beispiel die Aufklärer, die Fälscher, die Abhörer und die Funker, weigerten sich, ihm Einblick zu gewähren, und er hatte keine Möglichkeit, sie zu zwingen. Alleline darbte also, von Mittag an war sein Tisch leer.

»Ich bin mittelmäßig, das ist der Grund, wie? Heutzutage muß jeder ein Genie sein, eine Primadonna, kein Statist, und uralt obendrein.« Denn Alleline, obwohl man es bei ihm leicht vergaß, war für den obersten Tisch ein noch junger Mann. Einen Unterschied von acht und zehn Jahren konnte er gegen Haydon und Smiley ins Treffen führen, und gegen Control noch mehr. Control war unerbittlich: »Percy Alleline würde seine Mutter für einen Adelstitel verkaufen, und diese Dienststelle für einen Sitz im Oberhaus.« Und später, als die niederträchtige Krankheit ihn bereits befallen hatte: »Ich weigere mich, mein Lebenswerk einem Paradepferd zu hinterlassen. Ich bin zu eingebildet, um auf Schmeicheleien reinzufallen, zu alt, um ehrgeizig zu sein, und ich bin häßlich wie die Nacht. Percy ist in allem das Gegenteil, und in Whitehall gibt es genügend Tausendsassas, denen einer wie er mehr liegt als ich.«

Womit Control sich gewissermaßen selber den Fall Witchcraft auf Umwegen aufgehalst hatte.

»George, kommen Sie rein«, hatte Control eines Tages durch die Sprechanlage gebellt. »Bruder Percy will mir das Messer auf die Brust setzen. Kommen Sie rein, oder es gibt ein Blutbad.« Es war die Zeit, erinnerte sich Smiley, als ruhmlose Krieger aus aller Herren Länder zurückkehrten. Roy Bland war soeben aus Belgrad heimgeflogen, wo er mit Toby Esterhases Hilfe versucht hatte, die Reste eines sterbenden Agentennetzes zu retten; Paul Skordeno, zu jener Zeit Nr. 1 in Deutschland, hatte vor kurzem seinen besten sowjetischen Agenten in Ostberlin verloren, und Bill selber war nach einer weiteren erfolglosen Reise zurück in seinem Turmzimmer und wütete über die Pentagon-Arroganz, die Pentagon-Idioten, die Pentagon-Lumpen; und behauptete, die Zeit sei gekommen, »sich lieber mit den verdammten Russen zusammenzutun«.

Und im Hotel Islay war es nach Mitternacht, denn ein verspäteter Gast klingelte an der Tür. Wofür Norman ihm zehn Silberlinge abknöpfen wird, dachte Smiley. Mit einem Seufzer zog er den ersten Band der Witchcraft-Akten heran, leckte bedächtig Zeigefinger und Daumen der rechten Hand und ging daran, das amtliche Gedächtnis mit seinem eigenen zu verquicken.

»Wie besprochen«, schrieb Alleline nur ein paar Monate nach dieser Unterredung in einem leicht hysterischen persönlichen Brief an Anns einflußreichen Vetter, den Minister, der in Lacons Akte enthalten war.

»Die Witchcraft-Berichte kommen sämtlich aus einer Quelle, die unbedingt äußerste Behutsamkeit erfordert. Meiner Meinung nach wird keine der in Whitehall üblichen Verteilermethoden diesem Fall gerecht. Depeschenkoffer, wie wir sie für gadfly benutzten, erwiesen sich als ungeeignet, als Whitehall-Konsumenten die Schlüssel verloren und, in einem besonders bedauerlichen Fall, ein überarbeiteter Unterstaatssekretär seinem Mitarbeiter seinen Schlüssel überließ. Ich sprach bereits mit Lilley vom Geheimdienst der Kriegsmarine, der bereit ist, uns im Hauptgebäude der Admiralität einen eigenen Leseraum zu überlassen, wo das Material den Konsumenten zur Verfügung gestellt und von einem dienstälteren Aufsichtsbeamten dieser Dienststelle bewacht werden könnte. Der Leseraum wird aus Sicherheitsgründen als Konferenzraum der Adriatic Working Party oder kurz AWP bezeichnet. Zugelassene Konsumenten erhalten keine Lesekarten, da hier zu leicht Mißbrauch getrieben werden könnte. Sie weisen sich vielmehr persönlich meinem Aufsichtsbeamten gegenüber aus« - Smiley nahm das Pronomen zur Kenntnis -, »der eine Eintragungsliste mit Fotos der Konsumenten zur Hand hat.«

Lacon, der noch nicht überzeugt war, an das Schatzamt auf dem Weg über seinen verhaßten Gebieter, den Minister, dem unumgänglichen Dienstweg:

»Vorausgesetzt, daß dies notwendig ist, müßte der Leseraum weitgehend umgebaut werden.

1. Werden Sie die Finanzierung übernehmen?

2. Wenn ja, so sollten die Kosten offiziell von der Admiralität getragen werden. Das Department wird vertraulich Rückzahlung leisten.

3. Es erhebt sich ferner die Frage zusätzlichen Aufsichtspersonals, ein weiterer Kostenpunkt...«

Und ferner erhebt sich die Frage größeren Ruhms für Percy Alleline, kommentierte Smiley, während er langsam die Seiten umwandte. Schon blitzte es auf Schritt und Tritt wie ein Leuchtsignal: Percy ist auf dem Marsch zum obersten Tisch, und Control könnte ebensogut schon tot sein.

Aus dem Treppenhaus erscholl recht wohltönender Gesang. Ein wallisischer Gast wünschte, stockbetrunken, der Welt eine gute Nacht.

Witchcraft war, wie Smiley sich erinnerte - wiederum war sein Gedächtnis am Zug, die Akten wußten nichts von solchem menschlichen Kleinkram -, keineswegs Percy Allelines erster Versuch, auf seinem neuen Posten eine eigene Operation aufzuziehen; doch da seine Dienstanweisung ihn an Controls Zustimmung band, war er bisher nicht zum Zug gekommen. Eine Zeitlang hatte er sich auf Tunnelbau konzentriert. Die Amerikaner hatten in Berlin und Belgrad Audio-Tunnels gebaut, und die Franzosen hatten sich ähnlicher Einrichtungen gegen die Amerikaner bedient. Schön, nun würde unter Percys Banner auch der Circus in diesen Markt einsteigen. Control sah dem Ganzen milde zu, ein innerdienstlicher Ausschuß wurde gebildet (bekannt als Alleline-Ausschuß), ein Spezialteam der Klempner inspizierte die Fundamente der Sowjetbotschaft in Athen, wo Alleline auf uneingeschränkte Unterstützung durch das letzte Militärregime hoffte, das er genau wie seine Vorgänger ungemein bewunderte. Dann stieß Control ganz sanft Percys Bauklötzchen um und wartete, bis er mit einem neuen Projekt ankam. Und das hatte Percy nach verschiedenen Zwischenversuchen an jenem grauen Morgen getan, an dem Control Smiley mit solcher Entschiedenheit zur Tafelrunde gebeten hatte.

Control saß an seinem Schreibtisch, Alleline stand am Fenster, zwischen ihnen lag ein einfacher Aktenhefter, knallgelb und geschlossen.

»Setzen Sie sich hierhin und schauen Sie sich diesen Blödsinn an.«

Smiley setzte sich in den Lehnstuhl, und Alleline blieb am Fenster stehen, stützte die Ellbogen aufs Fensterbrett und starrte über die Dächer hinweg auf die Nelsonsäule und die etwas kümmerlichen Türmchen von Whitehall.

In dem Hefter befand sich die Fotografie eines Dokuments, das sich als hochwichtige sowjetische Marinedepesche entpuppte, fünfzehn Seiten lang.

»Wer hat die Übersetzung angefertigt?« fragte Smiley und dachte, der Qualität nach könne sie Roy Blands Werk sein. »Der liebe Gott«, antwortete Control. »Der liebe Gott persönlich, nicht wahr, Percy? Stellen sie ihm keine Fragen, George, er sagt kein Wort.«

Um diese Zeit hatte Control ungemein jugendlich ausgesehen, entsann sich Smiley, auch, daß Control schlanker geworden war, daß seine Wangen rosig waren und daß jeder, der ihn nur flüchtig kannte, sich bemüßigt gefühlt hatte, ihn zu seinem guten Aussehen zu beglückwünschen. Smiley war vielleicht der einzige, dem die winzigen Schweißperlen auffielen, die sogar damals fast ständig Controls Haaransatz säumten.

Das Dokument war, genau gesagt, eine angeblich für das sowjetische Oberkommando erstellte Bewertung einer vor kurzem im Mittelmeer und im Schwarzen Meer abgehaltenen Flottenübung. In Lacons Akte fand es sich schlicht als Report Nr. 1, unter der Bezeichnung Marine. Seit Monaten schon löcherte die Admiralität den Circus wegen irgendeiner Information über diese Übung. Sie war daher von beachtlichem Aktualitätswert, was sie in Smileys Augen sofort verdächtig machte. Sie ging ins Detail, handelte jedoch von Dingen, die Smiley nicht einmal entfernt verständlich waren: Küsten-See-Schlagkapazität, Radioaktivierung feindlicher Warnsysteme, die höhere Mathematik des Gleichgewichts des Schreckens. Wenn das Dokument echt war, hatte es Goldwert, aber es gab keinen Grund zu der Annahme, daß es echt war. Woche für Woche behandelte der Circus Dutzende nicht angeforderter sogenannter Sowjet-Dokumente. Die meisten waren nichts als Plunder. Einige waren von Verbündeten, die ihre eigenen Absichten verfolgten, eingespielt worden, andere russische Abfallprodukte. Nur sehr selten erwies das eine oder andere sich als einwandfrei, aber meist erst, nachdem es verworfen worden war.

»Wessen Initialen sind das?« fragte Smiley und meinte ein paar russische Buchstaben, die mit Bleistift an den Rand geschrieben waren. »Weiß das jemand?«

Control wies mit einer Kopfbewegung auf Alleline.

»Fragen Sie die zuständige Stelle. Nicht mich.«

»Zharow«, sagte Alleline. »Admiral, siebente Eskadra.«

»Es ist nicht datiert«, bemängelte Smiley.

»Es ist ein Entwurf«, erwiderte Alleline überlegen, und sein Akzent war deutlicher denn je. »Zharow hat es am Donnerstag abgezeichnet. Die endgültige Fassung mit den Zusätzen ging am Montag hinaus und ist entsprechend datiert.« Heute war Dienstag.

»Woher kommt es?« fragte Smiley, der noch immer ratlos war. »Percy sieht sich außerstande, das zu sagen«, sagte Control. »Was sagen unsere Auswerter?«

»Die haben es noch nicht gesehen«, sagte Alleline. »Und sie werden es auch nicht zu sehen bekommen.«

Control sagte eisig: »Mein Bruder in Christo, Lilley vom Geheimdienst der Kriegsmarine, hat immerhin eine vorläufige Beurteilung abgegeben, nicht wahr, Percy? Percy hat es ihm gestern abend gezeigt — bei einem Gläschen Gin, nicht wahr, Percy, im Travellers?«

»In der Admiralität.«

»Bruder Lilley, ebenfalls Schotte, geizt im allgemeinen mit seinem Lob. Als er mich jedoch vor einer halben Stunde anrief, war er außer Rand und Band. Er hat mir sogar gratuliert. Er erachtet das Dokument für echt und bittet uns - oder vielmehr Percy - um die Genehmigung, die übrigen Lords der Admiralität vom Inhalt in Kenntnis setzen zu dürfen.«

»Ganz unmöglich«, sagte Alleline. »Es ist ausschließlich für seine Augen bestimmt, jedenfalls für die nächsten paar Wochen.«

»Die Ware ist so heiß«, erklärte Control, »daß sie erst abkühlen muß, ehe sie verteilt werden kann.«

»Aber woher kommt sie?« bohrte Smiley weiter.

»Keine Sorge, Percy hat schon einen Decknamen. Waren um Decknamen nie verlegen, wie, Percy?«

»Wo setzt sie an? Wer ist damit befaßt?«

»Sie werden Ihre helle Freude haben«, versprach Control leise. Er war außerordentlich wütend. Während ihrer langen Zusammenarbeit hatte Smiley ihn noch nie so wütend gesehen. Die mageren, fleckigen Hände zitterten, und die normalerweise leblosen Augen sprühten Feuer. »Quelle Merlin«, sagte Alleline und ließ der Eröffnung ein leichtes, aber sehr schottisches Schmatzen vorangehen, »ist eine hochrahmige Quelle mit Zugang zu den höchsten Ebenen sowjetischer Politik.« Und er fügte im pluralis majestatis hinzu: »Wir haben sein Produkt Witchcraft getauft.« Er hatte genau die gleichen Worte gebraucht, bemerkte Smiley, wie in seinem streng geheimen und persönlichen Brief an einen Gönner im Schatzamt, worin er für sich größere Ermessensfreiheit bei ad hoc Zahlungen an Agenten erbat.

»Nächstens wird er sagen, er hat ihn bei der Fußball-Lotterie gewonnen«, prophezeite Control, der trotz seiner zweiten Jugend in der Umgangssprache nicht mehr ganz auf dem laufenden war. »Jetzt fragen Sie ihn, warum Sie ihn nicht fragen dürfen.« Alleline blieb unerschüttert. Auch er war rot im Gesicht, aber aus Triumph, nicht aus Ärger. Er dehnte die breite Brust zu einer langen Rede, ausschließlich an Smiley und mit ausdrucksloser Stimme, wie ein schottischer Polizist vor Gericht aussagt:

»Die Identität Merlins ist ein Geheimnis, zu dessen Enthüllung ich nicht befugt bin. Er ist die Frucht langer Bemühungen gewisser Leute in dieser Dienststelle. Leute, die mir verbunden sind, wie ich ihnen verbunden bin. Leute, die so wenig wie ich erbaut sind über die Mißerfolgskurve dieses Hauses. Es ist zuviel schiefgegangen. Zuviel Verluste, Verschwendung, Skandale. Ich habe es immer wieder gesagt, aber es war immer nur in den Wind gesprochen, er hat mir nicht einmal zugehört.«

»Mit >er< meint er mich«, erläuterte Control aus dem Zuschauerraum. »>Er < bin in dieser Ansprache immer ich, kapiert, George?«

»Die etablierten Grundsätze von Effizienz und Sicherheit werden in diesem Betrieb mit Füßen getreten. Man fragt sich: wo sind sie überhaupt noch? Abschottung auf allen Ebenen: wo ist sie, George? Es gibt zu viele regionale Intrigen, die von oben gefördert werden.«

»Wieder eine Anspielung auf mich«, warf Control ein. »Teile und herrsche, lautet heutzutage die Devise. Die Leute, die gemeinsam den Kommunismus bekämpfen helfen sollten, liegen sich gegenseitig in den Haaren. Auf diese Weise verlieren wir unsere wichtigsten Partner.«

»Er meint die Amerikaner«, kommentierte Control. »Wir verlieren unseren Elan. Unsere Selbstachtung. Jetzt reicht's uns.« Er nahm den Bericht wieder an sich und klemmte ihn unter den Arm. »Wir haben, genau gesagt, die Schnauze voll.«

»Und wie jeder, dem's reicht«, sagte Control, als Alleline geräuschvoll das Büro verließ, »möchte er noch mehr.« Nun führten eine Weile, statt Smileys Erinnerungen, Lacons Akten die Geschichte weiter. Es war typisch für die Atmosphäre der letzten Wochen, daß Smiley, nachdem er anfangs mit einbezogen worden war, nie wieder ein Wort über die weitere Entwicklung erfuhr. Control haßte Fehlschläge, so wie er Kranksein haßte, und am meisten haßte er seine eigenen Fehlschläge. Er wußte, wenn man einen Fehlschlag akzeptierte, mußte man mit ihm leben; wenn eine Dienststelle nicht kämpfte, konnte sie nicht überleben. Er verachtete die Agenten im Seidenhemd, die sich gewaltige Brocken aus dem Etat unter den Nagel rissen, zum Schaden der Netze, die um ihr tägliches Brot arbeiteten und in die er alle Hoffnung setzte. Er liebte den Erfolg, aber er haßte Wunder, wenn sie alle seine übrigen Bemühungen in den Schatten stellten. Er haßte Schwäche, wie er Gefühle und Religion haßte, und er haßte Percy Alleline, der von beidem sein Gutteil abbekommen hatte. Seine Methode, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, bestand darin, daß er buchstäblich seine Tür davor verschloß: sich in die schäbige Abgeschlossenheit seiner oberen Räume zurückzog, keine Besucher empfing und sich alle Telefonanrufe durch die Mütter verabreichen ließ. Die gleichen stillen Damen verabreichten ihm Jasmintee und die zahllosen Dienstakten, die er in Stößen anforderte und zurückreichte. Smiley sah sie ständig vor der Tür angehäuft, während er seinen eigenen Obliegenheiten nachging und versuchte, den übrigen Circus in Schwung zu halten. Viele waren uralt, aus den Tagen, ehe Control die Meute anführte. Einige waren persönlich, die Lebensläufe früherer und gegenwärtiger Mitarbeiter.

Control sagte nie, womit er sich beschäftigte. Wenn Smiley die Mütter fragte, sogar wenn Bill Haydon, der Lieblingssohn, antanzte und sich erkundigte, schüttelten sie nur die Köpfe oder hoben die Brauen in Richtung auf das Allerheiligste: »Endphase«, besagten diese sanften Blicke. »Wir hätscheln einen großen Mann am Ende seiner Laufbahn.« Smiley jedoch, der nun geduldig Akte für Akte durchblätterte und in einem Winkel seines komplexen Gedächtnisses Irinas Tagebuch für Ricki Tarr rezitierte: Smiley wußte - und dieses Wissen war ihm ein durchaus realer Trost -, daß er nicht als erster diese Forschungsreise unternahm; daß Controls Geist ihn fast bis zu den letzten Stationen begleitete; und vielleicht sogar über die ganze Strecke mitgegangen wäre, wenn die Operation Testify ihn nicht in elfter Stunde abgewürgt hätte.


Wiederum Frühstück, und ein sehr gedrückter Walliser, ohne jeden Appetit auf halbgare Würste und zerkochte Tomaten. »Möchten Sie diese da zurückhaben«, fragte Lacon, »oder sind Sie damit durch? Sie können nicht sehr aufschlußreich sein, denn sie enthalten nicht einmal die Berichte.«

»Heute abend, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Sie wissen vermutlich selber, daß Sie wie ein Wrack aussehen.« Er wußte es nicht, aber als er in die Bywater Street zurückkehrte, zeigte ihm Anns hübscher Spiegel dort seine rotgeränderten Augen und die Furchen der Übermüdung in den fleischigen Backen.

Er schlief ein bißchen, dann ging er wieder seine geheimnisvollen Wege. Als der Abend kam, wartete Lacon bereits auf ihn. Smiley machte sich sogleich wieder an seine Lektüre. Sechs Wochen lang hatte die Marinedepesche laut Akten offenbar keinen Nachfolger. Andere Abteilungen des Verteidigungsministeriums stimmten in den Lobgesang der Admiralität über die erste Depesche ein, das Auswärtige Amt bemerkte, dieses Dokument »werfe ein entscheidend neues Licht auf das sowjetische Aggressionsdenken«, was immer das heißen sollte; Alleline betonte immer wieder seine Forderung nach Sonderbehandlung des Materials, aber er glich einem General ohne Armee. Lacon bezog sich frostig auf den »verzögerten Nachschub«, und schlug seinem Minister vor, er solle »die Situation mit der Admiralität abklären«. Von Control, soviel aus den Akten zu ersehen war, nichts. Vielleicht war er jetzt bettlägerig und betete, es möge vorübergehen. In der Zwischenzeit wies ein Moskau-Observant des Schatzamts säuerlich darauf hin, daß Whitehall in den letzten Jahren eine Menge ähnlicher Fälle erlebt habe: ein vielverheißender erster Bericht, dann Schweigen oder schlimmer noch: ein Skandal.

Er hatte unrecht. In der siebenten Woche verkündete Alleline die Veröffentlichung von drei neuen Witchcraft-Reports, alle am gleichen Tag. Alle waren in Form geheimer sowjetischer ministerialinterner Korrespondenz, obwohl die Themen weit auseinandergingen.

Witchcraft Nr. 2, wie Lacon den Bericht nannte, beschrieb Spannungen innerhalb des Comecon und sprach von der zersetzenden Wirkung von Handelsabkommen mit dem Westen auf die schwächeren Mitglieder. Nach Circus-Normen war Nr. 2 ein klassischer Report aus Roy Blands Domäne, denn er behandelte das gleiche Zielobjekt, das vom Netz »Aggravate« seit Jahren von Ungarn aus vergeblich angepeilt wurde. »Ausgezeichneter tour d'horizon«, schrieb ein Konsument des Auswärtigen Amts, »von guten Nebeninformationen gestützt.«

Witcbcraft Nr. 3 beschäftigte sich mit dem Revisionismus in Ungarn und mit Kadars erneuten Säuberungsaktionen im politischen und akademischen Leben: wenn man müßigem Geschwätz ein für allemal ein Ende machen wollte, schrieb der Autor des Papiers, wobei er ein vor langer Zeit geprägtes Chruschtschow-

Wort übernahm, müsse man bloß noch ein paar Intellektuelle abknallen. Auch dies war Roy Blands Domäne. »Eine heilsame Mahnung«, schrieb der gleiche Kommentator aus dem Auswärtigen Amt, »an alle jene, die sich in der Illusion wiegen, daß die Sowjetunion mit ihren Satelliten sanft umgehe.« Die beiden letzten Berichte waren im wesentlichen Background-Information, aber Witchcraft Nr. 4, sechzig Seiten lang, wurde von den Konsumenten für einzigartig gehalten. Es handelte sich um ein umfangreiches technisches Gutachten des sowjetischen Auslandsnachrichtendiensts über die Vor- und Nachteile des Verhandelns mit einem geschwächten amerikanischen Präsidenten. Die Schlußfolgerung lautete, per saldo: wenn die Sowjetunion dem Präsidenten einen Köder für seine Wählerschaft lieferte, so könnte sie damit nützliche Zugeständnisse bei bevorstehenden Diskussionen über nukleare Mehrfach-Sprengköpfe einhandeln. Hingegen wurde ernstlich in Frage gestellt, ob es wünschenswert sei, die Vereinigten Staaten zu sehr auf die Verliererseite zu drängen, da dies das Pentagon zu einem Vergeltungs- oder Präventivschlag verleiten könnte. Der Bericht stammte mitten aus Bill Haydons Domäne. Doch wie Haydon selber in einer herzbewegenden Notiz an Alleline schrieb - die prompt ohne Haydons Wissen fotokopiert an den Minister geschickt und in die Akten des Kabinettsbüros aufgenommen wurde -, in den fünfundzwanzig Jahren, die er mit der Bearbeitung des sowjetischen Nuklearziels verbracht habe, sei ihm nichts von annähernd solcher Qualität untergekommen. »Und auch nicht unseren amerikanischen Waffenbrüdern«, schloß er, »wenn mich nicht alles täuscht. Ich weiß, es ist dafür noch zu früh, aber ich möchte doch meinen, wer immer dieses Material nach Washington schaffte, könnte allerhand dafür einhandeln. Ja, wenn Merlin seine Qualität hält, wage ich die Vorhersage, daß wir uns dafür alles kaufen können, was die Amerikaner in ihrem Laden haben.«

Percy Alleline bekam seinen Leseraum; und George Smiley braute sich Kaffee auf dem vorsintflutlichen Kocher neben dem Waschtisch. Mittendrin lief die Gasuhr ab, und wütend rief er nach Norman und bestellte für fünf Pfund Shillingmünzen.


Bill Haydon und Roy Bland machen Karriere, jeder auf seine Art


Mit steigendem Interesse setzte Smiley seine Reise durch Lacons magere Berichte über jenes erste Treffen der Gegenspieler bis zum heutigen Tag fort. Seinerzeit hatte sich im Circus der Argwohn in einem Maß ausgebreitet, daß das Thema sogar zwischen Smiley und Control tabu wurde. Alleline brachte die Berichte herauf und wartete im Vorzimmer, während die Mütter sie zu Control hineinbrachten, der sie unverzüglich abzeichnete, um zu demonstrieren, daß er sie gar nicht erst las. Alleline nahm die Akte wieder an sich, steckte den Kopf zu Smileys Tür herein, brummte einen Gruß und stapfte treppab. Haydon und Bland hielten sich fern, und sogar Bill Haydons Stippvisiten bei den traditionellen Wortgefechten in der obersten Etage, zu denen Control in vergangenen Tagen seine dienstälteren Leutnants gern ermutigte, wurden seltener und immer kürzer, bis sie schließlich ganz aufhörten.

»Control wird kindisch«, erklärte Haydon voll Verachtung. »Und wenn ich nicht irre, dann stirbt er auch bald. Fragt sich nur, was ihn zuerst erwischt.«

Die Donnerstags-Besprechungen wurden eingestellt und Smiley wurde von Control pausenlos gepiesackt; entweder sollte er irgendeinen undurchsichtigen Auftrag im Ausland erledigen oder als Controls persönlicher Abgesandter die inländischen Niederlassungen aufsuchen, Sarratt, Brixton, Acton und so weiter. Er hatte immer stärker das Gefühl, Control wolle ihn aus dem Weg haben. Wenn sie miteinander sprachen, fühlte er die ungute Spannung des Verdachts zwischen ihnen, so daß Smiley sich allen Ernstes fragte, ob Bill vielleicht doch recht habe und Control seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen sei.

Aus den Akten des Kabinettsbüros ging klar hervor, daß die Operation Witchcraft während der folgenden drei Monate blühte und gedieh, und zwar ganz ohne Controls Zutun. Die Berichte trafen in einer Frequenz von zwei oder sogar drei pro Monat ein und ihre Qualität war, nach Aussage der Konsumenten, nach wie vor ausgezeichnet, aber Controls Name wurde selten erwähnt, und er wurde nie aufgefordert, seinen Kommentar dazu zu geben. Gelegentlich stießen die Auswerter auf geringfügige Unstimmigkeiten. Weit öfter beklagten sie sich, daß eine Überprüfung unmöglich sei, da Merlin sie auf nicht erfaßte Gebiete führe: können wir nicht die Amerikaner um Nachprüfung bitten? Können wir nicht, sagte der Minister. Noch nicht, sagte Alleline, der in einer vertraulichen Notiz, die niemand zu Gesicht bekam, hinzufügte: »Wenn die Zeit reif ist, werden wir mehr tun, als unser Material für ihres eintauschen. Wir sind nicht an einem einmaligen Austausch interessiert. Unsere Aufgabe ist es, Merlin völlig einwandfrei zu identifizieren. Wenn das geschafft ist, kann Haydon die Ware zu Markt tragen . . .« Es war kein Zweifel mehr möglich: unter der kleinen Elite, der die Gemächer der Adriatic Working Party (AWP) vorbehalten waren, war Merlin bereits der Favorit. Sein Material war exakt, wie andere Quellen oft im nachhinein bestätigten. Ein Witchcraft-Ausschuß mit dem Minister an der Spitze wurde gebildet. Alleline war zweiter Vorsitzender. Merlin war zu einer ganzen Industrie geworden, in der Control nicht einmal einen Arbeitsplatz hatte. Und deshalb hatte er in seiner Verzweiflung Smiley zum Klinkenputzen ausgeschickt: »Es sind drei und Alleline«, sagte er. »Quetschen Sie sie aus, stellen Sie sie auf die Probe, drangsalieren Sie sie, geben Sie ihnen alles, was sie schlucken können.«

Auch von diesen Besprechungen wußten die Akten nichts zu berichten, sie gehörten ausschließlich in die dunkelsten Bereiche von Smileys Erinnerung. Er hatte schon gewußt, daß bei Control nichts mehr zu holen war, was ihren Hunger stillen konnte. Es war März. Smiley kehrte aus Portugal zurück, wo er einen Skandal vertuscht hatte, und fand Control in einer belagerten Festung. Akten lagen auf dem Fußboden verstreut; neue Riegel waren an die Fenster montiert worden. Er hatte den Tee wärmer über sein einziges Telefon gestülpt, und von der Decke hing ein Unterbrecher gegen elektronische Abhörversuche, ein Ding wie ein elektrischer Ventilator, der ständig die Stellung änderte. In den drei Wochen von Smileys Abwesenheit war Control ein alter Mann geworden.

»Sagen Sie ihnen, wir sollen hier mit Falschgeld bestochen werden«, murmelte er und blickte kaum von seiner Lektüre auf. »Sagen Sie ihnen, was Sie wollen. Ich brauche Zeit.«

Es sind drei, wiederholte Smiley nun im stillen, als er am Spieltisch des Majors saß und Lacons Liste der Leute studierte, die zu Witchcraft Zugang hatten. Im Moment war dreiundsechzig Besuchern die Benutzung des Leseraums der Adriatic Working Party gestattet. Jeder hatte, wie in der Kommunistischen Partei, eine Nummer, entsprechend seinem Eintrittsdatum. Nach Controls Tod war die Liste neu erstellt worden; Smiley stand nicht darauf. Aber die Spitze hielten noch immer die gleichen vier Gründerväter: Alleline, Bland, Esterhase und Bill Haydon. Drei und Alleline, hatte Control gesagt. Plötzlich wurde Smileys Denken, das während des Lesens für jede Folgerung, jede Querverbindung empfänglich war, von einer ganz abwegigen Vision überfallen. Er sah sich selber und Ann vor einem Jahr in den Klippen Cornwalls wandern. Es war die Zeit unmittelbar nach Controls Tod; die schlimmste Zeit, an die Smiley sich in ihrer langen und wirren Ehe erinnern konnte. Sie waren hoch über der Küste, irgendwo zwischen Lamorna und Porthcurno, wohin sie zu einer unmöglichen Jahreszeit gefahren waren, unter dem Vorwand, daß Ann in der Seeluft ihren Husten loswerden würde. Sie waren den Klippenweg entlanggegangen, jeder hing seinen Gedanken nach: sie dachte an Haydon, vermutete er, er selber dachte an Control, Jim Prideaux und Testify, und an das furchtbare Durcheinander, das er bei seiner Pensionierung hinterlassen hatte. Zwischen ihnen herrschte kein Einklang. Sogar die Ruhe war dahin, die sie früher bei ihrem Beisammensein genossen hatten; sie waren einander ein Rätsel, und das harmloseste Geplauder konnte seltsame, unkontrollierbare Wege einschlagen. Ann hatte in London ein zügelloses Leben geführt und jeden genommen, der sich dazu bereit fand. Er wußte, daß sie etwas zu begraben versuchte, das sie sehr schmerzte oder beunruhigte; aber er fand den Zugang zu ihr nicht.

»Wenn ich gestorben wäre«, fragte sie plötzlich, »anstatt Control, wie wäre dann deine Einstellung zu Bill?« Smiley überlegte sich noch immer eine Antwort, als sie fortfuhr: »Manchmal habe ich das Gefühl, ich beschönige deine Ansicht über ihn. Kann das sein? Daß ich euch beide irgendwie zusammenhalte?«

»Das kann sein.« Er fügte hinzu: »Ja, ich glaube, ich hänge in gewisser Weise auch an ihm.«

»Ist Bill im Circus noch immer ein wichtiger Mann?«

»Vermutlich mehr denn je.«

»Und er reist noch immer nach Washington, mauschelt mit ihnen und dreht sie um und um?«

»Ich nehme es an. Man sagt so.«

»Ist er so wichtig, wie du früher warst?«

»Wahrscheinlich.«

»Wahrscheinlich«, wiederholte sie. »Ich nehme es an. Man sagt so. Ist er also besser? Ist er tüchtiger als du, ein besserer Kenner der höheren Circus-Mathematik? Sag mir's. Bitte, sag mir's. Bitte.«

Sie war seltsam erregt. Ihre Augen, die vom Wind tränten, schimmerten verzweifelt, sie hatte beide Hände auf seinen Arm gelegt und zerrte an ihm wie ein Kind, das eine Antwort will. »Du hast immer zu mir gesagt, man solle Männer nicht vergleichen«, erwiderte er unbeholfen. »Du hast immer gesagt, du dächtest nicht in Vergleichen.«

»Sag mir's!«

»Gut, wie du willst: Er ist nicht besser.«

»Genauso gut?«

»Nein.«

»Und wenn es mich nicht gäbe, was würdest du dann von ihm halten? Wenn Bill nicht mein Vetter wäre, nicht mein ein und alles? Sag mir's. Würdest du mehr von ihm halten oder weniger?«

»Weniger, nehme ich an.«

»Dann mußt du von jetzt an weniger von ihm halten. Ich verstoße ihn aus der Familie, aus unserem Leben, aus allem. Hier und jetzt. Ich werfe ihn ins Meer. Da. Begreifst du?« Er begriff nur eins: Geh zurück zum Circus und beende deine Arbeit. Es war eine der unendlich vielen Arten, auf die sie den gleichen Gedanken ausdrücken konnte.

Noch immer beunruhigt durch diesen Spuk stand Smiley ziemlich erregt auf, trat ans Fenster und schaute hinaus, wie gewöhnlich, wenn er aus dem Tritt gekommen war. Eine Reihe Möwen, ein halbes Dutzend, hatte sich am Dachrand niedergelassen. Er hatte wohl ihren Schrei gehört und sich an diese Wanderung nach Lamorna erinnert.

Ich muß immer husten, wenn ich irgend etwas nicht sagen kann, hatte Ann ihm einmal gestanden. Was hatte sie damals nicht sagen können? fragte er mürrisch die Schornsteinaufsätze gegenüber. Connie konnte es sagen, Martindale konnte es sagen; warum nicht! auch Ann?

»Es sind drei und Alleline«, murmelte Smiley laut. Die Möwen waren weggeflogen, alle auf einmal, als hätten sie einen besseren Platz erspäht. »Sagen Sie ihnen, sie wollen sich mit Falschgeld einkaufen.« Wenn aber die Banken dieses Falschgeld annehmen? Wenn die Experten es für echt erklären und Bill Haydon es in den Himmel lobt? Und die Akten des Ministers voll sind des Beifalls für die wackeren neuen Männer des Circus, die endlich den Bann gebrochen haben?

Er nahm sich Esterhase als ersten vor, denn Toby verdankte ihm seine Karriere. Smiley hatte ihn in Wien angeworben, wo Toby als halbverhungerter Student in den Ruinen eines Museums lebte, dessen Kurator sein verstorbener Onkel gewesen war. Smiley war also zur Laundry nach Acton gefahren, wo er ihm am Walnuß-Schreibtisch mit der Reihe elfenbeinfarbener Telefone gegenübersaß. An der Wand Anbetung der Könige, dubioser Italiener, 17. Jahrhundert. Vor dem Fenster ein umfriedeter Hof, vollgestellt mit Autos, Lieferwagen und Motorrädern, und Ruhebaracken, wo die Aufklärer-Teams ihre Freizeit totschlugen. Zuerst fragte Smiley nach Tobys Familie: er hatte einen Sohn in Westminster und eine Tochter an der medizinischen Fakultät, erstes Semester. Dann hielt er Toby vor, daß die Aufklärer mit ihrem Arbeitsplan zwei Monate in Verzug waren, und als Toby Ausflüchte gebrauchte, fragte er geradeheraus, ob die Jungens in letzter Zeit Sonderaufträge erfüllt hätten, entweder im Lande oder auswärts, die Toby aus verständlichen Sicherheitsgründen in seinen Meldungen nicht habe erwähnen können. »Für wen sollte ich das tun, George?« fragte Toby mit ausdruckslosem Blick. »Sie wissen, daß das nach meinem Kanon völlig illegal wäre.« Und in deinem Kanon, Toby, bist du eine wahre Kanone. »Nun, ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, daß Sie es für Percy Alleline tun«, schlug Smiley vor und lieferte ihm damit eine Ausrede. »Schließlich, wenn Percy Sie anweisen würde, irgend etwas zu tun und es nicht in die Meldung aufzunehmen, wären Sie in einer heiklen Lage.«

»Was für eine Art von irgend etwas zum Beispiel, George?«

»Im Ausland einen Briefkasten leeren, ein >sicheres Haus < trimmen, jemanden beschatten, in einer Botschaft Meisen kleben. Percy ist schließlich oberster Einsatzleiter. Sie könnten annehmen, er handle auf Befehl der obersten Etage. Ich kann mir so etwas ohne weiteres vorstellen.«

Toby blickte Smiley aufmerksam an. Er hielt eine Zigarette in der Hand, die er angezündet hatte, aber nicht rauchte. Es war eine Selbstgedrehte, aus einem silbernen Etui, sie brannte, aber er führte sie nicht ein einziges Mal an die Lippen. Sie kreiste, manchmal vor ihm, manchmal zur Seite; zuweilen schien es, als wagte sie den Sprung, aber es kam nie so weit. Unterdessen hielt Toby seine Rede: eine von Tobys persönlichen Verlautbarungen, die seinen endgültigen Standpunkt in dieser Lebensphase ausdrückte. Toby liebte seine Arbeit, sagte er. Er wolle sie gern behalten. Sie sei sein Leben. Er hänge an ihr. Er habe noch andere Interessen, die ihn jederzeit ganz in Anspruch nehmen könnten, aber seine Arbeit sei ihm am liebsten. Sein einziger Kummer, sagte er, sei die Beförderung. Nicht daß er aus ehrgeizigen Gründen danach strebe. Er würde sagen, seine Gründe seien sozialer Natur. »Wissen Sie, George, ich habe so viele Dienstjahre hinter mir, daß es mir richtig peinlich ist, wenn diese jungen Burschen verlangen, ich solle von ihnen Aufträge entgegennehmen. Sie verstehen, was ich sagen will? Acton sogar: Allein der Name Acton klingt für sie lächerlich.«

»Oh«, sagte Smiley milde. »Was sind das für junge Burschen?« Aber Esterhases Interesse war erloschen. Das Gesicht nahm nach dem Abschluß seiner Verlautbarung wieder den gewohnten leeren Ausdruck an, die Puppenaugen hefteten sich auf einen Punkt in mittlerer Entfernung.

»Meinen Sie Roy Bland?« fragte Smiley. »Oder Percy? Ist Percy jung? Wer, Toby?«

Es war sinnlos, bedauerte Toby: »George, wenn man überfällig ist für eine Beförderung und sich krumm schuftet, dann kommt einem jeder jung vor, der eine Sprosse höher auf der Leiter steht.«

»Vielleicht könnte Control Sie ein Stück nach oben hieven«, meinte Smiley und fand seine Rolle wenig sympathisch. Esterhases Erwiderung traf den Nerv. »Ach, wissen Sie, George, ich bin nicht so sicher, daß er im Moment dazu in der Lage ist. Ich möchte Ihnen etwas für Ann mitgeben« - er zog eine Schublade auf -, »als ich erfuhr, daß Sie kommen würden, rief ich ein paar Freunde an, etwas Schönes, sage ich, etwas für eine ideale Frau, wissen Sie, ich kann sie nicht mehr vergessen, seit wir uns einmal bei Bill Haydons Cocktail begegneten.« Und so trug Smiley den Trostpreis davon - ein kostbares Parfüm, vermutlich von einem heimkehrenden Aufklärer eingeschmuggelt - und sagte bei Bland sein Sprüchlein auf. Damit, das wußte er, kam er einen Schritt näher an Haydon heran.

Smiley nahm wieder am Tisch des Majors Platz und suchte unter Lacons Akten, bis er auf einen schmalen Band mit der Aufschrift Operation Witchcraft, direkte Zuweisungen stieß, worin die ersten, während der Laufzeit von Quelle Merlin angefallenen Ausgaben verzeichnet waren. »Aus Sicherheitsgründen wird vorgeschlagen«, schrieb Alleline in einem weiteren persönlichen Memorandum an den Minister, datiert mit dem 8. Februar vor zwei Jahren, »die Finanzierung für Witchcraft absolut getrennt von allen anderen Circusmitteln zu führen. Bis passende Deckung gefunden werden kann, ersuche ich um direkte Subventionen aus dem Etat des Schatzamtes anstelle bloßer Zuschüsse an die Geheime Bewilligung, die zweifellos in angemessener Zeit ihren Weg in die generelle Rechnungslegung des Circus finden würden. Ich werde Ihnen persönlich Rechenschaft ablegen.«

»Genehmigt«, hatte der Minister eine Woche später geschrieben, »vorbehaltlich...«

Es gab keine Vorbehalte. Ein Blick auf die erste Zahlenreihe zeigte Smiley alles, was er wissen mußte: Bereits bis Mai jenes Jahres, um die Zeit jenes Gesprächs in Acton, hatte Toby Esterhase persönlich nicht weniger als acht Reisen auf Rechnung des Witchcraft-Budgets unternommen, zwei nach Paris, zwei nach Den Haag, eine nach Helsinki und drei nach Berlin. In jedem Fall war als Zweck der Reise kurz und bündig »Produkt-Beschaffung« angegeben. Zwischen Mai und November, als Control in der Versenkung verschwand, unternahm er weitere neunzehn. Eine davon führte ihn nach Sofia, eine andere nach Istanbul. Keine erforderte eine Abwesenheit von mehr als drei vollen Tagen. Die meisten fanden an Wochenenden statt. Auf mehreren Reisen wurde er von Bland begleitet. Milde ausgedrückt, hatte Toby Esterhase, wie Smiley nie ernstlich bezweifelte, in seinen Hals gelogen. Es machte Spaß, daß die Akte diesen Eindruck bestätigte.

Smiley hegte damals Roy Bland gegenüber zwiespältige Gefühle. Als er sie jetzt prüfte, fand er, daß sich daran nichts geändert hatte. Ein Universitätslehrer hatte ihn gemeldet, Smiley hatte ihn angeworben; auf erstaunlich ähnliche Weise war Smiley selber ins Netz geraten. Doch zu Roy Blands Zeiten fachte keine deutsche Bestie die patriotische Flamme an, und antikommunistische Motive hatte Smiley immer ein bißchen störend empfunden. Wie Smiley hatte auch Bland keine richtige Kindheit gehabt. Sein Vater war Dockarbeiter, leidenschaftlicher Gewerkschafter und Mitglied der Kommunistischen Partei. Die Mutter starb, als Bland noch klein war. Der Vater haßte Bildung, wie er Autorität haßte, und als Bland ein gescheiter Junge wurde, setzte sein Vater sich in den Kopf, er habe seinen Sohn an die verhaßte herrschende Klasse verloren und prügelte ihn halb tot. Bland kämpfte sich trotzdem aufs Gymnasium durch, und in den Ferien schuftete er sich krumm, wie Toby sagen würde, um das Schulgeld zu verdienen. Als Smiley ihn in seiner Tutorenwohnung in Oxford kennenlernte, wirkte er so ausgepowert wie jemand, der gerade von einer schlimmen Reise zurückgekehrt. Smiley kümmerte sich um ihn und brachte ihm im Lauf mehrerer Monate behutsam einen Vorschlag nahe, den Bland annahm, vorwiegend, wie Smiley vermutete, aus Haß auf seinen Vater. Danach war er Smileys Obhut entzogen. Bland lebte nun von namenlosen Zuwendungen, arbeitete in der Marx Memorial Library und schrieb linksgerichtete Artikel für winzige Gazetten, die längst eingegangen wären, wenn der Circus sie nicht unterstützt hätte. An den Abenden debattierte er bei verräucherten Meetings in Wirtshäusern und Turnsälen. Den Urlaub verbrachte er in der Nursery, wo ein Fanatiker namens Thatch Mannequin-Kurse für Tiefenagenten im Auslandseinsatz abhielt, mit jeweils einem Schüler pro Kurs. Thatch trainierte Bland in allen Disziplinen und lotste seine progressiven Ansichten behutsam näher an das marxistische Lager seines Vaters. Genau drei Jahre nach seiner Anwerbung bekam er, teils wegen seines proletarischen Stammbaums und des väterlichen Einflusses, in King Street einen Einjahresvertrag als Hilfslektor für Wirtschaftswissenschaften von der Universität Poznan. Damit war er lanciert. Von Polen aus bewarb er sich erfolgreich für eine Stelle an der Akademie der Wissenschaften in Budapest, und in den folgenden acht Jahren lebte er das Nomadendasein eines kleinen Links- intellektuellen auf der Suche nach dem wahren Licht, gewann Sympathien, niemals Vertrauen. Er hielt sich in Prag auf, kehrte nach Polen zurück, lehrte zwei höllische Semester in Sofia und sechs in Kiew, wo er einen Nervenzusammenbruch erlitt, den zweiten in zwei Monaten. Wiederum nahm die Nursery ihn auf, dieses Mal um ihn »auszutrocknen«. Er wurde als sauber entlassen, seine Netze bekamen andere Außenagenten, und Roy selber wurde in den Circus versetzt, wo er, im wesentlichen vom Schreibtisch aus, die Netze führte, die er draußen angeworben hatte. In jüngster Zeit, so schien es Smiley, hatte Bland sich sehr an Haydon angeschlossen. Wenn Smiley unangemeldet bei Roy auftauchte, um mit ihm zu plaudern, so fand er mit ziemlicher Sicherheit Bill im Sessel lungern, umgeben von Papieren, Karten und Zigarettenrauch; kam er in Bills Büro, so bedeutete es keine Überraschung, wenn er Bland im durchgeschwitzten Hemd gewichtig auf dem Teppich hin und her stapfen sah. Bill bearbeitete Rußland, Bland die Satelliten; doch schon in jenen frühen Tagen von Witchcraft war der Unterschied nahezu verschwunden.

Sie hatten sich in einem Gartenlokal in St. John's Wood verabredet. Es war immer noch Mai, halb sechs Uhr an einem trüben Tag, und der Park war leer. Roy brachte ein Kind mit, einen etwa fünfjährigen Jungen, einen winzigen Bland, blond, stämmig und rosig. Er sagte nicht, wer der Junge sei, aber manchmal verstummte er während ihres Gesprächs plötzlich und schaute hinüber zu der entfernten Bank, auf der er saß und Nüsse knapperte. Nervenzusammenbrüche oder nicht, Bland trug noch den Stempel der Thatch-Philosophie für Agenten im feindlichen Lager; Selbstvertrauen, positive Beteiligung, Rattenfänger-Appeal und alle übrigen unbequemen Parolen, die in der Blütezeit des Kalten Krieges aus der Nursery fast so etwas wie ein Zentrum für moralische Aufrüstung gemacht hatten. »Also, wie lautet der Handel?« fragte Bland verbindlich. »Es geht nicht um einen Handel, Roy. Control findet die gegenwärtige Situation ungesund. Er sieht nicht gern zu, wie Sie in eine Kabale verwickelt werden. Und ich auch nicht.«

»Großartig. Also, wie lautet der Handel?«

»Was möchten Sie?«

Auf dem Tisch, der noch naß war vom Nachmittagsregen, stand eine Lunch-Garnitur mit Essig und öl und einem Päckchen Plastikzahnstocher in der Mitte. Bland nahm einen heraus, spuckte das Papier auf den Rasen und fing an, mit dem breiten Ende seine Backenzähne zu bearbeiten.

»Tja, wie war's mit fünftausend unter der Hand aus dem Reptilienfonds?«

»Und ein Haus und einen Wagen?« sagte Smiley und machte einen Scherz daraus.

»Und der Junge nach Eton«, fügte Bland hinzu und winkte über das Betonpflaster zu dem Jungen hinüber, während er weiter in den Zähnen stocherte. »Ich habe bezahlt, George. Sie wisssen es. Ich weiß nicht, was ich dafür eingekauft habe, aber ich habe einen gesalzenen Preis bezahlt. Davon will ich etwas zurückhaben. Zehn Jahre von allem abgeschnitten, nur für die fünfte Etage, das ist ein schöner Batzen in jedem Alter. Sogar in Ihrem. Es muß einen Grund gehabt haben, warum ich mich auf dieses Spiel einließ, aber ich weiß nicht mehr recht, was es war. Muß Ihre magnetische Persönlichkeit gewesen sein.«

Smileys Glas war noch nicht leer, also holte Bland sich selber eins an der Theke und auch etwas für den Jungen. »Sie haben doch die Bildung mit Löffeln gefressen«, erklärte er leichthin und setzte sich wieder. »Ein Künstler ist ein Kerl, der zwei fundamental entgegengesetzte Ansichten besitzen und damit leben kann. Wer hat sich das ausgedacht?«

»Scott Fitzgerald«, antwortete Smiley und dachte einen Augenblick lang, Bland wolle etwas über Bill Haydon sagen. »Ja. Fitzgerald war nicht dumm«, bestätigte Bland. Als er trank, glitten seine leicht vorstehenden Augen seitwärts zum Zaun, als suchte er jemanden. »Und ich kann durchaus damit leben, George. Als guter Sozialist bin ich auf Geld aus. Als guter Kapitalist halte ich es mit der Revolution, denn wenn man's nicht besiegen kann, soll man's bespitzeln. Schauen Sie mich nicht so an, George. Es ist heute die Spielregel: Du kitzelst mein Gewissen, ich fahr dafür deinen Jaguar, stimmt's?« Noch während er das sagte, hatte er den Arm gehoben. »Bin gleich wieder da!« rief er über den Rasen. »Tischen Sie noch einen für mich auf!« Zwei Mädchen trieben sich jenseits des Zauns herum. »Stammt der Witz von Bill?« fragte Smiley und war plötzlich sehr ärgerlich.

»Wie bitte?«

»Ist das einer von Bills Witzen über das materialistische England die verhausschweinte Gesellschaft?«

»Wäre möglich«, sagte Bland und trank sein Glas aus. »Gefällt er Ihnen nicht?«

»Nicht besonders, nein.«

»Ich habe Bill nie als radikalen Reformer gekannt. Was ist denn plötzlich über ihn gekommen?«

»Das ist nicht radikal«, erwiderte Bland, der es nicht mochte, wenn jemand seinen Sozialismus oder Bill Haydon madig machte. »Das ist bloß, was man sieht, wenn man aus dem verdammten Fenster schaut. Das ist England heute, Mensch. Gefällt keinem, oder?«

»Wie sollte man Ihrer Meinung nach«, fragte Smiley und hörte sich in seinem bombastischsten Tonfall sprechen, »die Besitz- und Wettbewerbsinstinkte in der westlichen Gesellschaft ausrotten, ohne gleichzeitig ...«

Bland hatte sein Glas ausgetrunken; und damit die Unterredung beendet.

»Was regen Sie sich auf? Sie haben Bills Job bekommen. Was wollen Sie mehr? So lang, wie's dauert.«

Und Bill hat meine Frau bekommen, dachte Smiley, als Bland sich zum Gehen anschickte; und Gott verdamm ihn, er hat dir's erzählt.

Der Junge hatte ein Spiel erfunden. Er hatte einen Tisch hochgekantet und ließ eine Flasche in den Kies rollen. Jedesmal setzte er die Flasche höher an der Tischfläche an. Smiley ging, ehe sie zerschellte.

Zum Unterschied von Esterhase hatte Bland sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu lügen. Lacons Akten ließen keine Zweifel an seiner Beteiligung an der Operation Witchcraft: »Quelle Merlin«, schrieb Alleline in einer Aktennotiz, die kurz nach Controls Verschwinden von der Whitehall-Bühne datiert war, »ist in jedem Sinn eine Operation des gesamten Ausschusses ... Ich vermag nicht zu entscheiden, welcher meiner drei Mitarbeiter die von Ihnen vorgeschlagene Auszeichnung verdient . . . Blands Tatkraft liefert uns allen einen Ansporn . . .« Er beantwortete hierin den Vorschlag des Ministers, daß die Verantwortlichen für Witchcraft in der Neujahrsliste lobend erwähnt werden sollten: ». . . während Haydons Ingenium zuweilen dem von Merlin selber kaum nachsteht«, fügte er hinzu. Die Orden wurden allen dreien verliehen; Allelines Ernennung zum Chef wurde bestätigt, und damit rückte der ersehnte Ritterschlag näher.


George Smiley beschwört die Erinnerung an Ann und meditiert über Liebe und Freundschaft


Womit mir nur noch Bill übrigblieb, dachte Smiley. Einmal tritt sogar in einer Londoner Nacht eine Lärmpause ein. Zehn, zwanzig Minuten, dreißig, sogar eine Stunde lang grölt kein Betrunkener, schreit kein Kind und prallen keine Autos mit kreischenden Reifen aufeinander. In Sussex Gardens ist das gegen drei Uhr der Fall. In dieser Nacht war es früher, um eins, und Smiley stand wieder einmal an seinem Dachfenster und blickte wie ein Gefangener hinunter auf Mrs. Pope Grahams Sandfleck, wo seit kurzem ein Kombiwagen parkte. Das Dach war mit Slogans bekleckst: Sydney neunzig Tage, Athen Nonstop, Mary LOH, wir kommen. Drinnen glomm Licht, und er vermutete, daß dort ein paar Kinder in trauter Zweisamkeit schlummerten. Teenager sollte er wohl sagen. An den Fenstern hingen Gardinen.

Womit mir nur noch Bill übrigblieb, dachte er und starrte noch immer auf die zugezogenen Gardinen des Kombiwagens und die grelle Globetrotter-Beschriftung; womit ich wieder bei Bill angelangt wäre und unserem freundschaftlichen kleinen Schwatz in der Bywater Street, nur wir beide, alte Freunde, alte Waffengefährten, die »alles miteinander teilten«, wie Martindale sich so elegant ausgedrückt hatte. Aber Ann war für den Abend weggeschickt worden, damit die Männer allein sein konnten. Womit mir nur noch Bill übrigblieb, wiederholte er und fühlte, wie sein Blut in Wallung geriet, seine Vision deutlichere Farben annahm und seine Beherrschung gefährlich zu schwinden begann. Wer war er? Smiley hatte ihn nicht mehr im Griff. Sooft er an Bill dachte, malte er ihn zu groß und jedesmal wieder anders. Vor Anns Affäre mit Bill hatte er geglaubt, ihn recht gut zu kennen: seine Qualitäten und seine Grenzen. Er gehörte jenem angeblich ausgestorbenen Vorkriegstypus an, der gleichzeitig schuftig und nobel sein konnte. Sein Vater war hoher Justizbeamter, zwei seiner schönen Schwestern hatten in die Aristokratie geheiratet; in Oxford war er Parteigänger der unmodernen Rechten gewesen, nicht etwa der modischen Linken, wobei er sich allerdings kein Bein ausriß. Noch vor seinem zwanzigsten Jahr hatte er sich als unerschrockener Forscher und Amateurmaler originaler, wenn auch allzu ehrgeiziger Prägung betätigt: mehrere seiner Bilder hingen jetzt in Miles Sercombes albernem Palais in Carlton Gardens. Er hatte an jeder Botschaft und in jedem Konsulat im ganzen Vorderen Orient seine Verbindungen und nutzte sie rücksichtslos. Er erlernte mühelos die ausgefallensten Sprachen, und als das Jahr neununddreißig kam, holte ihn sich der Circus, der seit Jahren ein Auge auf ihn gehabt hatte. Der Krieg war eine Glanzzeit für ihn. Er war überall zugleich und charmant; er war unorthodox und zuweilen hemmungslos. Wahrscheinlich war er ein Held. Der Vergleich mit Lawrence drängte sich auf. Es stimmte ferner, wie Smiley zugab, daß Bill seinerzeit mit wichtigen historischen Problemen experimentiert hatte; alle möglichen großartigen Pläne für ein Wiedererstarken Englands zu Einfluß und Größe vorbrachte - wie Rupert Brooke sprach er selten von Großbritannien. Doch selbst in seinen wenigen objektiven Augenblicken konnte Smiley sich kaum an ein Projekt erinnern, das je vom Start gekommen wäre.

Für die andere Seite von Haydons Charakter indessen vermochte Smiley als Kollege eher Respekt aufzubringen: die Unbeirrbarkeit des geborenen Agentenführers, sein hochentwickeltes Gefühl für das rechte Maß beim Zurückspielen von Doppelagenten, und das Aufziehen von Ablenkungs-Operationen; seine Fähigkeit, Zuneigung, sogar Liebe zu hegen, auch wenn sie anderen Bindungen zuwiderlief.


Als Zeuge dafür ausgerechnet meine eigene Frau - besten Dank! Vielleicht ist Bill wirklich ein Sonderfall, überlegte er bei seinem verzweifelten Bemühen, eine Norm zu finden. Wenn er sich Bill jetzt vorstellte und ihn mit Bland, Esterhase und sogar Alleline verglich, so schien es Smiley allen Ernstes, daß die anderen nur mehr oder weniger unvollkommene Nachahmungen des Originals waren, Nachahmungen Haydons. Daß ihre Posen nur Versuche waren, sich zum gleichen unerreichbaren Ideal des perfekten Mannes hochzuschrauben, mochte die Vorstellung auch irrig oder unzutreffend sein; mochte Bill ihrer auch im höchsten Maß unwürdig sein. Bland und seine demonstrative Ungeschliffenheit, Esterhase und sein künstliches super-englisches Gehabe,

Alleline und sein unechter Führungsanspruch: ohne Bill waren sie Nullen. Smiley wußte auch oder glaubte zu wissen - der Einfall kam ihm jetzt wie eine sanfte Erleuchtung -, daß Bill dagegen für sich allein auch sehr wenig war: daß er, während seine Bewunderer - Bland, Prideaux, Alleline, Esterhase und der ganze übrige Supporter-Club - ihn für vollkommen hielten, in Wahrheit sie für sich einspannte, Anleihen aus ihren passiven Persönlichkeiten machte, hier ein Stück, dort ein Stück, und damit sein eigenes Ich abrundete: mit diesem Trick die Tatsache verschleierte, daß er weniger, viel weniger war als die Summe seiner scheinbaren Qualitäten . . . und schließlich seine Abhängigkeit von ihnen hinter der Arroganz des Künstlers verbarg, der sie als Geschöpfe seines Genius bezeichnete . . . » Jetzt reicht's aber«, sagte Smiley laut.

Er riß sich abrupt aus seiner Meditation los, verscheuchte sie ärgerlich als eine seiner vielen Theorien über Bill und kühlte sein überhitztes Denken durch die Erinnerung an ihre letzte Begegnung.


»Sie wollen mich vermutlich über den verdammten Merlin ausquetschen«, begann Bill. Er wirkte müde und nervös; es war kurz vor seiner Abreise nach Washington. In den alten Tagen hätte er ein unpassendes Mädchen mitgebracht und sie Anns Gesellschaft überlassen, während er mit Smiley das Geschäftliche besprach; von Ann erwartete er, daß sie dem Mädchen gegenüber sein Genie herausstrich, dachte Smiley boshaft. Sie waren alle von der gleichen Sorte: Halb so alt wie er, schmuddelige Bohemeweiber, mürrische Kletten; Ann sagte, er müsse einen Hoflieferanten haben. Und einmal brachte er sogar einen gräßlichen Knaben namens Steggie an, Hilfskellner aus einer der Kneipen in Chelsea, mit offenem Hemd und einem Goldkettchen um den Magen.

»Es heißt allgemein, Sie schreiben die Berichte«, erklärte Smiley. »Ich dachte, das sei Blands Job«, sagte Bill mit seinem füchsischen Grinsen.

»Roy macht die Übersetzungen«, sagte Smiley. »Sie verfassen die kommentierenden Berichte; sie sind auf Ihrer Maschine geschrieben. Das Material darf Stenotypistinnen nicht zugänglich gemacht werden.«

Bill hörte aufmerksam zu, er hatte die Brauen hochgezogen, als könne er jeden Augenblick unterbrechen oder zu einem passenderen Thema übergehen, dann hievte er sich aus dem tiefen Sessel und schlenderte zum Bücherregal, wo er um ein ganzes Fach höher hinauf reichte als Smiley. Mit den langen Fingern fischte er einen Band heraus, schlug ihn auf, grinste.

»Percy Alleline ist nicht gut genug«, verkündete er und blätterte um. »Ist das die Prämisse?«

»So ziemlich.«

»Was bedeutet, daß auch Merlin nicht gut genug ist. Merlin würde gut genug sein, wenn er meine Quelle wäre, nicht wahr? Was würde passieren, wenn unser lieber Bill hier zu Control spazieren und sagen würde, er habe einen großen Fisch und wolle ihn selber drillen? >Große Klasse, Bill, mein Junge, klar tun Sie das. Ein Täßchen Hundepiß?< Er hätte mir einen Orden verliehen, anstatt Sie in den Korridoren herumschnüffeln zu lassen. Wir waren einmal ein feiner Haufen. Warum sind wir so vulgär geworden?«

»Wer führt ihn, Bill?«

»Percy? Karla natürlich, wer sonst? Kleiner Pinscher mit höchster Protektion. Weiß sich Liebkind zu machen. Percy hat sich an Karla verkauft, ist die einzige Erklärung.« Er hatte schon vor langer Zeit die Kunst absichtlichen Mißverstehens entwickelt. »Percy ist unser Haus-Maulwurf«, sagte er.

»Ich meinte, wer führt Merlin? Wer ist Merlin? Was ist eigentlich los?«

Haydon verließ das Regal und machte einen Rundgang vor Smileys Bildern. »Ein Callot, wie?« - er hakte einen kleinen Goldrahmen ab und hielt das Bild ans Licht - »Hübsch.« Er kippte die Brille, um sie als Vergrößerungsglas zu benutzen. Smiley war überzeugt, daß er das Bild schon ein dutzendmal betrachtet hatte. »Sehr hübsch. Kommt niemand auf die Idee, daß ich dabei der Gelackmeierte bin? Mein Zielobjekt ist zufällig Rußland, wissen Sie. Hab' ihm meine besten Jahre geopfert, Netze eingerichtet, Talentsucher, sämtliche Verbindungsstellen. Ihr Leute im fünften Stock habt vergessen, was das heißt: Ein Einsatz, bei dem es drei Tage dauert, bis man einen Brief aufgeben kann, und man kriegt nicht mal Antwort für seine Mühe.«

Smiley, pflichtschuldigst: »Ja, das habe ich vergessen. Ja, ich kann's Ihnen nachfühlen. Nein, ich denke nicht die Bohne an Ann; wir sind schließlich Kollegen und Männer von Welt und sind hier beisammen, um über Merlin und Control zu sprechen.«

»Und dann kommt dieser Parvenü Percy des Wegs, dieser verdammte schottische Klinkenputzer, keine Spur von Klasse, und schleppt eine ganze Wagenladung russischer Leckerbissen an. Verdammt ärgerlich, finden Sie nicht?«

»Äußerst.«

»Der Haken ist, meine Netze sind nicht sehr gut. Viel einfacher, Percy auszuspionieren, als . . .« Er brach ab, als hätte er genug von seiner eigenen These. Seine Aufmerksamkeit hatte sich einem winzigen Van Mieris, einem Kopf in Kreide, zugewandt. »Und das hier mag ich sehr«, sagte er. »Hat Ann mir geschenkt.«

»Wiedergutmachung ?«

»Wahrscheinlich.«

»Muß eine recht schwere Sünde gewesen sein. Seit wann haben Sie es?«

Noch jetzt erinnerte Smiley sich, wie still die Straße gewesen war. Dienstag? Mittwoch? Und er erinnerte sich, daß er gedacht hatte: »Nein, Bill. Für dich habe ich bisher noch keinen Trostpreis bekommen. Bis zum heutigen Abend bist du nicht einmal ein Paar Pantoffeln wert.« Gedacht, aber nicht gesagt. »Ist Control krank oder was?« fragte Haydon. »Nur sehr beschäftigt.«

»Was tut er den ganzen Tag? Er lebt wie ein Einsiedler. Wie ein bekloppter Einsiedler kratzt er in dieser Höhle dort oben still vor sich hin. Diese ganzen verdammten Akten, die er durchschnüffelt, was um Gottes willen soll das sein? Eine sentimentale Reise durch seine unerfreuliche Vergangenheit, möcht ich wetten. Er sieht hundeelend aus. Daran ist wahrscheinlich auch Merlin schuld, wie?«

Wiederum sagte Smiley nichts.

»Warum kommt er nicht aus seinem Bau? Warum beschäftigt er sich nicht mit uns, anstatt dort oben nach Trüffeln zu wühlen? Wonach ist er aus?«

»Ich wußte nicht, daß er nach etwas aus ist«, sagte Smiley. »Ach, stellen Sie sich doch nicht so an. Natürlich ist er nach etwas aus. Ich hab eine Quelle dort oben, eine von den Müttern, wußten Sie das nicht? Liefert mir Indiskretionen gegen Schokolade. Control ackert die Personalakten der alten Circusrecken durch, klaubt den Dreck heraus, wer war rot? Wer war andersrum? Die Hälfte von ihnen liegt schon unter der Erde. Arbeitet an einer Zusammenstellung aller unserer schwachen Seiten: können Sie sich das vorstellen? Und weshalb? Weil wir Erfolg haben. Er ist verrückt, George. Nicht mehr alle Tassen im Schrank: Altersblödsinn, dürfen Sie mir glauben. Hat Ann Ihnen je vom bösen Onkel Fry erzählt? Der glaubte, die Diener würden die Rosen mit Mikros spicken, um rauszukriegen, wo er sein Geld versteckt hat? Gehn Sie weg von ihm, George. Der Tod ist eine Nervensäge. Reißen Sie sich los, ziehen sie ein paar Etagen weiter runter. Zum Fußvolk.«

Ann war noch nicht zurück, und so schlenderten sie nebeneinander die King's Road entlang und hielten nach einem Taxi Ausschau, während Bill seine jüngsten politischen Ideen zum besten gab und Smiley »ja, Bill« und »nein, Bill« sagte und überlegte, wie er es Control beibringen sollte. Vor einem Jahr war Bill überzeugter Falke gewesen. Er hatte die konventionellen Streitkräfte in Europa reduzieren und sie kurzerhand durch nukleare Waffen ersetzen wollen. Er war ungefähr der einzige Mensch in Whitehall gewesen, der noch an Englands unabhängige Abschreckungsmacht glaubte. In diesem Jahr war Bill, wenn Smiley sich recht erinnerte, Pazifist und wollte das Schwedenmodell ohne Schweden.

Kein Taxi kam, es war eine schöne Nacht, und wie alte Freunde wanderten sie Seite an Seite dahin.

»Übrigens, wenn Sie jemals diesen Mieris verkaufen wollten, lassen Sie mich's wissen, ja? Ich würde Ihnen einen anständigen Preis zahlen.«

Da er glaubte, Bill mache wieder einmal einen schlechten Witz, fuhr Smiley zu ihm herum und wollte ärgerlich erwidern. Haydon entging es völlig. Er spähte straßab und winkte einem nahenden Taxi.

»Herrgott, seh'n Sie sich das an«, rief er ungehalten. »Voller verdammter Juden, die zu Quag's zum Fressen fahren.«

»Bill muß schon lauter Schwielen am Hintern haben«, brummte Control am nächsten Tag und blickte kaum von seiner Lektüre auf. »Seit Jahren sitzt er bloß herum und wartet seinen Tag ab. Einen Augenblick starrte er Smiley verloren an, als ob er durch ihn hindurch auf ein anderes, weniger fleischliches Ziel sähe ; dann senkte er die Augen und schien sich wieder ans Lesen zu machen. »Ich bin froh, daß er nicht mein Vetter ist«, sagte er. Am folgenden Morgen hatten die Mütter überraschende Nachrichten für Smiley. Control sei nach Belfast zu Besprechungen mit der Army geflogen. Als Smiley später die Reisevorschüsse nachprüfte, entdeckte er die Lüge. Niemand aus dem Circus war in diesem Monat nach Belfast geflogen, aber es fand sich eine Belastung für ein Retourbillett erster Klasse nach Wien und als Antragsteller war Smiley angegeben. Haydon, der auch zu Control wollte, war wütend:

»Was, zum Teufel, ist denn in letzter Zeit los mit ihm? Er will wohl Irland kapern, die Organisation aufspalten. Herrjeh, der Mann ist eine Nervensäge.«

Das Licht im Kombiwagen erlosch, aber Smiley konnte den Blick noch immer nicht von dem buntscheckigen Dach abwenden. Wie leben sie? fragte er sich. Woher kriegen sie Wasser, Geld? Er versuchte, sich in die Logistik eines Klausnerdaseins in Sussex Gardens einzufühlen: Wasser, Dränage, Licht. Ann würde das ohne weiteres lösen, ebenso Bill. Tatsachen. Was waren die Tatsachen?

Tatsache war, daß ich eines linden Sommerabends vor der Witchcraft-Zeit unerwartet aus Berlin zurückkehrte, um Bill Haydon auf dem Teppich im Salon ausgestreckt zu finden, während Ann ihm auf dem Grammophon Liszt vorspielte. Ann saß am anderen Ende des Zimmers, im Neglige ohne Make-up. Es gab keine Szene, jeder benahm sich gequält natürlich. Bill war, laut eigener Aussage, soeben aus Washington gelandet und auf dem Weg vom Flugplatz kurz vorbeigekommen. Ann war schon im Bett gewesen, hatte es sich jedoch nicht nehmen lassen, aufzustehen und ihn willkommen zu heißen. Wir waren uns darüber einig, wie schade es sei, daß wir nicht gemeinsam ein Taxi von Heathrow genommen hatten. Bill ging wieder, ich fragte:

»Was wollte er?« und Ann sagte: »Sich an einer Schulter ausweinen.« Bill hatte Liebeskummer und wollte sein Herz ausschütten, meinte sie.

»In Washington sitzt Felicity und möchte ein Baby, und in London Jan, die eins kriegt.«

»Von Bill?«

»Das weiß der Himmel. Bill weiß es bestimmt nicht.« Am nächsten Vormittag stellte Smiley wider eigene Absicht fest, daß Bill seit zwei Tagen zurück war, nicht erst seit einem. In der Folge benahm Bill sich Smiley gegenüber ungewohnt manierlich, und Smiley vergalt es ihm mit einer Zuvorkommenheit, die normalerweise jüngeren Freundschaften vorbehalten ist. Nach angemessener Zeit wurde Smiley deutlich, daß die Katze aus dem Sack war, und noch heute war er perplex, mit welcher Geschwindigkeit es sich herumgesprochen hatte. Vermutlich hatte Bill vor irgend jemandem damit geprahlt, vielleicht vor Bland. Wenn das Gerücht stimmte, dann hatte Ann drei ihrer eigenen Regeln verletzt. Bill war vom Circus und er war vom Set, wie sie Familie und Freundeskreis bezeichnete. Aus jedem der beiden Gründe war er tabu. Drittens hatte sie ihn in der Bywater Street empfangen, laut Übereinkunft ein grober Verstoß gegen den Revierfrieden.

Wieder einmal zog Smiley sich in sein eigenes einsames Leben zurück und wartete darauf, daß Ann etwas sagen würde. Er übersiedelte ins Gästezimmer und sorgte dafür, daß er eine Menge abendlicher Verabredungen hatte und auf diese Weise von ihrem Kommen und Gehen weniger bemerkte. Ganz allmählich dämmerte ihm, daß sie zutiefst unglücklich war. Sie nahm ab, verlor ihre spielerische Art, und wenn er sie nicht so gut gekannt hätte, hätte er geschworen, sie leide unter einem schweren Anfall von Zerknirschung, ja, von Abscheu vor sich selber. Wenn er freundlich zu ihr war, wehrte sie ihn ab; sie zeigte kein Interesse an Weihnachtseinkäufen und erkrankte an einem quälenden Husten, was, wie er wußte, ihr SOS-Ruf war. Ohne die Operation Testify wäre er schon früher mit ihr nach Cornwall abgereist. So aber mußten sie die Reise bis Januar verschieben, und dann war Control tot, Smiley pensioniert und das Blatt hatte sich gewendet; und um die Schmach vollzumachen, deckte Ann die Haydon-Karte mit jeder Menge anderer, die sie aus dem Haufen herausziehen konnte.

Was war passiert? Hatte sie die Beziehung abgebrochen? Oder Haydon? Warum sprach sie nie darüber? War es denn überhaupt so wichtig, eine Affäre unter so vielen anderen? Er gab auf. Wie die Katze aus Alice im Wunderland schien Bill Haydons Gesicht zu verschwimmen, sobald er sich ihm näherte und nur das Grinsen blieb. Aber er wußte, daß Bill auf die eine oder andere Art Ann zutiefst verwundet hatte, und das war die unverzeihlichste aller Sünden.


Merlin beginnt endlich, menschliche Züge anzunehmen


Mit einem Grunzen des Abscheus kehrte Smiley an den wenig einladenden Schreibtisch zurück und setzte seine Lektüre von Merlins Fortschritten seit seinem erzwungenen Ausscheiden aus dem Circus fort. Die Ära Alleline hatte, wie er sofort sah, unverzüglich mehrere vorteilhafte Veränderungen in Merlins Lebensstil bewirkt. Etwas wie eine Reifung, eine Beruhigung. Die nächtlichen Spritztouren in europäische Hauptstädte hörten auf, der Nachrichtenstrom wurde regelmäßiger, weniger hektisch. Gewiß, es gab noch allerhand Kopfschmerzen. Merlins Geldwünsche gingen weiter - Ersuchen, niemals Drohungen -, und mit dem anhaltenden Wertverfall des Pfundes wurden diese ansehnlichen Zahlungen für das Schatzamt zu einem Alptraum. Es fand sich einmal sogar eine — nie weiter verfolgte - Anregung, Merlin möge »da wir das Land seiner Wahl sind, auch in etwa unserem finanziellen Engpaß Rechnung tragen«. Haydon und Bland waren offensichtlich empört gewesen: »Ich habe nicht die Stirn«, schrieb Alleline mit ungewohnter Offenheit an den Minister, »meinen Mitarbeitern dieses Thema nochmals vorzutragen.« Außerdem hatte es Krach wegen einer neuen Kamera gegeben, die von den Klempnern unter großem Kostenaufwand in röhrenförmige Bestandteile zerlegt und in eine genormte Stehlampe sowjetischer Herstellung eingepaßt worden war. Die Lampe wurde nach großem Wehgeschrei, diesmal aus dem Foreign Office, per Diplomatengepäck nach Moskau gemogelt. Dann stellte sich das Problem der Ablieferung. Die Außenstelle konnte nicht über Merlins Identität informiert werden und wußte auch nicht, was in der Lampe steckte. Die Lampe war sperrig und paßte nicht in den Gepäckraum des Wagens des Außenagenten. Nach mehreren Versuchen wurde eine »unsaubere« Übergabe bewerkstelligt, aber die Kamera funktionierte nie, und es gab böses Blut zwischen dem Circus und seiner Moskauer Außenstelle.


Ein weniger raffiniertes Modell wurde von Esterhase nach Helsinki gebracht und dort - so Allelines Aktennotiz an den Minister - »einem vertrauenswürdigen Mittelsmann übergeben, der unbehelligt die Grenze passieren konnte«. Plötzlich richtete Smiley sich mit einem Ruck auf. »Wie besprochen«, schrieb Alleline in einer Notiz an den Minister, datiert mit dem 27. Februar dieses Jahres. »Sie erklärten sich einverstanden, dem Schatzamt einen zusätzlichen Antrag für ein Londoner Haus vorzulegen, das im Witchcraft-Budget geführt werden soll.« Er las es einmal, dann nochmals langsamer. Das Schatzamt hatte sechzigtausend Pfund für das Anwesen und weitere zehntausend für Einrichtung und Zubehör bewilligt. Es wollte jedoch, zwecks Kostenersparnis, die Überschreibung durch seine eigenen Anwälte erledigen lassen. Alleline weigerte sich, die Adresse mitzuteilen. Aus dem gleichen Grund gab es Unstimmigkeiten darüber, wer die Unterlagen verwahren sollte. Dieses Mal blieb das Schatzamt hart, und seine Anwälte trafen Vorsorge, daß das Haus zurückgegeben würde, falls Alleline sterben oder Bankrott machen sollte. Aber die Adresse behielt er für sich, desgleichen die Rechtfertigung dieses außergewöhnlichen und kostspieligen Beitrags zu einer Operation, die angeblich im Ausland abgewickelt wurde. Smiley suchte eifrig nach einer Erklärung. Die Abrechnungen waren darauf angelegt, wie er bald herausfand, keine zu liefern. Sie enthielten einen einzigen verkappten Hinweis auf das Londoner Haus, und zwar, als die Steuern verdoppelt wurden. Der Minister an Alleline: »Ich nehme an, das Londoner Ende ist noch immer wichtig?« Alleline an den Minister: »Eminent. Ich möchte sagen, mehr denn je. Ich möchte ferner sagen, daß der Kreis derer, die Bescheid wissen, sich seit unserem Gespräch nicht erweitert hat.« Bescheid- worüber?

Erst als er sich wieder den Akten zuwandte, in denen das Witchcraft-Produkt bewertet wurde, stieß er auf die Lösung. Das Haus war Ende März bezahlt worden. Unmittelbar darauf wurde es bezogen. Genau vom gleichen Datum an begann Merlin, menschliche Züge anzunehmen, und sie stellten sich hier in Form der Konsumentenkommentare dar. Bisher war Merlin für Smileys kritisches Auge eine Maschine gewesen: fehlerlos arbeitend, unheimlich in der Reichweite, frei von den Streß-Symptomen, die das Arbeiten mit den meisten Agenten so schwierig machten. Jetzt war ihm plötzlich der Gaul durchgegangen.

»Wir legten Merlin Ihre erneuten Fragen wegen der Haltung des Kreml in Sachen eines Verkaufs russischer Ölüberschüsse an die Vereinigten Staaten vor. Wir machten ihn wunschgemäß darauf aufmerksam, daß dies im Widerspruch zu seinem Bericht vom letzten Monat stehe, wonach der Kreml zur Zeit mit der Regierung Tanaka wegen eines Vertrags über die Lieferung sibirischen Erdöls an den japanischen Markt Kontakt aufgenommen habe. Merlin sah in den beiden Berichten keinen Widerspruch und lehnt eine Prognose ab, welcher Markt im Endeffekt bevorzugt werden könnte.« Whitehall bedauerte seine Dreistigkeit. »Merlin wird seinen Bericht über die Unterdrückung des georgischen Nationalismus und die Aufstände in Tiblisi nicht - wiederhole nicht - ausweiten. Da er nicht selber Georgier ist, vertritt er die gängige russische Ansicht, wonach alle Georgier Diebe und Vagabunden und am besten hinter Gittern seien . . .« Whitehall drängte nicht weiter.

Merlin war plötzlich näher gerückt. War es nur der Erwerb eines Londoner Hauses, was Merlin für Smiley in greifbare physische Nähe brachte? Merlin schien aus der Abgeschiedenheit eines Moskauer Winters plötzlich hierher zu ihm, in dieses erbärmliche Zimmer, gekommen zu sein; auf der Straße vor dem Fenster hielt, wie Smiley wußte, Mendel seine einsame Wache. Aus dem Nichts war ein Merlin aufgetaucht, der redete und Antwort gab und unentgeltlich seine Meinung dartat; ein Merlin, der Zeit hatte für Begegnungen. Hier in London? Der in einem Haus für sechzigtausend Pfund aus- und einging, aß und Bericht erstattete, große Töne spuckte und Witze über Georgier riß? War das der Kreis derer, die Bescheid wußten? Der Kern, der sich innerhalb des größeren Kreises der Witchcraft-Konsumenten gebildet hatte?

An dieser Stelle huschte eine höchst ausgefallene Gestalt über die Bühne: ein gewisser J. P. R., ein Neuling in Whitehalls wachsender Gruppe von Witchcraft-Auswertern. Smiley konsultierte die Verteilerliste und stellte fest, daß der volle Name Ribble lautete und daß Ribble dem Research Department des Foreign Office angehörte. J. P. Ribble stand vor einem Rätsel. J. P. R. an die Adriatic Working Party (AWP): »Darf ich mir erlauben, Sie auf eine offensichtliche Diskrepanz bezüglich der Daten hinzuweisen? Witchcraft Nr. 104 (Sowjetisch-französische Gespräche über gemeinsame Projekte im Flugzeugbau) trägt das Datum 21. April. Gemäß Ihrem Begleitschreiben erhielt Merlin diese Information direkt vom General Markow, einen Tag nachdem die Verhandlungspartner sich über einen geheimen Notenaustausch geeinigt hatten. An diesem 21. April indessen war Markow laut Auskunft unserer Pariser Botschaft noch in Paris, und Merlin besuchte, wie aus Ihrem Bericht Nr. 109 hervorgeht, an diesem Tag eine Raketenforschungsanstalt in der Nähe von Leningrad . . .« — Das Schreiben führte nicht weniger als vier ähnliche »Diskrepanzen« an, die zusammengenommen bedeutet hätten, daß Merlin in der Tat so frei beweglich war, wie sein wunderbarer Name besagte.

J. P. Ribble erhielt den bündigen Bescheid, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. In einem getrennten Schreiben an den Minister jedoch machte Alleline eine außerordentliche Eröffnung, die ein völlig neues Licht auf den Charakter der Operation Witchcraft warf.

»Streng geheim und persönlich. Wie besprochen. Merlin ist, wie Sie seit einiger Zeit wissen, nicht eine Einzelquelle, sondern eine Kombination verschiedener Quellen. Obwohl wir unser Möglichstes taten, diese Tatsache aus Sicherheitsgründen vor Ihren Lesern geheimzuhalten, macht es der bloße Umfang des Materials zunehmend schwierig, die Wahrheit zu verbergen. Wäre es nicht an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, zumindest innerhalb gewisser Grenzen? Im gleichen Zusammenhang darf das Schatzamt getrost darauf hingewiesen werden, daß Merlins monatliches Honorar von zehntausend Schweizer Franken nebst einer gleichen Summe für Spesen und laufende Kosten kaum zu hoch gegriffen sind, wenn die Mittel in so viele Teile gehen.« Aber das Schreiben endete in einer härteren Tonart: »Wie dem auch sei, selbst wenn wir übereinkommen, die Tür so weit zu öffnen, so betrachte ich es doch als unerläßlich, daß die Kenntnis von der Existenz des Londoner Hauses und vom Zweck, dem es dient, auf ein absolutes Minimum beschränkt bleibt. Denn sobald Merlins Pluralität unter unseren Lesern bekannt wird, dürfte sich der Londoner Teil der Operation noch heikler denn je gestalten.«

In völliger Ratlosigkeit as Smiley die Briefe immer wieder von neuem. Dann blickte er wie von einem jähen Einfall gepackt auf, sein Gesicht ein einziges Bild der Verwirrung. Seine Gedanken waren so weit weg, so intensiv und komplex, daß das Telefon im Zimmer mehrmals klingelte, ehe er reagierte. Er nahm den Hörer ab und blickte auf die Uhr; es war sechs Uhr abends, er hatte kaum eine Stunde gelesen.

»Mister Barraclough? Hier Lofthouse von der Finanzabteilung, Sir.«

Peter Guillam bediente sich der verabredeten Wendungen, um einen Notruf nach einer sofortigen Zusammenkunft loszulassen, und seine Stimme klang erschüttert.


Peter Guillam setzt die Jagd auf den »Maulwurf« fort


Das Archiv des Circus war vom Haupteingang aus nicht erreichbar. Es war in einem Labyrinth schäbiger Räume und Zwischenstockwerken an der Rückseite des Gebäudes untergebracht, und glich eher einem der Antiquariate, die in dieser Gegend wuchern, als dem organisierten Gedächtnis eines bedeutenden Amts. Der Weg führte durch eine unauffällige Tür in der Charing Cross Road, zwischen einem Rahmengeschäft und einem Tagescafe, dessen Betreten den Mitarbeitern verboten war. An dieser Tür hing ein Schild »Stadt- und Bezirks-Sprachenschule, Lehrereingang«, und ein zweites »C und L Vertriebs-A.G.« Wer hineinwollte, drückte auf den einen oder den anderen Klingelknopf und wartete auf Alwyn, einen weibischen Marinesoldaten, der nur von seinen Wochenenden sprach. Bis etwa Mittwoch sprach er vom vergangenen Wochenende, danach vom kommenden. An diesem Morgen, einem Dienstag, drückte seine Stimmung entrüstete Besorgnis aus.

»Also, was sagen Sie denn zu dem Unwetter?« fragte er, während er Guillam über die Theke das Buch zum Unterschreiben zuschob. »Als wäre man in einem Leuchtturm. Den ganzen Samstag, den ganzen Sonntag. Ich sagte zu meinem Freund: > Da sind wir mitten in London, und hör dir das an. < Soll ich das für Sie verwahren?«

»Da hätten Sie erst dort sein müssen, wo ich war«, sagte Guillam und legte den braunen Segeltuchsack in Alwyns wartende Hände. »Von wegen anhören, man konnte sich kaum aufrecht halten.« Nicht übertrieben freundlich sein, ermahnte er sich. »Und trotzdem liebe ich das Land«, vertraute Alwyn ihm an und verstaute den Sack in einem der offenen Fächer hinter der Theke. »Möchten Sie eine Nummer? Ich muß Ihnen eine geben, der Delphin würde mich umbringen, wenn sie dahinterkäme.«

»Ich vertraue Ihnen«, sagte Guillam. Er ging die vier Stufen hinauf und stieß die Schwingtüren zum Leseraum auf. Darin sah es aus wie in einem improvisierten Hörsaal: ein Dutzend Arbeitsplätze, alle in einer Richtung, und eine überhöhte Fläche, wo die Archivarin saß. Guillam setzte sich an die Rückwand. Es war noch früh - zehn nach zehn auf seiner Uhr -, und außer ihm war nur Ben Thruxton von der Forschung da, der die meiste Zeit hier zubrachte. Vor langer Zeit war Ben, als lettischer Dissident verkleidet, mit Aufständischen durch die Straßen Moskaus gerannt und hatte »Tod den Unterdrückern« gebrüllt. Jetzt kauerte er über seinen Schriften wie ein alter Priester, weißhaarig und schweigend.

Als Guillam an das Pult der Archivarin trat, lächelte sie. Wenn in Brixton nichts los war, verbrachte Guillam häufig einen Tag im Archiv und suchte in den alten Fällen nach einem, der sich neu anheizen ließe. Sie war Sal, ein stämmiges, sportliches Mädchen, Leiterin eines Jugendclubs in Chiswick und Trägerin des schwarzen Judogürtels.

»Ein paar hübsche Hälse gebrochen am Wochenende?« fragte er und nahm sich einen Packen grüner Bestellzettel. Sal händigte ihm die Notizen aus, die sie für ihn in ihrem Stahlschrank verwahrte. »Wie immer. Und Sie?«

»Tanten in Shropshire besucht, vielen Dank.«

»Die möcht ich auch mal sehen«, sagte Sal.

Er blieb an ihrem Pult stehen und füllte die Zettel für die beiden nächsten Titel auf seiner Liste aus. Er sah zu, wie sie die Zettel stempelte, die Kontrollabschnitte abtrennte und sie durch einen Schlitz in ihrem Pult warf. »Reihe D«, murmelte sie und gab ihm die Stammzettel zurück. »Die Nummern zwei-acht sind auf halbem Weg links, die drei-acht in der nächsten Nische hinten.« Er öffnete die Tür am rückwärtigen Ende des Saals und betrat die Haupthalle. In der Mitte brachte ein alter Lift, der aussah wie ein Förderkorb, Akten ins Innere des Circus. Zwei müde Stifte pullten ihn, ein dritter betätigte die Winde. Guillam wanderte langsam an den Regalen entlang und las die fluoreszierenden Nummernschilder.

»Lacon schwört, daß er über Testify überhaupt keine Akte habe«, hatte Smiley ihm in seiner üblichen bekümmerten Art gesagt. »Nur ein paar Dokumente über Prideaux' Rückführung, sonst nichts.« Und im gleichen Leichenbitterton: »Ich fürchte demnach, wir müssen uns auf irgendeinem Weg beschaffen, was sich in der Registratur des Circus befindet.«

»Beschaffen« hieß in Smileys Vokabular »klauen«. Ein Mädchen stand auf einer Leiter. Karl Allitson, der Ordner, füllte einen Waschkorb mit Akten für die Funker, Astrid, der Hauswart, reparierte einen Heizkörper. Die Regale waren aus Holz, tief wie Kojen und durch Sperrholzplatten senkrecht durchteilt. Er wußte bereits, daß die Referenznummer für Testify vier-vier-acht-zwei E war, was bedeutete, Nische vierundzwanzig, vor der er jetzt stand. E stand für extinct und wurde nur für tote Operationen verwendet. Guillam zählte bis zum achten Fach von links. Testify sollte das zweite von links sein, aber es war nicht mit Sicherheit zu sagen, denn die Rücken trugen keine Signatur. Nachdem er seine Erkundung beendet hatte, zog er die beiden Akten heraus, die er angefordert hatte, und steckte die grünen Zettel in die dafür vorgesehenen Stahlklammern. »Viel ist bestimmt nicht da«, hatte Smiley gesagt, als wäre es mit dünnen Akten einfacher. »Aber etwas muß da sein, und wäre es nur um den Schein zu wahren.« Das war auch eine Eigenschaft, die Guillam in diesem Moment nicht an ihm schätzte: er sprach, als könnte man seinem Gedankengang folgen, als wäre man die ganze Zeit mit in seinem Kopf.

Er setzte sich und tat, als läse er, dachte jedoch die ganze Zeit an Camilla. Was sollte er mit ihr anfangen? Als sie heute früh in seinen Armen lag, hatte sie ihm erzählt, sie sei einmal verheiratet gewesen. Manchmal redete sie so, als hätte sie schon zwanzig Leben gelebt. Es sei ein Fehlgriff gewesen, also hätten sie's wieder aufgesteckt.

»Was ging denn schief?«

»Nichts. Wir paßten nicht zueinander.«

Guillam glaubte ihr nicht.

»Bist du geschieden?«

»Ich nehme es an.«

»Sei nicht so verdammt albern, du mußt doch wissen, ob du geschieden bist oder nicht!«

Seine Eltern hätten sich darum gekümmert, sagte sie; er sei Ausländer.

»Schickt er dir Geld?«

»Warum sollte er? Er schuldet mir nichts.«

Dann wieder die Flöte, im Gästezimmer, lange fragende Noten im Halblicht, während Guillam Kaffee machte. Ist sie eine Komödiantin oder ein Engel? Wenn er nur ihren Namen durch die Registratur laufen lassen könnte. In einer Stunde hatte sie eine Lektion bei Sand.

Mit einem grünen Zettel für eine vier-drei-Nummer in der Hand stellte er die beiden Akten an ihre Plätze zurück und postierte sich vor der Nische neben Testify. »Abfrage negativ«, dachte er.

Das Mädchen stand noch immer auf seiner Leiter. Allitson war verschwunden, aber der Waschkorb stand noch da. Der Heizkörper hatte Astrid bereits erschöpft, er saß daneben und las die Sun. Auf dem grünen Zettel stand vier-drei-vier-drei, und er fand die Akte sofort, weil er sie bereits früher aufgesucht hatte. Sie hatte einen rosa Umschlag, genau wie Testify. Genau wie Testify war sie ziemlich abgegriffen. Er steckte den grünen Zettel in die Klammer. Er ging wieder den Gang entlang zurück, blickte sich nochmals nach Allitson und dem Mädchen um, dann griff er nach der Akte Testify und vertauschte sie blitzschnell mit der Akte, die er in der Hand hielt.

»Das wichtigste ist meines Erachtens, Peter« - so Smiley - »daß keine Lücke bleibt. Ich schlage daher vor, daß Sie sich eine ähnliche Akte beschaffen, ich meine, eine äußerlich ähnliche, und sie dort einstellen, wo ...«

»Kapiert«, sagte Guillam.

Guillam hielt die Akte Testify ungezwungen in der rechten Hand, Titelseite nach innen, ging in den Lesesaal zurück und setzte sich wieder an seinen Tisch. Sal hob die Brauen und maulte irgend etwas. Guillam nickte ihr zu, daß alles in Ordnung sei, da er annahm, daß sie das habe fragen wollen, aber sie winkte ihn zu sich. Ein Moment der Panik. Die Akte mitnehmen, oder liegenlassen? Was tue ich sonst immer? Er ließ sie auf dem Tisch liegen. »Juliet geht Kaffee holen«, flüsterte Sal. »Möchten Sie welchen?« Guillam legte einen Shilling auf die Theke.

Er blickte auf die Wanduhr, dann auf seine Armbanduhr. Herrgott, hör doch auf, dauernd auf die verdammte Uhr zu sehen! Denk an Camilla, an ihre Unterrichtsstunde, die jetzt anfängt, denk an die Tanten, bei denen du das Wochenende nicht verbracht hast, denk an Alwyn, der nicht in deine Tasche schaut. Denk an alles, nur nicht an die Zeit. Noch achtzehn Warteminuten. »Peter, wenn Sie den geringsten Vorbehalt haben, Hände weg. Das ist das allerwichtigste.« Großartig, und wie soll ich wissen, ob ich Vorbehalte habe, wenn mein Magen das reinste Bienenhaus ist und mir der Schweiß wie heimlicher Regen unterm Hemd rinnt? Noch nie, das konnte er schwören, hatte es ihn so schlimm erwischt.

Er schlug die Akte Testify auf und versuchte zu lesen. Sie war nicht ganz so dünn, aber dick war sie auch nicht. Der erste Abschnitt handelte von dem, was nicht enthalten war: »Anlagen 1 bis 8 bei London Station, siehe auch pfs ellis Jim, prideaux Jim, hajek Wladimir, collins Sam, habold Max . . .« noch eine ganze Fußballmannschaft außerdem. »Interessenten wenden sich an H/London Station oder CR«, was heißen sollte, Chef des Circus und seine Mütter von Amts wegen. Nicht auf deine Armbanduhr schauen, schau auf die Wanduhr und rechne dir's selber aus, du Idiot. Acht Minuten. Komisch, Akten über den eigenen Vorgänger klauen. Komisch, Jim als Vorgänger zu haben, wenn man's recht bedenkt, und seine Sekretärin, die über ihn wachte, ohne jemals seinen Namen zu erwähnen. Die einzige lebendige Spur, die Guillam, abgesehen von dem Arbeitsnamen auf den Akten, je von ihm gefunden hatte, war der verbeulte Tennisschläger, der hinter dem Safe in seinem Zimmer gequetscht war, mit dem eingebrannten J. P. im Griff. Er zeigte ihn Ellen, einem zähen alten Besen, der Cy Vanhofer zum Zittern bringen konnte wie einen Schuljungen, und sie brach in Ströme von Tränen aus, wickelte den Schläger ein und schickte ihn mit dem nächsten Aktenkarren an den Delphin, mit einem persönlichen Schreiben und der dringenden Bitte, ihn Jimmy zurückzuerstatten, »wenn irgend menschenmöglich«. Wie ist Ihr Spiel zur Zeit, Jim, mit ein paar tschechischen Kugeln im Schulterknochen? Noch immer acht Minuten.

»Also, wenn es Ihnen möglich wäre«, sagte Smiley, »ich meine, wenn es nicht zu viele Umstände macht, bringen Sie Ihren Wagen in Ihre Werkstatt. Treffen Sie die Verabredung über Ihr privates Telefon, in der Hoffnung, daß Toby zuhört...« In der Hoffnung. Heilige Perlmutter. Und all sein Liebesgeflüster mit Camilla? Noch immer acht Minuten.

Die übrige Akte schien aus Telegrammen des Foreign Office zu bestehen, aus tschechischen Zeitungsausschnitten, Zeitfunkberichten von Radio Prag, Auszügen einer Verfahrensregelung für die Rückführung und Rehabilitation von »verbrannten« Agenten, Aufträgen an das Schatzamt und einen post mortem Allelines, worin er Control die Schuld an dem Fiasko gab. Lieber du als ich, George.

Guillam fing an, im Geist die Entfernung von seinem Tisch zur Hintertür zu messen, wo Alwyn an der Empfangstheke döste. Er schätzte sie auf fünf Schritt und beschloß, eine taktische Zwischenstation zu machen. Zwei Schritt von der Tür entfernt stand eine Kartentruhe wie ein großes gelbes Klavier. Sie war mit allem möglichen Nachschlagematerial gefüllt. Generalstabskarten, alten Exemplaren von Who's Who, alten Baedekern. Er klemmte sich einen Bleistift zwischen die Zähne, nahm die Akte Testify, schlenderte zur Truhe, suchte ein Telefonbuch von Warschau heraus und fing an, Namen auf ein Blatt Papier zu schreiben. Meine Schrift! Es schrie in ihm: meine Schrift ist ganz zittrig, sie fährt über die ganze Seite, schau dir diese Zahlen an, als wäre ich betrunken! Wieso merkt das niemand? Das Mädchen Juliet kam mit einem Tablett herein und stellte eine Tasse auf seinen Tisch. Er warf ihr eine zerstreute Kußhand zu. Er suchte ein zweites Telefonbuch heraus, von Poznan, glaubte er, und legte es neben das erste. Als Alwyn hereinkam, blickte er nicht einmal auf. »Telefon, Sir«, flüsterte Alwyn.

»Ach, Mist«, sagte Guillam, ins Telefonbuch vertieft. »Wer denn?«

»Stadtgespräch, Sir. Rauher Bursche. Ich glaube die Werkstatt wegen Ihres Wagens. Sagt, er hat schlechte Nachrichten für Sie«, sagte Alwyn hocherfreut.

Guillam hielt die Akte Testify mit beiden Händen, verglich scheinbar etwas mit dem Telefonbuch. Er wandte Sal den Rücken und spürte, wie seine Knie gegen die Hosenbeine schlotterten. Der Bleistift steckte immer noch in seinem Mund. Alwyn ging voraus und hielt ihm die Tür, und er durchschritt sie eifrig lesend: wie ein verdammtes Greenhorn, dachte er. Er wartete, daß der Blitzstrahl ihn traf, daß Sal Mordio schrie, Ben, der Superspion, plötzlich zum Leben erwachte, aber nichts geschah. Er fühlte sich viel besser: Alwyn ist mein Verbündeter, ich vertraue ihm, wir sind gegen den Delphin verschworen, ich kann rausgehen. Die Schwingtür schloß sich, er ging die drei Stufen hinunter, und da stand wieder Alwyn und hielt die Tür der Telefonkabine auf. Der untere Teil war undurchsichtig, der obere Teil verglast. Er nahm den Hörer auf und legte die Akte neben seine Füße und hörte Mendel ihm mitteilen, er brauche ein neues Getriebe, der Spaß könne bis zu hundert Pfund kosten. Das hatten sie sich für die Personalabteilung ausgedacht, oder wer immer die Aufzeichnung lesen würde, und Guillam hielt das Gespräch ungezwungen in Gang, bis Alwyn hinter seiner Theke verschwunden war, wo er mit gerecktem Hals lauschte. Es klappt, dachte er, es klappt, ich fliege, es klappt doch. Er hörte sich sagen: »Na, schön, aber fragen Sie zuerst beim Haupthändler nach, wie lange es dauert, bis sie das verdammte Ding beschaffen können. Haben Sie die Nummer?« Und gereizt: »Bleiben Sie am Apparat.« Er öffnete die Tür einen Spalt und drückte das Mundstück fest an sein Hinterteil, damit die nächsten Worte auf keinen Fall registriert werden könnten. »Alwyn, werfen Sie mir den Sack mal rüber, ja?« Alwyn brachte ihn schneidig herbei, wie der Erste-Hilfe-Mann bei einem Fußballmatch. »In Ordnung, Mister Guillam, Sir? Soll ich ihn für Sie aufmachen?«

»Lassen Sie ihn nur hier fallen, danke.«

Der Sack lag auf dem Boden vor der Kabine. Jetzt bückte er sich, zog den Sack herein und öffnete den Reißverschluß. In der Mitte, zwischen seinen Hemden und einer Menge Zeitungen, steckten drei blinde Ordner, einer lederfarben, einer grün, einer rosa. Er nahm den rosa Ordner und sein Notizbuch heraus und steckte dafür die Akte Testify hinein. Er zog den Verschluß zu, richtete sich auf und las Mendel eine Telefonnummer vor, übrigens die richtige. Er hängte ein, gab Alwyn den Sack und ging mit dem Blindband zurück in den Lesesaal. Allitson führte sein Stückchen auf, erst zog er am Waschkorb, dann versuchte er es mit Schieben.

»Peter, helfen Sie uns bitte, ich bring ihn nicht vom Fleck.«

»Sekunde.«

Er holte die Akte vier-drei wieder aus dem Fach, ersetzte sie durch den Blindband, stellte sie an ihren richtigen Platz in der Nische vier-drei und zog den grünen Zettel aus der Klammer. Gott thront im Himmel, und die erste Nacht war eine Wucht. Er hätte am liebsten laut gesungen: Gott thront im Himmel, und ich kann noch immer fliegen.

Er brachte den Zettel Sal, die ihn abzeichnete und auf einen Dorn spießte. Wie immer. Später am Tag würde sie nachsehen. War die Akte an ihrem Platz, dann würde sie den grünen Zettel und auch den Abschnitt in der Schachtel vernichten, und nicht einmal die kluge Sal würde sich erinnern, daß er sich vor Nische vier-vier aufgehalten hatte. Er wollte gerade ins Archiv zurück, um dem alten Allitson zu helfen, als er plötzlich direkt in die braunen unfreundlichen Augen Toby Esterhases blickte. »Peter«, sagte Toby in seinem nicht ganz perfekten Englisch. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber wir haben eine kleine Krise, und Percy Alleline möchte Sie dringend sprechen. Können Sie jetzt kommen? Das wäre sehr freundlich.« Und an der Tür, als Alwyn sie hinausließ: »Er möchte Ihre Meinung hören«, bemerkte er mit der Beflissenheit eines kleinen, aber kommenden Mannes. »Er möchte in einer Sache Ihre Meinung einholen.« In einem verzweifelten, aber erleuchteten Moment wandte Guillam sich an Alwyn. »Mittags fährt ein Bus nach Brixton. Rufen Sie doch bitte bei der Transportabteilung an, und bitten Sie, daß das Ding da für mich mit hinausgenommen wird, ja?«

»Wird gemacht, Sir«, sagte Alwyn. »Wird gemacht. Vorsicht, Stufe.«

Und sprich ein Gebet für mich, dachte Guillam.


Mit Percy Alleline als Circus-Direktor arbeitet Peter Guillam am Hochseil ohne Netz


»Unsere graue Eminenz«, nannte ihn Haydon. Die Portiers nannten ihn Schneewittchen wegen seines Haars. Toby Esterhase kleidete sich wie ein Dressman, aber sobald er die Schultern senkte und die winzigen Fäuste ballte, wurde er eindeutig zum Boxer. Guillam ging hinter ihm durch den Korridor des vierten Stocks, sah wieder den Kaffeeautomaten, hörte wieder Lauder Stricklands Stimme verkünden, daß er nicht zu sprechen sei, und dachte: »Herrgott, wir sind wieder drunten in Bern und auf der Flucht.« Er spielte schon mit dem Gedanken, es Toby laut zuzurufen, verwarf den Vergleich jedoch als nicht opportun. Sooft er an Toby dachte, mußte er an die Schweiz vor zehn Jahren denken, als Toby noch ein simpler Beschatter gewesen war und sich mit seiner Fähigkeit, nebenbei die Ohren zu spitzen, immer mehr einen Namen machte. Guillam war aus Nordafrika zurück und im Wartestand, und so schickte der Circus die beiden zu einem Sondereinsatz nach Bern, wo sie im Haus belgischer Waffenhändler, die mit Schweizer Hilfe ihre Waren in unerwünschte Richtungen verschickten, Meisen kleben sollten. Sie mieteten eine Villa neben dem Zielhaus, und in der nächsten Nacht stellte Toby einen Anschluß her und sorgte dafür, daß sie über ihr eigenes Telefon die Gespräche der Schweizer abhören konnten. Guillam war Boß und Kurier, zweimal täglich lieferte er die Bänder an die Außenstelle Bern, wobei er einen geparkten Wagen als Briefkasten benutzte. Mit gleicher Leichtigkeit bestach Toby den Briefträger, der ihm die Post der Belgier vor der Zustellung zur Durchsicht überließ, und die Putzfrau, die im Salon, wo gewöhnlich die Besprechungen stattfanden, ein Mikrophon installierte. Zur Ablenkung gingen sie ins Chikito, wo Toby mit den jüngsten Mädchen tanzte. Gelegentlich brachte er eine von den Kleinen mit nach Hause, aber am nächsten Morgen war sie immer verschwunden, und Toby hatte alle Fenster geöffnet, um den Geruch loszuwerden.

So lebten sie drei Monate lang, und Guillam kannte Toby nicht besser als am ersten Tag. Er wußte nicht einmal, in welchem Land er geboren war. Er war ein Snob und wußte, wo man essen und sich zeigen mußte. Er wusch seine Sachen selber, und nachts trug er ein Netz über dem Schneewittchenhaar, und an dem Tag, als die Polizei in die Villa eindrang und Guillam über die rückwärtige Mauer springen mußte, fand er Toby im Hotel Bellevue, wo er Patisserien mampfte und dem the dansant zusah. Toby hörte sich an, was Guillam zu sagen hatte, zahlte seine Zeche, gab zuerst dem Kapellmeister ein Trinkgeld, danach Franz, dem Chefportier, dann führte er Guillam durch ein Gewirr von Korridoren und Treppenhäusern zu der unterirdischen Garage, wo er den Fluchtwagen und die Pässe versteckt hatte. Auch dort bat er gewissenhaft um die Rechnung. »Wer es je eilig hat, aus der Schweiz herauszukommen«, dachte Guillam, »der bezahle zuerst seine Rechnungen.« Die Korridore waren endlos, mit Spiegelwänden und Versailles-Kandelabern, so daß Guillam nicht einem Esterhase folgte, sondern einer ganzen Prozession. Dieses Bild stand ihm jetzt wieder vor Augen, obwohl das enge hölzerne Treppenhaus zu Allelines Büros schmutziggrün gestrichen war und nur ein verbeulter Pergamentschirm die Kandelaber ersetzte.

»Zum Chef«, verkündete Toby großspurig dem jungen Portier, der sie mit lässigem Nicken durchwinkte. Im Vorzimmer saßen an vier grauen Schreibmaschinen die vier grauen Mütter in Twinsets und Perlen. Sie nickten Guillam zu und übersahen Toby. Ein Schild an Allelines Tür besagte »Bitte nicht stören«. Daneben ein riesiger Schranksafe, neu. Guillam fragte sich, wie der Fußboden die Belastung aushalte. Obenauf Flaschen mit afrikanischem Sherry, Gläser, Teller. Mittwoch, fiel ihm ein: Zwangloses Lunch-Meeting in London Station.

»Ich möchte keine Telefonanrufe, sagen Sie's ihnen«, schrie Alleline, als Toby die Tür öffnete.

»Der Chef nimmt keine Anrufe entgegen, bitte, meine Damen«, sagte Toby gewählt und hielt Guillam die Tür. »Wir haben eine Besprechung.«

Eine der Mütter sagte: »Wir haben es gehört.« Es war Kriegsrat.

Alleline saß am obersten Ende des Tisches in dem geschnitzten überdimensionalen Lehnstuhl, er las ein zweiseitiges Dokument und regte sich nicht, als Guillam eintrat. Er knurrte nur: »Setzen. Neben Paul. Nach dem Salzfaß«, und las mit gesammelter Aufmerksamkeit weiter.

Der Stuhl rechts von Alleline war leer, und Guillam wußte, daß er Haydon gehörte, denn an die Lehne war eine Rückenstütze gebunden. Links von Alleline saß Roy Bland, gleichfalls lesend, aber er blickte auf, als Guillam vorbeiging, und sagte »Guck mal, Peter«, und die vorstehenden blassen Augen folgten ihm dem Tisch entlang. Neben Roy saß Mo Delaware, das weibliche Paradepferd von London Station, mit scharf gewelltem Haar und braunem Tweed-Kostüm. Neben ihr Phil Porteous, der Personalchef, ein reicher serviler Mensch mit einem großen Haus am Stadtrand. Als er Guillam sah, hörte er auf zu lesen, klappte ostentativ die Akte zu, legte die schlanken Hände darauf und feixte. »Nach dem Salzfaß heißt neben Paul Skordeno«, sagte Phil und feixte noch immer. »Danke. Ich seh's.«

Nach Porteous kamen Bills Russen, die er zuletzt bei »Herren« im vierten Stock gesehen hatte, Nick de Silsky und sein Busenfreund Kaspar. Sie konnten nicht lächeln, und soviel Guillam wußte, konnten sie auch nicht lesen, denn sie hatten als einzige keine Papiere vor sich liegen. Sie saßen da, hatten die vier dicken Hände auf dem Tisch liegen, als stünde jemand mit dem Gewehr hinter ihnen, und beobachteten ihn nur mit ihren vier braunen Augen.

Noch weiter bergab saß Paul Skordeno, angeblich Roy Blands Außenagent in den Satelliten-Netzen, es hieß aber auch, er arbeite zwischendurch für Bill. Paul war dünn und mies und vierzig, hatte ein narbiges braunes Gesicht und lange Arme. Guillam hatte ihn einmal bei einem Nahkampfkurs in der Nursery zum Partner gehabt, und sie hätten einander um ein Haar umgebracht. Guillam rückte seinen Stuhl ein Stück von ihm ab und setzte sich, Toby war also der nächste in der Reihe, wie die andere Hälfte eines Bewacherteams. Was zum Teufel glauben sie, daß ich tun werde? dachte Guillam: Einen wahnwitzigen Ausbruchsversuch unternehmen? Aller Augen waren auf Alleline gerichtet, der seine Pfeife stopfte, als Bill Haydon ihm die Schau stahl. Die Tür ging auf, und zunächst kam niemand herein. Dann hörte man ein langsames Schlurfen, und Bill erschien, eine Kaffeetasse in beiden Händen, obenauf die Untertasse. Er trug einen gestreiften Ordner unter den Arm geklemmt, und die Brille hatte er hochgeschoben, also mußte er vorher gelesen haben. Sie alle haben es gelesen, nur ich nicht, dachte Guillam, und ich weiß nicht, worum es geht. Er fragte sich, ob es das gleiche Dokument war, das Esterhase und Roy am Vortag gemeinsam gelesen hatten, und entschied ohne jeden Anhaltspunkt, daß dem so sei; daß es gestern gerade eingetroffen sei; daß Toby es zu Roy gebracht und daß er die beiden in ihrer ersten Begeisterung gestört habe; falls Begeisterung das rechte Wort war.

Alleline hatte noch immer nicht aufgeblickt. Vom unteren Tischende konnte Guillam nur das volle schwarze Haar und ein Paar breite tweedbedeckte Schultern sehen. Mo Delaware zupfte beim Lesen an ihrer Stirnlocke. Percy hat zwei Ehefrauen, erinnerte er sich, als Camilla aufs neue durch das Gewimmel seiner Gedanken geisterte, und beide waren Alkoholikerinnen, was gar nicht so einfach sein mußte. Er hatte nur das Londoner Exemplar kennengelernt. Percy baute damals gerade die Liga seiner Getreuen auf und hatte in seinem weitläufigen holzgetäfelten Apartment in Buckingham Palace Mansions eine Cocktailparty gegeben. Guillam kam zu spät und legte gerade in der Diele seinen Mantel ab, als eine blasse blonde Frau schüchtern auf ihn zuschwebte und beide Hände ausstreckte. Er hielt sie für das Mädchen, das ihm den Mantel abnehmen wollte. »Ich bin Joy«, sagte sie mit dramatischer Stimme, es klang wie »Ich bin die Tugend«, oder »Ich bin die Enthaltsamkeit«. Sie wollte nicht seinen Mantel, sondern einen Kuß. Als er sich ihrem Wunsch beugte, atmete er die vereinte Süße von Je reviens und einer hohen Konzentration billigen Sherrys ein.

»Ja, junger Herr Guillam«, - so Alleline - »haben Sie jetzt endlich Zeit für mich oder stehen noch weitere Erledigungen in meinem Haus an?« Er blickte halbwegs auf, und Guillam sah zwei winzige pelzige Dreiecke auf den verwitterten Wangen. »Was treiben wir denn zur Zeit draußen auf dem flachen Land?« - er blätterte um - »außer den Dorfjungfrauen nachstellen, falls es in Brixton welche geben sollte, was ich ernsthaft bezweifle, wenn Sie mir diese Frivolität verzeihen wollen, Mo, und öffentliche Gelder für opulente Mahlzeiten verschwenden?«

Dieses Anrempeln war Allelines Kommunikationsmethode. Es konnte freundschaftlich oder feindselig sein, vorwurfsvoll oder gutheißend, aber im Endeffekt war es wie der erste Tropfen auf die gleiche Stelle.

»Ein paar Arabergrüppchen sehen recht vielversprechend aus. Cy Vanhofer hat einen Draht zu einem deutschen Diplomaten. Das wär' alles.«

»Araber«, wiederholte Alleline, schob den Ordner beiseite und zog eine rustikale Pfeife aus der Tasche. »Jeder Idiot kann einen Araber umdrehen, was, Bill? Ein ganzes arabisches Kabinett für eine halbe Krone kaufen, wenn's ihm Spaß macht.« Aus einer anderen Tasche nahm Alleline einen Tabaksbeutel, den er lässig auf den Tisch warf. »Wie ich höre, sind Sie ein Herz und eine Seele mit unserem unlängst verblichenen Bruder Tarr. Wie geht's ihm heutzutage?«

Eine Unmenge Gedanken schossen Guillam durch den Kopf, während er sich antworten hörte. Daß die Beobachtung seiner Wohnung erst gestern abend aufgenommen worden war, durfte als sicher gelten. Daß er übers Wochenende frei von Kontrolle war, wenn nicht Fawn, der Babysitter, zum Verräter geworden war, was ein harter Schlag gewesen wäre. Daß Roy Bland eine auffallende Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Dylan Thomas hatte; Roy hatte ihn immer an jemanden erinnert, er war nur nie dahinter gekommen, an wen; und daß Mo Delaware nur dank ihres männlichen Pfadfinderinnen-Habitus die Bezeichnung Frau erworben hatte. Ob Dylan Thomas wohl auch Roys ungewöhnlich helle blaue Augen hatte? Daß Toby Esterhase eine Zigarette aus seinem goldenen Etui nahm und daß Alleline im allgemeinen keine Zigaretten duldete, nur Pfeifen, also mußte Toby sich im Moment recht gut mit ihm stehen. Daß Bill Haydon seltsam jung aussah und daß die Circus-Gerüchte über sein Liebesleben vielleicht doch nicht so lachhaft waren: sie behaupteten, er sei doppelseitig begabt. Daß Paul Skordeno eine braune Handfläche auf den Tisch gelegt und den Daumen leicht in die Luft gereckt hatte, als wolle er die Schlagwirkung des Handrückens vergrößern. Er dachte auch an seinen Segeltuchsack: hatte Alwyn ihn dem Bus mitgegeben? Oder war er zum Lunch weggegangen und hatte den Sack einfach in der Garderobe gelassen, wo jeder beförderungshungrige junge Portier die Nase hineinstecken konnte? Und Guillam fragte sich, nicht zum erstenmal, wie lange Toby wohl schon um das Archiv herumgestrichen sein mochte, ehe Guillam ihn gesehen hatte.

Er wählte einen scherzenden Tonfall: »Stimmt, Chef, Tarr und ich trinken jeden Nachmittag bei Fortnum zusammen Tee.« Alleline nuckelte an der kalten Pfeife, befühlte die Tabakfüllung. »Peter Guillam«, sagte er mit wohlüberlegter Ironie. »Es ist Ihnen vielleicht entgangen, aber ich bin ein ungemein versöhnlicher Charakter. Ja, ich triefe geradezu vor Menschenfreundlichkeit. Ich will weiter nichts, als den Inhalt Ihrer Unterredung mit Tarr. Ich fordere weder seinen Kopf noch irgendeinen anderen Teil seiner verdammten Anatomie, und ich will den Impuls zügeln, ihn mit eigenen Händen zu erwürgen. Oder Sie.« Er riß ein Streichholz an und entzündete die Pfeife; eine gewaltige Flamme schlug hoch. »Ich würde mich vielleicht sogar bereitfinden, Ihnen eine goldene Kette um den Hals zu hängen und Sie aus dem verhaßten Brixton wieder in den Palast zu holen.«

»Wenn dem so ist, kann ich es gar nicht erwarten, bis er auftaucht«, sagte Guillam.

»Und Tarr soll freies Geleit haben, bis ich ihn zu fassen kriege.«

»Ich will's ihm sagen. Er wird begeistert sein.« Eine dicke Rauchwolke rollte über den Tisch. »Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen, junger Peter, üblen Nachreden destruktiver und heimtückischer Art das Ohr zu leihen. Ich zahle Ihnen ehrliches Geld, und Sie fallen mir in den Rücken. Meiner Ansicht nach ein erbärmlicher Dank dafür, daß ich Sie am Leben erhalte. Gegen die dringenden Vorstellungen meiner Ratgeber, wie ich Ihnen sagen möchte.«

Alleline hatte sich eine neue Manieriertheit angewöhnt, eine, die Guillam oft bei eitlen Männern mittleren Alters beobachtete: Er packte eine Fleischtasche unter dem Kinn und massierte sie zwischen Daumen und Finger, in der Hoffnung, sie zu verkleinern. »Erzählen Sie uns doch noch etwas über Tarrs Lebensumstände«, sagte Alleline. »Etwas über seine Gemütsverfassung. Er hat eine Tochter, nicht wahr? Ein Töchterchen namens Danny. Spricht er manchmal von ihr?«

»Früher hat er's getan.«

»Ergötzen Sie uns mit ein paar Anekdoten über sie.«

»Ich kenne keine. Er hat sie sehr gern, mehr weiß ich nicht.«

»Wahnsinnig gern?« Die Stimme schwoll plötzlich vor Zorn.

»Was soll das Achselzucken bedeuten? Wie kommen sie plötzlich dazu, mich mit einem Achselzucken abspeisen zu wollen? Ich spreche mit Ihnen über einen Verräter aus Ihrer eigenen verdammten Abteilung, ich bezichtige Sie, mit ihm hinter meinem Rücken zu konspirieren, bei einem idiotischen Spielchen mitmischen zu wollen, wenn Sie nicht einmal wissen, wie hoch der Einsatz ist, und Sie zucken einfach die Achseln. Es gibt ein Gesetz, Peter Guillam, gegen die Zusammenarbeit mit Feindagenten. Vielleicht wußten Sie das nicht. Ich habe gute Lust, Sie unter Anklage zu stellen.«

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