»Sie schreien in Grenville nach Ihnen, Rhino.«
»Geh schon, bin schon weg«, gab Jim munter zurück, und mit einem zackigen »Nacht mit'nander« wuchtete er zum Grenville-Schlafsaal, wo er sein Versprechen, eine Geschichte fertig zu lesen, einhalten mußte. Beim Vorlesen stellte er fest, daß er bei manchen Lauten Schwierigkeiten hatte, sie verhakten sich irgendwo in seiner Kehle. Er wußte, daß er schwitzte, er vermutete, daß sein Rücken näßte, und als er mit der Geschichte zu Ende war, hatte er eine Art Krampf im Kiefer, der nicht bloß vom Vorlesen kam. Aber das alles waren nebensächliche Symptome im Vergleich zu der Wut, die in ihm aufstieg, als er in die eisige Nachtluft hinaustrat. Eine Weile stand er unschlüssig auf der unkrautbewachsenen Terrasse und starrte auf die Kirche. Er würde drei Minuten brauchen, weniger sogar, um den Revolver unter dem Kirchenstuhl loszumachen, in den Hosenbund zu stecken, links, Griff nach innen, zur Leiste.
Aber sein Instinkt sagte »Nein«, also nahm er direkten Kurs auf den Wohnwagen und sang dabei »Hei diddel dei, hei diddel dei«, so laut seine unmelodische Stimme reichte.
Jim Prideaux beschreibt einen Nachtmarsch, und George Smiley sieht zum ersten Mal Licht
In dem Motelzimmer herrschte dauernde Ruhelosigkeit. Selbst wenn der Verkehr draußen eine seiner seltenen Pausen machte, vibrierten die Fenster weiter. Auch die Zahngläser im Bad vibrierten, und durch beide Zimmerwände und die Decke hörten sie Musik, Poltern und Gesprächsfetzen oder Lachen. Wenn ein Wagen im Vorhof ankam, schien das Türenknallen mitten im Zimmer stattzufinden und die Schritte ebenfalls. Die Einrichtungsgegenstände waren aufeinander abgestimmt. Die gelben Stühle waren auf die gelben Bilder und den gelben Teppich abgestimmt. Die Häkeldecken über den Betten paßten zur orangefarbenen Türbemalung und zufällig auch zum Etikett auf der Wodkaflasche. Smiley hatte alles säuberlich vorbereitet. Er hatte die Stühle in angemessene Entfernung gerückt, die Wodkaflasche auf den niedrigen Tisch gestellt, und als Jim nun dasaß und ihn finster anstarrte, holte er einen Teller mit geräuchertem Lachs aus dem winzigen Kühlschrank, nebst fertig mit Butter bestrichenem Landbrot. Im Gegensatz zu Jim war er bemerkenswert gut gelaunt, und seine Bewegungen waren flink und gezielt.
»Ich dachte, wir sollten's wenigstens gemütlich haben«, sagte er mit flüchtigem Lächeln und deckte geschäftig den Tisch. »Wann müssen Sie wieder in der Schule sein? Ist eine Zeit festgesetzt?«
Als er keine Antwort erhielt, setzte er sich. »Macht Ihnen das Unterrichten Spaß? Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie's nach dem Krieg eine Weile getan haben, stimmt das? Ehe Sie wieder zurückgeholt wurden? War das auch ein Internat?«
»Schauen Sie in den Akten nach«, bellte Jim. »Spielen Sie gefälligst nicht Katz und Maus mit mir, George Smiley. Wenn Sie irgend etwas wissen wollen, lesen Sie meine Akte.«
Smiley langte über den Tisch, goß zwei Gläser ein und reichte eines davon Jim.
»Ihre Personalakte im Circus?«
»Holen Sie sie bei der Personalabteilung, bei Control.«
»Ja, das wäre vielleicht besser«, sagte Smiley zweifelnd. »Der Haken ist nur: Control ist tot, und ich wurde rausgeworfen, lange ehe Sie zurückkamen. Hat sich niemand die Mühe gemacht, Ihnen das mitzuteilen, als man Sie nach Hause holte?« Nun wurden Jims Züge weicher, und er vollführte in Zeitlupe eine jener Handbewegungen, die den Jungen in Thursgood soviel zu lachen gaben! »Lieber Gott«, flüsterte er, »Control ist also hinüber«, fuhr sich mit der linken Hand über die Schnurrbarthörner und dann hinauf zu seinem mottenzerfressenen Haar. »Armer alter Knabe«, murmelte er. »Woran ist er gestorben, George? Herz? Herztod?«
»Nicht einmal das hat man Ihnen bei Ihrer Desinstruktion nach der Rückkehr gesagt?« fragte Smiley.
Bei dem Wort »Desinstruktion« wurde Jims Haltung steif und sein Blick wieder starr.
»Ja«, sagte Smiley, »es war sein Herz.«
»Wer hat den Job gekriegt?«
Smiley lachte: »Du liebe Güte, Jim, worüber habt ihr eigentlich in Sarratt gesprochen, wenn sie Ihnen nicht mal das gesagt haben?«
»Herrgott noch mal, wer hat den Job gekriegt? Sie waren's nicht, wie, Sie sind rausgeflogen! Wer hat den Job gekriegt, George?«
»Alleline hat ihn gekriegt«, sagte Smiley und beobachtete Jim scharf; er sah, daß der rechte Unterarm regungslos auf seinen Knien lag. »Wem hätten Sie ihn zugedacht? Sie hatten einen Kandidaten, wie, Jim?« Und nach einer langen Pause: »Und sie haben Ihnen auch nicht zufällig gesagt, was mit dem Netz Aggravate passiert ist? Mit Pribyl, mit seiner Frau und seinem Schwager? Oder mit dem Netz Plato? Landkron, Eva Kriegiowa, Hanka Bilowa? Einige von ihnen haben Sie selber angeworben, nicht wahr, in den alten Tagen vor Roy Bland? Der alte Landkron hat sogar vor dem Krieg für Sie gearbeitet.«
Es war für Smiley schrecklich anzusehen, wie Jim keine Bewegung nach vorn machte und auch nicht zurück konnte. Das unregelmäßige rote Gesicht war von der Qual der Unentschlossenheit verzerrt, und Schweiß hatte sich in dicken Tropfen über den rötlichen Brauen gesammelt.
»Herrgott noch mal, George, was zum Teufel wollen Sie eigentlich? Ich habe einen Schlußstrich gezogen. Genau das sagten sie, solle ich tun. Einen Schlußstrich ziehen, ein neues Leben anfangen, die ganze Geschichte vergessen.«
»Wer sind diese sie, Jim? Roy? Bill, Percy?« Er wartete. »Haben sie Ihnen gesagt, wer immer sie auch waren, was aus Max geworden ist? Max ist übrigens wohlauf«, fügte er rasch hinzu. Er stand behend auf, goß Jims Glas aufs neue voll, dann setzte er sich wieder.
»Na schön, schießen Sie los, was ist mit den beiden Netzen passiert?«
»Aufgerollt, angeblich haben Sie sie verpfiffen, um Ihre eigene Haut zu retten. Ich glaube es nicht. Aber ich muß wissen, was passiert ist.« Er sprach sofort weiter: »Ich weiß, Sie mußten Control schwören, bei allem, was heilig ist, aber das ist vorbei. Ich weiß, daß Sie halb zu Tode ausgequetscht wurden, und ich weiß, Sie haben einiges so gründlich weggepackt, daß Sie es selber kaum mehr finden und nicht mehr wissen, was Wahrheit und was Tarnung ist. Ich weiß, daß Sie einen Schlußstrich darunter gezogen haben und sich sagen, das alles ist überhaupt nicht passiert. Ich habe das selber auch versucht. Nach diesem Abend können Sie Ihren Schlußstrich ziehen. Ich habe einen Brief von Lacon bei mir, und wenn Sie ihn anrufen wollen, dann garantiert er für mich. Ich will Sie nicht zum Schweigen bringen. Eher zum Sprechen. Warum haben Sie mich nach Ihrer Rückkehr nicht zu Hause aufgesucht? Das hätten Sie doch tun können. Vor Ihrer Reise haben Sie versucht, mich zu sprechen, warum also nicht danach? Sie ließen sich nicht nur von den Vorschriften davon abhalten.«
»Ist niemand davongekommen?« sagte Jim. »Nein. Sie wurden vermutlich alle erschossen.« Sie hatten Lacon angerufen, und jetzt saß Smiley allein da und nippte an seinem Glas. Aus dem Badezimmer- hörte er Wasserrauschen und Grunzen, als Jim sich das Gesicht abspritzte. »Gehen wir doch um Gottes willen irgendwohin, wo man Luft kriegt«, flüsterte Jim, als sei das die Bedingung für seine Sprechbereitschaft. Smiley nahm die Flasche vom Tisch und ging neben ihm her über den Parkplatz zum Wagen.
Sie fuhren zwanzig Minuten lang; Jim saß am Steuer. Dann hielten sie auf dem Hügel, demselben vom Morgen, ohne Nebel und mit einem weiten Blick ins Tal. Da und dort in der Ferne blinkten einzelne Lichter. Jim saß regungslos da, mit herabhängenden Händen, die rechte Schulter hochgezogen und blickte durch die beschlagene Windschutzscheibe auf die Hügelschatten. Smiley hielt die ersten Fragen knapp. Der Zorn war aus Jims Stimme geschwunden, und allmählich sprach er freier. Einmal, als sie über Controls professionelle Geschicklichkeit sprachen, lachte er sogar, aber Smiley entspannte sich nie, er war so aufmerksam, als führte er ein Kind über die Straße. Wenn Jim zu rasch voranzog oder bockte oder aufbrausen wollte, holte Smiley ihn behutsam zurück, bis sie wieder im gleichen Schritt und in die gleiche Richtung gingen. Wenn Jim zögerte, lockte Smiley ihn geschickt über das Hindernis. Eine Mischung aus Instinkt und Logik erlaubte ihm, Jim zunächst mit seiner eigenen Geschichte zu füttern. Hatten sie sich nicht für Jims erste Instruktionen durch Control, so fragte Smiley, außerhalb des Circus getroffen? Ja, das stimmte. Wo? In einem Apartmenthaus in St. James, Control hatte den Treffpunkt vorgeschlagen. War sonst noch jemand anwesend? Nein, niemand. Und um sich zum erstenmal mit Jim in Verbindung zu setzen, hatte Control seinen Leibdiener Mac Fadean geschickt, nicht?
Ja, der alte Mac war mit dem Brixton-Bus und einem Zettel gekommen, worin Jim für den kommenden Abend zu einem Treffen aufgefordert wurde. Jim sollte Mac ja oder nein sagen und ihm den Zettel zurückgeben. Auf keinen Fall dürfe er das Telefon benutzen, auch nicht den Hausapparat, um über die Verabredung zu sprechen. Jim hatte zu Mac »Ja« gesagt und war um sieben zur Stelle gewesen.
»Als erstes hat Control Sie vermutlich gewarnt?«
»Gesagt, ich darf keinem Menschen trauen.«
»Hat er irgend jemanden namentlich genannt?«
»Später«, sagte Jim. »Zuerst nicht. Zuerst sagte er nur: Trauen Sie keinem. Besonders keinem von der Kerntruppe aus dem inneren Kreis. George?«
»Ja.«
»Sie sind einfach erschossen worden, ja? Landkron, Kriegiowa, die Pribyls? Kurzerhand erschossen?«
»Die Geheimpolizei hat beide Netze in der gleichen Nacht aufgerollt. Was danach geschah, weiß niemand, aber den Verwandten wurde mitgeteilt, sie seien tot. Was im allgemeinen heißt, daß sie's wirklich sind.«
Zu ihrer Linken kletterte eine Reihe Tannen wie eine bewegungslose Armee aus dem Tal herauf.
»Und dann hat Control Sie vermutlich gefragt, welche gültigen tschechischen Papiere Sie zur Zeit besäßen«, fuhr Smiley fort. »Stimmt das?«
Er mußte die Frage wiederholen.
»Ich sagte, Hajek«, sagte Jim schließlich. »Jan Hajek, tschechischer Journalist, in Paris stationiert. Control fragte mich, wie lange diese Papiere noch brauchbar seien. >Weiß man nicht<, sagte ich. >Manchmal sind sie nach einer einzigen Reise wertlos. <« Seine Stimme wurde plötzlich lauter, als habe er sie nicht mehr unter Kontrolle. »Stocktaub war er, Control, wenn er nicht hören wollte.«
»Und dann sagte er Ihnen, was Sie für ihn tun sollten«, half Smiley weiter.
»Zuerst sprachen wir über die Möglichkeit, alles abzuleugnen. Er sagte, wenn ich erwischt würde, müsse ich Control raushalten. Ein Plan der Skalpjäger, eine Art Privatunternehmung. Schon damals dachte ich: wer zum Teufel soll mir das glauben? Er ließ sich jedes Wort abkaufen«, sagte Jim. »Während der ganzen Instruktion spürte ich seinen Widerstand. Er wollte mich rein gar nichts wissen lassen, aber ich sollte gut informiert sein. >Mir ist ein Angebot zugegangen<, sagt Control. >Hochgestellte Persönlichkeit, Deckname Testify. < Tschechische Persönlichkeit?< frage ich. >Hoher Militär<, sagt er. >Sie sind selber Militär, Jim, Sie beide sollten gut miteinander auskommen. < Und so ging's den ganzen Abend lang. Ich dachte, wenn du mir's nicht sagen willst, dann laß es, aber hör auf mit dem Drumrum.« Nach einigen weiteren Runden um den heißen Brei, sagte Jim, sei Control damit herausgerückt, daß Testify ein tschechischer General der Artillerie sei. Sein Name war Stevcek, er war bekannt als prosowjetischer Falke in der Prager Verteidigungs-Hierarchie, was immer das bedeuten mochte. Er war Verbindungsoffizier in Moskau gewesen, einer der sehr wenigen Tschechen, denen die Russen vertrauen. Stevcek hatte Control durch einen Mittelsmann, den Control persönlich in Österreich interviewt hatte, seinen Wunsch vonragen lassen, mit einem führenden Mann des Circus über Angelegenheiten von beiderseitigem Interesse zu sprechen. Der Emissär müsse tschechisch sprechen und in der Lage sein,
Entscheidungen zu treffen. Am Freitag, dem 20. Oktober, werde Stevcek die Waffenforschungsanstalt in Tisnow bei Brunn besichtigen, etwa hundert Meilen nördlich der österreichischen Grenze. Anschließend wolle er sich über das Wochenende zu einer Jagdhütte begeben, und zwar allein. Die Hütte liege hoch droben in den Wäldern, nicht weit von Racice entfernt. Er sei bereit, dort am Abend des Sonnabend, 21. Oktober, einen Emissär zu empfangen. Er würde auch nach und von Brunn eine Eskorte stellen.
Smiley fragte: »Hat Control irgend etwas über Stevceks Motiv verlauten lassen?«
»Ein Mädchen«, sagte Jim. »Eine Studentin, mit der er liiert war. Sein später Frühling, sagte Control: zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen den beiden. Sie wurde während des Aufstands vom Sommer achtundsechzig erschossen. Bis dahin war es Stevcek gelungen, seine anti-russischen Gefühle seiner Karriere zuliebe zu unterdrücken. Der Tod des Mädchens machte dem ein Ende: er wollte sich nur noch an den Russen rächen. Fünf Jahre lang hatte er in aller Stille Informationen gesammelt, die ihnen wirklichen Schaden zufügen könnten. Sobald er unsere Zusage und einen sicheren Kanal bekommen würde, sei er bereit, uns alles zu verkaufen.«
»Hatte Control diese Angaben nachgeprüft?«
»Soweit es ihm möglich war. Über Stevcek war reichlich Material vorhanden. Hungriger Schreibtischgeneral mit einer langen Liste von Stabs-Ernennungen. Technokrat. Wenn er nicht Kurse besuchte, wetzte er sich im Ausland die Zähne: Warschau, Moskau, ein Jahr lang Peking, eine Zeitlang Militärattache in Afrika, dann wieder Moskau. Jung für seinen Rang.«
»Hat Control Ihnen gesagt, welche Art von Informationen Sie zu erwarten hätten?«
»Verteidigungsmaterial. Raketen. Ballistik.«
»Sonst nichts?« sagte Smiley und reichte ihm die Flasche.
»Bißchen Politik.«
»Sonst nichts?«
Nicht zum erstenmal hatte Smiley das entschiedene Gefühl, daß er nicht über Jims Unwissenheit strauchelte, sondern über den Rest eines willentlichen Entschlusses, sich nicht zu erinnern. Jim Prideaux' Atem wurde im Dunkeln plötzlich tief und keuchend.
Er hatte die Hände auf s Steuerrad gelegt und das Kinn aufgestützt und starrte blicklos auf die undurchsichtige Windschutzscheibe. »Wie lange waren sie in Haft, ehe sie erschossen wurden?« fragte er.
»Ich befürchte, eine ganze Zeit länger, als Sie es waren«, gestand Smiley.
»Mein Gott«, sagte Jim. Er zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich den Schweiß ab, und was sonst noch auf seinem Gesicht glänzen mochte.
»Die Enthüllungen, die Control von Stevcek zu erhalten hoffte«, soufflierte Smiley so behutsam wie möglich. »Das haben sie mich beim Verhör auch gefragt.«
»In Sarratt?«
Jim schüttelte den Kopf. »Drüben.« Er machte mit dem zottigen Kopf eine Bewegung zu den Hügeln. »Sie wußten von Anfang an, daß das Ganze Controls Unternehmen war. Ich konnte ihnen nicht weismachen, daß es das meine gewesen sei. Sie lachten nur.«
Abermals wartete Smiley geduldig, bis Jim bereit war, fortzufahren.
»Stevcek«, sagte Jim. »Control hatte sich folgende Idee in den Kopf gesetzt: Stevcek würde die Antwort liefern, Stevcek würde den Schlüssel liefern. >Was für einen Schlüssel ?< fragte ich. >Was für einen Schlüssel ?< Hatte seine Mappe bei sich, die alte braune Notenmappe. Zog Tabellen heraus, alle in seiner eigenen Handschrift angemerkt. Mit farbiger Tinte, mit Stift. >Ihre optischen Krückens sagte er. >Das ist der Mann, den Sie treffen.< Stevceks Karriere Jahr für Jahr aufgezeigt: er führt sie mir von A bis Z vor. Militärakademien, Orden, Ehefrauen. >Er hat Pferde gern<, sagt er. >Sie sind früher auch geritten, Jim. Wieder eine Gemeinsamkeit, denken Sie daran.< Ich dachte: Das wird ein Hauptspaß: ich sitze in der Tschechoslowakei, weiß die Bluthunde hinter mir und plaudere über das Zureiten von Vollblutstuten. Er lachte ein bißchen komisch, also lachte Smiley auch. »Die rot markierten Beförderungen waren für Stevceks Verbindungsarbeit für die Sowjets. Die grünen waren seine Geheimdienstarbeit. Stevcek hatte überall die Pfoten drin. Vierter Mann im tschechischen Abwehrdienst, Obergehilfe im Waffenwesen, Sekretär des nationalen Komitees für innere Sicherheit, eine Art Militärberater des Präsidiums. Angloamerikanischer Vertreter im militärischen Abwehrdienst der Tschechen. Dann kommt Control zu dieser Stelle in der Mitte der sechziger Jahre, Stevceks zweitem Aufenthalt in Moskau, halb grün und halb rot markiert. Nach außen hin gehörte Stevcek dem Verbindungsstab des Warschauer Pakts als Generaloberst an, sagt Control, aber das war nur Tarnung. >Er hatte mit dem Warschauer Pakt überhaupt nichts zu tun. Sein wirklicher Job war die England-Abteilung in der Moskauer Zentrale. Er war unter dem Arbeitsnamen Minin tätig <, sagt er. >Er mußte die tschechische und die Moskauer Tätigkeit koordinieren. Hier liegt der Schatz<, sagt Control. >Was Stevcek uns wirklich verkaufen will, ist der Name der Moskauer Agenten innerhalb des Circus.<« Vielleicht ist es nur ein einziges Wort, dachte Smiley in Erinnerung an sein Gespräch mit Max, und plötzlich fühlte er wieder diese jähe Woge der Furcht. Er wußte, am Ende würde nur das eine herauskommen: ein Name für den Maulwurf Gerald, ein Schrei im Dunkel.
»>Es ist ein fauler Apfel dabei, Jim<, sagte Control, >und er steckt alle anderen an<«, fuhr Jim fort. Seine Stimme war hart geworden, seine Miene ebenfalls. »Er sprach dauernd von Ausmerzen, wie er die Spuren zurückverfolgt habe und allem nachgegangen und fast am Ziel sei. Es gebe fünf Möglichkeiten, sagte er. Fragen Sie mich nicht, wie er sie ausgegraben hat. >Es ist einer von den oberen Fünf<, sagt er. >Fünf Finger einer Hand.< Er gab mir was zu trinken, und wir saßen da wie zwei Schuljungen und machten uns einen Code, ich und Control. Wir einigten uns auf Spielkarten. Auf die, die zählen, also Zehner, Bube, Dame und so weiter. Wir saßen in dieser Wohnung und knobelten es aus und tranken diesen billigen zyprischen Sherry, den er immer servierte. Falls ich nicht mehr heraus könnte, falls es nach meiner Begegnung mit Stevcek Schwierigkeiten geben sollte, falls ich in den Untergrund müßte, so müsse ich ihm dieses eine Wort zukommen lassen, und wenn ich nach Prag gehen und es mit Kreide an die Tür der Botschaft schreiben oder unseren Mann in Prag anrufen und es ihm durchs Telefon zubrüllen müßte. Zehner, Bube, Dame, König, As. Alleline war As, Haydon war König, Bland war Bube und Toby Esterhase war Zehner. Sie waren Dame«, sagte Jim. »Ach, nein wirklich! Und was hielten Sie davon, Jim? Von Controls Theorie? Wie fanden Sie die Idee, alles in allem?«
»Verdammt albern. Schnapsidee.«
»Warum?«
»Einfach verdammt albern«, wiederholte er stur. »Daß einer von euch ein Maulwurf sein soll- blödsinnig!«
»Aber haben Sie es geglaubt?«
»Nein! Heiliger Gott, Mann, glauben Sie's vielleicht?«
»Warum nicht? Rein verstandesmäßig haben wir immer eingesehen, daß es früher oder später passieren würde. Wir haben einander dauernd gewarnt: sei auf der Hut. Wir haben genügend Mitglieder anderer Organisationen umgedreht: Russen, Polen, Tschechen, Franzosen. Sogar dann und wann einen Amerikaner. Was ist plötzlich an den Briten so Besonderes dran?« Da er Jinis inneren Widerstand spürte, öffnete Smiley die Tür auf seiner Seite und ließ die kalte Luft hereinströmen. »Wie war's mit einem kleinen Auslauf?« sagte er. »Warum sollen wir hier eingepfercht sein, wenn wir genausogut Spazierengehen können?«
Die Bewegung brachte, wie Smiley vorhergesehen hatte, Jims versiegenden Redefluß aufs neue in Schwung.
Sie waren am Westrand des Plateaus, wo nur ein paar Bäume standen und etliche gefällt am Boden lagen. Eine mit Reif bedeckte Bank lud zum Sitzen ein, aber sie machten keinen Gebrauch. Es war windstill, die Sterne waren sehr hell, und Jim nahm den Faden seiner Geschichte wieder auf, während sie nebeneinander hergingen und Jim seinen Schritt immer dem Smileys anglich. Weg vom Wagen, hin zum Wagen. Manchmal hielten sie an und blickten, Schulter an Schulter, hinunter ins Tal. Zuerst beschrieb Jim, wie er Max angeheuert und was er alles angestellt hatte, um seine Mission vor dem übrigen Circus geheimzuhalten. Er ließ durchsickern, er habe versuchsweise eine Verbindung zu einem ehrgeizigen sowjetischen Codierer in Stockholm angeknüpft und ließ auf seinen alten Arbeitsnamen Ellis eine Reise nach Kopenhagen buchen. Statt dessen flog er nach Paris, wechselte auf seine Hajek-Papiere und landete mit dem regulären Flug am Samstagvormittag zehn Uhr auf dem Flugplatz von Prag. Er kam ohne weiteres durch die Sperre, prüfte die Abfahrtszeit seines Zuges am Hauptbahnhof nach, dann ging er spazieren, denn er mußte noch ein paar Stunden totschlagen, und dachte, er könne ein bißchen aufpassen, was sich hinter ihm tue, ehe er nach Brunn abreiste. In diesem Herbst war das Wetter ungewöhnlich schlecht gewesen. Es lag schon Schnee, und es fiel noch mehr.
In der Tschechoslowakei, sagte Jim, sei die Beschattung im allgemeinen kein Problem. Die Sicherheitsdienste arbeiteten praktisch ohne alle Raffinessen, wahrscheinlich, weil seit Menschengedenken keine Regierung sich in dieser Hinsicht je hatte Zwang antun müssen. Der Trend war noch immer, sagte Jim, mit Autos und Pflastertretern herumzuwerfen wie Al Capone, und genau danach hielt Jim Ausschau: nach schwarzen Skodas und Trios von gedrungenen Männern mit Schlapphüten. Bei Kälte sind diese Dinge ein bißchen schwerer zu entdecken, weil der Verkehr zäh läuft, die Leute schneller gehen und jeder bis über die Nasenspitze vermummt ist. Trotzdem, bis zum Masaryk-Bahnhof, oder zum Hauptbahnhof, wie er heute heißt, ging alles glatt. Aber am Bahnhof, sagte Jim, sei seine Aufmerksamkeit rein instinktiv auf zwei Frauen gelenkt worden, die vor ihm am Fahrkartenschalter standen.
Nun überdachte Jim mit der leidenschaftlichen Gelassenheit des Profis noch einmal den zurückgelegten Weg. In einer Ladenarkade neben dem Wenzelsplatz hatten ihn drei Frauen überholt, die mittlere schob einen Kinderwagen. Die Frau auf der Fahrbahnseite trug eine rote Plastikhandtasche, und die Frau, die ganz innen ging, führte einen Hund an der Leine. Zehn Minuten später waren ihm zwei Frauen, Arm in Arm, entgegengekommen, sie hatten es eilig gehabt, und er dachte, wenn Toby Esterhase diese Sache organisiert hätte, so wäre das genau seine Handschrift; schnelle Ablösung am Kinderwagen, in einiger Entfernung Einsatzwagen mit Kurzwellensender oder - und ein zweites Team in Bereitschaft, für den Fall, daß das erste zum Überholen gezwungen sein würde. Als Jim nun am Masaryk-Bahnhof die beiden Frauen ansah, die vor ihm in der Schlange am Schalter standen, wußte er, daß es jetzt soweit war. Es gibt ein Kleidungsstück, das ein Beschatter weder wechseln kann noch will, schon gar nicht bei naßkaltem Wetter, und das ist sein Schuhwerk. Von den beiden Paaren, die sich am Schalter seinen Blicken darboten, erkannte Jim das eine wieder: pelzbesetzte Plastikstiefel, schwarz, mit Reißverschluß an der Außenseite und diesen dicken braunen Synthetiksohlen, die im Schnee quietschen. Er hatte sie an diesem Vormittag schon einmal gesehen, in der Sterba-Passage; die Frau, die den Kinderwagen an ihm vorbeischob, hatte sie unter einem anderen Mantel getragen. Von da an vermutete Jim nichts mehr. Er wußte, genau wie Smiley gewußt hätte. Am Zeitungsstand kaufte Jim sich eine Rude Pravo und stieg in den Zug nach Brunn. Wenn die ihn hätten festnehmen wollen, dann wäre es schon passiert. Sie mußten hinter den Nebenlinien her sein: das heißt, sie folgten Jim, um seine Verbindungsleute dingfest zu machen. Es hatte keinen Sinn, sich über das Warum den Kopf zu zerbrechen, aber Jim vermutete, daß die Hajek-Papiere hochgegangen waren und daß sie die Falle schon aufgestellt hatten, als er den Flug buchte. Solange sie nicht wußten, daß er die Hajek-Papiere ins Klo gespült hatte, war er noch immer im Vorteil; und für kurze Zeit war Smiley wieder im besetzten Deutschland, in seinem einzigen Einsatz als Außenagent, ein Leben in ständiger Angst, jeder Blick eines Fremden schien bis auf die Haut zu gehen. Er hätte ursprünglich den Zug um dreizehn Uhr acht benutzen sollen, der in Brunn um sechzehn Uhr siebenundzwanzig ankam. Er fiel aus, und Jim nahm einen wunderschönen Personenzug, einen Sonderzug zum Fußball-Match, der an jeder zweiten Laterne hielt, und jedesmal vermeinte Jim, seine Wachmannschaft herauspicken zu können. Ihre Qualität war unterschiedlich. In Chocen, einem elenden Kaff, stieg er aus, kaufte sich eine Wurst, und da standen nicht weniger als fünf, alles Männer, über den Bahnsteig verteilt, Hände in den Taschen, und taten so, als plauderten sie miteinander und machten sich verdammt lächerlich. »Wenn's etwas gibt, was einen guten Beschatter von einem schlechten unterscheidet«, sagte Jim, »dann ist es die sanfte Kunst, alles ganz überzeugend wirken zu lassen.«
In Switawi kamen zwei Männer und eine Frau in sein Abteil und unterhielten sich über das große Match. Nach einer Weile beteiligte Jim sich an ihrem Gespräch: er hatte in seiner Zeitung alles darüber gelesen. Es war ein Club-Rückspiel, und alle Leute waren schon ganz verrückt. Bis Brunn hatte sich nichts Neues mehr ereignet, er stieg also aus und schlenderte durch Geschäfte und belebte Straßen, so daß sie ihm dicht auf den Fersen bleiben mußten, um ihn nicht zu verlieren.
Er wollte sie in Sicherheit wiegen, ihnen beweisen, daß er nichts ahnte. Er wußte jetzt, daß er das Ziel eines, wie Toby es nennen würde, großen Schlemm war. Die Fußgänger arbeiteten in Teams zu je sieben. Die Autos wechselten so oft, daß er sie nicht zählen konnte. Die Leitung der Aktion lag bei einem schäbigen grünen Lieferwagen, der von einem Schlägertyp gefahren wurde. Der Lieferwagen hatte eine Rundantenne, und hoch am Heck war mit Kreide ein Stern aufgemalt, an einer Stelle, die ein Kind nicht erreichen konnte. Die Autos, die er identifizieren konnte, hatten als gegenseitiges Erkennungszeichen eine Damenhandtasche auf dem Handschuhbord und eine heruntergeklappte Sonnenblende über dem Beifahrersitz. Vermutlich gab es auch noch andere Zeichen, aber diese beiden genügten Jim. Aus Tobys Erzählungen wußte er, daß solche Einsätze bis zu hundert Leuten erforderten und dennoch ergebnislos verliefen, wenn das Wild plötzlich einen Haken schlug. Deshalb haßte Toby sie.
Am Hauptplatz von Brunn gibt es einen Laden, der rein alles verkauft, sagte Jim. In der Tschechoslowakei ist das Einkaufen im allgemeinen eine Plage, weil jeder der staatlichen Industriezweige seine eigenen Verkaufsstellen hat, aber dieses Geschäft war neu und recht ansehnlich. Er kaufte Spielsachen, einen Schal, Zigaretten und probierte Schuhe an. Er nahm an, daß seine Beschatter noch immer auf seine Kontaktperson lauerten. Er klaute eine Pelzmütze und einen weißen Plastikregenmantel und eine Tragetasche, um beides hineinzustecken. Er trieb sich in der Herrenabteilung lange genug herum, um sich zu vergewissern, daß die beiden Frauen, die das vorderste Paar bildeten, noch immer hinter ihm her waren, jedoch zögerten, ihm zu nahe zu kommen. Wahrscheinlich hatten sie männliche Ablösung angefordert und warteten nun. In der Herrentoilette handelte er blitzschnell. Er zog die weiße Regenhaut über seinen Mantel, stopfte den Tragbeutel in die Tasche und setzte die Pelzmütze auf. Er ließ seine übrigen Pakete liegen und rannte dann wie ein Irrer über die Nottreppe hinunter, stieß eine Feuertür auf, sauste eine Hintergasse entlang, schlenderte gemächlich durch eine weitere, eine Einbahnstraße, stopfte den weißen Regenmantel in den Tragebeutel, schlüpfte gerade noch in einen Laden, der bereits schließen wollte und kaufte sich dort einen schwarzen Regenmantel, den er an Stelle des weißen überzog. Im Schutz der hinausströmenden Kunden quetschte er sich in eine volle Tram, blieb bis zur vorletzten Haltestelle, marschierte eine Stunde lang und schaffte den Ausweichtreff mit Max auf die Minute.
Nun beschrieb er sein Gespräch mit Max und sagte, um ein Haar hätten sie sich geprügelt.
Smiley fragte: »Sind Sie nie auf den Gedanken gekommen, die Sache fallenzulassen?«
»Nein. Bin ich nicht«, bellte Jim.
Seine Stimme hob sich drohend.
»Obwohl Sie von Anfang an fanden, daß es eine Schnapsidee war?« In Smileys Tonfall schwang nichts als Nachsicht. Keine Schärfe, kein Wunsch, Jim ins Unrecht zu setzen: nur der Wunsch, die Wahrheit zu erfahren, sonnenklar unter dem Nachthimmel. »Sie sind einfach weitermarschiert. Sie hatten gesehen, was Ihnen im Rücken drohte, Sie fanden den Auftrag absurd, aber Sie marschierten weiter, immer tiefer hinein in den Dschungel.«
»Ja.«
»Oder sahen Sie den Auftrag inzwischen mit anderen Augen? Hat Sie schließlich die Neugier vorwärtsgetrieben, war das der Grund? Weil Sie zum Beispiel leidenschaftlich gern wissen wollten, wer der Maulwurf war? Ich stelle nur Vermutungen an, Jim.«
»Was hat das schon zu sagen? Was zum Teufel haben meine Gründe zu sagen, wenn's um eine solche Schweinerei geht?« Der Halbmond über dem Hügel war aus den Wolken hervorgekommen und schien sehr nah. Jim setzte sich auf die Bank. Sie stand auf einer Kiesfläche, und während des Sprechens nahm er dann und wann einen Kiesel auf und schleuderte ihn mit einem Rückhandwurf ins Farngestrüpp. Smiley saß neben ihm und schaute immer nur Jim an. Einmal trank er ebenfalls einen Schluck Wodka, um Jim Gesellschaft zu leisten und dachte an Tarr und Irina und, wie sie damals auf ihrem Hügel in Hongkong getrunken hatten. Es muß eine Berufsgewohnheit sein, dachte er: wir sprechen leichter, wenn wir eine Aussicht vor uns haben. Durch das Fenster des geparkten Fiat, sagte Jim, kam das Codewort ohne Zögern. Der Fahrer war einer jener steifen, muskelbepackten tschechischen Magyaren mit Schnurrbart á la Edward VII. und einem Mund voller Knoblauch. Jim mochte ihn nicht, hatte das aber auch nicht erwartet. Die beiden hinteren Türen waren verschlossen, und es gab einen Streit darüber, wo er sitzen sollte. Der Magyar sagte, aus Sicherheitsgründen solle Jim nicht hinten sitzen. Außerdem sei es undemokratisch. Jim wünschte ihn zum Teufel. Er fragte Jim, ob er einen Revolver habe, und Jim sagte nein, was eine Lüge war, aber wenn der Magyar ihm nicht glaubte, so wagte er doch nicht, es zu sagen. Er fragte, ob Jim Anweisungen für den General mitgebracht habe? Jim sagte, er habe gar nichts mitgebracht. Er sei gekommen, um zuzuhören.
Jim sei wohl etwas kribbelig, sagte er. Sie fuhren, und der Magyar sagte sein Stückchen her. Wenn sie zur Jagdhütte kämen, würde kein Licht und kein Lebenszeichen zu sehen sein. Der General würde sich in der Hütte befinden. Sollte irgend etwas, ein Fahrrad, ein Auto, ein Licht, ein Hund, irgendein Zeichen darauf hinweisen, daß die Hütte bewohnt war, so würde der Magyar zuerst hineingehen, und Jim würde im Wagen warten. Andernfalls sollte Jim allein hineingehen, und der Ungar würde draußen warten. War das klar?
Warum gingen sie nicht einfach zusammen hinein? fragte Jim. Weil der General das nicht wünschte, sagte der Ungar. Sie fuhren, nach Jims Uhr, eine halbe Stunde lang, immer nord-ostwärts und mit einem Durchschnittstempo von dreißig Stundenkilometern. Der Weg war kurvenreich und steil und von Bäumen gesäumt. Es schien kein Mond, und er konnte sehr wenig sehen, nur dann und wann hoben weitere Wälder und Hügel sich vor dem Himmel ab. Der Schnee trieb vom Norden her, stellte er fest; diese Beobachtung war später von Nutzen. Der Weg war geräumt, aber von schweren Lastwagen zerpflügt. Sie fuhren ohne Licht. Der Magyar hatte begonnen, eine unanständige Geschichte zu erzählen, und Jim vermutete, daß dies seine Art der Nervosität sei. Der Knoblauchgeruch war furchtbar. Er schien die ganze Zeit Knoblauch zu kauen. Unvermittelt stellte er den Motor ab. Sie fuhren abwärts, aber langsamer. Sie waren noch nicht ganz zum Halten gekommen, als der Magyar die Handbremse anzog, und Jim stieß mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen und packte seinen Revolver. Sie standen an der Abzweigung eines Seitenwegs. Dreißig Meter entfernt stand an diesem Weg eine niedrige Holzhütte. Kein Lebenszeichen war zu bemerken.
Jim wies den Magyaren an, was er tun sollte. Er sollte Jims Pelzmütze und Jims Mantel anziehen und statt seiner zur Hütte gehen. Er sollte langsam gehen, die Hände im Rücken verschränkt, und sich immer in der Mitte des Weges halten. Falls er eine dieser Anweisungen mißachte, werde Jim ihn erschießen. Wenn er bei der Hütte sei, solle er hineingehen und dem General erklären, daß Jim nur eine elementare Vorsichtsmaßnahme getroffen habe. Dann solle er langsam zurückkommen, Jim melden, daß alles in Ordnung sei und daß der General ihn empfangen wolle. Oder nicht, je nachdem.
Der Magyar schien davon nicht begeistert zu sein, aber er hatte keine Wahl. Ehe er ausstieg, ließ Jim den Wagen so drehen, daß die Scheinwerfer den Weg entlang wiesen. Sollte er Geschichten machen, erklärte Jim, so würde er die Scheinwerfer einschalten und in ihrem Licht auf ihn schießen, und zwar nicht einmal, sondern etliche Male, und bestimmt nicht in die Beine. Der Magyar ging los. Er hatte die Hütte fast erreicht, als die ganze Gegend in Flutlicht getaucht wurde: die Hütte, der Weg und ein großes Gebiet rundum. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Jim sah nicht alles, weil er schleunigst den Wagen wendete. Er sah vier Männer hinter den Bäumen hervorstürzen, und soviel er unterscheiden konnte, hatte einer den Magyaren niedergeschlagen. Schüsse fielen, aber keiner der vier achtete darauf, sie traten zurück, während jemand Fotos machte. Die Schüsse schienen in den hellen Himmel hinter dem Flutlicht zu zielen. Es war sehr theatralisch. Leuchtkugeln wurden abgeschossen, Leuchtraketen stiegen hoch, sogar Rauchspurgeschosse, und als Jim im Fiat den Weg entlangraste, hatte er den Eindruck, einer militärischen Galavorstellung auf ihrem Höhepunkt den Rücken zu wenden. Er war fast in Sicherheit - er hatte wirklich das Gefühl, in Sicherheit zu sein -, als plötzlich rechts im Wald aus großer Nähe Maschinengewehrfeuer auf ihn eröffnet wurde. Die erste Garbe schoß ein Hinterrad ab und stürzte den Wagen um. Jim sah das Rad über die Kühlerhaube wegfliegen, als der Wagen in den linken Weggraben rollte. Der Graben war etwa drei Meter tief, aber der Schnee linderte den Fall. Der Wagen fing nicht Feuer, also legte Jim sich dahinter und wartete, spähte über den Weg und hoffte, den Schützen aufs Korn nehmen zu können. Die nächste Salve kam von hinten und schleuderte ihn hoch und gegen den Wagen. In den Wäldern mußte es von Soldaten gewimmelt haben. Er wußte, daß er zweimal getroffen worden war. Beide Schüsse erwischten ihn an der rechten Schulter, und als er dalag und die Vorführung verfolgte, schien es ihm erstaunlich, daß sie ihm nicht den Arm abgerissen hatten. Eine Hupe ertönte, vielleicht auch mehrere. Ein Krankenwagen kam den Weg heruntergerollt, und noch immer fielen genügend Schüsse, um das Wild auf Jahre hinaus zu verscheuchen. Der Krankenwagen erinnerte ihn an die alten Hollywood-Feuerspritzen, er war genauso hochbeinig. Eine ganze Manöverschlacht war im Gang, aber die Jungen von der Ambulanz standen da und starrten ihn völlig ungerührt an. Er war dabei, das Bewußtsein zu verlieren, als er einen zweiten Wagen ankommen hörte, und Männerstimmen, und weitere Fotos wurden geschossen, diesmal vom richtigen Mann. Jemand erteilte Befehle, aber er wußte nicht, wie sie lauteten, sie wurden in russischer Sprache erteilt. Als sie ihn auf die Bahre luden, drehte sich sein einziger Gedanke um die Rückkehr nach London. Er sah sich in der St. James-Wohnung mit den bunten Tabellen und dem Bündel Notizen im Sessel sitzen und Control erklären, wie sie beide auf ihre alten Tage in die größte Gimpelfalle der Firmengeschichte getappt waren. Sein einziger Trost war, daß sie dem Magyaren eins übergezogen hatten, aber rückblickend wünschte er, er hätte ihm das Genick gebrochen; er hätte das ohne Mühe und ohne Reue bewerkstelligen können.
Dramatischer Verlauf und unerwartete Folgen der Operation Testify
Die Beschreibung von Schmerzen war für Jim ein müßiges Unterfangen. Für Smiley hatte dieser Stoizismus etwas Furchterregendes, um so mehr, als er Jim nicht bewußt zu sein schien. Die Lücken in seinem Bericht seien hauptsächlich dort, wo er ohnmächtig geworden war. Die Ambulanz fuhr ihn, soweit er sich erinnern konnte, weiter nach Norden. Er hatte es an den Bäumen abgelesen, als man die Tür für den Arzt öffnete: der Schnee war dick, wenn er zurückblickte. Die Fahrbahn war gut, und er vermutete, daß sie sich auf der Straße nach Hradec befanden. Der Arzt gab ihm eine Spritze, und als er wieder zu sich kam, war er in einem Gefängniskrankenhaus mit vergitterten Fenstern hoch oben in der Wand, und drei Männer bewachten ihn. Dann kam er erst nach der Operation wieder zu sich, in einem anderen Bau ganz ohne Fenster, und er glaubte, das erste Verhör habe wohl hier stattgefunden, ungefähr zweiundsiebzig Stunden, nachdem sie ihn zusammengeflickt hatten, aber die Zeitbestimmung war bereits problematisch geworden, und natürlich hatten sie ihm seine Uhr weggenommen.
Sie fuhren ihn ständig herum. Entweder in andere Räume, je nachdem, was sie mit ihm vorhatten, oder in andere Gefängnisse, je nachdem, wer ihn verhörte. Manchmal sollte die Bewegung ihn einfach wach halten, dann führten sie ihn nachts in Gefängniskorridoren herum. Er wurde auch in Lastwagen befördert und einmal mit einem tschechischen Transportflugzeug, aber er war gefesselt und mit verbundenen Augen in die Maschine gebracht worden und hatte kurz nach dem Start die Besinnung verloren. Das folgende Verhör war sehr lang. Im übrigen konnte er die einzelnen Verhöre kaum auseinanderhalten, und vom Nachdenken wurde es auch nicht besser, eher das Gegenteil. Am deutlichsten war ihm immer noch der Schlachtplan im Gedächtnis, den er sich zurechtgelegt hatte, als er auf das erste Verhör wartete. Er wußte, Schweigen würde unmöglich sein, und er würde, wenn er den Verstand behalten oder einfach überleben wollte, einen Dialog aufrechterhalten müssen, und am Ende würden sie glauben müssen, er hätte ihnen erzählt, was er wußte, alles, was er wußte. Als er im Spital lag, teilte er sein Denken in einzelne Verteidigungslinien ein, hinter die er sich, wenn er Glück hatte, Zug um Zug absetzen könnte, bis er den Eindruck der totalen Niederlage erwecken würde. Seine vorderste und wie er annahm, auch entbehrlichste Linie war das Skelett der Operation Testify. Jeder sollte selber raten, ob Stevcek ein falscher Fuffziger war, oder ob man ihn verraten hatte. Aber was immer der Fall sein mochte, eins war sicher: die Tschechen wußten mehr über Stevcek als Jim. Sein erstes Zugeständnis würde also die Stevcek-Story sein, denn die kannten sie bereits; aber er würde ihnen nichts schenken. Zuerst würde er alles leugnen und bei seiner Tarnung bleiben. Nach einigem Wehren würde er eingestehen, ein britischer Spion zu sein, und seinen Arbeitsnamen Ellis angeben, damit, wenn sie ihn veröffentlichten, der Circus zumindest wüßte, daß er am Leben war und sein Bestes versuchte. Er zweifelte kaum daran, daß die ausgeklügelte Falle und die Fotos einen ganz großen Wirbel versprachen. Danach würde er, entsprechend seinem Übereinkommen mit Control, die Operation als sein Privatunternehmen darstellen, das er im Alleingang und ohne Wissen seiner Vorgesetzten aufgezogen hatte, weil er sich davon eine Beförderung erhoffte. Begraben dagegen würde er, so tief wie sie irgend schürfen konnten und noch tiefer, jeden Gedanken an einen Spion innerhalb des Circus »Kein Maulwurf«, sagte Jim zu den schwarzen Konturen der Quantocks. »Kein Treffen mit Control, keine Wohnung in St. James.«
»Keine Dame, König, As.«
Seine zweite Verteidigungslinie würde Max sein. Zuerst würde er vorbringen, daß er überhaupt keinen Kurier dabeigehabt habe. Dann könnte er sagen, ja, aber er kenne seinen Namen nicht. Dann - denn jeder hört gern Namen - würde er ihnen einen geben: den falschen zuerst, den richtigen danach. Inzwischen müßte Max in Sicherheit sein oder im Untergrund oder geschnappt.
Nun folgte in Jims Phantasie eine Reihe weniger heftig verteidigter Stellungen: Skalpjäger-Operationen der jüngsten Zeit, Circusklatsch, alles, was seine Inquisitoren auf die Idee brächten, sein Widerstand sei gebrochen und er packe jetzt aus, und das sei alles, was er wisse, sie hätten den letzten Schützengraben erobert. Er würde in seinem Gedächtnis nach alten Skalpjäger-Unternehmungen forschen und ihnen notfalls die Namen von ein paar sowjetischen oder den Satellitenstaaten angehörenden Beamten nennen, die in letzter Zeit umgedreht oder verbrannt worden waren; die Namen einiger, die in der Vergangenheit einen einmaligen Verkauf von Informationen tätigten und, da sie nicht übergelaufen waren, jetzt zum Verbrennen oder für eine zweite Lieferung in Frage kämen. Er würde ihnen jeden Knochen vorwerfen, den er ausgraben konnte, ihnen, wenn nötig, den ganzen Brixton-Stall verkaufen. Und das alles würde den Rauchvorhang abgeben, hinter dem Jim sein, wie er glaubte, gefährdetstes Wissen verbergen könnte, denn sie würden bestimmt annehmen, daß er es ihnen verraten könne: die Identität der Mitglieder des tschechischen Teils der Netze Aggravate und Plato. »Landkron, Krieglowa, Bilowa, die Pribyls«, sagte Jim. Warum wählte er für ihre Namen ausgerechnet diese Reihenfolge? fragte sich Smiley.
Jim war schon lange nicht mehr für diese Netze verantwortlich. Vor Jahren, ehe er Brixton übernahm, hatte er geholfen, sie aufzuziehen, er hatte einige der Gründungsmitglieder angeworben; inzwischen hatte sich mit ihnen in Blands und Haydons Händen eine Menge getan, wovon er nichts wußte. Aber er war überzeugt, noch immer genügend zu wissen, um sie beide himmelhochgehen zu lassen. Und am meisten bedrängte ihn die Furcht, daß Control oder Bill oder Percy Alleline oder wer immer zur Zeit das letzte Wort hatte, zu gierig oder zu langsam sein könnte, um die Netze rechtzeitig zu evakuieren, bis Jim unter einem Druck, über dessen Formen er nur Vermutungen anstellen konnte, nichts anderes mehr übrigbleiben würde, als vollständig zusammenzubrechen.
»Und jetzt kommt der Witz«, sagte Jim ohne den leisesten Anflug von Humor. »Die Netze waren ihnen scheißegal. Sie stellten mir ein halbes Dutzend Fragen über Aggravate, dann verloren sie jedes Interesse. Sie wußten verdammt gut, daß Testify nicht meines Geistes Kind war, und sie wußten auch darüber Bescheid, wie Control sich in Wien Stevcek gekauft hatte. Sie fingen genau dort an, wo ich enden wollte: mit dem Treffen in St. James. Sie fragten mich nicht nach einem Kurier, es interessierte sie nicht, wer mich zu der Verabredung mit dem Magyaren gefahren hatte. Sie wollten immer nur über Controls Theorie vom faulen Apfel reden.«
Das eine Wort, dachte Smiley wieder. Es ist vielleicht nur ein einziges Wort. Er sagte: »Kannten sie tatsächlich die St. James-Adresse?«
»Sie kannten die Marke von dem gräßlichen Sherry, Mann.«
»Und die Tabellen?« fragte Smiley rasch. »Die Notenmappe?«
»Nein.« Er fügte hinzu: »Anfangs nicht. Nein.« Umgestülptes Denken, nannte Steed Asprey das immer. Sie wußten das alles, weil der Maulwurf Gerald es ihnen gesagt hat, dachte Smiley. Der Maulwurf wußte, was die Personalabteilung aus dem alten Mac Fadean herausgeholt hatte. Der Circus schreitet zur Leichenöffnung. Karla kommt in den Genuß der Ergebnisse, früh genug, um sie gegen Jim einzusetzen.
»Ich nehme an, spätestens dann ist Ihnen aufgegangen, daß Control recht hatte: es gab einen Maulwurf«, sagte Smiley.
Jim und Smiley lehnten über einem Holzgatter. Vor ihnen fiel der Boden steil ab und ging in eine lange Kurve von Farnkraut und Feldern über. Unter ihnen lag noch ein Dorf, eine Bucht und ein dünner Streifen Meer, in Mondlicht getaucht. »Sie fackelten nicht lange und kamen direkt auf den Kern der Dinge. >Warum versuchte Control einen Alleingang? Was hoffte er zu erreichen?< >Sein Comebacks sagte ich. Sie lachten nur: >Mit wertlosen Informationen über militärische Verschiebungen um Brunn herum ?< Dafür könnte er sich nicht einmal einen schlichten Lunch in seinem Club kaufen. >Vielleicht glitten ihm die Fäden aus der Hand<, sagte ich. Wenn Control die Fäden verlor, meinten sie, wer trampelte ihm dann auf den Fingern herum? >Alleline<, sagte ich, >das war so das Geflüster. Alleline und Control konkurrierten miteinander bei der Beschaffung von Nachrichten. Aber in Brixton bekamen wir nur Gerüchte mit<, sagte ich. >Und was fördert Alleline zutage, was Control nicht tut?< >Weiß ich nicht.< >Aber Sie haben gerade gesagt, daß Alleline und Control bei der Nachrichtenbeschaffung miteinander konkurrierten !< >Das sind Gerüchte. Ich weiß es nicht.< Zurück ins Kühlhaus.«
»Das Zeitgefühl, sagte Jim, sei ihm in diesem Stadium bereits völlig abhanden gekommen. Er lebte entweder im Dunkel der Kapuze oder im weißen Licht der Zellen. Es gab weder Tag noch Nacht, und um es noch unheimlicher zu machen, wurde er fast ständig mit Geräuschen berieselt.
Sie bearbeiteten ihn nach dem Fließbandprinzip, erklärte er: keinen Schlaf, Befragung durch wechselnde Teams, Verwirrung, körperliche Gewaltanwendung, bis das Verhör für ihn zu einem zähen Wettlauf zwischen einem kleinen Dachschaden, wie er es nannte, und dem völligen Zusammenbruch geworden war. Natürlich hoffte er, der Dachschaden würde gewinnen, aber das hatte man nicht in der Hand, denn die anderen wußten allerlei Mittel, das zu verhindern. Eine Menge besorgte elektrischer Strom.«
»Es geht also wieder los. Neuer Kurs. >Stevcek war ein bedeutender General. Wenn er einen ranghöheren britischen Beamten anforderte, so durfte er erwarten, daß dieser Mann über alle Aspekte seiner Laufbahn informiert sein würde. Wollen Sie uns erzählen, Sie hätten sich nicht informiert?< >Ich sage doch, ich bekam meine Informationen von Control. < >Haben Sie Stevceks Akte im Circus gelesen?< >Nein. < >Hat Control sie gelesen?< >Das weiß ich nicht.< >Welche Schlüsse zog Control aus Stevceks zweiter Berufung nach Moskau? Hat Control mit Ihnen über Stevceks Rolle im Verbindungsausschuß zum Warschauer Pakt gesprochen?< >Nein.< Sie beharrten auf dieser Frage, und ich muß wohl auf meiner Antwort beharrt haben, denn nachdem ich noch ein paarmal >Nein< gesagt hatte, wurden sie ein bißchen ungehalten. Sie schienen die Geduld zu verlieren. Als ich ohnmächtig wurde, spritzten sie mich mit dem Schlauch ab und probierten's noch mal.«
Ortswechsel, sagte Jim. Sein Bericht war seltsam sprunghaft geworden. Zellen, Korridore, Auto . . . Am Flugplatz VIP-Abfertigung und eine Tracht Prügel vor dem Einstieg. Während des Fluges verlor er das Bewußtsein und erhielt seine Strafe dafür. »Bin wieder mal in einer Zelle zu mir gekommen, einer kleineren, ohne Tünche an den Wänden. Manchmal habe ich geglaubt, in Rußland zu sein; nach den Sternen hatte ich errechnet, daß wir nach Osten geflogen waren. Aber manchmal war ich wieder in Sarratt beim Abhärtungs-Training.«
Ein paar Tage lang ließen sie ihn in Ruhe. Sein Kopf war sehr wirr. Immer wieder hörte er die Schießerei im Wald, sah die Militärparade vor sich, und als schließlich die große Sitzung begann, die Marathonsitzung, trat er mit dem Handikap an, daß er sich bereits halb besiegt fühlte.
»Unter anderem einfach Frage der Gesundheit«, erklärte er nun sehr angespannt.
»Wir können eine Pause einlegen, wenn Sie wollen«, sagte Smiley. Aber dort, wo Jim war, gab es keine Pausen, und was er wollte, zählte nicht.
Dieses Verhör ging endlos, sagte Jim. Einmal erzählte er ihnen von Controls Notizen und seinen Tabellen und den farbigen Tinten und Buntstiften. Sie setzten ihm zu wie die Teufel, und er erinnerte sich an eine ausschließlich männliche Zuhörerschaft, die von der anderen Seite des Raums herüberlinste wie lauter verdammte Mediziner und miteinander tuschelte, und er berichtete von den Buntstiften nur, um das Gespräch in Gang zu halten und damit sie mit Fragen aufhörten. Sie hörten zu, aber sie hörten nicht auf.
»Sobald sie von den Farben wußten, wollten sie wissen, was die Farben bedeuteten. >Was bedeutete blau?< >Control benutzte kein Blau.< >Was bedeutete rot? Nennen Sie ein Beispiel für Rot auf der Tabelle. Was bedeutet rot? Was bedeutete rot?< Dann gehen alle hinaus, bis auf ein paar Wachen und einen kleinen, frostigen Burschen, stocksteif, schien der Chef zu sein. Die Wachen führen mich an einen Tisch, und der Kleine setzt sich neben mich wie so ein Zwerg, mit gefalteten Händen. Vor ihm liegen zwei Stifte, rot und grün, eine Tabelle von Stevceks Laufbahn.« Jim war nicht eigentlich zusammengebrochen, seine Phantasie war einfach erschöpft. Er konnte sich keine neuen Geschichten mehr ausdenken. Die Wahrheiten, die er so tief drinnen verschlossen hatte, waren das einzige, das sich noch anbot. »Und da haben Sie ihm von dem faulen Apfel erzählt«, sagte Smiley. »Und von Dame, König, As.«
Ja, gab Jim zu, das habe er getan. Er erzählte ihm, daß Control glaube, Stevcek könne einen Maulwurf innerhalb des Circus identifizieren. Er erzählte ihm von dem Dame-König-Code, und wer jeder einzelne war, Namen für Namen. »Und wie reagierte er?«
»Dachte ein Weilchen nach, dann bot er mir eine Zigarette an. Hat scheußlich geschmeckt.«
»Warum?«
»Amerikanischer Tabak. Camel, eine von der Sorte.«
»Hat er selber auch eine geraucht?« Jim nickte kurz. »Der reinste Schlot«, sagte er. Danach, sagte Jim, sei die Zeit von neuem in Fluß gekommen. Er wurde in ein Lager gebracht, vermutlich in der Umgebung einer Stadt, und lebte dort in einem Hüttenkomplex mit doppelter Stacheldrahtumzäunung. Mit Hilfe eines Wärters konnte er bald allein gehen; einmal machten sie sogar einen Spaziergang im Wald. Das Lager war sehr groß: seine eigene Hüttenanlage war nur ein Teil des Ganzen. Nachts konnte er im Osten den Lichtschimmer einer Stadt sehen. Die Wachen trugen Drillichanzüge und redeten nichts, also konnte er auch daran nicht feststellen, ob er in der Tschechoslowakei oder in Rußland war, aber er setzte entschieden auf Rußland, und der Arzt, der nach einiger Zeit erschien, um sich Jims Rücken anzusehen, benutzte einen russisch-englischen Dolmetscher, um seiner Verachtung für das Werk des Vorgängers Ausdruck zu verleihen. Die Befragung wurde weiterhin in Abständen durchgeführt, aber ohne Feindseligkeit. Sie setzten ein neues Team auf ihn an, aber verglichen mit den ersten elf war es ein Kaffeekränzchen. Eines Nachts wurde er zu einem Militärflugzeug gebracht und mit einem Kampfflugzeug der RAF nach Inverness transportiert. Von dort ging es mit einer kleinen Maschine nach Elstree, dann mit dem Lieferwagen nach Sarratt, beide Male über Nacht. Jim kam jetzt rasch zum Ende. Er hatte sogar schon mit seinen Erlebnissen in der Nursery angefangen, als Smiley die Frage einwarf:
»Und der Chef, der kleine Frostige: den haben Sie nie wiedergesehen?«
Einmal, bejahte Jim; kurz ehe er das Lager verließ. »Was wollte er?«
»Klatschen.« Und dann lauter: »Eine Menge blödes Geschwätz über Leute aus dem Circus, genau gesagt.«
»Über welche Leute?«
Jim wich der Frage aus. Geschwätz darüber, wer im Kommen war und wer auf dem absteigenden Ast. Wer der nächste Anwärter für die Leitung sei: »Wie soll ich das wissen?« sagte ich. »Wissen die verdammten Personalleute längst vor Brixton.«
»Und wer genau wurde bei diesem Geschwätz genannt?« Hauptsächlich Roy Bland, erwiderte Jim mürrisch. Wie vereinbarte Bland seinen Linksdrall mit seiner Arbeit im Circus? Er hat keinen, ganz einfach, sagte Jim. Wie stand Bland mit Esterhase und Alleline? Was hielt Bland von Bill Haydons Malkunst? Dann, wieviel Roy trank und was aus ihm würde, wenn Bill ihm jemals seine Hilfe entzöge? Jim gab dürftige Antworten auf diese Fragen.
»Wurde sonst noch jemand erwähnt?«
»Esterhase«, knurrte Jim ebenso barsch. »Der Scheißkerl wollte wissen, wie man jemals einem Ungarn trauen könnte.«
Nach Smileys nächster Frage schien es, sogar ihm selber, als senkte sich absolute Stille über das ganze schwarze Tal.
»Und was hat er über mich gesagt?« Er wiederholte: »Was hat er über mich gesagt?«
»Zeigte mir ein Feuerzeug. Sagte, es gehöre Ihnen. Geschenk von Ann. >Für George in Liebe von Ann<. Eingraviert.«
»Hat er gesagt, wie er zu dem Feuerzeug gekommen ist? Was hat er gesagt, Jim? Los, ich werde nicht zu heulen anfangen, bloß weil ein russischer Bauernlümmel einen schlechten Witz über mich gemacht hat.«
Jims Antwort hörte sich an wie ein militärischer Befehl. »Er könne sich vorstellen, daß sie nach ihrem Seitensprung mit Bill Haydon die Widmung ändern möchte.« Er wirbelte zum Wagen herum. »Ich hab' ihm gesagt«, brüllte er wütend, »hab's ihm in seine verschrumpelte Visage gesagt. Sie können Bill nicht nach so was beurteilen. Künstler haben völlig andere Maßstäbe. Sehen Dinge, die wir nicht sehen. Fühlen Dinge, die uns nicht zugänglich sind. Der kleine Scheißkerl lacht nur. >Wußte nicht, daß seine Bilder so gut sind<, sagte er. Ich sage zu ihm, George: >Gehn Sie zum Teufel. Gehn Sie verdammt noch mal zum Teufel. Wenn ihr in euerem verdammten Laden einen einzigen Bill Haydon hättet, dann hättet ihr das Spiel längst gewonnen.< Ich sagte zu ihm: > Herrgott noch mal<, sagte ich, >was ist das hier eigentlich, ein Geheimdienst oder die Heilsarmee ?<«
»Sehr gut gesagt«, bemerkte Smiley endlich, als kommentierte er eine weit zurückliegende Debatte. »Und Sie hatten ihn vorher noch nie gesehen?«
»Wen?«
»Den kleinen frostigen Burschen. Er kam Ihnen nicht bekannt vor - von sehr viel früher zum Beispiel? Sie wissen doch, wie wir sind. Wir sind entsprechend ausgebildet, wir sehen eine Menge Gesichter, Fotos von Leuten aus der Moskauer Zentrale, und manchmal bleiben sie haften. Auch wenn wir ihnen keinen Namen mehr geben können. Das war hier also nicht der Fall. Hab' mich nur gefragt. Weil Sie soviel Zeit zum Nachdenken hatten«, fuhr er im Gesprächston fort. »Sie lagen da und warteten auf ihre Genesung, auf Ihren Heimtransport, und womit konnten Sie sich die Zeit vertreiben, wenn nicht mit Nachdenken?« - er wartete -»Worüber haben Sie also nachgedacht, sagen Sie? Über den Auftrag. Über Ihren Auftrag, würde ich sagen.«
»Manchmal.«
»Und mit welchem Erfolg? Irgend etwas Nützliches? Irgendeinen ausgefallenen Verdacht, eine Erleuchtung, ein Hinweis, mit dem ich etwas anfangen könnte?«
»Rutschen Sie mir den Buckel runter«, herrschte Jim ihn an. »Sie kennen mich, George Smiley, ich bin kein Juju-Mann, ich bin ein...«
»Sie sind ein einfacher Außenagent, der das Denken den anderen überläßt. Trotzdem: Wenn man weiß, daß man in eine überdimensionale Falle geschickt wurde, verraten, in den Rücken geschossen, und monatelang nichts zu tun hat, als auf einer Pritsche zu liegen oder zu sitzen oder in einer russischen Zelle hin- und herzugehen, dann würde ich meinen, daß selbst der eingefleischteste Mann der Tat« — seine Stimme hatte nichts von ihrer Freundlichkeit verloren — »anfangen würde, zu überlegen, wie er in einer solchen Patsche landen konnte. Nehmen wir uns doch kurz mal Operation Testify vor«, forderte Smiley die regungslose Gestalt vor ihm auf. »Testify beendete Controls Karriere. Er fiel in Ungnade, und er konnte seinen Maulwurf nicht weiter verfolgen, falls es einen gegeben hat. Der Circus ging in andere Hände über. Und Control starb zur rechten Zeit. Testify bewirkte noch etwas anderes. Die Russen erfuhren dadurch - genau gesagt, durch Sie - die ganze Reichweite von Controls Verdacht. Daß er den Kreis auf fünf Personen eingeengt hatte, aber offenbar nicht weiter. Ich unterstelle nicht, daß Sie sich das alles ganz allein in Ihrer Zelle während der Wartezeit hätten zusammenreimen können. Schließlich hatten Sie in Ihrem Bau keine Ahnung, daß Control kaltgestellt worden war - obwohl Sie auf den Gedanken hätten kommen können, daß die Russen von diesem Scheingefecht im Wald nur deshalb soviel hermachten, um eine Reaktion zu provozieren. Sind Sie darauf gekommen?«
»Sie haben die Netze vergessen«, sagte Jim finster. »Ach, die Tschechen hatten die Netze längst vor Ihrem Auftritt aufs Korn genommen. Sie haben Sie nur aufgerollt, um Controls Versagen hervorzuheben.«
Der beiläufige, fast plaudernde Ton, in dem Smiley diese Theorien vorbrachte, fand in Jim kein Echo. Smiley wartete noch eine Weile vergebens, daß er freiwillig sprechen würde, dann ließ er das Thema fallen. »Kommen wir doch mal auf Ihren Empfang in Sarratt, ja? Um das Ganze abzurunden?«
In einem für ihn seltenen Augenblick der Vergeßlichkeit bediente er sich erst aus der Wodka-Flasche, bevor er sie Jim weiterreichte.
Nach seiner Stimme zu urteilen, hatte Jim jetzt genug. Er sprach rasch und zornig, militärisch schnarrend - seine Zuflucht vor intellektuellen Streifzügen.
Vier Tage lang war Sarratt die Zwischenstation gewesen: »Viel gegessen, viel getrunken, viel geschlafen. Um den Kricketplatz spaziert.« Er wäre auch geschwommen, aber der Swimming-pool wurde zur Zeit ausgebessert, wie schon vor einem halben Jahr: ein Saustall. Er wurde ärztlich untersucht, saß in seiner Hütte vor dem Fernsehapparat und spielte Schach mit Cranko, der das Pförtneramt versah.
Die ganze Zeit wartete er auf Control, der jedoch nicht auftauchte. Der erste, der ihn aus dem Circus besuchte, war der Rückführungsberater, der von einer hilfsbereiten Agentur für Lehrpersonen sprach, danach kam ein Scheich von der Zahlstelle, um mit ihm seinen Pensionsanspruch zu erörtern, dann nochmals ein Arzt, der ihn für ein Schmerzensgeld einstufte. Jim wartete, daß die Inquisitoren erscheinen würden, aber sie blieben aus, zu seiner Erleichterung, denn er hätte nicht gewußt, was er ihnen hätte sagen sollen, solange er von Control kein grünes Licht hatte, und außerdem hingen Fragen ihm nachgerade zum Hals heraus. Er vermutete, daß Control sie fernhielt. Es schien blödsinnig, daß er den Inquisitoren verschweigen sollte, was er bereits den Russen und den Tschechen erzählt hatte, aber was sollte er tun, solange er von Control nichts hörte? Als Control weiterhin schwieg, überlegte er, ob er nicht bei Lacon vorsprechen und ihm seine Geschichte erzählen solle. Dann kam er zu dem Schluß, daß Control wartete, bis die Nursery ihn freigab, ehe er sich mit ihm in Verbindung setzte. Ein paar Tage lang hatte er einen Rückfall, und als er vorbei war, erschien Toby Esterhase in einem neuen Anzug, scheinbar nur, um ihm die Hand zu schütteln und viel Glück zu wünschen. Aber in Wahrheit, um ihm zu sagen, wie die Dinge standen. »Verdammt komisch, ausgerechnet diesen Vogel herzuschicken, aber er schien die Treppe hinaufgefallen zu sein. Dann fiel mir ein, daß Control einmal gesagt hatte, man solle nur Leute von draußen verwenden.«
Esterhase berichtete ihm, daß der Circus durch Testify an den Rand des Untergangs geraten und daß Jim zur Zeit im Circus der Aussätzige Nr. 1 sei. Control sei nicht mehr im Spiel, und alles werde neu organisiert, um Whitehall zu besänftigen. »Dann sagte er, ich solle mir keine Sorgen machen«, sagte Jim. »Worüber keine Sorgen machen?«
»Über meine Sonderinstruktion. Er sagte, ein paar Leute kennen die wahre Geschichte und ich hätte keinen Grund, mir Sorgen zu machen, alles Nötige werde getan. Alle Tatsachen seien bekannt. Dann gab er mir tausend Pfund in bar, als Extrazulage zu meinem Schmerzensgeld.«
»Von wem?«
»Hat er nicht gesagt.«
»Hat er Controls Theorie über Stevcek erwähnt? Den Spion der Moskauer Zentrale innerhalb des Circus?«
»Die Tatsachen waren bekannt«, wiederholte Jim mit starrem Blick. »Er befahl mir, mit keinem Menschen Kontakt aufzunehmen und nicht zu versuchen, meine Geschichte zu Gehör zu bringen, denn es werde auf höchster Ebene alles Nötige unternommen, und alles, was ich tun würde, könne den entscheidenden Schlag vermasseln. Der Circus sei wieder im Lot. Ich könne Bube, Dame und das ganze verdammte Spiel vergessen: Maulwürfe, alles. >Mach Schluß<, sagte er. >Du bist ein Glückspilz, Jim<, sagte er immer wieder. >Du bist zum Lotos-Esser ausersehen.< Ich könne das Ganze vergessen, Ja? Vergessen. Einfach so tun, als wäre es nie passiert.« Er brüllte jetzt. »Und das hab' ich die ganze Zeit getan: Melde gehorsamst, alles vergessen!«
Die nächtliche Landschaft wirkte plötzlich wie unberührt; wie eine große Leinwand, auf die niemals etwas Böses oder Grausames gemalt worden war. Seite an Seite starrten sie über die Lichtbüschel hinweg ins Tal zu einer Felskuppe, die vor dem Horizont aufragte. Auf der Spitze stand ein einsamer Turm, und einen Augenblick lang bezeichnete er für Smiley das Ende der Reise. »Ja«, sagte er. »Ich habe mich auch ein bißchen mit Vergessen beschäftigt. Toby hat also tatsächlich Ihnen gegenüber Dame, Bube erwähnt. Wie ist er nur an diese Geschichte herangekommen, wenn nicht. . . Und von Bill keine Silbe?« fuhr er fort. »Nicht einmal eine Postkarte?«
»Bill war im Ausland«, sagte Jim kurz. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Toby.«
»Sie haben Bill also kein einziges Mal gesehen: seit Testify, Ihren besten Freund: Er ist verschwunden.«
»Sie haben doch gehört, was Toby sagte. Ich war tabu. Quarantäne.«
»Bill hat nie besonders viel für Vorschriften übrig gehabt, oder?«
sagte Smiley, wie in Erinnerung versunken.
»Und Sie haben nie besonders viel für Bill übrig gehabt«, bellte Jim.
»Tut mir leid, daß ich nicht da war, als Sie mich vor Ihrer Abreise in die Tschechoslowakei aufsuchten«, bemerkte Smiley nach einer kleinen Pause. »Control hatte mich nach Deutschland geschickt, damit ich ihm aus den Augen wäre, und als ich wiederkam - was hatten Sie eigentlich genau gewollt?«
»Nichts. Dachte, die Tschechoslowakei könnte ein bißchen haarig werden. Dachte, ich könnte vorbeischauen, mich verabschieden.«
»Vor einem Auftrag?« rief Smiley in gelinder Verwunderung. »Vor einem so ganz besonderen Auftrag?« Jim ließ durch nichts erkennen, daß er es gehört hatte. »Haben Sie sich von anderen auch verabschiedet? Wir waren wohl alle auswärts. Toby, Roy, Bill, haben Sie sich von Ihnen verabschiedet?«
»Von keinem.«
»Bill hatte Urlaub, nicht wahr? Aber er dürfte wohl trotzdem in der Nähe gewesen sein.«
»Von keinem«, beharrte Jim, als ein furchtbarer Schmerzanfall ihn zwang, die linke Schulter hochzuziehen und den Kopf abzuwenden. »Alle auswärts«, sagte er.
»Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Jim«, sagte Smiley im gleichen milden Ton, »daß Sie herumgehen und allen Leuten Pfötchen geben, ehe Sie einen wichtigen Auftrag ausführen. Es scheint, Sie werden sentimental auf Ihre alten Tage. Sie wollten . . .« er zögerte. »Sie wollten nicht einen Rat oder dergleichen, wie? Schließlich hielten Sie den Auftrag doch für eine Schnapsidee, nicht wahr? Und fanden, daß Control die Dinge nicht mehr recht im Griff hatte. Vielleicht glaubten Sie, Sie sollten eine dritte Person zuziehen? Denn ich gebe zu, das Ganze wirkte ziemlich verrückt.«
Die Fakten kennenlernen, sagte Steed Asprey immer, dann Geschichten probieren wie Kleider.
Jim verschanzte sich hinter wütendem Schweigen, und sie gingen zurück zum Wagen.
Im Motel zog Smiley zwanzig postkartengroße Fotos aus den Tiefen seines Überziehers und legte sie in zwei Reihen auf dem Keramiktisch aus. Einige waren Schnappschüsse, einige Porträtfotos; alle zeigten Männer, und keiner von ihnen sah wie ein Engländer aus. Jim verzog das Gesicht, fischte zwei davon heraus und gab sie Smiley. Beim ersten sei er ganz sicher, brummte er, beim zweiten weniger. Der erste war der Chef, der frostige Zwerg. Der zweite eins der Schweine, die im Schatten standen und zusahen, wie die Schläger Jim auseinandernahmen. Smiley steckte die Fotos wieder in die Tasche. Als er die Gläser zum Schlummertrunk füllte, hätte ein weniger gequälter Beobachter als Jim an ihm vielleicht eher eine Spur von Feierlichkeit als von Triumph bemerkt; als besiegelte dieses letzte Glas irgend etwas. »Also, wann haben Sie nun Bill zum letzenmal gesehen? Mit ihm gesprochen«, fragte Smiley, wie man sich eben nach einem alten Freund erkundigt. Er hatte Jim offenbar aus anderen Gedanken aufgescheucht, denn es dauerte eine Weile, ehe er den Kopf hob und die Frage begriff.
»Ach, immer mal wieder«, sagte er leichthin. »Bestimmt öfter in den Korridoren mit ihm zusammengestoßen.«
»Und gesprochen? Ach, ist ja egal.« Denn Jim hatte sich wieder seinen eigenen Gedanken zugewandt.
Jim wollte nicht den ganzen Weg bis zur Schule gefahren werden. Smiley mußte ihn am Anfang des geteerten Weges absetzen, der durch den Friedhof zur Kirche führte. Er habe ein paar Hefte in der Kapelle liegenlassen, sagte er. Im Augenblick war Smiley eher geneigt, ihm nicht zu glauben, weshalb, begriff er selber nicht. Vielleicht weil er zu der Meinung gelangt war, daß Jim - trotz dreißig Jahren im Geschäft - immer noch ein ziemlich schlechter Lügner war. Das letzte, was Smiley von ihm sah, war der seitenlastige Schatten, der auf das normannische Portal zustrebte, während seine Absätze wie Gewehrschüsse zwischen den Grabsteinen knallten.
Smiley fuhr nach Taunton und tätigte vom Schloßhotel aus eine Reihe von Telefonanrufen. Trotz seiner Erschöpfung schlief er nur mit Unterbrechungen, in seinen Träumen sah er Karla mit zwei Farbstiften an Jims Tisch sitzen, und Professor Poljakow, alias Viktorow, der, gedrängt von der Sorge um die Sicherheit seines Maulwurfs Gerald, ungeduldig darauf wartete, daß Jim in der Verhörzelle zusammenbräche: Zuletzt sah er noch Toby Esterhase, der an Stelle des abwesenden Haydon nach Sarratt gehoppelt kam und Jim jovial den Rat gab, er solle die ganze Geschichte um Bube, Dame und ihren toten Erfinder, Control, vergessen.
In der gleichen Nacht fuhr Peter Guillam nach Westen, quer durch England nach Liverpool, mit Ricki Tarr als einzigem Fahrgast. Es war eine langweilige Tour unter gräßlichen Bedingungen. Die meiste Zeit prahlte Tarr mit den Summen, die er als Belohnung fordern würde, und der Beförderung, die fällig würde, sobald er seinen Auftrag ausgeführt hätte. Dann kam er auf seine Frauen zu sprechen: Danny, ihre Mutter, Irina. Er schien ein menage á quatre im Auge zu haben, wobei die beiden Frauen gemeinsam für Danny sorgen sollten: »Irina hat viel Mütterlichkeit. Das frustriert sie natürlich.« Boris, sagte er, könne ihnen gestohlen werden, er werde Karla sagen, daß er ihn behalten solle. Als sie sich ihrem Ziel näherten, schlug seine Stimmung erneut um, und er verfiel in Schweigen. Die Morgendämmerung war kalt und nebelig. In den Vororten konnten sie nur noch dahinkriechen und wurden von Radfahrern überholt. Gestank nach Ruß und Stahl erfüllte den Wagen.
»Und halten Sie sich auch in Dublin nicht auf«, sagte Guillam plötzlich. »Es wird erwartet, daß Sie sich klammheimlich davonmachen, also ziehen Sie den Kopf ein. Nehmen Sie die erste ausfliegende Maschine.«
»Das haben wir alles bereits durchgekaut.«
»Dann kaue ich es eben nochmals durch«, gab Guillam zurück. »Wie lautet Mackelvores Arbeitsname?«
»Himmel, Zwirn und zugenäht«, schnaufte Tarr und nannte den Namen.
Es war noch dunkel, als die Fähre nach Irland ablegte. Überall wimmelte es von Soldaten und Polizei: dieser Krieg, der letzte, der vorletzte. Ein heftiger Wind blies vom Meer her, und die Überfahrt würde vermutlich bewegt werden. Für kurze Zeit wurde das Grüppchen an Land vom Gefühl der Zusammengehörigkeit erfaßt, als die Lichter des Schiffs rasch ins Dunkel davontanzten. Irgendwo weinte eine Frau, irgendwo feierte ein Betrunkener seine Freilassung.
Er fuhr langsam zurück und versuchte, über sich selber Klarheit zu gewinnen: über den neuen Guillam, der bei unvermittelten Geräuschen hochfährt, Alpträume hat und nicht nur sein Mädchen nicht halten kann, sondern sich auch noch idiotische Gründe ausdenkt, um ihr zu mißtrauen. Er hatte Camilla wegen Sand zur Rede gestellt, wegen ihrer Stunden und ihrer Geheimnistuerei im allgemeinen. Nachdem sie ihm mit ihren ernsten braunen Augen zugehört hatte, sagte sie, er sei ein Narr, und ging. »Ich bin das, wofür du mich hältst«, sagte sie und holte ihre Sachen aus dem Schlafzimmer. Von seiner leeren Wohnung aus rief er Toby Esterhase an und lud ihn für den nächsten Tag zu einem freundschaftlichen Schwatz ein.
Ein Französisch-Lehrer bleibt unerlaubt dem Unterricht fern
Smiley saß im Rolls-Royce des Ministers, Lacon neben ihm. In Anns Familie wurde der Wagen als die schwarze Bettpfanne bezeichnet und wegen seiner Auffälligkeit verabscheut. Der Chauffeur war zum Frühstücken weggeschickt worden. Der Minister saß vorn, und alle drei blickten geradeaus die gestreckte Kühlerhaube entlang und sahen über den Fluß auf die vernebelten Türme des Battersea-Kraftwerks. Das Haar des Ministers war im Nacken voll und um die Ohren in kleine schwarze Hörner gelegt.
»Wenn Sie recht haben«, erklärte der Minister nach langem düsteren Schweigen, »ich sage nicht, daß Sie unrecht haben, aber wenn Sie recht haben, wieviel Porzellan wird er dann bis zum Ende des heutigen Tages zerschlagen haben?« Smiley begriff nicht ganz.
»Ich spreche von dem Skandal. Gerald geht nach Moskau. Schön, und was passiert dann? Steigt er auf eine Seifenkiste und macht sich öffentlich lustig über alle die Leute, die er hier zum Narren gehalten hat? Ich meine, Herrgott, wir sitzen alle in diesem Boot, nicht wahr? Ich sehe nicht ein, warum wir ihn laufen lassen sollen, damit er uns das Dach über dem Kopfe einreißen kann und die Konkurrenz sich totlacht.«
Er probierte eine andere Tour. »Ich meine, nur weil die Russen unsere Geheimnisse kennen, muß nicht unbedingt die ganze Welt sie erfahren. Wir haben außer ihnen noch einiges mehr zu berücksichtigen, nicht wahr? Zum Beispiel die Schwarze Welt: sollen sie alle es innerhalb einer Woche in den Wallah-Wallah-Nachrichten lesen?«
Oder zum Beispiel seine Wählerschaft, dachte Smiley. »Ich glaube, das ist etwas, wofür die Russen Verständnis haben«, sagte Lacon. »Schließlich, wenn man seinen Gegner als einen Narren hinstellt, verliert der Kampf seine Berechtigung.« Er fügte hinzu: »Bisher haben sie von ihren Möglichkeiten noch nie Gebrauch gemacht, nicht wahr?«
»Dann sorgen Sie dafür, daß es auch in Zukunft so bleibt. Lassen Sie es sich schriftlich geben. Nein, lieber nicht. Aber sagen Sie ihnen, was dem einen recht ist, muß dem ändern billig sein. Wir bringen die Moskauer Zentrale auch nicht öffentlich in Verschiß, also können sie sich verdammt noch mal ausnahmsweise an die Spielregeln halten.«
Das Angebot, ihn nach Hause zu fahren, lehnte Smiley mit der Erklärung ab, der Spaziergang werde ihm guttun. Es war Thursgoods Aufsichtstag, und er empfand es als eine Zumutung. Schuldirektoren sollten seiner Meinung nach über den niedrigen Pflichten stehen und ihren Geist für die Anforderungen der Organisation und Leitung freihalten. Daß er seine Cambridge-Robe zur Schau stellen konnte, tröstete ihn nicht, und als er im Turnsaal stand und zusah, wie die Jungen in Reihen hereinkamen und zum Morgenappell Aufstellung nahmen, ruhte sein Auge finster, wenn nicht sogar feindselig auf ihnen. Aber erst Marjoribanks versetzte ihm den Todesstoß: »Er sagt, es sei wegen seiner Mutter«, flüsterte er dumpf in Thursgoods linkes Ohr. »Er habe ein Telegramm bekommen, daß er sofort abreisen müsse. Wollte nicht mal mehr eine Tasse Tee trinken. Ich habe versprochen, es Ihnen zu bestellen.«
»Das ist ungeheuerlich, absolut ungeheuerlich«, sagte Thursgood.
»Ich übernehme sein Französisch, wenn Sie wollen. Wir können die Klassen V und VI zusammenlegen.«
»Ich bin außer mir«, sagte Thursgood. »Ich kann nicht nachdenken, ich bin völlig außer mir.«
»Und Irving sagt, er übernimmt das Rugby-Finale.«
»Berichte zu schreiben, Prüfungen, Rugby-Finale zu spielen. Was soll denn mit der Frau los sein? Wahrscheinlich einfach die Grippe, wie üblich um diese Jahreszeit. Wir haben sie alle und unsere Mütter auch. Wo lebt sie?«
»Nach dem, was er zu Sue gesagt hat, liegt sie schon im Sterben.«
»Immerhin eine Ausrede, die er kein zweites Mal verwenden kann«, sagte Thursgood ungerührt, dann brachte er durch ein scharfes Bellen die Jungens zur Ruhe und verlas die Anwesenheitsliste. »Roach?«
»Krank, Sir.«
Genau das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Der reichste Junge an der Schule hatte einen Nervenzusammenbruch wegen seiner nichtswürdigen Eltern, und der Vater drohte, ihn wegzuholen.
Toby Esterhase demonstriert die Kunst, gleichzeitig vor- und zurückzugehen, und Smiley macht sich Sorgen über Schatten auf seinen Wegen
Es war am gleichen Tag um vier Uhr nachmittags. >Sichere Häuser, die ich kannte<, dachte Guillam und sah sich in der düsteren Wohnung um. Er hätte über sie schreiben können, wie ein Handlungsreisender über Hotels schreiben könnte: von Fünfsterne-Spiegelhallen im Belgravia mit Wedgwood-Pilastern und vergoldeten Eichenblättern bis zu diesem Zweizimmerschuppen der Skalpjäger in Lexham Gardens, der nach Staub und Abflüssen roch und einen ein Meter hohen Feuerlöscher in der pechdunklen Halle hatte. Über dem Kamin tranken Kavaliere aus Zinnkrügen. Auf den gedrängten Tischen Muscheln als Aschenbecher, und in der grauen Küche anonyme Anweisungen »Unbedingt beide Gashähne schließen«. Er ging durch die Diele, als die Türglocke anschlug, auf die Sekunde pünktlich. Er nahm das Haustelefon ab und hörte Tobys verzerrte Stimme in die Hörmuschel krächzen. Er drückte auf den Türöffner und hörte das Klicken des Schlosses im Treppenhaus widerhallen. Er öffnete die Vordertür, ließ jedoch die Kette eingehakt, bis er sich überzeugt hatte, daß Toby allein war.
»Na, wie geht's uns?« sagte Guillam fröhlich und ließ ihn ein. »Ausgezeichnet, Peter«, sagte Toby und zog Mantel und Handschuhe aus.
Auf einem Tablett standen Tee und zwei Tassen. Guillam hatte alles vorbereitet. >Sichere Häuser< haben eine ganz bestimmte Aufmachung. Man gibt entweder vor, hier zu wohnen oder überall zu Hause zu sein; oder einfach an alles zu denken. In unserem Metier ist Natürlichkeit eine Kunst, dachte Guillam. Das war etwas, das Camilla nicht zu schätzen wußte. »Wirklich höchst sonderbares Wetter«, verkündete er, als hätte er eine meteorologische Studie angestellt. Sehr viel geistreichere Konversation wurde in >sicheren Häusern< nie betrieben. »Man geht ein paar Schritte und ist völlig erschöpft. Wir erwarten also einen Polen?« sagte er und setzte sich. »Einen Polen im Pelzhandel, von dem sie glauben, er könne für uns Kurierdienste leisten?«
»Muß jeden Moment kommen.«
»Kennen wir ihn? Ich habe von meinen Leuten unter seinem Namen nachsehen lassen, aber sie fanden keine Spur.«
»Die freien Polen haben ihn vor ein paar Monaten angelaufen, und er hat sofort das Weite gesucht. Dann hat Karl Stock ihn bei den Lagerhäusern aufgestöbert und gedacht, er könne den Skalpjägern nützlich sein.« Er zuckte die Achseln. »Mir hat er gefallen, aber was soll's? Wir haben nicht mal genug Arbeit für unsere eigenen Leute.«
»Peter, Sie sind sehr großzügig«, sagte Esterhase ehrerbietig, und Guillam hatte das lächerliche Gefühl, ihm ein Trinkgeld gegeben zu haben. Da klingelte es zu seiner Erleichterung an der Tür, und Fawn bezog seinen Posten am Eingang. »Tut mir leid, Toby«, sagte Smiley, von der Treppe ein wenig außer Atem. »Peter, wo soll ich meinen Mantel aufhängen?« Guillam drehte Toby um, hob ihm die Hände und legte sie flach an die Wand, dann durchsuchte er ihn nach einer Waffe, wobei er sich reichlich Zeit ließ. Toby hatte keine Waffe. »Ist er allein gekommen?« fragte Guillam. »Oder wartet ein lieber Freund auf der Straße?«
»Ich glaube, die Luft ist rein«, sagte Fawn.
Smiley stand am Fenster und blickte auf die Straße hinunter. »Würden Sie bitte kurz das Licht löschen?« bat er. »Warten Sie in der Diele«, befahl Guillam, und Fawn zog sich zurück; Smileys Mantel nahm er mit. »Was gesehen?« fragte Guillam und stellte sich neben Smiley ans Fenster. Der Londoner Nachmittag hatte bereits die verschleierten Rosa- und Gelbtöne des Abends angenommen. Der Platz war ein typisch victorianisches Wohnviertel. In der Mitte ein umzäunter Garten, der schon dunkel war. »Vermutlich nur ein Schatten«, sagte Smiley mit einem Knurren und wandte sich wieder Esterhase zu. Die Kaminuhr klimperte vier Schläge. Fawn mußte sie aufgezogen haben.
»Ich möchte Ihnen gern eine These vortragen, Toby. Eine Theorie über das, was zur Zeit vorgeht. Darf ich?« Esterhase zuckte nicht mit der Wimper. Die kleinen Hände ruhten auf den hölzernen Armlehnen seines Sessels. Er saß ganz bequem da, aber die Spitzen und Fersen seiner glänzend geputzten Schuhe waren wie in Habacht-Stellung geschlossen.
»Sie müssen überhaupt nicht sprechen. Zuhören ist doch kein Risiko, wie?«
»Möglich.«
»Gehen wir achtzehn Monate zurück. Percy Alleline möchte Controls Job, hat aber im Circus keinen guten Stand. Dafür hat Control gesorgt. Control ist krank und über die erste Blüte hinaus, aber Percy kann ihn nicht ausbooten. Erinnern Sie sich, wie es war?«
Esterhase nickte kurz.
»Wie es so ist in der toten Saison«, sagte Smiley mit seiner vernünftigen Stimme. »Draußen gibt's nicht genügend zu tun, also fangen wir an, innerhalb der Dienststelle zu intrigieren, einer spioniert gegen den anderen. Eines Morgens sitzt Percy in seinem Büro und hat nichts zu tun. Auf dem Papier ist er zum Einsatzleiter ernannt, aber in Wahrheit ist er höchstens ein Puffer zwischen den regionalen Abteilungen und Control. Percys Tür geht auf, und jemand kommt herein. Wir wollen ihn der Einfachheit halber Gerald nennen. >Percy<, sagt er, >ich bin auf eine bedeutende russische Quelle gestoßen. Könnte eine Goldmine sein.< Oder vielleicht sagt er gar nichts, bis sie das Dienstgebäude verlassen haben, denn Gerald ist vorwiegend ein Außenmann, von Wänden und Telefonen umgeben spricht er nicht gern. Vielleicht machen sie einen Spaziergang im Park oder eine Autofahrt. Vielleicht gehen sie irgendwohin essen, und in diesem Stadium kann Percy nicht viel mehr tun als zuhören. Percy hatte wenig Erfahrung auf dem europäischen Sektor, noch viel weniger auf dem tschechischen oder auf dem Balkan. Er hat sich seine Sporen in Südamerika verdient und anschließend die früheren Kolonien bearbeitet: Indien, den Vorderen Orient. Osteuropa ist für Percy fast ein Buch mit sieben Siegeln ... Er weiß nicht viel über Russen oder Tschechen oder dergleichen, für ihn ist rot ganz einfach rot und damit punktum. Unfair?«
Esterhase schürzte die Lippen und runzelte leicht die Stirn, als wolle er sagen, daß er niemals über einen Vorgesetzten urteile. »Gerald hingegen ist Fachmann auf diesem Gebiet. Während seiner Einsatz-Zeit hat er sich ständig an den östlichen Märkten herumgetrieben. Für Percy ist das Ganze Neuland, aber höchst verlockend. Gerald steht auf vertrautem Boden. Diese russische Quelle, sagt Gerald, könne die ergiebigste sein, die der Circus seit langem hatte. Gerald möchte nicht zu viel sagen, aber er erwartet in den nächsten Tagen ein paar Proben, und die solle Percy sich dann genau ansehen, um sich ein Bild von der Qualität zu machen. Über die Quelle im einzelnen könnten sie später sprechen. >Aber warum ich?< sagt Percy. >Worum geht es eigentlich ?< Gerald sagt es ihm also. >Percy<, sagt er. >Ein paar von uns in den regionalen Abteilungen sind schon ganz krank wegen der Höhe der Einsatzverluste. Ein böser Geist scheint umzugehen. Es wird zuviel geschwatzt, innerhalb und außerhalb des Circus. Zu viele Leute haben Einsicht in die Akten. Unsere Außenagenten werden an die Wand gestellt, unsere Netze aufgerollt oder schlimmer, und jedes neue Unternehmen endet als Verkehrsunfall. Sie sollen uns helfen, das wieder in Ordnung zu bringen.< Gerald empört sich nicht, er vermeidet sorgfältig jede Anspielung auf einen möglichen Verräter innerhalb des Circus, der sämtliche Operationen auffliegen läßt, denn Sie und ich wissen, daß die ganze Maschinerie zum Stillstand kommt, sobald ein solches Wort sich herumspricht. Jedenfalls, das letzte, was Gerald sich wünscht, ist eine Hexenjagd. Aber er sagt immerhin, daß die Dienststelle nicht ganz dicht sei und daß Schlamperei an der Spitze zu Fehlschlägen auf den unteren Ebenen führe. Alles Musik in Percys Ohren. Gerald zählt die jüngsten Skandale auf und betont geflissentlich Allelines eigenes Nahost-Abenteuer, das so schief gelaufen war und Percy um ein Haar seine Karriere gekostet hätte. Dann rückt er mit seinem Vorschlag heraus. Er sagt folgendes. Nach meiner Theorie, wohlgemerkt; es ist nur eine Theorie.«
»Klar, George«, sagte Toby und leckte sich die Lippen. »Eine andere Theorie könnte lauten, daß Alleline sein eigener Gerald gewesen sei, verstehen Sie. Nur daß ich das zufällig nicht glaube: Ich glaube nicht, daß Percy fähig wäre, herzugehen, sich einen erstklassigen russischen Spion zu kaufen und von da an sein Schiff mit eigenen Leuten zu bemannen. Ich nehme an, er hätte alles verpatzt.«
»Klar«, sagte Esterhase mit absoluter Bestimmtheit. »Also, nach meiner Theorie sagt Gerald zu Percy sodann folgendes: >Wir - das heißt, ich und die gleichgesinnten Seelen, die mit diesem Projekt verbunden sind - möchten, daß Sie, Percy, als unsere Vaterfigur handeln. Wir sind keine Politiker, wir sind Praktiker. Im Whitehall-Dschungel kennen wir uns nicht aus. Sie schon. Sie übernehmen die Ausschüsse, wir übernehmen Merlin. Wenn Sie als unsere Sicherung fungieren und uns vor dem Unfug, der dort getrieben wird, schützen, was im Effekt bedeutet, daß Sie die Kenntnis von unserer Operation auf das absolute Minimum beschränken, dann liefern wir die Ware. < Sie besprechen die praktischen Möglichkeiten, wie das zu bewerkstelligen wäre, dann läßt Gerald eine Weile Percy im eigenen Saft schmoren. Eine Woche, einen Monat, das weiß ich nicht. Lange genug, daß Percy es sich hat überlegen können. Eines Tages legt Gerald das erste Muster vor. Und es ist natürlich sehr gut. Sehr, sehr gut. Zufällig etwas, das die Navy angeht, was Percy nicht besser zupaß kommen könnte, denn er ist bei der Admiralität sehr gut angeschrieben, sie stützen ihm dort den Rücken. Percy läßt also seine Freunde von der Navy einen verstohlenen Blick darauf werfen, und das Wasser läuft ihnen im Mund zusammen. >Woher kommt es? Wird noch mehr folgen?< Eine ganze Menge. Was die Identität der Quelle angeht - nun, die ist in diesem Stadium noch streng geheim, aber das ist ganz in Ordnung. Entschuldigen Sie, wenn ich hier vielleicht ziemlich weit danebentippe, aber ich habe als einzigen Anhaltspunkt die Akten.«
Die Erwähnung der Akten, die erste Andeutung, daß Smiley vielleicht in irgendeiner offiziellen Eigenschaft handle, rief bei Esterhase eine deutliche Reaktion hervor. Zu dem gewöhnlichen Lippenlecken gesellte sich ein Vorwärtsrecken des Kopfes und ein Ausdruck gerissener Vertraulichkeit, als versuchte Toby mittels aller dieser Signale anzudeuten, auch er habe die Akte gelesen, welche Akte es auch immer gewesen sein mochte, und teile Smileys Schlußfolgerungen rückhaltlos. Smiley hatte sich abgewandt und trank einen Schluck Tee. »Für Toby auch?« fragte er über seine Tasse hinweg. »Mach ich«, sagte Guillam mehr energisch als gastfreundlich. »Tee, Fawn«, rief er durch die Tür. Sie öffnete sich sofort, und Fawn erschien auf der Schwelle, eine Tasse in der Hand. Smiley stand nun wieder am Fenster. Er hatte den Vorhang einen Spalt beiseite geschoben und starrte auf den Platz hinunter. »Toby?«
»Ja, George?«
»Haben Sie einen Babysitter mitgebracht?«
»Nein.«
»Niemanden?«
»George, warum sollte ich Babysitter mitbringen, wenn ich doch nur Peter und einen armen Polen treffen wollte?« Smiley kehrte zu seinem Stuhl zurück. »Merlin als Quelle«, begann er von neuem. »Wo war ich stehengeblieben? Ach, ja. Merlin war nicht eigentlich nur eine einzige Quelle, nicht wahr, wie Gerald nach und nach Percy und den beiden anderen beibrachte, die er inzwischen in den magischen Kreis einbezogen hatte. Gewiß. Merlin war sowjetischer Agent, aber ähnlich wie Alleline war er auch der Sprecher einer Gruppe Unzufriedener. Wir sehen uns selber gern in der Situation anderer, und ich bin überzeugt, daß Percy sich von Anfang an für Merlin erwärmte. Diese Gruppe, die Clique, deren Anführer Merlin war, bestand aus, sagen wir, einem halben Dutzend gleichgesinnter sowjetischer Beamter, von denen jeder auf seine Weise vortrefflich plaziert war. Im Lauf der Zeit hat Gerald, wie ich argwöhne, seinen Leutnants und Percy ein ziemlich genaues Bild dieser Unter-Quellen vermittelt, aber ich weiß es nicht. Merlins Job bestand darin, ihre Informationen zu sammeln und in den Westen zu spielen, und während der folgenden Monate bewies er bei dieser Tätigkeit bemerkenswertes Geschick. Er benutzte alle möglichen Methoden, und der Circus lieferte ihm nur zu gern das Rüstzeug. Geheimschriften, Mikropunkte, die über Punkte in harmlos aussehenden Briefen angebracht wurden, tote Briefkästen in westlichen Hauptstädten, die von Gott weiß welchem wackeren Russen gefüllt und von Toby Esterhases wackeren Aufklärern pflichtbewußt geleert worden waren. Sogar persönliche Zusammenkünfte, von Tobys Babysittern arrangiert und bewacht« - kurze Pause, während Smiley wieder zum Fenster blickte - »ein paar Hinterlegungen in Moskau, die von unserer dortigen Außenstelle weitergespielt werden mußten, obwohl sie dort nie erfahren durften, wer ihr Wohltäter war. Aber kein Geheimfunk. Dafür hat Merlin nichts übrig. Es war einmal vorgeschlagen worden - kam sogar bis zum Schatzamt - einen ständigen Langwellensender in Finnland einzurichten, nur zu seiner Verfügung, aber man ließ das Projekt fallen, als Merlin sagte: >Nicht in die Tüte. < Muß bei Karla in die Schule gegangen sein, wie? Sie wissen, Karla haßt den Funk. Das Tollste an Merlin ist seine Beweglichkeit: sein größtes Talent. Vielleicht sitzt er im Moskauer Handelsministerium und kann die Handlungsreisenden einsetzen. Wie dem auch sei, er hat die Mittel und er hat die Kanäle, die aus Rußland herausführen. Und deshalb haben seine Mitverschwörer ihn ausersehen, mit Gerald zu verhandeln, die Bedingungen auszuhandeln, die finanziellen Bedingungen. Sie wollen nämlich Geld. Eine Menge Geld. Ich hätte das schon erwähnen sollen. In dieser Hinsicht sind Geheimdienste und ihre Konsumenten leider wie gewöhnliche Sterbliche. Sie schätzen am meisten, was am meisten kostet, und Merlin kostet ein Vermögen. Schon mal ein gefälschtes Bild gekauft?«
»Hab' mal ein paar verkauft«, sagte Toby mit einem zuckenden nervösen Lächeln, aber niemand lachte.
»Je mehr man dafür zahlt, um so weniger ist man geneigt, an der Echtheit zu zweifeln. Töricht, aber so sind wir. Es ist auch für jedermann tröstlich zu wissen, daß Merlin käuflich ist. Das ist ein Motiv, das wir alle verstehen, stimmt's Toby? Besonders im Schatzamt. Fünfzigtausend Franken pro Monat auf ein Schweizer Bankkonto: also, ich möchte wissen, wer dafür nicht ein paar Gleichheitsprinzipien ein bißchen verdreht. Whitehall zahlt ihm also ein Vermögen und bezeichnet seine Informationen als unbezahlbar. Und einiges ist tatsächlich gut«, räumte Smiley ein. »Sehr gut, meine ich, und das sollte es auch sein. Dann weiht Gerald eines schönen Tages Percy in das allergrößte Geheimnis ein. Die Merlin-Clique hat einen Londoner Anhang. Es ist der Anfang, wie ich Ihnen jetzt verraten sollte, einer sehr, sehr klugen Kombination.«
Toby stellte seine Tasse ab und betupfte mit dem Taschentuch geziert seine Mundwinkel.
»Laut Gerald ist ein Mitglied der Sowjetbotschaft hier in London willens und in der Lage, als Merlins Londoner Repräsentant zu fungieren. Er kann es sich sogar leisten, in Ausnahmefällen die Botschaftseinrichtungen zu benutzen, um mit Merlin in Moskau zu sprechen, Botschaften zu senden und zu empfangen. Und daß es, vorbehaltlich aller nur denkbaren Vorsichtsmaßnahmen, Gerald sogar darin und wann möglich sei, heimliche Zusammenkünfte mit diesem Zauberer zu arrangieren, ihn zu instruieren und zu desinstruieren, Nachfaß-Fragen an Merlin zu stellen und die Antwort beinah postwendend zu erhalten. Wir wollen diesen Sowjetfunktionär Alexei Alexandrowitsch Poljakow nennen und von der Annahme ausgehen, er gehöre der Kulturabteilung der Sowjetbotschaft an. Können Sie mir folgen?«
»Ich habe kein Wort gehört«, sagte Esterhase. »Ich bin ertaubt.«
»Es heißt, er habe längere Zeit der Londoner Botschaft angehört - acht Jahre, um genau zu sein -, aber Merlin habe ihn erst kürzlich in die Herde aufgenommen. Vielleicht während Poljakow auf Urlaub in Moskau war?«
»Ich höre kein Wort.«
»Poljakow wird sehr schnell ein sehr bedeutender Mann, denn Gerald ernennt ihn alsbald zum Angelpunkt der Operation Witchcraft und noch zu allerhand mehr. Die toten Briefkästen in Amsterdam und Paris, die Geheimtinten, Mikropunkte: das alles geht nach wie vor weiter, aber in verringertem Maß. Man kann die Gelegenheit, Poljakow praktisch in Reichweite zu haben, einfach nicht ungenutzt lassen. Ein Teil von Merlins bestem Material wird per Diplomatengepäck nach London geschmuggelt: Poljakow hat weiter nichts zu tun, als die Umschläge aufzuschlitzen und sie an seinen Partner im Circus weiterzugeben: an Gerald oder eine von Gerald benannte Person. Wir dürfen aber niemals vergessen, daß dieser Teil der Operation Merlin tödlich, tödlich geheim ist. Der Witchcraft-Ausschuß, ist natürlich auch geheim, aber zahlenmäßig groß. Das ist unvermeidlich. Die Operation ist groß angelegt, der Eingang ist groß, Aufbereitung und Verteilung erfordern allein schon eine Menge bürokratischer Überwachung: Kopisten, Übersetzer, Codierer, Stenotypisten, Auswerter und was weiß ich noch alles. Nichts von alledem stört Gerald auch nur im geringsten: es ist ihm sogar recht, denn die Kunst, Gerald zu sein, besteht darin, einer aus einer großen Zahl zu sein. Wird der Witchcraft-Ausschuß von unten geführt? Von der Mitte, von oben? Mir gefällt Karlas Beschreibung von Ausschüssen, Ihnen nicht? Ist es ein chinesisches Sprichwort? Ein Ausschuß ist ein Tier mit vier Hinterbeinen. Aber der Londoner Anhang - Poljakows Hinterbein - dieser Teil ist auf den ursprünglichen Zauberkreis beschränkt. Skordeno, de Silski, die ganze Meute: sie können losbrausen ins Ausland und überall Handlangerdienste für Merlin leisten. Aber hier in London, der Teil der Veranstaltung, zu dem Brüderchen Poljakow gehört, die An, wie der Knoten geschlungen ist, das ist ein ganz besonderes Geheimnis aus ganz besonderen Gründen. Sie, Percy, Bill Haydon und Roy Bland. Sie vier bilden den Zauberkreis. Stimmt's? Wir wollen einmal Vermutungen darüber anstellen, wie im einzelnen vorgegangen wird. Es gibt ein Haus, das wissen wir. Die Zusammenkünfte dort werden sehr sorgfältig vorbereitet, das dürfte feststehen, nicht wahr? Wer trifft sich mit ihm, Toby? Wer führt Poljakow? Sie? Roy? Bill?« Smiley ergriff das breite Ende seiner Krawatte, drehte das Seidenfutter nach außen und begann, seine Brillengläser zu putzen. »Jeder von euch«, sagte er in Beantwortung seiner eigenen Frage. »Wie wäre das? Manchmal trifft Percy sich mit ihm. Ich möchte vermuten, daß Percy ihm gegenüber die Autorität spielt. >Ist es nicht Zeit, daß Sie Urlaub nehmen? Haben Sie in dieser Woche von Ihrer Frau gehört?< Percy würde das gut können. Aber der Witchcraft-Ausschuß setzt Percy nur selten ein. Percy ist die Kanone, er muß Seltenheitswert behalten. Dann kommt Bill Haydon; Bill trifft sich mit ihm. Das würde öfter der Fall gewesen sein, nehme ich an. Bill hat eine Schwäche für Rußland, und er kann gut mit Leuten umgehen. Ich habe das Gefühl, er und Poljakow würden gut miteinander auskommen. Ich würde sagen, Bill glänzte, wenn es zur Instruktion und zu den Nachstoß-Fragen kam, meinen Sie nicht? Dafür sorgen, daß die richtigen Botschaften nach Moskau gelangten? Manchmal nimmt er Roy Bland mit, manchmal schickt er Roy allein hin. Vermutlich machen sie das untereinander aus. Und Roy ist natürlich Wirtschaftsexperte und überdies Fachmann für die Satellitenstaaten, also wird es auch in dieser Sparte allerhand zu besprechen geben. Und manchmal - ich denke da an Geburtstage, Toby, oder an Weihnachten oder sonstige Übermittlungen von Dankbarkeit und Geld -, wird ein kleines Vermögen über Spesen gebucht, wie ich feststellte, ganz zu schweigen von Sonderprämien; manchmal, um den Kreis bei Laune zu halten, kommt ihr alle vier zusammen und hebt die Gläser auf den König jenseits des Meeres: auf Merlin, in Gestalt seines Abgesandten: Poljakow. Schließlich nehme ich an, daß auch Toby einiges mit Freund Poljakow zu besprechen hat. Fachsimpeln, nützliche Brocken über Vorgänge innerhalb der Botschaft, die den Aufklärern so zupaß kommen bei ihren kleinen Überwachungseinsätzen gegen die Gesandtschaft Also hat auch Toby seine Solo-Sitzungen. Wir dürfen nämlich, ganz abgesehen von Poljakows Rolle als Merlins Londoner Repräsentant, auch seine Möglichkeiten am Ort nicht übersehen. Nicht alle Tage haben wir in London einen zahmen Sowjetdiplomaten, der uns aus der Hand frißt. Ein bißchen Anleitung mit der Kamera, und Poljakow könnte auch an der Heimatfront sehr nützlich sein. Vorausgesetzt, jeder hält sich auf seinem Platz.«
Sein Blick war nicht von Tobys Gesicht gewichen. »Ich könnte mir vorstellen, daß Poljakow es zu etlichen Filmspulen gebracht hat, wie? Und daß jeder, der sich mit ihm traf, nebenbei auch die Aufgabe hatte, seine Vorräte aufzufüllen: ihm kleine versiegelte Päckchen zu überbringen. Filme. Unbelichtete Filme natürlich, denn sie stammten ja aus dem Circus. Beantworten Sie mir doch bitte eine Frage, Toby, sagt Ihnen der Name Lapin irgend etwas?«
Ein Lecken, ein Stirnrunzeln, ein Lächeln, ein Vorwärtsrecken des Kopfs: »Klar, George, ich kenne Lapin.«
»Wer hat angeordnet, daß die Aufklärer-Berichte über Lapin zerstört werden sollten?«
»Ich, George.«
»Auf eigene Initiative?«
Das Lächeln wurde eine Spur breiter. »Hören Sie, George, ich bin in letzter Zeit ein paar Sprossen höher geklettert.«
»Wer hat gesagt, Connie Sachs müsse abgesägt werden?«
»Also, ich glaube, es war Percy, okay? Vermutlich Percy, vielleicht auch Bill. Sie wissen, wie das ist bei einer großen Operation. Die Routinearbeit, der Kleinkram, es gibt dauernd irgend etwas zu tun.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht war's Roy, he?«
»Sie nehmen also Befehle von allen dreien entgegen«, sagte Smiley leichthin. »Das ist sehr unbedacht von Ihnen. Sie sollten es besser wissen.«
Esterhase gefiel das alles gar nicht.
»Wer hat Sie angewiesen, Max kaltzustellen, Toby? Waren es die gleichen drei Leute? Ich muß das nur alles Lacon melden, verstehen Sie. Er drängt im Moment ganz furchtbar. Der Minister scheint ihm im Nacken zu sitzen. Wer war es?«
»George, Sie haben mit den falschen Leuten geredet.«
»Einer von uns hat das getan, ja«, sagte Smiley liebenswürdig. »Soviel steht fest. Sie wollen auch einiges über Westerby wissen: wer hat ihm den Mund gestopft? War es die gleiche Person, die Sie mit tausend Pfund und einer Instruktion nach Sarratt schickten, daß Sie Jim Prideaux' Geist Ruhe verschaffen sollte? Ich jage nur nach Fakten, Toby, nicht nach Skalpen. Sie kennen mich, ich bin nicht rachsüchtig. Und was besagt überhaupt, daß Sie nicht ein sehr loyaler Mann wären? Fragt sich nur, wem gegenüber.« Er fügte hinzu: »Nur, sie wollen es eben unbedingt wissen, verstehen Sie. Es geht sogar ein häßliches Gerücht um, daß die Konkurrenz eingeschaltet werden soll. Das möchte doch niemand, oder? Es ist, als ginge man zum Anwalt, weil man sich mit seiner Frau gezankt hat: ein unwiderruflicher Schritt. Wer hat Ihnen die Botschaft für Jim über Bube, Dame, König gegeben? Wußten Sie, was es bedeutete? Wußten Sie es direkt von Poljakow, war es das?«
»Herrgott«, flüsterte Guillam, »lassen Sie mich den Kerl in den Schwitzkasten nehmen.«
Smiley beachtete ihn nicht. »Sprechen wir noch ein wenig über Lapin. Welchen Job hatte er hier?«
»Er arbeitete für Poljakow.«
»Als sein Sekretär in der Kulturabteilung?«
»Als sein Kurier.«
»Aber mein lieber Toby: was in aller Welt soll ein Kulturattache mit einem eigenen Kurier anfangen?«
Esterhases Augen waren die ganze Zeit auf Smiley gerichtet. Er ist wie ein Hund, dachte Guillam, er weiß nicht, kriegt er einen Tritt oder einen Knochen. Die Augen flitzten von Smileys Gesicht zu den Händen, dann zurück zum Gesicht, sie ließen nicht ab von den verräterischen Stellen.
»Seien Sie doch nicht so verdammt albern, George«, sagte Toby nonchalant. »Poljakow arbeitet für die Moskauer Zentrale. Das wissen Sie genausogut wie ich.« Er schlug die kurzen Beine übereinander, lehnte sich mit seiner ganzen wiederaufgelebten Arroganz in seinem Stuhl zurück und trank einen Schluck kalten Tee. Während Smileys Miene, so fand Guillam, flüchtige Entspannung verriet; woraus Guillam in seiner Verwirrung folgerte, daß Smiley sehr mit sich zufrieden sein müsse. Vielleicht, weil Toby sich endlich entschlossen hatte, zu sprechen:
»Na, los, George«, sagte Toby, »Sie sind doch kein Kind mehr. Bedenken Sie, wie viele Operationen wir auf diese Weise hinter uns gebracht haben. Wir kaufen Poljakow, okay? Poljakow ist ein Moskauer Spitzel, aber er ist unser bestes Stück. Er muß aber seinen eigenen Leuten weismachen, daß er gegen uns spioniere. Wie sonst käme er damit durch? Wie sonst könnte er den ganzen Tag in diesem Haus aus- und eingehen, ohne Gorillas, ohne Babysitters, ganz ungeniert? Er kommt hinaus in unseren Laden, wenn er ein paar Bonbons heimbringen muß. Also geben wir ihm Bonbons. Bagatellen, nur damit er sie zu Hause abliefern kann und jeder in Moskau ihm auf die Schulter klopft und sagt, er sei ein toller Bursche, passiert alle Tage.«
Wenn Guillam jetzt von einer Art rasenden Entsetzens erfüllt war, so schien Smileys Kopf bemerkenswert klar zu sein. »Und das ist ziemlich genau die Standard-Geschichte, nicht wahr, unter den vier Eingeweihten?«
»Ob es die Geschichte ist, kann ich nicht sagen«, sagte Esterhase mit einer sehr ungarischen Handbewegung, einem Drehen der gespreizten Hand von einer Seite zur anderen. »Wer ist also Poljakow s Agent?«
Diese Frage, das sah Guillam, war Smiley sehr wichtig: er hatte alle vorhergegangenen Karten nur ausgespielt, um zu ihr zu kommen. Während Guillam wartete - die Augen bald auf Esterhase, der keineswegs so sicher war, bald auf Smileys Mandarinsgesicht gerichtet —, dämmerte auch ihm allmählich, wie Karlas letzter gekonnter Knoten geschürzt, und worum es bei seiner eigenen nervenaufreibenden Audienz bei Alleline gegangen war. »Was ich Sie frage, ist ganz einfach«, drängte Smiley. »Rein hypothetisch, wer ist Poljakows Agent im Circus? Mein Gott, Toby, seien Sie doch nicht so vernagelt. Wenn Poljakow sich mit euch treffen kann, weil er vorgibt, gegen den Circus zu spionieren, dann muß er einen Spion im Circus haben, oder? Also, wer ist es? Poljakow kann nicht nach einem Treffen mit euch zur Botschaft zurückkommen, beladen mit einem Haufen von Circus-Abfällen, und sagen: das da hab' ich von den Jungen bekommen. Es muß eine Geschichte aufgebaut sein, und zwar eine gute: ein ganzes Gewebe aus Umwerbung, Anwerbung, heimlichen Zusammenkünften, Geld und Motiven. Stimmt doch? Lieber Gott, es ist nicht bloß Poljakows Tarngeschichte: es ist seine Lebenslinie. Sie muß durchgängig sein. Sie muß überzeugend sein; das ist wichtig. Also, wer ist es?« erkundigte Smiley sich liebenswürdig. »Sie? Toby Esterhase verkleidet sich als Spion im Circus, um Poljakow im Geschäft zu halten? Respekt, Toby, das ist eine ganze Handvoll Orden wert.« Sie warteten, während Toby nachdachte.
»Sie sind auf einem verdammt langen Weg, George«, sagte Toby. »Was passiert, wenn Sie das andere Ende nicht erreichen?«
»Auch nicht mit Lacon hinter mir?«
»Dann bringen Sie Lacon her. Und Percy; Bill. Warum halten Sie sich an den Kleinsten? Gehen Sie zu den Großen und hacken Sie auf denen herum.«
»Ich dachte, Sie gehörten jetzt zu den Großen. Sie paßten ausgezeichnet für die Rolle, Toby, ungarische Abstammung, Bitterkeit mangels Beförderung, Zugang zu manchem, wenn auch nicht zu übermäßig vielem . . . schneller Denker, auf Geld aus. . . mit Ihnen als seinem Agenten hätte Poljakow eine Tarngeschichte, die hieb- und stichfest wäre. Die großen Drei geben Ihnen die Abfälle, Sie reichen sie an Poljakow weiter, Moskau glaubt, Toby sei ganz der ihre, jeder wird bedient, jeder ist zufrieden. Problematisch wird es erst, wenn durchsickert, daß Sie Poljakow die Kronjuwelen ausgehändigt und dafür russische Abfälle bekommen haben. Sollte sich tatsächlich herausstellen, daß das der Fall war, dann werden Sie gute Freunde bitter nötig haben. Freunde wie uns. Immer nach meiner Theorie - nur um sie zu Ende zu führen. Dieser Gerald ist ein russischer Maulwurf, geführt von Karla. Und er hat den Circus buchstäblich ausgeweidet.«
Esterhase sah ein bißchen krank aus. »Hören Sie, George. Falls Sie sich irren, dann möchte ich mich nicht ebenfalls irren, verstehen Sie mich?«
»Aber wenn er recht hat, dann möchten Sie auch recht haben«, meldete Guillam sich nach langer Zeit wieder zu Wort. »Und je eher Sie recht haben, um so glücklicher werden Sie sein.«
»Klar«, sagte Toby, dem die Ironie völlig entgangen war. »Klar. Ich meine, George hat die Sache sehr gut hingekriegt, aber, mein Gott, jeder hat seine zwei Seiten, George, besonders ein Agent, und vielleicht haben Sie die falsche erwischt. Passen Sie auf: wer hat jemals Witchcraft als Abfall bezeichnet? Niemand, niemals.
Es ist Spitze. Dann kommt einer, der das Maul aufreißt und mit Dreck schmeißt, und schon graben Sie halb London um. Verstehn Sie mich? Ich tu doch nur, was mir gesagt wird, okay? Sie sagen, ich soll für Poljakow den Handlanger spielen, ich spiele ihn. Bringen Sie ihm diesen Film, ich bring ihn ihm. Ich bin in einer sehr gefährlichen Lage«, erklärte er. »Für mich tatsächlich sehr gefährlich.«
»Das tut mir leid«, sagte Smiley vom Fenster her, wo er aufs neue durch einen Vorhangspalt den Platz beobachtete. »Muß beunruhigend für Sie sein.«
»Äußerst«, bestätigte Toby. »Ich kriege Magengeschwüre, kann nichts essen. Sehr mißliche Lage.«
Eine Weile waren sie alle drei zu Guillams Erbitterung in schweigendem Mitgefühl mit Toby Esterhases mißlicher Lage vereint.
»Toby, Sie lügen mich doch nicht an, was diese Babysitter betrifft, wie?« erkundigte sich Smiley, der noch immer am Fenster stand.
»George, drei Finger aufs Herz, ich schwör's Ihnen.«
»Was würden Sie für solche kleinen Jobs verwenden? Autos?«
»Die Pflastertreter. Bus bis zum Air Terminal, dann zu Fuß zurück.«
»Wie viele?«
»Acht, zehn. In dieser Jahreszeit vielleicht nur sechs. Eine Menge sind zur Zeit krank. Weihnachten«, sagte er düster. »Und einen einzelnen Mann?«
»Niemals. Sind Sie verrückt? Ein Mann! Glauben Sie, ich leite heutzutage ein Bonbon-Geschäft?« Smiley ging vom Fenster weg und setzte sich wieder. »Hören Sie George, was Sie sich da ausgedacht haben, ist furchtbar, wissen Sie das? Ich bin Patriot. Herrje«, wiederholte Toby. »Welchen Job hat Poljakow in der Londoner Außenstelle?« fragte Smiley. »Polly arbeitet solo.«
»Führt seinen Meisterspion im Circus?«
»Klar. Er ist von aller eigentlichen Arbeit dispensiert, sie geben ihm freie Hand, damit er Toby managen kann, den Meisterspion. Wir besprechen alles, stundenlang sitze ich mit ihm zusammen. >Hören Sie<, sage ich. >Bill verdächtigt mich, meine Frau verdächtigt mich, meine Kinder haben Masern, und ich kann den Arzt nicht bezahlen.< Eben den Mist, den Agenten so schwatzen, den schwatze ich Poljakow vor, damit er ihn zu Hause für bare Münze verkaufen kann.«
»Und wer ist Merlin?« Esterhase schüttelte den Kopf.
»Aber Sie haben doch zumindest gehört, daß er in Moskau sitzt», sagte Smiley. »Und dem sowjetischen Geheimdienst angehört?«
»Das haben sie mir gesagt«, gab Esterhase zu. »Wodurch es Poljakow möglich ist, mit ihm Verbindung zu halten. Im Interesse des Circus natürlich. Heimlich, ohne daß seine eigenen Leute Verdacht schöpfen?«
»Klar.« Toby stimmte erneut sein Klagelied an, aber Smiley schien Tönen zu lauschen, die nicht im Zimmer waren. »Und Dame, König?«
»Herrgott, ich weiß nicht, was das soll. Ich tue, was Percy anordnet.«
»Und Percy hat angeordnet, daß Sie Jim Prideaux bestechen?«
»Klar. Vielleicht war es Bill. Oder vielleicht Roy. Hören Sie, ich muß essen, George, verstehen Sie? Ich bring mich nicht um Hals und Kragen, kapiert?«
»Es ist die perfekte Fälschung: das sehen Sie doch, nicht wahr, Toby?« bemerkte Smiley ruhig und ziemlich reserviert. »Nehmen wir an, es ist eine Fälschung. Sie setzt jeden ins Unrecht, der im Recht ist: Connie Sachs, Jerry Westerby . . . Jim Prideaux . . . sogar Control. Stopft den Zweiflern den Mund, noch ehe sie ihn aufgemacht haben . . . die Abwandlungsmöglichkeiten sind zahllos, wenn erst einmal die Grundlüge steht. Nämlich, daß die Moskauer Zentrale in dem Glauben zu wiegen sei, sie habe eine wichtige Quelle im Circus; während Whitehall um keinen Preis von eben dieser Ansicht Wind bekommen dürfe. Folgern Sie logisch weiter, und Gerald brächte uns dazu, daß wir unsere eigenen Kinder in ihren Betten erwürgen. Es würde wunderbar sein in einem anderen Zusammenhang«, bemerkte er fast verträumt. »Armer Toby: ja, ich verstehe genau. Was müssen Sie durchgemacht haben, zwischen so vielen Mühlsteinen.« Toby hatte seine nächste Ansprache schon bereit: »Selbstverständlich, wenn ich irgend etwas Praktisches tun kann, Sie kennen mich, George, ich helfe immer gern, kein Problem. Meine Jungens sind gut ausgebildet, wenn Sie sie ausleihen wollen, vielleicht können wir zu einer Einigung kommen. Natürlich muß ich zuerst mit Lacon sprechen. Ich will nur eins, ich will diese Geschichte in Ordnung gebracht haben. Zum Besten des Circus natürlich. Das ist alles, was ich will. Das Wohl der Firma. Ich bin ein bescheidener Mensch, ich will nichts für mich selber, okay?«
»Wo ist dieses >sichere Haus< das Sie ausschließlich für Poljakow halten?«
»Nummer fünf, Lock Gardens, Camden Town.«
»Mit einer Haushälterin?«
»Mrs. McCraig.«
»Früher bei der Abhörabteilung?«
»Klar.«
»Sind dort Abhöranlagen eingebaut?«
»Was glauben Sie?«
»Millie McCraig besorgt also das Haus und handhabt die Aufnahmegeräte.«
Das tue sie, sagte Toby und duckte sich wachsam. »Sie werden sie nachher gleich anrufen und ihr sagen, daß ich die Nacht über dort bleiben und die Anlage benutzen möchte. Sagen Sie ihr, ich wurde mit einer Spezialaufgabe betraut, und sie hat zu tun, was ich verlange. Ich werde gegen neun Uhr dort sein. Wie setzen Sie sich mit Poljakow in Verbindung, wenn ein Blitztreffen vereinbart werden soll?«
»Meine Jungens haben ein Zimmer in Haverstock Hill. Polly fährt jeden Morgen auf dem Weg zur Botschaft und jeden Abend auf dem Heimweg an ihrem Fenster vorbei. Wenn sie ein gelbes Plakat aushängen, mit einem Protest gegen den Verkehrslärm, dann ist das das Signal.«
»Und bei Nacht? Und am Wochenende?«
»Telefonanruf. Falsche Nummer. Aber das hat niemand gern.«
»Wurde schon einmal davon Gebrauch gemacht?«
»Weiß ich nicht.«
»Wollen Sie sagen, daß Sie sein Telefon nicht abhören?« Keine Antwort.
»Ich möchte, daß Sie das Wochenende freinehmen. Würde das beim Circus Argwohn auslösen?« Begeistert schüttelte Esterhase den Kopf. »Sie werden sich bestimmt lieber aus der Sache raushalten, nicht wahr?« Esterhase nickte. »Sagen Sie, Sie hätten Scherereien mit einem Mädchen, oder womit immer Sie zur Zeit Scherereien haben. Sie werden die Nacht hier verbringen, möglicherweise zwei Nächte. Fawn wird sich um Sie kümmern. Essen ist in der Küche. Was ist mit Ihrer Frau?«
Während Guillam und Smiley zusahen, wählte Esterhase die Nummer des Circus und verlangte Phil Porteous. Er sagte sein Verschen tadellos auf: ein bißchen Selbstmitleid, ein bißchen Verschwörung, ein bißchen Scherz. Ein Mädchen, im Norden, das verrückt nach ihm war, Phil, und ihm mit Gräßlichem drohte, wenn er nicht käme und Händchen hielte:
»Sagen Sie nichts, ich weiß, so was passiert Ihnen alle Tage, Phil. He, was macht Ihre prächtige neue Sekretärin? Und, passen Sie auf, Phil, wenn Mara von zu Hause anruft, sagen Sie ihr, Toby ist hinter einer großen Sache her, okay? Sprengt den Kreml in die Luft, Montag wieder da. Machen Sie's anständig und wichtig, ja? Cheers, Phil.«
Er legte auf und wählte dann eine Nummer im Norden von London. »Mrs. M., hallo, hier spricht Ihr Herzensfreund, erkennen Sie die Stimme? Gut. Hören Sie, ich schicke Ihnen heute abend einen Gast, einen alten, lieben Freund, Sie werden sich wundern. - Sie haßt mich«, erklärte er den beiden und hielt die Hand über die Sprechmuschel. - »Er möchte die Drähte nachprüfen«, fuhr er fort. »Schauen Sie alles durch, überzeugen Sie sich, daß alles klappt, okay, keine schwachen Stellen, all right?«
»Wenn er Geschichten macht«, sagte Guillam im Hinausgehen voller Gehässigkeit zu Fawn, »fesseln Sie ihm Hände und Füße.«
Im Treppenhaus berührte Smiley leicht seinen Arm. »Peter, ich möchte, daß Sie aufpassen, was sich hinter mir tut. Würden Sie das machen? Geben Sie mir ein paar Minuten Vorsprung, dann treffen Sie mich an der Ecke der Marloes Road, nordwärts. Bleiben Sie auf dem westlichen Gehsteig.«
Guillam wartete, dann trat er auf die Straße. Feiner Nieselregen lag in der Luft, der unheimlich warm war, wie Tau. Wo Lichter schienen, wallte die Feuchtigkeit in dünnen Wolken, aber im Schatten konnte er sie weder sehen noch fühlen: nur ein Nebel trübte die Sicht, zwang ihn, die Augen halb zu schließen. Er machte eine Runde um die Gärten und wählte dann ein hübsches Gäßchen ziemlich weit südlich des Treffpunkts. An der Marloes Road wechselte er auf den westlichen Gehsteig über, kaufte eine Abendzeitung und fing an, gemütlich an Villen vorüberzuschlendern, die weit hinten in großen Gärten standen. Er zählte die Fußgänger, die Radfahrer und Autos, während weit vor ihm George Smiley in Sicht kam, der steten Schrittes dahintrabte, der Prototyp des nach Hause gehenden Londoners. »Ist es ein Team?« hatte Guillam gefragt. Smiley konnte es nicht bestimmt sagen. »Kurz vor Abingdon Villas gehe ich über die Straße«, sagte er. »Achten Sie auf einen Einzelgänger. Halten Sie die Augen offen!«
Während Guillam die Augen offenhielt, hielt Smiley abrupt an, als wäre ihm gerade etwas eingefallen, trat unbedenklich auf die Fahrbahn und schlängelte sich zwischen den erbosten Autofahrern durch, um plötzlich auf der anderen Seite durch die Türen eines Spirituosenladens zu verschwinden. Und als er das tat, sah Guillam - oder glaubte zu sehen - wie eine große krumme Gestalt im dunklen Mantel ihm nachstrebte, aber in diesem Moment hielt ein Bus an und verdeckte beide, Smiley und seinen Verfolger; und als der Bus wieder abfuhr, mußte er den Verfolger mitgenommen haben, denn der einzige Überlebende auf diesem Teil des Gehsteigs war ein alter Mann mit schwarzem Plastikregenmantel und Tuchkappe, der an der Bushaltestelle lehnte und seine Abendzeitung las; und als Smiley mit seiner braunen Tasche wieder aus dem Spirituosenladen auftauchte, hob der Mann nicht einmal den Kopf von der Sportseite. Guillam folgte Smiley noch kurze Zeit durch die eleganteren Gefilde des victorianischen Kensington; Smiley huschte von einem der stillen Plätze zum nächsten, bog flugs in eine Gasse ein und auf dem gleichen Weg wieder heraus. Nur einmal, als Guillam nicht mehr an Smiley dachte, sondern sich instinktiv umdrehte, hatte er den entschiedenen Verdacht, daß eine dritte Gestalt mit ihnen marschierte: ein höckeriger Schatten an den einförmigen Ziegelmauern einer leeren Straße; aber als er darauf zugehen wollte, war der Schatten verschwunden.
In dieser Nacht überstürzten sich die Ereignisse, folgten einander so schnell, daß er sie nicht im einzelnen hatte festhalten können. Erst Tage später wurde ihm bewußt, daß die dritte Gestalt oder ihr Schatten ihn an etwas erinnert hatten. Woran, das wusste er noch immer nicht. Und dann, eines frühen Morgens, fuhr er aus dem Schlaf auf und hatte es: eine bellende militärische Stimme, Sanftheit unter rauher Schale, ein Tennisschläger, der hinter dem Safe eines Zimmers in Brixton steckte und bei dessen Anblick eine stoische Sekretärin in Tränen ausgebrochen war.
In Paris springt Ricki Tarr hart mit einem alten Freund um und schickt Percy Alleline ein Grußtelegramm
Steve Mackelvore beging an diesem selben Abend vermutlich nur den einen Kunstfehler: er machte sich Vorwürfe, daß er die Beifahrertür seines Wagens nicht abgeschlossen hatte. Als er von der Fahrerseite her eingestiegen war, hatte er es seiner eigenen Nachlässigkeit zugeschrieben, daß die andere Seite nicht verriegelt war. Überleben, wie Jim Prideaux sich immer wieder sagte, ist die unbegrenzte Fähigkeit zum Argwohn. Nach diesem strengen Maßstab hätte Mackelvore argwöhnen müssen, daß mitten in einer besonders schlimmen Stoßzeit, an einem besonders miesen Abend in einer der lärmerfüllten Seitenstraßen, die in das untere Ende der Champs Elysees münden, Ricki Tarr die Beifahrertür aufgeschlossen haben und ihn mit vorgehaltener Pistole bedrohen würde. Aber das Leben in der Pariser Außenstelle war damals wenig geeignet, den Verstand eines Mannes im ständigen Alarmzustand zu halten, und Mackelvores Arbeitstag war größtenteils mit der Aufstellung seiner wöchentlichen Spesenabrechnung und mit dem Einsammeln der Spesenquittungen seiner Mitarbeiter für die Personalabteilung vergangen. Nur der Lunch, eine recht längliche Angelegenheit mit einem heuchlerischen Englandfreund im französischen Sicherheitslabyrinth, hatte die Eintönigkeit dieses Freitags unterbrochen. Sein Wagen war unter einer Platane geparkt, die an Auspuffgasen dahinsiechte. Er hatte exterritoriale Nummernschilder und auf der Rückseite CC aufgeklebt, denn die Außenstelle war als Konsulatsbüro getarnt, was allerdings niemand ernst nahm. Mackelvore war Circus-Veteran, ein vierschrötiger, weißhaariger Mann aus Yorkshire, mit einer langen Liste von Konsulatsposten, die ihn in den Augen der Welt nicht vorangebracht hatten. Paris war die letzte Station. Er hatte für Paris nicht besonders viel übrig und wußte aus vielen Berufsjahren im Fernen Osten, daß die Franzosen nicht sein Fall waren. Aber als Auftakt zum Ruhestand konnte es nichts Besseres geben. Die Bezüge waren reichlich, der Posten bequem, und in den zehn Monaten, die er jetzt hier war, hatte man nicht mehr von ihm verlangt, als sich gelegentlich eines durchreisenden Agenten anzunehmen, hier und dort ein Zeichen oder Signal anzubringen. Bei irgendeinem Unternehmen der Londoner Zentrale den Briefträger zu spielen und den »Feuerwehrleuten«, die auf einen Sprung herüberkamen, mal was Tolles zu bieten.
Das heißt, bis jetzt, bis er nun in seinem eigenen Wagen saß, mit Tarrs Kanone gegen seine Rippen gepreßt, während Tarrs Hand liebevoll auf seiner rechten Schulter ruhte, bereit, ihm den Hals umzudrehen, falls er Zicken machen sollte. Kaum einen Meter entfernt hasteten Mädchen auf ihrem Weg zur Metro vorüber, und noch einen Meter weiter war der Verkehr zum Stillstand gekommen und konnte eine Stunde lang so bleiben. Niemand kümmerte sich im geringsten um zwei Männer, die in einem geparkten Auto gemütlich miteinander plauderten. Seit Mackelvore eingestiegen war, hatte Tarr das Reden besorgt. Er müsse dringend eine Botschaft an Alleline absenden, sagte er. Persönlich und nur vom Adressaten zu entschlüsseln und Tarr möchte, daß Mackelvore für ihn den Apparat bedient, während Tarr mit der Kanone danebenstehe.
»Was zum Teufel haben Sie ausgefressen, Ricki?« klagte Mackelvore, während sie Arm in Arm zur Außenstelle zurückgingen. »Der ganze Geheimdienst sucht Sie, das wissen Sie doch, oder? Sie ziehen Ihnen das Fell über die Ohren, wenn sie Sie finden. Wir sollen Sie bei erster Gelegenheit mit allen Mitteln dingfest machen.« Er dachte daran, sich auf Tarr zu stürzen und ihm einen Nackenschlag zu versetzen, aber er wußte, daß er nicht schnell genug sei und daß Tarr ihn töten würde. Die Botschaft würde etwa zweihundert Gruppen umfassen, sagte Tarr, als Mackelvore die Vordertür aufschloß und die Lichter anknipste. Wenn Steve diese Gruppen durchgegeben hätte, würden sie am Apparat sitzenbleiben und auf Percys Antwort warten. Spätestens morgen würde Percy, wenn Tarrs Instinkt nicht trog, in Paris angebraust kommen, um mit Ricki eine Unterredung zu haben. Diese Unterredung würde ebenfalls in der Außenstelle stattfinden, da Tarr es für eine Spur weniger wahrscheinlich hielt, daß die Russen versuchen würden, ihn auf konsularischem Boden umzubringen.
»Sie sind von Sinnen, Ricki. Nicht die Russen wollen Sie umbringen, sondern unsere Leute.«
Der vordere Raum wurde als Empfang bezeichnet, das einzige, was von der Tarnung übriggeblieben war. Eine alte Holztheke stand darin, und an den schmuddeligen Wänden hingen längst überholte Bekanntmachungen an britische Staatsbürger. Hier durchsuchte Tarr mit der linken Hand Mackelvore nach einer Waffe, fand jedoch keine. Das Haus war im Geviert um einen Innenhof erbaut, und fast alles Wichtige lag über dem Hof: der Chiffrierraum, der Tresorraum und die Apparate. »Sie sind wahnsinnig, Ricki«, warnte Mackelvore nochmals, als er durch eine Reihe leerer Büros voranging und am Chiffrierraum klingelte. »Sie hielten sich schon immer für Napoleon Bonaparte, und jetzt sind Sie vollends übergeschnappt. Sie haben von Ihrem Dad zuviel Religion erwischt.«
Die stählerne Sprechklappe wurde zurückgeschoben, und ein fragendes, leicht albernes Gesicht erschien in der Öffnung. »Sie können nach Hause gehen, Ben. Gehen Sie heim zu Ihrer Missus, aber gehen Sie nicht weit vom Telefon weg, falls ich Sie brauchen sollte, mein Junge. Lassen Sie die Bücher da, wo sie sind, und stecken Sie die Schlüssel in die Maschinen. Ich muß sofort mit London sprechen, und zwar allein.«
Das Gesicht verschwand, und sie warteten, bis der junge Mann die Tür von drinnen aufgeschlossen hatte: ein Schlüssel, noch ein Schlüssel, ein Schnappschloß.
»Dieser Herr kommt aus Nahost, Ben«, erklärte Mackelvore, als die Tür aufging. »Er ist einer meiner allerbesten V-Leute.«
»Hallo, Sir«, sagte Ben. Er war ein großer Junge, der aussah wie ein Mathematikstudent, mit Brille und beharrlichem Blick. »Trollen Sie sich nur, Ben. Ich werd's Ihnen nicht abziehen. Sie haben das Wochenende frei bei voller Bezahlung, und Sie müssen die Zeit auch nicht nacharbeiten. Also raus mit Ihnen.«
»Ben bleibt hier«, sagte Tarr.
Die Beleuchtung am Cambridge Circus war gelb, und von Mendels Standplatz im dritten Stockwerk des Bekleidungshauses funkelte die nasse Fahrbahn wie Golddouble. Es war fast Mitternacht, und er stand seit drei Stunden dort. Er stand zwischen einer Netzgardine und einem Kleidergestell. Er stand so, wie Polizisten auf der ganzen Welt stehen: Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilt, Beine gestreckt, leicht über die Standlinie zurückgebeugt. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen und den Kragen hochgeschlagen, damit man von der Straße aus sein weißes Gesicht nicht sehen könne, aber seine Augen, die den Vordereingang gegenüber beobachteten, leuchteten wie Katzenaugen in einem Keller.
Er würde noch weitere drei Stunden warten oder weitere sechs: Mendel war wieder auf Kriegspfad, die Witterung der Jagd war in seinen Nüstern. Mehr noch, er war ein Nachtvogel; die Dunkelheit in dieser Kleiderwerkstatt weckte alle seine Sinne. Das Straßenlicht, das bis hierherauf reichte, warf blasse Flecken an die Decke des Raumes. Alles übrige, die Zuschneidetische, die Stoffballen, die zugedeckten Nähmaschinen, das Dampfbügeleisen, die signierten Fotos der Fürstlichkeiten von Geblüt, war nur vorhanden, weil er es auf seinem Erkundungsgang am Nachmittag gesehen hatte; das Licht reichte nicht bis zu diesen Gegenständen, und sogar jetzt konnte er sie kaum ausmachen.
Von seinem Fenster aus überblickte er fast alles, was sich drunten tat: acht oder neun ungleiche Straßen und Gassen, die ohne ersichtlichen Grund Cambridge Circus zum Treffpunkt gewählt hatten.
Die Gebäude zwischen ihnen waren Tineff, mit Stilzutaten billig herausgeputzt: eine romantische Bank, ein Theater wie eine große säkularisierte Moschee. Dahinter schoben sich Hochbauten vor wie eine Armee von Robotern. Darüber füllte ein rosa Himmel sich langsam mit Nebel.
Warum war es so still? fragte er sich. Das Theater hatte zwar längst Schluß gemacht, aber warum sorgte die Vergnügungsindustrie von Soho, die nur einen Steinwurf von seinem Fenster entfernt war, nicht dafür, daß der Platz voll von Taxis und Gruppen von Nachtschwärmern war? Kein einziger Lastwagen mit Obst war auf dem Weg nach Covent Garden durch die Shaftesbury Avenue gerumpelt.
Wieder einmal betrachtete Mendel durch seinen Feldstecher das Haus direkt gegenüber. Es schien noch tiefer zu schlafen als seine Nachbarn. Die Doppeltüren des Eingangs waren geschlossen und in den Fenstern des Erdgeschosses war kein Licht zu sehen. Nur in der dritten Etage kam aus dem zweiten Fenster von links ein bleicher Schein, und Mendel wußte, daß es das Zimmer des Diensthabenden war, Smiley hatte es ihm gesagt. Er hob das Glas kurz zum Dach, wo ein Antennenwald wilde Muster an den Himmel zeichnete; dann ein Stockwerk tiefer auf die vier abgedunkelten Fenster der Funkabteilung.
»Nachts benutzen alle den Vordereingang«, hatte Guillam gesagt. »Dadurch spart man Portiers ein.«
In diesen drei Stunden hatten nur drei Ereignisse Mendels Wachsamkeit belohnt: eines pro Stunde ist nicht viel. Um fünf nach neun hatte ein blauer Ford Transit zwei Männer abgesetzt, die etwas trugen, das wie eine Munitionskiste aussah. Sie schlossen sich die Tür selber auf und wieder zu, sobald sie drinnen waren, während Mendel seinen Kommentar ins Telefon flüsterte. Um zehn Uhr oder wenig später war der Pendelbus angekommen: darauf hatte Guillam ihn ebenfalls vorbereitet. Der Pendelbus sammelte heiße Dokumente von den umliegenden Dienststellen und brachte sie übers Wochenende in den Safe des Circus. Er fuhr in Brixton vor, in Acton und in Sarratt, in dieser Reihenfolge, sagte Guillam, zuletzt bei der Admiralität, und war um zehn Uhr soundsoviel im Circus. An diesem Abend kam er punkt zehn an, und dieses Mal stürzten zwei Männer aus dem Haus und halfen beim Abladen: Mendel meldete auch dies, und Smiley bestätigte die Meldung mit einem geduldigen: »Danke.« Saß Smiley irgendwo? Stand er im Dunkeln wie Mendel? Mendel vermutete es. Von all den komischen Vögeln, die er je gekannt hatte, war Smiley der komischste. Wenn man ihn sah, glaubte man, er könne nicht allein über die Straße gehen, aber man hätte genausogut einem Igel seinen Schutz anbieten können. Spinner, dachte Mendel. Ein Leben lang Verbrecher gejagt, und wie ende ich? Einbruch und unbefugtes Betreten, im Dunkeln stehen und die Spinner bespitzeln. Er hatte nie etwas für Spinner übrig gehabt, bis er Smiley kennenlernte. Hielt sie für eine lästige Bande von Amateuren und College-Boys; hielt sie für verfassungswidrig; dachte, das Beste, was diese besondere Branche um ihres eigenen Wohls und des Wohls der Öffentlichkeit willen tun könne, sei »Ja, Sir«, »Nein, Sir« sagen, und die Unterlagen verlieren. Apropos, mit Ausnahme von Smiley und Guillam war es genau das, was er auch an diesem Abend dachte. Kurz vor elf, also vor genau einer Stunde, war ein Taxi gekommen. Eine gewöhnliche zugelassene Londoner Autodroschke, die vor dem Theater hielt. Auch darauf hatte Smiley ihn hingewiesen: es war beim Geheimdienst üblich, daß man Taxis nie bis an die Tür fahren ließ. Manche hielten bei Foyle's Buchhandlung, manche in der Old Compton Street oder vor einem der Geschäfte; die meisten Circus-Leute hatten ein bestimmtes Tarnziel, Alleline zum Beispiel fuhr immer bis zum Theater. Mendel hatte Alleline noch nie gesehen, aber er hatte seine Beschreibung, und als er ihn durch das Glas beobachtete, erkannte er ihn zweifelsfrei, einen großen, schwerfälligen Mann im dunklen Mantel, und er sah sogar, daß der Taxifahrer das Trinkgeld mit saurer Miene betrachtete und ihm etwas nachrief, als Alleline nach seinen Schlüsseln tastete.
Die Vordertür ist nicht gesichert, hatte Guillam ihm erklärt, sie ist nur verschlossen. Die Sicherung beginnt erst drinnen, wenn man am Ende des Korridors links abgebogen ist. Alleline haust in der fünften Etage. Sie werden kein Licht in seinen Fenstern sehen, aber durch ein Oberlichtfenster fällt der Schein auf einen hohen Schornstein. Und tatsächlich erschien, während er das Glas nach oben gerichtet hatte, ein gelber Fleck auf den verschmutzten Klinkern des Schornsteins: Alleline hatte sein Büro betreten.
Und der junge Guillam hat Urlaub nötig, dachte Mendel. Auch das hatte er kommen sehen: die harten Burschen, die mit vierzig zusammenklappen. Sie schieben es beiseite, sie tun, als wäre nichts, suchen Halt bei Erwachsenen, die sich dann als gar nicht so erwachsen erweisen; und eines Tages ist es soweit, ihre Helden stürzen vom Postament, und sie selber sitzen an ihren Schreibtischen, und die Tränen tropfen auf die Löschunterlage. Er hatte den Telefonhörer auf den Boden gelegt. Nun nahm er ihn auf und sagte: »Sieht aus, als wäre das As reingeschlüpft.« Er gab die Nummer des Taxis durch und wartete. »Wie hat er ausgesehen?« flüsterte Smiley. »In Eile«, sagte Mendel. »Hat allen Grund.«
Der da wird bestimmt nicht zusammenklappen, befand Mendel anerkennend: typische Schwammeiche, dieser Smiley. Sieht aus, als könnte man ihn mit einem Schubs umwerfen, aber wenn der Sturm losbricht, ist er der einzige, der am Ende stehenbleibt. Während dieser Überlegungen fuhr ein zweites Taxi vor, geradewegs am Vordereingang, und eine hohe, bedächtige Gestalt kletterte vorsichtig Stufe für Stufe hinauf, wie ein Mann, der auf sein Herz achten muß.
»Hier kommt Ihr König«, flüsterte Mendel ins Telefon. »Moment noch, der Bube ist auch da. Sieht aus wie großes Treffen der Clans. Hoppla, immer langsam.«
Ein alter Mercedes 190 kam aus der Earlham Street geschossen, machte direkt unter seinem Fenster kehrt und kratzte gerade noch die Kurve bis zum Nordende der Charing Cross Road, wo er parkte. Ein junger, schwergebauter Mann mit rostbraunem Haar stieg aus, knallte die Tür zu und wuchtete über die Straße zum Eingang, ohne auch nur den Zündschlüssel abgezogen zu haben. Kurz darauf ging ein weiteres Licht im vierten Stock an, als Roy Bland sich dazugesellte.
»Jetzt brauchen wir nur noch zu wissen«, dachte Mendel, »wer kommt wieder raus?«
In London bekommt Inspektor Mendel eine Freikarte für den Circus, und George Smiley macht sich auf die Socken
Lock Gardens war eine Reihe von vier schmucklosen Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert, halbmondförmig angelegt, jedes mit drei Obergeschossen und einem Souterrain und einem schmalen ummauerten Hintergarten, der sich zum Regent's Canal hinunterzog. Sie waren von zwei bis fünf numeriert: Nummer eins war entweder eingestürzt oder nie erbaut worden. Nummer fünf bildete das Nordende, und als »sicheres Haus« hätte man sich nichts Vorteilhafteres denken können, denn es gab drei Zugänge im Umkreis von zehn Metern und der Treidelpfad am Kanal bot noch zwei weitere. Nördlich lag die Camden High Street als Verkehrsanschluß; südlich und westlich lagen die Parks und Primrose Hill. Und was noch hinzukam: die Gegend war vom sozialen Anstrich her nicht einzustufen und war auch nicht darauf aus. Einige Häuser waren in Ein-Zimmer-Apartments aufgeteilt und hatten zehn Türklingeln, wie Schreibmaschinentasten angeordnet. Andere waren vornehm geworden und hatten nur eine Klingel. Nr. 5 hatte zwei: eine für Millie McCraig und eine für ihren Mieter, Mr. Jefferson.
Mrs. McCraig war sehr kirchlich eingestellt und sammelte für alles, was ihr zufällig eine ausgezeichnete Gelegenheit verschaffte, die Umwohner im Auge zu behalten, wenn sie auch ihren Sammeleifer kaum so auslegten. Von Jefferson, ihrem Mieter, wußte man nur, daß er Ausländer war und in der Ölbranche und viel auf Reisen. Lock Gardens war sein pied-á-terre. Wenn die Nachbarn ihm überhaupt Aufmerksamkeit schenkten, so fanden sie ihn schüchtern und respektabel. Den gleichen Eindruck hätten sie auch von George Smiley gewonnen, wenn sie ihn zufällig an jenem Abend um neun Uhr im trüben Eingangslicht gesehen hätten, ehe Millie McCraig ihn ins Vorderzimmer führte und die züchtigen Gardinen zuzog. Sie war eine drahtige schottische Witwe mit braunen Strümpfen und gewelltem Haar und der blanken, runzeligen Haut eines alten Mannes. Zur Ehre Gottes und des Circus hatte sie Bibelschulen in Mozambique geleitet und ein Seemannsheim in Hamburg, und obwohl sie seit nunmehr zwanzig Jahren berufsmäßige Lauscherin war, neigte sie noch immer dazu, alle Mannsbilder als Missetäter zu behandeln. Er konnte nicht herausfinden, was sie dachte. Ihr Benehmen war vom Augenblick seines Kommens an von tiefer und einsamer Schweigsamkeit geprägt; sie führte ihn durch das Haus wie eine Schloßherrin, deren Gäste längst tot sind.
Zuerst das Souterrain, wo sie selber wohnte und das angefüllt war mit Pflanzen und jenem Sammelsurium alter Postkarten, Messingtischchen und schwarzen geschnitzten Möbeln, das weitgereisten englischen Damen eines bestimmten Alters und Standes ans Herz gewachsen zu sein scheint. Ja, wenn der Circus ihr nachts etwas mitteilen wollte, wurde sie über den Apparat im Souterrain angerufen. Ja, oben war ein eigener Anschluß, aber nur für Gespräche vom Haus nach draußen. Das Souterrain-Telefon hatte einen Nebenapparat droben im Eßzimmer. Dann hinauf ins Erdgeschoß, einem wahren Heiligtum der kostspieligen Geschmacksverirrung der Haushälterin: aufdringliche Regency-Streifen, vergoldete Stilsessel, Plüschsofas mit Kordeleinfassung. Die Küche war unbenutzt und verwahrlost. Dahinter lag ein verglaster Anbau, halb Treibhaus, halb Spülküche, der auf den verwilderten Garten und den Kanal hinausging. Über den Fliesenboden verstreut: eine alte Wäschemangel, ein Kupferkessel und Kisten mit Tonic-Water. »Wo sind die Mikros, Millie?« fragte Smiley, als sie wieder im Wohnzimmer waren.
Paarweise angebracht, murmelte Millie, hinter der Tapete eingelassen, zwei Paar in jedem Raum im Erdgeschoß, je ein Paar in jedem der oberen Räume. Jedes Paar war mit einem eigenen Aufnahmegerät verbunden. Er folgte Millie die steile Treppe hinauf. Das oberste Stockwerk war unmöbliert, mit Ausnahme eines Dachzimmers, das einen grauen Stahlrahmen mit acht Bandgeräten enthielt, vier oben, vier unten. »Und Jefferson weiß über das alles Bescheid?« Mr. Jefferson, sagte Millie steif, werde auf Vertrauensbasis behandelt. Dies war der deutlichste Ausdruck ihrer Mißbilligung Smileys oder ihrer Ehrfurcht vor der christlichen Ethik, den sie sich gestattete.
Als sie wieder unten waren, zeigte sie ihm die Schalter, mit denen das System zu bedienen war. Es waren Doppelschalter. Wenn Mr. Jefferson oder einer der Jungens, wie sie sich ausdrückte, etwas aufnehmen wollten, mußte er nur hingehen und die linke Schalttaste hinunterdrücken. Sodann war die Anlage auf Aufnahme gestellt; das Band begann jedoch erst zu laufen, sobald jemand sprach.
»Und wo sind Sie, Millie, während das alles vor sich geht?« Sie bleibe unten, sagte sie, als wäre das der Platz einer Frau. Smiley öffnete Schränke und Schubladen, ging von einem Zimmer zum anderen. Dann wieder zurück in die Spülküche mit dem Blick auf den Kanal. Er nahm eine Taschenlampe und funkte einen Lichtstrahl in die Dunkelheit des Gartens.
»Wie sind die Sicherheitsvorkehrungen?« fragte Smiley und befingerte gedankenvoll den Lichtschalter an der Tür des Wohnzimmers.
Ihre Antwort kam monoton wie eine Litanei: »Zwei volle Milchflaschen auf der Türschwelle, dann kann man reinkommen und alles ist in Ordnung. Keine Milchflaschen, dann darf man nicht reinkommen.« Aus der Richtung des Glashauses kam ein schwaches Klopfen. Smiley ging wieder zurück in die Spülküche, öffnete die Glastür, führte ein hastig geflüstertes Gespräch und kam mit Peter Guillam herein. »Sie kennen Peter, nicht wahr, Millie?« Es blieb dahingestellt, ob Millie ihn kannte, ihre kleinen harten Augen hatten sich voll Verachtung auf ihn geheftet. Er studierte die Schaltanlage und tastete dabei in seiner Tasche. »Was tut er da? Er darf das nicht tun. Verbieten Sie es ihm.« Wenn sie Bedenken hege, sagte Smiley, solle sie über den Apparat im Souterrain Lacon anrufen. Millie McCraig rührte sich nicht, aber zwei rote Flecken waren auf ihren ledrigen Wangen erschienen, und sie schnalzte ärgerlich mit den Fingern. Guillam hatte inzwischen mit einem kleinen Schraubenzieher die Schrauben zu beiden Seiten der Plastikverkleidung entfernt und sah sich die dahinterliegenden Drähte an. Dann drehte er sehr vorsichtig de linke Taste um hundertachtzig Grad, wobei er die Drähte entsprechend verbog und schraubte die Verkleidung wieder auf; die übrigen Tasten ließ er unberührt.
»Probieren wir's mal aus«, sagte Guillam, und während Smiley hinaufging, um das Bandgerät zu kontrollieren, sang Guillam >Old Man River< mit der grollenden Baßstimme Paul Robesons. »Vielen Dank«, sagte Smiley und schauderte, »das genügt vollauf.« Millie war ins Souterrain hinuntergegangen, um Lacon anzurufen. Smiley richtete in aller Ruhe die Bühne her. Er stellte die Telefone neben einen Sessel im Wohnzimmer, dann machte er sich den Rückzug in die Spülküche frei. Er holte zwei volle Milchflaschen aus der Coca-Cola-Kühlbox in der Küche und stellte sie vor die Tür, um im McCraigschen Esperanto zu sagen, daß sie hereinkommen könnten und alles in Ordnung sei. Er zog die Schuhe aus, trug sie in die Spülküche, machte alle Lichter aus und hatte gerade seinen Posten im Sessel bezogen, als Mendel seinen Kontrollanruf tätigte.
Guillam hatte währenddessen auf dem Treidelpfad die Überwachung des Hauses wieder aufgenommen. Dieser Pfad wird eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit für die Öffentlichkeit gesperrt; danach dient er sowohl als Stelldichein für Liebespaare wie als Asyl für Clochards; beiden ist, wenn auch aus verschiedenen Gründen, die Dunkelheit unter den Brücken lieb. In dieser kalten Nacht sah Guillam jedoch keinen Menschen. Dann und wann raste ein unbesetzter Zug vorbei und hinterließ eine noch größere Leere. Seine Nerven waren so gespannt, seine Erwartungen so mannigfach, daß er einen Augenblick lang die ganze Szenerie dieser Nacht in apokalyptischen Bildern sah: die Signale auf der Eisenbahnbrücke wurden zu Galgen, die victorianischen Lagerhäuser mit ihren vergitterten Fenstern und Gewölben, die sich vor dem dunstigen Himmel abzeichneten, zu gigantischen Gefängnissen. Nahebei das Rascheln von Ratten und der Gestank von Brackwasser. Dann erloschen die Lichter im Wohnzimmer, und das Haus lag im Dunkeln, mit Ausnahme der gelblichen Ritzen zu beiden Seiten von Millies Souterrain-Fenster. Aus der Spülküche winkte ihm ein dünner Lichtstrahl über den ungepflegten Garten hinweg. Er nahm eine Füllhalter-Lampe aus der Tasche, entfernte die silberne Kappe, visierte mit zitternden Fingern den Punkt an, von dem das Licht gekommen war und signalisierte zurück. Von jetzt an konnten sie nur noch warten.
Tarr warf das eingegangene Telegramm Ben zu, zusammen mit der Codeliste zum einmaligen Gebrauch aus dem Safe. »Los«, sagte er, »verdienen Sie Ihr Geld, Trennen Sie's auf.«
»Es ist an Sie persönlich«, wandte Ben ein. »Sehen Sie. Persönlich von Alleline nur vom Adressaten zu entschlüsseln. < Ich darf es nicht anfassen. Es ist topsecret.«
»Tun Sie, was er sagt, Ben«, sagte Mackelvore und beobachtete Tarr.
Zehn Minuten lang wurde zwischen den drei Männern kein Wort gesprochen. Tarr stand am anderen Ende des Raums, sehr nervös vom Warten. Die Kanone hatte er in den Hosenbund gesteckt, Kolben nach innen, zur Leiste. Seine Jacke lag über einem Stuhl. Der Schweiß hatte sein Hemd am ganzen Rücken festgeklebt. Ben las mit Hilfe eines Lineals die Zahlengruppen ab und schrieb seine Ergebnisse sorgfältig auf einen Zeichenblock mit Maßeinteilung, der vor ihm lag. Zwecks besserer Konzentration hatte er die Zunge gegen die Zähne gepreßt, und jetzt zog er sie mit einem leisen Schnalzen zurück. Dann legte er den Stift weg und reichte Tarr das Abreißblatt. »Lesen Sie vor«, sagte Tarr.
Bens Stimme war freundlich und ein bißchen erregt. »>Persönlich an Tarr von Alleline, nur vom Adressaten zu entschlüsseln. Verlange entschieden Aufklärung bzw. Proben vor Erfüllung Ihrer Forderung. Information in Anführung lebenswichtig für Sicherheit der Dienststelle Abführung nicht qualifiziert. Bedenken Sie Ihre ungünstige Position hier infolge schimpflichen Verschwindens stop Mackelvore ist unverzüglich ins Bild zu setzen wiederhole unverzüglich stop Chef. <«
Ben war noch nicht ganz zu Ende, als Tarr bereits seltsam unbeherrscht zu lachen begann.
»So ist's richtig, Percy-Boy!« schrie er. »Ja wiederhole nein! Wissen Sie, warum er mauert, Herzenslieben? Er nimmt Maß, um mich in den Rücken zu schießen! Genauso hat er mein Ruskimädel erwischt. Wieder seine alte Masche, dieser gemeine Hund.« Er zauste Bens Haar, schrie ihn an, lachte: »Ich warne Sie, Ben: in diesem Laden stecken ein paar ganz falsche Fuffziger, also traun Sie keinem einzigen von ihnen, lassen Sie sich's gesagt sein, oder Sie werden nie groß und stark werden!«
Im dunklen Wohnzimmer wartete auch Smiley, er saß allein im unbequemen Sessel der Haushälterin, die Hörmuschel des Telefons schmerzhaft gegen den Kopf geklemmt. Dann und wann murmelte er etwas, und Mendel murmelte zurück, meist jedoch verband sie das Schweigen. Seine Stimmung war mäßig, sogar ein bißchen trübe. Wie ein Schauspieler hatte er Lampenfieber, ehe der Vorhang hochging, ein Gefühl, als ob alles Große plötzlich zu einem kleinlichen, miesen Ende zusammenschrumpfte; schließlich erschien ihm nach den Kämpfen seines Lebens sogar der Tod kleinlich und mies. Er war sich keines Siegesgefühls bewußt. Wie so oft, wenn er Furcht empfand, kreisten seine Gedanken um die betroffenen Menschen. Er hatte keine besonderen Theorien oder fertigen Urteile. Er überlegte nur, in welcher Weise jeder einzelne berührt würde; und er fühlte sich verantwortlich. Er dachte an Jim und Sam und Max und Connie und Jerry Westerby und die vielen persönlichen Treuebande, die zerrissen waren; auf anderer Ebene dachte er an Ann und die hoffnungslose Verworrenheit ihres Gesprächs auf den Klippen Cornwalls; er fragte sich, ob es überhaupt Liebe zwischen Menschen gab, die nicht auf irgendeiner Art von Selbsttäuschung beruhte; am liebsten wäre er einfach aufgestanden und weggegangen, ehe es passieren würde, aber das konnte er nicht. Er machte sich, fast wie ein Vater, Sorgen um Guillam, fragte sich, wie er die verspäteten Mühen des Erwachsenwerdens verkraften mochte. Wieder dachte er an den Tag, an dem er Control begrub. Er dachte über Verrat nach und überlegte, ob es wohl fahrlässigen Verrat geben könne, so wie es fahrlässige Körperverletzung gibt. Es bestürzte ihn, daß er sich so am Ende fühlte; daß alle intellektuellen oder philosophischen Leitlinien, an die er sich gehalten hatte, völlig zusammenbrachen, jetzt, da er sich mit der Situation des Menschen konfrontiert sah. »Gibt's was?« fragte er Mendel über das Telefon. »Ein paar Betrunkene«, sagte Mendel, »sie singen > Am Tag, als der Regen kam<.«
»Nie gehört.«
Er nahm den Hörer ans linke Ohr und zog die Pistole aus der Brusttasche seines Jacketts, wo sie bereits das vorzügliche Seidenfutter ruiniert hatte. Er entdeckte die Sicherung und amüsierte sich flüchtig bei dem Gedanken, daß er nicht wußte, welche Stellung >zu< und welche >auf< bedeutete. Er ließ das Magazin herausgleiten und steckte es wieder hinein und erinnerte sich, wie er es Hunderte von Malen im Laufen getan hatte, bei den Nachtübungen in Sarratt vor dem Krieg; er erinnerte sich daran, daß man immer mit beiden Händen schoß, Sir, eine hält die Pistole und die andere das Magazin, Sir; und an jenes Detail der Circus-Folklore, das verlangte, daß er den Zeigefinger der einen Hand flach an den Lauf legen und den Abzug mit dem anderen drücken sollte. Aber als er es versuchte, war das Gefühl dabei ausgesprochen lächerlich, und er ließ es sein.
»Geh ein bißchen spazieren«, murmelte er, und Mendel sagte: »Nur zu.«
Die Pistole noch immer in der Hand, ging er in die Spülküche, lauschte dabei auf ein Knarren der Bodenbretter, das ihn verraten könnte, aber der Boden unter dem Strohteppich mußte Zement sein; er hätte darauf herumhüpfen können, ohne daß auch nur eine Schwingung entstanden wäre. Mit der Taschenlampe gab er zwei kurze Signale, machte eine lange Pause und gab nochmals zwei. Sofort antwortete Guillam mit drei kurzen Zeichen. »Wieder zurück«
»Verstanden», sagte Mendel.
Er ließ sich nieder und dachte mißlaunig an Ann: den unmöglichen Traum träumen. Er steckte die Pistole in die Tasche. Vom Kanal her das Muhen eines Nebelhorns. Bei Nacht? Fuhren dort Schiffe bei Nacht? Mußte ein Auto sein. Wie, wenn Gerald eine komplette Notstands-Prozedur hatte, über die wir nichts wissen? Verbindung zwischen Fernsprechzellen, einen Auto-Treff? Wie, wenn Poljakow doch einen Kurier hatte, einen Gehilfen, den Connie nie identifizieren konnte? Das war ihm alles schon untergekommen. Solche Systeme waren wasserdicht, waren bei Zusammenkünften unter allen möglichen Umständen anwendbar. Wenn's ums Handwerkliche geht, ist Karla ein Pedant. Und seine fixe Idee, daß er beschattet wurde? Was war damit? Was war mit dem Schatten, den er nicht gesehen, nur gefühlt hatte, bis sein Rücken unter dem beharrlichen Blick seines Beobachters zu kribbeln schien; er hatte nichts gesehen, nichts gehört, nur gefühlt. Er war zu alt, um die Warnung in den Wind zu schlagen. Das Knarren einer Stufe, die sonst nie geknarrt hatte; das Klappern eines Fensterladens, obwohl kein Wind ging; das Auto mit anderen Nummernschildern, aber dem gleichen Kratzer auf dem inneren Kotflügel: das Gesicht in der U-Bahn, das man bestimmt schon irgendwo gesehen hatte: er hatte einmal jahrelang mit diesen Zeichen gelebt; jedes einzelne von ihnen war ein ausreichender Grund gewesen, sich zu verändern, die Stadt zu wechseln, die Identität. Denn in diesem Beruf gibt es keine bloßen Zufälle.
»Einer geht«, sagte Mendel plötzlich. »Hallo?«
»Bin da.«
Jemand sei gerade aus dem Circus gekommen, sagte Mendel. Vordertür, aber er konnte nicht genau feststellen, wer es war. Trug Regenmantel und Hut. Bullig, rascher Schritt. Er mußte ein Taxi vor die Tür bestellt haben und direkt eingestiegen sein. »Fährt nach Norden, in Ihre Richtung.«
Smiley schaute auf seine Uhr. Gib ihm zehn Minuten, dachte er. Gib ihm zwölf, er wird unterwegs haltmachen und Poljakow anrufen müssen. Dann dachte er: sei nicht albern, das hat er bereits vom Circus aus erledigt. »Ich lege auf«, sagte Smiley. »Cheers«, sagte Mendel.
Guillam auf dem Treidelpfad las drei lange Lichtzeichen. Der Maulwurf ist unterwegs.
In der Spülküche hatte Smiley noch einmal seine Piste geprüft, drei Liegestühle beiseite geschoben und an die Wäschemangel eine Schnur gebunden, die ihm als Leitseil dienen sollte, denn im Dunkeln sah er schlecht. Die Schnur führte zur offenen Küchentür, die Küche führte sowohl ins Wohnzimmer wie ins Speisezimmer, die beiden Türen lagen nebeneinander. Die Küche war ein langgestreckter Raum, genau gesagt ein Anbau, ehe das Glashaus angefügt worden war. Er hatte daran gedacht, das Eßzimmer zu benutzen, aber es war zu riskant, und außerdem konnte er vom Eßzimmer aus keine Signale zu Guillam senden. Also wartete er in der Spülküche, kam sich lächerlich vor ohne Schuhe, in Socken, putzte seine Brille, denn die Hitze seines Gesichts beschlug dauernd die Gläser. Hier in der Spülküche war es viel kälter. Das Wohnzimmer war von anderen Zimmern umgeben und überheizt, die Spülküche dagegen hatte Außenwände, und das Glas und der Fliesenboden unter den Matten bewirkten, daß seine Füße sich feucht anfühlten. Der Maulwurf kommt als erster, dachte er, der Maulwurf spielt den Gastgeber: das gehört zum Protokoll, zu der Farce, wonach Poljakow Geralds Agent ist. Ein Londoner Taxi ist eine fliegende Bombe. Der Vergleich stieg langsam in ihm auf, aus den Tiefen seiner unbewußten Erinnerung. Das Knattern, wenn es in die ansteigende Kurve einbiegt, das regelmäßige Tick-tack, während das Taxameter stillsteht. Das Halten: wo hat es angehalten, vor welchem Haus, während wir alle hier in der Straße im Dunkeln warten, unter Tischen kauern oder uns an Seilen festhalten, vor welchem Haus? Dann das Zuknallen der Tür, die Entspannung mit der Explosion: wenn du sie hören kannst, ist sie nicht für dich bestimmt.
Aber Smiley hörte sie, und sie war für ihn bestimmt. Er hörte die Schritte eines Paars Füße auf dem Kies, flott und kraftvoll. Sie blieben stehen. Es ist die falsche Tür, dachte Smiley absurderweise, geh weg. Er hatte die Pistole in der Hand, die Sicherung nach unten gedrückt. Er lauschte noch immer, hörte nichts. Du bist auf der Hut, Gerald, dachte er. Du bist ein alter Maulwurf, du witterst, daß etwas nicht stimmt. Millie, dachte er; Millie hat die Milchflaschen weggenommen, ein Warnzeichen aufgestellt, ihn verscheucht. Millie hat uns den Fang verpatzt. Dann hörte er, wie das Schloß sich drehte, einmal, zweimal, es ist ein Banham-Schloß, erinnerte er sich, mein Gott, wir sorgen bei Banham für Absatz. Natürlich: der Maulwurf hatte seine Taschen nach dem Schlüssel abgeklopft. Ein nervöser Mensch hätte ihn bereits in der Hand gehalten, ihn umklammert, auf der ganzen Taxifahrt in seiner Tasche damit gespielt; nicht so der Maulwurf; der Maulwurf mochte beunruhigt sein, nervös war er nicht. Im gleichen Moment, indem das Schloß sich drehte, schlug die Klingel an: auch dies im Hauswarts-Geschmack, hoher Ton, tiefer Ton, hoher Ton. Das bedeutet, daß es einer von uns ist, hatte Millie gesagt; einer der Jungens, ihrer Jungen s, Connies Jungens, Karlas Jungens. Die Vordertür ging auf, jemand trat ins Haus, er hörte das Scharren der Fußmatte, er hörte das Schließen der Tür, er hörte das Klicken der Lichtschalter und sah einen blassen Streifen unter der Küchentür erscheinen, er steckte die Pistole in die Tasche und wischte sich die Handflächen an der Jacke ab, dann nahm er die Pistole wieder heraus, und im gleichen Augenblick hörte er eine zweite fliegende Bombe, ein zweites anhaltendes Taxi und rasche Schritte: Poljakow hatte nicht nur den Schlüssel bereitgehalten, er hatte auch das Fahrgeld bereitgehalten: geben Russen Trinkgelder, fragte er sich, oder sind Trinkgelder undemokratisch? Wieder schlug die Klingel an, die Vordertür öffnete und schloß sich und Smiley hörte das doppelte Klirren, als - wie Ordnung und sauberes Arbeiten es befahlen - zwei Milchflaschen auf den Dielentisch gestellt wurden.
Gott sei mir gnädig, dachte Smiley voll Entsetzen und starrte auf den alten Coca-Cola-Kühlschrank neben sich, auf diesen Gedanken bin ich überhaupt nicht gekommen: wenn er sie jetzt in die Box hätte zurückstellen wollen?
Der Lichtstreifen unter der Küchentür wurde plötzlich heller, als die Lampen im Wohnzimmer angeschaltet wurden. Eine außergewöhnliche Stille senkte sich über das Haus. An das Seil geklammert schob Smiley sich langsam über den eiskalten Boden voran. Dann hörte er Stimmen. Zuerst waren sie undeutlich. Sie müssen noch am anderen Ende des Zimmers sein, dachte er. Oder vielleicht fangen sie immer leise an. Jetzt kam Poljakow näher: er stand am Barwagen und goß Drinks ein.
»Wie ist unsere Tarngeschichte, falls wir gestört werden sollten?« fragte er in gutem Englisch.
Hübsche Stimme, erinnerte sich Smiley, melodisch wie die Ihre. Ich habe die Bänder oft zweimal abgespielt, nur um ihm zuzuhören. Connie, Sie sollten ihn jetzt hören.
Vom entfernten Zimmerende her beantwortete ein gedämpftes Murmeln jede Frage. Smiley konnte nichts verstehen. »Wo sollen wir uns wieder sammeln?«
»Was ist der Ausweich-Treff ? Haben Sie irgend etwas bei sich, das Sie während unserer Unterredung lieber mir übergeben möchten, da ich diplomatische Immunität besitze?«
Es muß ein Katechismus sein, dachte Smiley, ein Teil von Karlas Schulungsroutine.
»Ist heruntergeschaltet? Würden Sie bitte nachsehen? Vielen Dank. Was möchten Sie trinken?«
»Scotch«, sagte Haydon, »und einen verdammt großen.« Mit dem Gefühl äußerster Ungläubigkeit lauschte Smiley der vertrauten Stimme, die nun genau jenes Telegramm vorlas, das Smiley vor nur achtundvierzig Stunden ausschließlich zu Tarrs Händen abgefaßt hatte.
Dann lehnte sich einen Augenblick lang ein Teil von Smileys Persönlichkeit in offener Rebellion gegen den anderen auf. Die Woge zornigen Zweifels, die ihn in Lacons Garten überschwemmt und seitdem ständig wie ein feindlicher Sog sein Fortschreiten hatte hemmen wollen, schleuderte ihn jetzt auf die Klippen der Verzweiflung und trieb ihn dann in die Meuterei: Ich weigere mich. Nichts ist die Zerstörung eines anderen Menschen wert. Irgendwo muß der Weg von Schmerz und Verrat sein Ende finden. Bis dahin gab es keine Zukunft: es gab nur ein stetes Abgleiten in noch grauenhaftere Versionen der Gegenwart. Dieser Mann war mein Freund und Anns Geliebter, Jims Freund und, soviel Smiley wußte, auch Jims Geliebter; dem Bereich der Öffentlichkeit gehörte nur der Verrat, nicht der Mann. Haydon hatte Verrat geübt. Als Geliebter, als Kollege, als Freund, als Patriot; als Mitglied jener unschätzbaren Gemeinschaft, die Ann vage als den Set bezeichnete: in jeder dieser Eigenschaften hatte Haydon nach außen hin ein einziges Ziel verfolgt und insgeheim das Gegenteil davon erreicht. Smiley wußte sehr genau, daß er nicht einmal jetzt den vollen Umfang dieses haarsträubenden Doppelspiels begriff. Und doch meldete sich bereits etwas in ihm zu Haydons Verteidigung. War Bill nicht gleichfalls verraten worden? Connies Klage hallte ihm in den Ohren: »Die armen Kinder. Für das Empire erzogen, erzogen, um die Meere zu beherrschen . . . Sie sind der letzte, George, Sie und Bill.« Mit schmerzender Klarheit sah er einen ehrgeizigen Mann vor sich, der zu großen Dingen geboren war, erzogen zum Herrschen, Teilen und Erobern, dessen Planen und Trachten, genau wie es bei Percy der Fall war, dem Spiel mit der Weltkugel galt; für den die Wirklichkeit eine kümmerliche Insel war mit kaum einer Stimme darauf, die über das Wasser reichte. Daher empfand Smiley nicht nur Ekel; sondern, trotz allem, was dieser Augenblick für ihn bedeutete, regte sich Empörung gegen die Institutionen, die er von Amts wegen schützen sollte: »Der Gesellschaftsvertrag hat seine zwei Seiten«, hatte Lacon gesagt. Die lässige Verlogenheit des Ministers, Lacons schmallippige moralische Selbstgefälligkeit, die brutale Gier Percy Allelines: solche Männer machten jeden Vertrag wertlos: warum sollte irgendwer ihnen die Treue halten?
Er wußte es natürlich. Er hatte die ganze Zeit gewußt, daß es Bill war. Genau wie Control es gewußt hatte, und Lacon, damals in Mendels Haus. Genau wie Connie und Jim es gewußt hatten, und Alleline und Esterhase, sie alle hatten schweigend jenes unausgesprochene Halbwissen geteilt, von dem sie gehofft hatten, es werde vorübergehen wie ein Leiden, wenn es nur niemals eingestanden, niemals diagnostiziert würde. Und Ann? Hatte Ann es gewußt? War dies der Schatten gewesen, der an jenem Tag auf den Klippen Cornwalls über sie beide gefallen war?
Das also war Smiley, wie er jetzt so dastand: ein fetter, barfüßiger Spion, wie Ann sagen würde, betrogen in der Liebe und ohnmächtig im Haß, im Dunkeln lauernd, in der einen Hand eine Pistole und in der anderen ein Stück Schnur. Dann ging er auf Zehenspitzen, noch immer mit gezückter Pistole, an seinem Leitseil zurück in die Spülküche und bis zum Fenster, von wo aus er fünf kurze Lichtblitze in rascher Folge signalisierte. Er wartete, bis er die Antwort erhalten hatte, und kehrte auf seinen Lauscherposten zurück.
Guillam rannte in solcher Eile den Treidelpfad entlang, daß die Taschenlampe in seiner Hand wilde Sprünge machte, bis er eine niedrige Bogenbrücke und eine Eisentreppe erreichte, die im Zickzack zur Gloucester Avenue hinaufführte. Droben war das Gitter geschlossen und er mußte hinüberklettern, wobei er sich einen Ärmel bis zum Ellbogen aufschlitzte. Lacon stand an der Ecke der Princess Road, er trug seinen alten, derben Mantel und in der Hand eine Aktentasche.
»Er ist da. Er ist gekommen«, keuchte er. »Er hat Gerald erwischt.«
»Ich möchte kein Blutvergießen«, warnte Lacon. »Es muß in aller Stille erledigt werden.«
Guillam gab sich nicht die Mühe, zu antworten. Zehn Meter entfernt wartete Mendel in einem Geheimdienst-Taxi. Sie fuhren zwei Minuten, nicht ganz so lang, und ließen das Taxi kurz vor der Steigung halten. Guillam hatte Esterhases Türschlüssel bei sich. Bei Hausnummer 5 stiegen Mendel und Guillam über das Gitter, um kein Geräusch zu riskieren, und hielten sich auf dem Rasenstreifen. Guillam blickte sich im Gehen um und glaubte einen Augenblick im gegenüberliegenden Hauseingang eine lauernde Gestalt zu sehen, ob Mann oder Frau konnte er nicht sagen; aber als er Mendels Aufmerksamkeit auf die Stelle lenkte, war sie leer, und Mendel befahl ihm ziemlich barsch, er solle sich beruhigen. Die Lampe vor dem Eingang brannte nicht. Guillam ging zur Tür, Mendel wartete unter einem Apfelbaum. Guillam steckte den Schlüssel hinein, spürte, wie das Schloß nachgab. Du verdammter Narr, dachte er triumphierend, warum hast du den Riegel nicht vorgeschoben? Er schob die Tür einen Spalt auf und zögerte. Er atmete langsam, füllte die Lungen zum Angriff. Mendel tat einen weiteren Sprung nach vorn. Auf der Straße gingen zwei Jungen vorbei, sie lachten laut, weil sie sich in der Nacht fürchteten. Noch einmal blickte Guillam sich um, aber die Luft war rein. Er trat in die Diele. Seine Wildlederschuhe quietschten auf dem Parkett, in der Diele lag kein Teppich. An der Tür des Wohnzimmers lauschte er so lange, bis endlich die Wut in ihm Oberhand gewann. Seine ermordeten Agenten in Marokko, seine Verbannung nach Brixton, die tägliche Sinnlosigkeit seiner Arbeit, während er täglich älter wurde und die Jugend ihm durch die Finger rann; die graue Eintönigkeit, die ihn umschloß; seine nachlassende Fähigkeit zur Liebe, zum Genuß, zum Lachen; das ständige Abbröckeln der einfachen, heroischen Grundsätze, nach denen er leben wollte; die Grenzen und Entsagungen, die er sich im Namen schweigender Pflichterfüllung selber auferlegt hatte; das alles konnte er nun in Haydons überheblich lächelndes Gesicht schleudern. Haydon, einst sein Beichtvater, Haydon, immer zu einem Scherz, einem Schwatz und einer Tasse Kaffee zu haben; Haydon, ein Vorbild, nach dem er sein Leben aufgebaut hatte. Mehr, viel mehr. Jetzt, da er es sah, wußte er es. Haydon war mehr gewesen als sein Vorbild, er war seine Inspiration gewesen, der Fackelträger eines gewissen überholten Romantizismus, der Inbegriff einer britischen Berufung, die - allein schon weil sie vage und voller Vorbehalte und schwer zu definieren war — Guillams Leben bis jetzt einen Sinn gegeben hatte. In diesem Augenblick fühlte Guillam sich nicht nur verraten, sondern verwaist. Seine Zweifel, seine Ressentiments, die sich so lange Zeit nach außen, gegen die reale Welt gerichtet hatten - gegen seine Frauen, seine mißlungenen Liebschaften, stürzten sich jetzt auf den Circus und den trügerischen Zauber, der sein Glaubensbekenntnis gewesen war. Mit aller Kraft stieß er die Tür auf und sprang ins Zimmer, die Pistole im Anschlag. Haydon und ein schwerer Mann mit schwarzer Stirntolle saßen zu beiden Seiten eines kleinen Tisches. Poljakow - Guillam erkannte ihn nach den Fotos - rauchte eine sehr englische Pfeife. Er trug eine graue Strickweste mit Reißverschluß, wie die obere Hälfte eines Monteuranzugs. Er hatte noch nicht einmal die Pfeife aus dem Mund genommen, als Guillam bereits Haydon beim Kragen gepackt hielt. Mit einem einzigen Zug hob er ihn aus dem Sessel. Er hatte die Pistole weggeworfen und wirbelte Haydon von einer Seite zur anderen, schüttelte ihn wie einen Hund und brüllte. Dann erschien ihm plötzlich alles sinnlos. Schließlich war das nur Bill, und sie hatten eine Menge zusammen erlebt. Guillam war zurückgewichen, lange bevor Mendel ihn am Arm packte, und er hörte Smiley, höflich wie immer, »Bill und Oberst Viktorow«, wie er sie nannte, auffordern, die Hände zu heben und über den Kopf zu legen, bis Percy Alleline hier sei. »Sie haben draußen niemanden sonst gesehen, oder?« fragte Smiley Guillam, während sie warteten.
»Alles ruhig wie das Grab«, sagte Mendel und antwortete für beide.
Ein stilles Haus bekommt viele Besucher
Es gibt Augenblicke, die zu vollgepackt sind, als daß man sie zu dem Zeitpunkt, da sie geschehen, ganz erleben könnte. Für Guillam und alle anderen Anwesenden war das jetzt der Fall. Smileys fortgesetzte Zerstreutheit und seine häufigen vorsichtigen Blicke aus dem Fenster, Haydons Gleichgültigkeit, Poljakows programmgemäße Entrüstung, seine Forderungen, daß man ihn behandle, wie es einem Mitglied des diplomatischen Corps zustehe -Forderungen, die Guillam von seinem Sofaplatz aus in barschen Worten zu erfüllen drohte - das Hereinplatzen Allelines und Blands, weitere Proteste und die Wallfahrt nach oben, wo Smiley die Bänder abspielte, das lange düstere Schweigen, das ihrer Rückkehr ins Wohnzimmer folgte; die Ankunft Lacons und schließlich Esterhases und Fawns, Millie McCraigs schweigendes Hantieren mit der Teekanne: alle diese Ereignisse rollten mit einer bühnenhaften Unwirklichkeit ab, die genau wie die Fahrt nach Ascot vor einer Ewigkeit durch die unwirkliche Nachtstunde vertieft wurde. Es stimmte ferner, daß diese Begebenheiten, zu denen in einem früheren Stadium die körperliche Gewaltanwendung gegen Poljakow gehörte - und ein Schwall russischer Verwünschungen gegen Fawn, der ihm trotz Mendels Wachsamkeit einen Schlag versetzt hatte, der Himmel weiß wohin - wie eine kindische Mini-Verschwörung gegen Smileys einziges Ziel wirkten, weswegen er diese Versammlung einberufen hatte: er wollte Alleline davon überzeugen, daß Haydon seine einzige Chance darstellte, mit Karla zu verhandeln und zu retten - im menschlichen, wenn auch nicht im professionellen Sinn -, was immer von den Netzen, die Haydon verraten hatte, noch übrig sein mochte. Smiley war nicht ermächtigt, diese Transaktionen zu tätigen, und es schien ihm auch gar nicht daran gelegen zu sein; vielleicht nahm er an, daß Esterhase und Bland und Alleline die geeigneteren Leute seien, zu erfahren, welche Agenten theoretisch noch vorhanden waren. Jedenfalls begab er sich bald nach oben, wo Guillam ihn wiederum ruhelos von einem Raum zum anderen stapfen hörte, als er seine Wache an den Fenstern erneut aufnahm.
Während sich also Alleline und seine Leutnants zusammen mit Poljakow ins Eßzimmer zurückzogen, um dort ihre Geschäfte unter sich zu besprechen, saßen die übrigen schweigend im Wohnzimmer und blickten entweder Haydon an oder geflissentlich von ihm weg. Er schien ihre Anwesenheit nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er saß allein, das Kinn in die Hand gestützt, in einer Ecke, bewacht von Fawn, und wirkte recht gelangweilt. Dann war die Besprechung im Eßzimmer zu Ende, die Teilnehmer strömten heraus, und Alleline vermeldete Lacon, der darauf bestanden hatte, bei der Unterredung nicht anwesend zu sein, daß man sich in drei Tagen am gleichen Ort wieder treffen wolle und daß in der Zwischenzeit »der Oberst Gelegenheit haben wird, seine Vorgesetzten zu konsultieren«. Lacon nickte. Es hätte eine Aufsichtsratssitzung sein können. Der Abzug der Gesellschaft war sogar noch seltsamer, als ihre Ankunft gewesen war. Besonders der Abschied zwischen Esterhase und Poljakow verlief dramatisch. Esterhase, der schon immer lieber den Gentleman gespielt hätte als den Spion, schien ein »ritterliches Schauspiel« daraus machen zu wollen und bot Poljakow die Hand, die Poljakow erbittert ausschlug. Esterhase blickte sich hilflos nach Smiley um, vielleicht in der Hoffnung, ihn weiter für sich einzunehmen, dann zuckte er die Achseln und legte Bland den Arm um die breiten Schultern. Bald darauf gingen sie zusammen weg. Sie verabschiedeten sich von niemandem, Bland wirkte furchtbar erschüttert, und Esterhase schien ihn zu trösten, obwohl ihm seine eigene Zukunft in diesem Augenblick kaum rosig erscheinen konnte. Bald darauf kam ein Funktaxi für Poljakow, und auch er ging weg, ohne irgend jemandem auch nur zuzunicken. Jetzt war das Gespräch völlig verstummt; als der Russe nicht mehr anwesend war, wurde das Theater erbärmlich provinziell. Haydon, noch immer von Fawn und Mendel bewacht, verharrte in seiner gelangweilten Pose. Lacon und Alleline starrten ihn in stummer Verlegenheit an. Es wurde noch einige Male telefoniert, vor allem nach Taxis. Einmal kam Smiley von oben herunter und erwähnte Tarr. Alleline rief den Circus an und diktierte ein Telegramm nach Paris des Inhalts, Tarr könne in allen Ehren nach England zurückkehren, was immer das bedeuten mochte; und ein zweites an Mackelvore, das Tarr als vertrauenswürdige Persönlichkeit auswies, was Guillam wiederum Ansichtssache zu sein schien.
Endlich kam zur allgemeinen Erleichterung ein fensterloser Lieferwagen aus der Nursery an, und zwei Männer stiegen aus, die Guillam noch nie gesehen hatte, der eine groß und hinkend, der andere teigig und mit rostbraunem Haar. Schaudernd wurde ihm klar, daß es Inquisitoren waren. Fawn holte Haydons Mantel aus der Diele, durchsuchte die Taschen und half ihm respektvoll hinein. In diesem Augenblick mischte Smiley sich höflich ein und bestand darauf, daß während Haydons Gang von der Vordertür zum Lieferwagen das Licht in der Diele ausgeschaltet sein und daß die Begleitmannschaft zahlreich sein müsse. Guillam, Fawn und sogar Alleline wurden zu diesem Dienst gezwungen, und schließlich schlurfte der ganze Geleitzug mit Haydon in der Mitte durch den Garten zum Lieferwagen.
»Nur vorsichtshalber«, beteuerte Smiley. Niemand hatte Lust, ihm zu widersprechen. Haydon stieg ein, die Inquisitoren folgten und verschlossen von innen das Gitter. Als die Tür sich schloß, hob Haydon eine Hand in einer leutseligen Geste der Entlassung in Richtung Allelines.
Erst später kamen Guillam die Einzelheiten zum Bewußtsein, prägten sich einzelne Personen seiner Erinnerung ein: zum Beispiel Poljakows unterschiedsloser Haß auf alle Anwesenden von der armen kleinen Millie McCraig aufwärts - er entstellte ihn buchstäblich; der Mund verzog sich zu einer wilden, unbezähmbaren Hohngrimasse, er wurde weiß und zitterte, aber nicht vor Furcht und nicht vor Wut. Es war einfach blanker Haß von einer Art, wie Guillam ihn an Haydon nicht gesehen hatte; aber schließlich war Haydon ein Mann vom gleichen Schlag wie er selber. Für Alleline entdeckte Guillam in sich eine heimliche Bewunderung im Augenblick der Niederlage: Alleline hatte immerhin Haltung gezeigt. Später allerdings war Guillam nicht mehr so überzeugt, daß Percy bei dieser ersten Konfrontation mit den Tatsachen im vollen Umfang begriffen hatte, was die Tatsachen wirklich waren: trotz allem war er noch immer der Chef, und Haydon noch immer sein Jago.
Aber das Seltsamste war für Guillam, daß es in dem Augenblick, als sie in das Zimmer stürzten, für ihn eines Willensaktes bedurfte, und zwar eines beträchtlichen, um Bill Haydon etwas anderes als Zuneigung entgegenzubringen. Diese Einsicht nahm er mit nach Hause und überdachte sie gründlicher, als es seiner Gewohnheit entsprach. Vielleicht war er, wie Bill sagen würde, endlich erwachsen geworden. Und das Schönste war - als er am selben Abend die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, tönten ihm die vertrauten Töne von Camillas Flöte entgegen. Und wenn Camilla auch in jener Nacht einiges von ihrem geheimnisvollen Zauber verlor, so war es ihm doch bis zum Morgen gelungen, sie aus den Schlingen von Abscheulichkeit und Enttäuschung zu lösen, in die er sie verstrickt hatte.
Auch in anderer Hinsicht nahm sein Leben in den nächsten Tagen eine Wendung zum Besseren. Percy Alleline war auf unbestimmte Zeit beurlaubt worden. Smiley wurde gebeten, vorläufig zurückzukommen und das, was übriggeblieben war, ausfegen zu helfen. Man sprach davon, daß Guillam aus Brixton befreit werden sollte. Erst vie l, viel später erfuhr er, daß das Drama noch einen letzten Akt gehabt hatte, und daß jener vertraute Schatten, der nun endlich einen Namen hatte, Smiley aus gutem Grund durch die nächtlichen Straßen von Kensington gefolgt war.
Inmitten der Nacht unter klarem Himmel beim Mondenschein
Während der folgenden zwei Tage lebte George Smiley in einer Schattenwelt. Seine Nachbarn fanden, wenn sie seiner ansichtig wurden, daß er einem zehrenden Kummer verfallen sei. Er stand spät auf, trödelte im Schlafrock im Haus herum, machte sauber, wischte Staub, kochte sich Mahlzeiten, die er nicht aß. Am Nachmittag zündete er völlig gegen die ungeschriebenen Gesetze seiner Umgebung ein Kohlenfeuer an, setzte sich davor und las seine deutschen Dichter oder schrieb Briefe an Ann, die er selten vollendete und niemals zur Post gab. Wenn das Telefon klingelte, lief er rasch hin, nur um jedesmal enttäuscht zu werden. Draußen war das Wetter nach wie vor miserabel, und die wenigen Passanten - Smiley beobachtete sie ständig — waren vermummt wie arme Leute vom Balkan. Einmal rief Lacon an und übermittelte eine Bitte des Ministers, Smiley solle »mithelfen, den Stall im Cambridge Circus auszumisten, wenn eine solche Aufforderung erginge«, in Wahrheit den Nachtwächter spielen, bis ein Ersatz für Percy Alleline gefunden wäre. Smiley antwortete ausweichend und legte Lacon nochmals ans Herz, er solle mit äußerster Umsicht über Haydons körperliche Sicherheit während des Aufenthalts in Sarratt wachen.
»Dramatisieren Sie nicht ein bißchen?« meinte Lacon. »Der einzige Platz auf der Welt, wohin er gehen kann, ist Rußland, und dorthin schicken wir ihn ohnedies.«
»Wann? Wie bald?«
Die Ausarbeitung der Einzelheiten würden noch ein paar Tage in Anspruch nehmen. Smiley verschmähte es in seiner Erschlaffung nach einem Zustand der Hochspannung zu fragen, ob es mit dem Verhör vorangehe, aber Lacons Verhalten legte nahe, daß die Antwort schlecht gewesen wäre. Mendel brachte ihm handfestere Kost.
»Der Bahnhof Immingham ist geschlossen«, sagte er. »Sie werden in Grimsby aussteigen und auf Schusters Rappen laufen oder einen Bus nehmen müssen.«
Häufig saß Mendel einfach da und beobachtete ihn wie einen Kranken. »Das Warten bringt sie nicht zurück, oder?« sagte er. »Früher mal ging der Berg zu Mohammed. Ein zaghaft Herz hat nie die Schönste heimgeführt, wenn ich so sagen darf.« Am Morgen des dritten Tages klingelte es an der Tür, und Smiley ging so schnell öffnen, als könne es nur Ann sein, die wie üblich ihren Schlüssel verlegt hatte. Es war Lacon. Smiley werde in Sarratt benötigt, sagte er; Haydon bestehe darauf, mit ihm zu sprechen. Die Inquisitoren hatten nichts erreicht, und die Zeit wurde knapp. Man war sich darüber einig, wenn Smiley als Beichtvater fungierte, würde Haydon ein Teilbekenntnis ablegen. »Es wurde mir versichert, daß kein Zwang ausgeübt wurde«, sagte Lacon.
Sarratt war ein trüber Anblick nach dem Glanz, an den Smiley sich erinnerte. Die meisten Ulmen waren dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen; Lichtmaste waren aus dem alten Kricketplatz hochgeschossen. Auch das Haus selber, ein weitläufiges, aus Ziegeln erbautes Herrenhaus, war seit der Blütezeit des Kalten Krieges in Europa sehr heruntergekommen, und der größte Teil des besseren Mobiliars schien verschwunden zu sein, er vermutete, in eines von Allelines Häusern. Er fand Haydon in einer Nissenhütte, die unter Bäumen versteckt war.
Drinnen herrschte der Mief einer Wachstube, die Wände waren schwarz bemalt und die hochgelegenen Fenster vergittert. In den Zimmern zu beiden Seiten waren Wachmannschaften, und sie empfingen Smiley respektvoll und nannten ihn Sir. Offenbar hatte sich einiges herumgesprochen.
Er trug einen Drillichanzug, zitterte und klagte über Schwindel. Mehrmals mußte er sich aufs Bett legen, um das Nasenbluten zu stillen. Ihm war so etwas wie ein Bart gewachsen: anscheinend herrschte Uneinigkeit darüber, ob er ein Rasiermesser bekommen dürfe. »Kopf hoch«, sagte Smiley. »Bald sind Sie hier weg.« Auf der Fahrt hierher hatte er versucht, an Prideaux und Irina und an die tschechischen Netze zu denken, und er hatte sogar Haydons Zimmer noch mit einem vagen Gefühl öffentlicher Verantwortung betreten: irgendwie, dachte er, müßte er ihn im Namen aller Rechtlichdenkenden verurteilen. Statt dessen kam er sich ziemlich schüchtern vor; er spürte, daß er Haydon überhaupt nie gekannt hatte, und jetzt war es zu spät. Er ärgerte sich auch über Haydons körperlichen Zustand, aber als er den Wachen Vorwürfe machte, bekundeten sie Verständnislosigkeit. Noch ärgerlicher wurde er, als er erfuhr, daß die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, auf denen er bestanden hatte, nach dem ersten Tag gelockert worden waren. Als er Craddox, den Leiter der Nursery, zu sprechen verlangte, war Craddox unabkömmlich und sein Assistent stellte sich dumm. Die Unterhaltung war stockend und banal.
Ob Smiley so freundlich sein wolle, die Post aus seinem Club nachzuschicken und Alleline zu bestellen, er möge seinen Kuhhandel mit Karla ein bißchen beschleunigen? Und er benötige Taschentücher, Papiertaschentücher für seine Nase. Daß er ständig weine, erläuterte Haydon, habe nichts mit Reue oder Schmerz zu tun, es sei eine rein physische Reaktion auf das, was er die Verbohrtheit der Inquisitoren nannte, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, daß er, Haydon, die Namen weiterer Karla-Trabanten kenne, und sie unbedingt vor seinem Weggang erfahren wollten. Außerdem gebe es eine Richtung, die dafürhielt, daß Fanshaw von den Christ Church Optimates als Talentsucher sowohl für die Moskauer Zentrale wie für den Circus tätig gewesen sei. Dazu erklärte Haydon: »Ehrlich, was soll man mit solchen Eseln anfangen?« Trotz seines geschwächten Zustands gelang es ihm, den Eindruck zu vermitteln, daß er der einzige verständige Mensch weit und breit sei. Sie machten einen Spaziergang, und Smiley stellte mit gelinder Verzweiflung fest, daß im ganzen Umkreis keine Wachen patrouillierten, weder bei Nacht noch bei Tag. Nach einer Runde bat Haydon, wieder in die Hütte zurückzugehen, wo er ein Fußbodenbrett losmachte und ein paar mit Hieroglyphen bedeckte Blätter hervorholte. Sie erinnerten Smiley wider Willen an Irinas Tagebuch. Er hockte sich aufs Bett und sortierte sie, und in dieser Haltung, dem trüben Licht, mit der langen Haarsträhne, die fast bis auf das Papier hing, hätte er wieder wie damals in den sechziger Jahren in Controls Büro herumlungern und irgendein wundervoll eingängiges und gänzlich undurchführbares Projekt zum größeren Ruhme Englands entwickeln können. Smiley machte sich nicht die Mühe, irgend etwas niederzuschreiben, denn es war ihnen beiden völlig klar, daß ihr Gespräch ohnehin mitgeschnitten wurde. Der Bericht begann mit einer langen Rechtfertigung, von der Smiley sich später nur an ein paar Sätze erinnerte:
»Wir leben in einer Zeit, in der nur noch grundsätzliche Fragen Beachtung verdienen ...«
»Die Vereinigten Staaten sind nicht mehr in der Lage, ihre Revolution selber zu unternehmen ...«
»Die politische Potenz des Vereinigten Königreichs ist ohne jegliche Relevanz oder moralische Lebensfähigkeit in der Weltpolitik ...«
Vielen dieser Behauptungen hätte Smiley unter anderen Gegebenheiten zugestimmt: es war mehr der Ton als die Musik, was ihn abstieß. »Im kapitalistischen Amerika ist die Unterdrückung in einem Maß institutionalisiert, das nicht einmal Lenin hätte vorhersehen können...«
»Der Kalte Krieg begann 1917, aber die schwersten Kämpfe liegen noch vor uns, denn Amerika wird von seinem Todesdelirium zu immer größeren Exzessen in anderen Ländern getrieben ...« Er sprach nicht vom Verfall des Westens, sondern von seinem Tod durch Habgier und Verstopfung. Er hasse Amerika zutiefst, sagte er, und Smiley nahm es ihm ab. Haydon sah ferner als erwiesen an, daß die Geheimdienste der einzig reale Maßstab für die politische Gesundheit einer Nation waren, der einzige reale Ausdruck ihres Unterbewußtseins.
Schließlich kam er zu seinem eigenen Fall. In Oxford, sagte er, habe er aufrichtig rechts gestanden, und im Krieg sei es ziemlich belanglos gewesen, wo man gestanden habe, solange man gegen die Deutschen kämpfte.
Nach '45, sagte er, habe er sich eine Zeitlang mit Englands Rolle in der Welt zufriedengegeben, bis ihm nach und nach dämmerte, wie unbedeutend diese Rolle gewesen sei. Wie und wann das geschah, blieb ein Geheimnis. Er konnte nicht angeben, bei welcher Gelegenheit sein historisches Weltbild diesen schweren Schock erlitten hatte: er wußte nur, wenn England nicht mehr mit von der Partie sei, so werde sich der Fischpreis nicht um einen Penny ändern. Er hatte sich oft selber die Frage gestellt, auf welcher Seite er stehen werde, wenn die entscheidende Prüfung jemals käme; nach langem Überlegen hatte er sich schließlich eingestehen müssen: falls nur einer der beiden Monolithen die Schlacht gewinnen sollte, würde ihm der Osten als Sieger lieber sein. »Es ist unter anderem auch ein ästhetisches Urteil«, erklärte er und blickte auf. »Natürlich zum Teil auch ein moralisches.«
»Natürlich«, sagte Smiley höflich.
Von da an, sagte er, sei es nur eine Zeitfrage gewesen, bis er seine Kräfte dort einsetzte, wo seine Überzeugungen lagen. Das war die Ernte des ersten Tages. Eine weiße Absonderung hatte sich auf Haydons Lippen gebildet, und seine Augen begannen wieder zu tränen. Sie beschlossen, sich anderentags um die gleiche Zeit wiederzusehen.
»Es wäre gut, wenn wir ein bißchen ins Detail gehen könnten, Bill«, sagte Smiley, als er sich verabschiedete. »Ach, noch eins, sagen Sie's Jan, ja?« Haydon lag auf dem Bett und betupfte sich wieder die Nase. »Ist völlig egal, was Sie sagen, Hauptsache, Sie machen's endgültig.« Er setzte sich auf, schrieb einen Scheck aus und steckte ihn in einen braunen Umschlag. »Geben Sie ihr das für die Milchrechnung.« Da er vielleicht bemerkte, daß Smiley von diesem Auftrag nicht gerade entzückt war: »Schließlich kann ich sie nicht gut mitnehmen, oder? Sogar wenn man sie rüberließe, wäre sie bloß ein verdammter Klotz am Bein.«
Am gleichen Abend noch fuhr Smiley nach Haydons Anweisung mit der U-Bahn nach Kentish Town und machte eine Cottage in einem noch nicht modernisierten Gäßchen ausfindig. Ein unansehnliches blondes Mädchen in Jeans öffnete ihm, es roch nach Ölfarbe und Baby. Er wußte nicht mehr, ob er sie schon einmal in der Bywater Street getroffen hatte, daher begann er: »Ich komme von Bill Haydon. Es geht ihm soweit gut, aber ich soll Ihnen einiges von ihm bestellen.«
»Herrje«, sagte das Mädchen sanft. »Ist auch wahrhaftig Zeit.« Das Wohnzimmer war schäbig. Durch die Küchentür sah er einen Stapel schmutzigen Geschirrs und schloß daraus, daß sie alles benutzte, solange der Vorrat reichte, und dann im großen abwusch. Der Fußboden war kahl bis auf langgestreckte psychedelische Muster aus Schlangen und Blumen und Insekten. »Das ist Bills Michelangelo-Decke«, sagte sie im Konversationston. »Er wird sich nur dabei nicht Michelangelos Rückenschmerzen zuziehen. Kommen Sie von der Regierung?« fragte sie und zündete sich eine Zigarette an. »Er arbeitet für die Regierung, hat er mir gesagt.« Ihre Hand zitterte, und sie hatte gelbe Monde unter den Augen.
»Also, als erstes soll ich Ihnen das da geben«, sagte Smiley, tauchte in eine Innentasche und reichte ihr den Umschlag mit dem Scheck.
»Brot«, sagte das Mädchen und legte den Umschlag neben sich. »Brot«, sagte Smiley und grinste genau wie sie, dann aber bewirkte irgend etwas in seinem Gesichtsausdruck oder die Art, wie er dieses eine Wort wiederholt hatte, daß sie den Umschlag nahm und ihn aufriß. Es lag kein Brief darin, nur der Scheck, aber der Scheck genügte: sogar von seinem Platz aus konnte Smiley sehen, daß die Zahl vierstellig war.
Wie eine Schlafwandlerin ging sie hinüber zum Kamin und legte den Scheck zu den Haushaltsrechnungen in eine alte Blechdose auf dem Kaminsims. Dann ging sie in die Küche und bereitete zwei Tassen Neskaffee, kam aber nur mit einer wieder heraus. »Wo ist er?« sagte sie. Sie stand vor ihm. »Er ist wieder mal mit diesem rotznäsigen kleinen Matrosen abgehauen, wie? Und das ist die Abfindung, ja? Na, Sie können ihm verdammt noch mal von mir sagen . . .«
Smiley hatte solche Szenen schon öfter erlebt, und nun kamen ihm lächerlicherweise die üblichen Worte auf die Zunge: »Bill erfüllt zur Zeit einen Auftrag von nationaler Bedeutung. Es tut mit leid, aber wir dürfen nicht darüber sprechen, und Sie dürfen es auch nicht. Er ist vor ein paar Tagen zu einem geheimen Einsatz ins Ausland gegangen. Er wird längere Zeit fort sein. Er durfte keinem Menschen etwas von seiner Abreise sagen. Er bittet Sie, ihn zu vergessen. Glauben Sie mir, es tut mir sehr leid. Soweit war er gekommen, als sie losplatzte. Er hörte nicht alles, was sie sagte, denn sie tobte und schrie, und als das Baby es hörte, fing es droben ebenfalls zu schreien an. Sie stieß Beschimpfungen aus, nicht gegen ihn, nicht einmal speziell gegen Bill, sie schimpfte und fluchte einfach tränenlos und fragte, wer zum Teufel, wer verdammt, verdammt noch mal heutzutage noch der Regierung vertraue? Dann schlug ihre Stimmung um. An den Wanden sah Smiley lauter Bilder, die Bill gemalt hatte, hauptsächlich von dem Mädchen: nur wenige waren fertig, und sie hatten etwas Verkrampftes, fast Gehetztes im Vergleich zu seinen früheren Arbeiten.
»Sie mögen ihn nicht, wie? Das weiß ich«, sagte sie. »Warum erledigen Sie dann die Dreckarbeit für ihn?«
Auch auf diese Frage schien es keine unmittelbare Antwort zu geben. Auf dem Rückweg zur Bywater Street hatte er wiederum den Eindruck, verfolgt zu werden, und versuchte Mendel anzurufen, ihm die Nummer eines Taxis durchzugeben, das ihm zweimal aufgefallen war, und ihn um sofortige Nachforschungen zu bitten. Doch Mendel war ausnahmsweise bis nach Mitternacht außer Haus: Smiley schlief unruhig und erwachte um fünf Uhr. Um acht war er bereits wieder in Sarratt, wo er Haydon in festlicher Stimmung antraf. Die Inquisitoren hatten ihn nicht mehr belästigt; Craddox hatte ihm gesagt, daß der Austausch genehmigt sei und daß er sich bereithalten solle, morgen oder übermorgen abzureisen. Seine Bitten klangen wie Abschiedsworte: man möge ihm sein restliches Gehalt und die Erlöse aus etwaigen Verkäufen in seinem Namen auf die Moskauer Narodny-Bank überweisen, die ihm auch seine Post zustellen werde. Die Galerie Arnolfini in Bristol habe einige seiner Bilder, darunter ein paar frühe Aquarelle von Damaskus, die er wiederhaben wollte. Ob Smiley bitte dafür sorgen könne? Dann, die Tarnung für sein Verschwinden:
»Ziehen Sie es möglichst lang hin«, riet er. »Sagen Sie, ich hätte dringend verreisen müssen, machen Sie es möglichst geheimnisvoll, lassen Sie ein paar Jahre drüber vergehen, dann machen Sie mir den Garaus ...«
»Ach, ich glaube, wir kriegen das schon hin, vielen Dank«, sagte Smiley.
Zum erstenmal, seit Smiley ihn kannte, machte Haydon sich Gedanken wegen seiner Kleidung. Er wolle bei seiner Ankunft nach etwas aussehen, sagte er: der erste Eindruck sei so wichtig. »Diese Moskauer Schneider sind indiskutabel. Putzen einen auf wie einen Commis.«
»Genau«, sagte Smiley, dessen Meinung über Londoner Schneider keineswegs besser war.
Ach, und da sei noch ein Junge, fügte er nonchalant hinzu, ein Freund bei der Marine, wohnte in Notting Hill. »Am besten geben Sie ihm ein paar Hunderter, damit er die Klappe hält. Können Sie das aus dem Reptilienfonds bestreiten?«
»Bestimmt.«
Er schrieb eine Adresse auf. Dann ging Haydon in der gleichen kameradschaftlichen Tonart auf das ein, was Smiley die Details genannt hatte.
Er lehnte es ab, über irgendeine Einzelheit seiner Anwerbung oder seiner lebenslangen Verbindung zu Karla zu sprechen. »Lebenslang?« wiederholte Smiley prompt. »Wann lernten Sie ihn kennen?«
Die gestrigen Versicherungen erschienen plötzlich sinnlos, aber Haydon wollte nicht ausführlicher werden. Etwa von 1950 an hatte Haydon — wenn man ihm Glauben schenken konnte — Karla gelegentlich mit ausgewählten Geheiminformationen bestückt. Diese frühen Zuwendungen beschränkten sich auf solche Enthüllungen, die seiner Ansicht nach die russischen Interessen gegenüber den Vereinigten Staaten direkt fördern würden; er hatte »streng darauf geachtet, ihnen nichts zu geben, was uns selber schaden könnte«, wie er sich ausdrückte, oder was den Außenagenten hätte schaden können.
Das Suez-Abenteuer von '56 hatte ihn endgültig von der Unhaltbarkeit der britischen Situation überzeugt und von dem Talent Englands, den Gang der Geschichte zu hemmen, während es andererseits nicht in der Lage war, positive Beiträge zu leisten. Das Erlebnis, wie die Amerikaner das britische Eingreifen in Ägypten sabotierten, war paradoxerweise ein weiterer Beweggrund. Deshalb würde er sagen, daß er von '56 an ein überzeugter hundertprozentiger sowjetischer Maulwurf war. 1961 bekam er die sowjetische Staatsbürgerschaft und im Verlauf der folgenden zehn Jahre zwei sowjetische Orden - kurios, er wollte nicht sagen, welche, betonte jedoch, daß sie »erste Klasse« seien. Leider beschränkten Einsätze in fernen Ländern während dieser Zeit seinen Zugriff; und da er darauf bestand, daß nach seinen Informationen wenn irgend möglich auch praktisch zu handeln sei -»daß sie nicht bloß in irgendeinem blöden Sowjetarchiv verschimmeln«, war seine Arbeit sowohl gefährlich wie qualitativ unterschiedlich. Bei seiner Rückkehr nach London schickte Karla ihm Polly (offenbar der Haus-Name für Poljakow), als Gehilfen, aber Haydon fand den ständigen Druck der heimlichen Zusammenkünfte auf die Dauer schwer erträglich, vor allem, wenn er die von ihm fotografierten Materialmengen bedachte. Er lehnte es ab, über Kameras, Ausrüstung, Bezahlung oder handwerkliche Verfahren während dieser Vor-Merlin-Periode in London zu sprechen, und Smiley war sich die ganze Zeit dessen bewußt, daß sogar das Wenige, was Haydon ihm erzählte, mit äußerster Sorgfalt aus einer größeren und vielleicht anderen Wahrheit herausgesucht war.
Inzwischen erhielten sowohl Karla wie Haydon Hinweise, wonach Control Unrat wittere. Gewiß, Control war krank, aber es war völlig klar, daß er niemals freiwillig die Zügel aus der Hand geben würde, wenn die Möglichkeit bestand, daß er mit Karla den Geheimdienst zum Geschenk machte. Es war ein Rennen zwischen Controls Nachforschungen und seiner Gesundheit. Zweimal wäre er um ein Haar fündig geworden - wiederum lehnte Haydon ab zu sagen, wie, und wenn Karla nicht unverzüglich reagiert hätte, wäre der Maulwurf Gerald in die Falle gegangen. Aus dieser nervenaufreibenden Situation war zuerst Merlin entstanden und schließlich die Operation Testify, Witchcraft war in erster Linie geschaffen worden, um die Nachfolge zu sichern: um Alleline zum Thronanwärter zu machen und Controls Abgang zu beschleunigen. Zweitens verschaffte Witchcraft natürlich der Zentrale völlige Verfügungsgewalt über das nach Whitehall gelangende Material. Als drittes - und in der Folge wichtigstes Ergebnis, betonte Haydon - machte Witchcraft den Circus zu einer wichtigen Waffe gegen das amerikanische Ziel.
»Wieviel von dem Material war echt?« fragte Smiley. Selbstverständlich variierte das Niveau je nachdem, was man zu erreichen beabsichtigte, sagte Haydon. Theoretisch war die Herstellung sehr einfach: Haydon mußte Karla nur benachrichtigen, auf welchen Gebieten Whitehall keine Informationen besaß, und die Hersteller schrieben prompt darüber. Ein paarmal, sagte Haydon, habe er einfach aus Spaß selber einen Bericht geschrieben. Es war eine amüsante Übung, die eigene Arbeit zu erhalten, auszuwerten und zu verteilen. Die Vorteile Witchcrafts für interne Arbeitsmöglichkeiten waren natürlich unschätzbar. Haydon wurde dadurch praktisch Controls Zugriff entzogen und hatte eine gußeiserne Tarngeschichte, um Polly so oft zu treffen, wie er wollte. Häufig vergingen Monate, ohne daß sie einander sahen. Haydon fotografierte Circus-Dokumente in der Abgeschlossenheit seines Büros - offiziell bereitete er die Abfallprodukte für Polly vor -, gab sie, zusammen mit einem weiteren Haufen wertlosen Zeugs Esterhase und ließ sie von ihm zu dem sicheren Haus < im Lock Gardens befördern. »Es war ein klassisches Spiel«, sagte Haydon schlicht. »Percy führte, ich folgte, Roy und Toby übernahmen die Lauferei.« Hier fragte Smiley höflich, ob Karla je daran gedacht habe, Haydon selber den Circus übernehmen zu lassen: warum sich überhaupt mit einem Strohmann belasten? Haydon antwortete nicht, und Smiley stellte sich vor, daß Karla, genau wie Control, sehr wohl der Ansicht gewesen sein mochte, Haydon sei für eine untergeordnete Rolle besser geeignet.
Die Operation Testify, sagte Haydon, sei eine Art Verzweiflungstat gewesen. Haydon war überzeugt, daß Control der Wahrheit schon sehr nahe gekommen sei. Eine Analyse der Akten, die er sich kommen ließ, ergab ein beunruhigendes komplettes Inventar der Operationen, die Haydon hatte hochgehen lassen oder anderswie zum Platzen gebracht hatte. Ferner war es Control gelungen, das Feld auf Beamte eines bestimmten Alters und Dienstrangs zu beschränken ...
»War übrigens Stevceks ursprüngliches Angebot echt?« fragte Smiley.
»Lieber Himmel, nein«, sagte Haydon echt schockiert. »Es war von Anfang an eine Falle. Natürlich gab es Stevcek wirklich. Er war ein hoher tschechischer General. Aber er hat nie irgend jemandem ein Angebot gemacht.«
Hier spürte Smiley, wie Haydon zögerte. Zum erstenmal schien er gewisse Bedenken bezüglich der moralischen Vertretbarkeit seiner Handlungen zu haben. Sein Verhalten wurde deutlich defensiv.
»Natürlich mußten wir Gewißheit haben, daß Control reagieren würde und wie er reagieren würde . . . und wen er schicken würde. Wir konnten nicht zulassen, daß er irgendeinen lahmarschigen kleinen Pflastertreter schickte: es mußte eine Kanone sein, wenn die Geschichte hieb- und stichfest sein sollte. Wir wußten, daß er sich nur für jemanden von außerhalb der Zentrale entscheiden würde, und für jemanden, der keinen Zugang zum Witcbcraft-Material hatte. Wenn wir einen Tschechen anbrachten, mußte er jemanden schicken, der tschechisch sprach, ganz klar.«
»Ganz klar.«
»Wir wollten einen alten Circus-Mann: einen, der Schlagzeilen machen würde.«
»Ja«, sagte Smiley und erinnerte sich an die keuchende, schwitzende Gestalt auf dem Hügel. »Ja, ich sehe die Logik dieses Arguments ein.«
»Verdammt noch mal, ich hab' ihn wieder rausgekriegt«, fuhr Haydon ihn an.
»Ja, das war sehr freundlich von Ihnen. Sagen Sie, hat Jim Sie aufgesucht, ehe er wegen dieses Testify-Auftrags abfuhr?«
»Ja, das hat er tatsächlich getan.«
»Und was wollte er Ihnen sagen?«
Haydon zögerte lange, sehr lange, dann antwortete er gar nicht. Aber trotzdem war die Antwort da, in der plötzlichen Leere der blassen, hellen Augen, in dem Schatten der Schuld, der sich über das schmale Gesicht legte. Er ist gekommen, um dich zu warnen, dachte Smiley; weil er dich liebte. Um dich zu warnen, genau wie er zu mir kam, um mir zu sagen, Control sei übergeschnappt, mich aber nicht antraf, weil ich in Berlin war. Jim hat dir den Rücken gedeckt bis zum bitteren Ende.
Ferner, sagte Haydon, mußte es ein Land sein, das erst vor kurzem eine Gegenrevolution durchgemacht hatte: die Tschechoslowakei sei das einzig Richtige gewesen. Smiley schien nicht genau zuzuhören.
»Warum haben Sie ihn wieder rausgeholt?« fragte er. »Aus alter Freundschaft? Weil er harmlos war und Sie alle Karten in der Hand hielten?«
Es war nicht nur das, erklärte Haydon. Solange Jim in einem tschechischen — er sagte nicht russischen - Gefängnis saß, hätte man Wind um ihn gemacht und ihn als eine Art Schlüsselfigur betrachtet. Aber sobald er zurück wäre, würde in Whitehall jeder alles tun, damit er den Mund nicht aufmachte: das wurde bei Rückführungen immer so gemacht.
»Ich bin überrascht, daß Karla ihn nicht einfach erschossen hat. Oder hat er aus purer Feinfühligkeit Ihnen gegenüber davon Abstand genommen?«
Aber Haydon war schon wieder in halbgare politische Dogmen versunken.
Dann begann er über sich selbst zu sprechen, und schon schien er für Smileys Augen sichtlich zu etwas ganz Kleinem und Miesem zusammenzuschrumpfen. Er war tief berührt von der Meldung, daß Ionesco uns kürzlich ein Stück versprochen habe, in dem der Held beharrlich schweige und alle um ihn unaufhörlich redeten. Wenn einmal die Psychologen und die Mode-Historiker ihre Verteidigungsreden für ihn schreiben würden, so erinnerten sie sich hoffentlich, daß er selber sich genauso gesehen habe. Als Künstler habe er schon mit siebzehn Jahren alles gesagt, was er zu sagen hatte, und irgend etwas müsse man ja auch mit seinen späteren Jahren anfangen. Er bedauere schrecklich, daß er nicht ein paar seiner Freunde mitnehmen könne. Er hoffe, Smiley werde seiner in Zuneigung gedenken. Smiley hätte ihm an dieser Stelle nur zu gern gesagt, daß er keineswegs vorhabe, in diesem Sinn an ihn zu denken, und er hätte noch manches andere gern gesagt, aber es schien keinen Sinn zu haben, und Haydon hatte wieder Nasenbluten bekommen. »Ach, und ich sollte Sie noch bitten, jede Publicity zu vermeiden. Miles Sercombe liegt kolossal daran.«
Hier gelang Haydon ein Lachen. Nachdem er im stillen den ganzen Circus durcheinander gebracht habe, sagte er, wolle er nun nicht den Prozeß vor der Öffentlichkeit wiederholen. Ehe er ging, stellte Smiley die eine Frage, die ihm noch immer am Herzen lag.
»Ich werde es Ann sagen müssen. Gibt es irgend etwas, das ich ihr bestellen soll?«
Es erforderte einiges Hin- und Herreden, ehe ihm die Bedeutung von Smileys Frage aufging. Zuerst glaubte er, Smiley habe gesagt »Jan« und konnte nicht begreifen, warum Smiley sie noch nicht aufgesucht hatte.
»Ach so, Ihre Ann«, sagte er, als gäbe es eine Menge Anns um sie herum.
Es sei Karlas Idee gewesen, erklärte er. Karla hatte längst erkannt, daß Smiley die größte Bedrohung für den Maulwurf Gerald darstellte. »Er sagt, Sie seien sehr gut.«
»Vielen Dank.«
»Aber Sie hatten diesen einen Preis: Ann. Die letzte Illusion eines illusionslosen Mannes. Er schätzte, wenn ich überall als Anns Liebhaber bekannt wäre, so würden Sie mich in anderer Hinsicht nicht so genau sehen.« Seine Augen, so stellte Smiley fest, waren sehr starr geworden. Zinnkugeln hatte Ann sie genannt. »Nichts forcieren oder so, aber wenn möglich, nehmen Sie am Rennen teil. Ja?«
»Ja«, sagte Smiley.
Zum Beispiel, in der Nacht von Testify hatte Karla darauf bestanden, daß Haydon, wenn irgend möglich, mit Ann turteln sollte. Als eine Art Versicherung.
»Und war in dieser Nacht nicht tatsächlich eine Kleinigkeit schiefgegangen?« fragte Smiley und dachte an Sam Collins und die Frage, ob Ellis erschossen wurde. Haydon gab zu, daß es so gewesen sei. Wäre alles nach Plan gegangen, so hätten die ersten tschechischen Bulletins um zehn Uhr dreißig einlaufen müssen. Haydon hätte Gelegenheit gehabt, in seinem Club die Meldungen des Fernschreibers zu lesen, nachdem Collins Ann angerufen hatte und ehe er zum Circus ging, um die Sache in die Hand zu nehmen. Aber weil Jim getroffen worden war, hatte es am tschechischen Ende Kuddelmuddel gegeben und das Bulletin war erst herausgekommen, nachdem sein Club geschlossen hatte. »Ein Glück, daß keiner es nachgeprüft hat«, sagte er und nahm sich noch eine von Smileys Zigaretten. »Welcher war ich übrigens?« fragte er leichthin. »Ich hab's vergessen.«
»König. Ich war Dame.«
Smiley hatte nun genug und ging, ohne sich zu verabschieden. Er stieg in sein Auto und fuhr eine Stunde lang blindlings dahin, bis er sich mit hundertzwanzig auf einer Landstraße nach Oxford befand, also machte er halt, aß zu Mittag und fuhr nach London zurück. Er konnte sich noch immer nicht entschließen, in die Bywater Street zurückzukehren und ging ins Kino, aß irgendwo zu Abend und kam um Mitternacht leicht angetrunken nach Hause, wo er Lacon und Miles Sercombe auf der Türschwelle vorfand und Sercombes blödsinnigen Rolls-Royce, die schwarze Bettpfanne, in seinen ganzen fünfzehn Metern Länge schräg über den Gehsteig geparkt sah.
Sie fuhren in einem Affentempo nach Sarratt, und dort saß, inmitten der Nacht unter einem klaren Himmel, beleuchtet von mehreren Stablampen und angestarrt von mehreren leichenblassen Insassen der Nursery, Bill Haydon auf einer Gartenbank und blickte auf das mondbeschienene Kricketfeld. Er trug einen gestreiften Pyjama unter seinem Mantel, der aussah wie ein Sträflingsanzug. Seine Augen waren geöffnet und sein Kopf unnatürlich nach der Seite verdreht, wie der Kopf eines Vogels, dem eine kundige Hand den Hals umgedreht hat. Über das, was geschehen war, wurde weiter nicht geredet. Um 10 Uhr 30 hatte Haydon vor seinen Wächtern über Schlaflosigkeit und Übelkeit geklagt, er meinte, er müsse etwas frische Luft schöpfen. Da sein Fall für abgeschlossen galt, kam keiner auf den Gedanken, ihn zu begleiten, und so spazierte er allein in die Dunkelheit hinaus. Einer der Wächter erinnerte sich, wie er gescherzt habe, er wolle »den Zustand des Kricket-Tores untersuchen«. Der andere war zu sehr ins Fernsehen vertieft gewesen, als daß er sich an irgend etwas hatte erinnern können. Nach einer halben Stunde wurde es ihnen mulmig, und der ältere Wächter ging, um nachzuschauen, während sein Gehilfe im Haus blieb für den Fall, daß Haydon zurückkommen sollte.