»Egal, welche Funktion! Verwirrung stiften, Brunnen vergiften vielleicht. Etwas in dieser Art. Uns ein Bein stellen, kurz ehe wir durch's Ziel sind.« Seine Rundschreiben klingen genauso, dachte Guillam. Eine Metapher jagt die andere. »Aber merken Sie sich eins: Beim ersten Zeichen, noch vor dem ersten Anzeichen, beim ersten Pieps von ihm oder seiner Dame oder seinem Töchterlein, junger Peter Guillam, kommen Sie zu einem von uns Erwachsenen. Zu irgendeinem, den Sie hier am Tisch sehen. Aber sonst zu keinem Menschen. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren. Weil es nämlich in diesem Laden mehr Kompetenzenüberschneidungen gibt, als Sie wissen können oder dürfen . . .« Plötzlich kam Bewegung in die Szene. Bland hatte die Hände in die Tasche gerammt, latschte durchs Zimmer und lehnte sich an die rückwärtige Tür. Alleline hatte die Pfeife frisch angezündet und löschte das Streichholz mit ausholender Armbewegung, während er Guillam durch den Rauch finster anblickte. »Wem machen Sie zur Zeit den Hof, Peter, wer ist die Glückliche?« Porteous ließ ein Blatt Papier den Tisch entlangschlittern, das Peter unterschreiben sollte. »Für Sie, Peter, bitte.« Paul Skordeno flüsterte seinem russischen Nachbarn etwas ins Ohr, und Esterhase stand unter der Tür und erteilte den Müttern unliebsame Anweisungen. Nur Mo Delawares schlichte braune Augen blieben unverwandt auf Guillam gerichtet.

»Lesen Sie es bitte vorher«, riet Porteous ölig. Guillam war bereits halbwegs damit durch.

»Ich bestätige hiermit, daß ich heute vom Inhalt des Witchcraft-Report Nr. 1308, Quelle Merlin, in Kenntnis gesetzt wurde«, lautete der erste Absatz. »Ich verpflichte mich, über keinen Teil dieses Berichts zu anderen Mitgliedern der Dienststelle zu sprechen oder die Existenz der Quelle Merlin zu erwähnen. Ich verpflichte mich ferner, alles zur Meldung zu bringen, was mir an möglicherweise mit diesem Material in Zusammenhang Stehendem zur Kenntnis gelangt.«

Die Tür war offengeblieben, und als Guillam unterschrieb, marschierte die zweite Garnitur von London Station auf, angeführt von den Müttern mit Tabletts voll Sandwiches. Diana Dolphin, Lauder Strickland, aufgeblasen bis zum Platzen, die Mädchen von der Verteilung, und ein sauertöpfisches altes Schlachtroß namens Haggard, Ben Thruxtons Vorgesetzter. Guillam ging langsam hinaus und zählte dabei die Häupter, denn er wußte, daß Smiley würde wissen wollen, wer dagewesen war. An der Tür gesellte sich zu seiner Überraschung Haydon zu ihm, der anscheinend zu dem Schluß gekommen war, daß die nun folgenden Festlichkeiten nichts für ihn seien.

»Ein Affentanz«, bemerkte Bill und winkte den Müttern salopp zu. »Percy wird von Tag zu Tag unerträglicher.«

»Scheint wirklich so«, sagte Guillam herzlich.

»Was macht eigentlich Smiley? Sehen Sie ihn öfter? Sie waren doch ziemlich mit ihm befreundet, oder?«

Guillams Welt, die bis zu diesem Moment wieder zu einer halbwegs normalen Drehzahl zurückzukehren schien, erhielt einen heftigen Stoß. »Bedauere«, sagte er, »er ist gesperrt.«

»Machen Sie mir doch nicht weis, daß Sie ein Wort von diesem Unsinn glauben«, schnaubte Bill. Sie waren an der Treppe angelangt. Haydon ging voran.

»Und Sie?« rief Guillam hinter ihm her. »Sehen Sie ihn Öfter?«

»Und Ann ist ihm ausgerückt«, sagte Bill und überhörte die Frage. »Abgehauen mit einem Matrosen oder Kellner oder dergleichen.« Die Tür zu seinem Büro stand weit auf, der Schreibtisch war mit Geheimakten übersät. »Stimmt das?«

»Das wußte ich nicht«, sagte Guillam. »Armer alter George.«

»Kaffee?«

»Ich glaube, ich muß gehen, vielen Dank.«

»Zum Tee mit Bruder Tarr?«

»Genau. Bei Fortnum. Wiedersehen.«

Im Archivtrakt war Alwyn wieder auf seinem Posten. »Sack schwimmt schon, Sir«, sagte er munter. »Sollte jetzt sogar schon in Brixton sein.«

»Mist!« sagte Guillam und schoß damit seine letzte Patrone ab. »Es war was drin, was ich gebraucht hätte.«

Eine empörende Erkenntnis überfiel ihn: sie schien so klar und so schrecklich naheliegend, daß er sich nur wundern konnte, wieso er erst jetzt darauf kam. Sand war Camillas Ehemann. Sie führte ein Doppelleben. Nun sah er lauter Hinterlist und Betrug vor sich. Seine Freunde, seine Geliebten, selbst der Circus taten sich zusammen und bildeten neue endlose Formen der Intrige. Ein Satz von Mendel fiel ihm wieder ein, den dieser vorgestern abend bei einigen Glas Bier in einem düsteren Vorstadt-Pub von sich ge geben hatte:

»Kopf hoch, Peter. Jesus Christus hatte nur zwölf, wie du weißt, und einer von ihnen war ein Verräter.« Tarr, dachte er. Dieses Schwein Ricki Tarr.


Peter Guillam und George Smiley suchen einen alten Bekannten auf und Babysitter Fawn greift taktvoll in die Unterhaltung ein


Der Schlafraum war lang und niedrig, ein ehemaliges Dienstbotenzimmer im Dachgeschoß. Guillam stand an der Tür, Tarr saß bewegungslos auf dem Bett, den Kopf an die schräge Decke zurückgelehnt, die Hände mit gespreizten Fingern neben dem Körper. Über ihm war ein Dachfenster, und Guillam konnte von seinem Standort aus lange Strecken schwarzen Suffolk-Lands sehen und eine Reihe schwarzer Bäume, die sich vor dem Himmel abhob. Die einzige Glühbirne hing in einem schwarzeichenen Leuchter von der Decke, sie warf seltsam geometrische Muster auf die Gesichter, und wenn einer von ihnen sich bewegte, Tarr auf dem Bett oder Smiley auf dem hölzernen Küchenstuhl, so schienen sie durch ihre Bewegung das Licht ein Stück weit mitzunehmen, ehe es wieder zur Ruhe kam.

Hätte Guillam Tarr für sich allein gehabt, so wäre er bestimmt rauh mit ihm umgesprungen. Seine Nerven waren in Hochspannung, auf der Herfahrt hatte er hundertvierzig erreicht und Smiley mußte ihn scharf zur Ordnung rufen. Hätte er Tarr für sich allein gehabt, er hätte die Wahrheit aus ihm herausgeprügelt und notfalls Fawn als Verstärkung geholt; am Steuer hatte er klar vor Augen gehabt, wie er die Tür des Hauses, wo Tarr sich aufhielt, öffnen und ihm zunächst ein paar kräftige Ohrfeigen versetzen würde, mit herzlichen Grüßen von Camilla und ihrem Ex-Gatten, dem trefflichen Doktor des Flötenspiels. Und vielleicht hatte Smiley in der gemeinsamen Spannung dieser Reise auf telepathischem Weg das gleiche Bild empfangen, denn das wenige, was er sagte, war deutlich dazu bestimmt, Guillam zu beschwichtigen. »Tarr hat uns nicht belogen, Peter. Nicht mit Worten. Er hat nur getan, was sämtliche Agenten auf der ganzen Welt tun; er hat uns nicht die ganze Geschichte erzählt. Andererseits ist er ganz geschickt gewesen.« Er war weit entfernt von Guillams übler Laune, ja, er schien sogar seltsam zuversichtlich; seine Gelöstheit ging so weit, daß er sich erlaubte, ein Bonmot von Steed-Asprey über die Kunst des Doppelspiels zu zitieren; irgend so etwas wie, daß man nicht nach Perfektion streben solle, sondern nach Vorteilen, was Guillam wiederum auf Camilla brachte. »Karla hat Uns in den inneren Kreis reingelassen«, verkündete Smiley, und Guillam machte einen schlechten Witz über den Kreisverkehr. Danach beschränkte sich Smiley darauf, Anweisungen zu geben und den Außenspiegel im Auge zu behalten. Sie hatten sich am Crystal Palace getroffen, wo Mendel sie mit einem Lieferwagen abgeholt hatte. Sie fuhren nach Barnsbury, direkt in eine Karosseriewerkstatt am Ende einer Kopfsteingasse, in der es von Kindern wimmelte. Dort wurden sie mit gebändigtem Entzücken von einem alten Deutschen und dessen Sohn begrüßt, die dem Lieferwagen die Nummernschilder abgenommen hatten, fast noch ehe sie ausgestiegen waren, und sie zu einem hochfrisierten Vauxhall führten, der bereits zu- Ausfahrt durch die rückwärtige Tür bereitstand. Mendel blieb zurück, und mit ihm die Testify-Akte, die Guillam in seinem Reisesack aus Brixton mitgebracht hatte; Smiley sagte: »Zur A 2«. Es herrschte wenig Verkehr, aber kurz vor Colchester gerieten sie hinter eine Schlange von Lastwagen, und Smiley mußte Guillam befehlen, sich einzureihen. Einmal trafen sie einen alten Mann, der mit dreißig auf dem Überholstreifen fuhr. Als sie ihn auf der falschen Seite überholten, riß er das Steuer jäh zu ihnen herum, er war betrunken oder krank oder einfach erschrocken. Und einmal stießen sie unversehens auf eine Nebelwand, sie mußte vom Himmel herabgefallen sein. Guillam fuhr mitten hindurch, wegen der Vereisung wagte er nicht zu bremsen. Hinter Colchester wählten sie Nebenstraßen.

Auf den Ortsschildern standen Namen wie Little Horkesley, Wormingford und Bures Green, dann hörten die Ortsschilder auf, und Guillam hatte das Gefühl, nirgendwo zu sein. »Jetzt links und am Pförtnerhaus nochmals nach links. Fahren Sie, soweit es geht, aber parken Sie nicht am Gitter.« Sie kamen zu einer Art Weiler, aber man sah keine Lichter, keine Leute, keinen Mond. Als sie ausstiegen, fiel die Kälte sie an, und Guillam roch einen Kricketplatz und Holzrauch und Weihnachten, alles zugleich; er glaubte, niemals an einem so ruhigen oder so kalten oder so abgelegenen Ort gewesen zu sein. Ein Kirchturm ragte vor ihnen auf, auf einer Seite lief ein weißer Zaun entlang, und oben auf dem Hügel stand ein Gebäude, das er für das Pfarrhaus hielt, ein niedriges, unregelmäßig angelegtes Haus, teilweise mit Stroh gedeckt, er konnte den Giebelrand gegen den Himmel ausmachen. Fawn erwartete sie: sobald sie standen, kam er zum Wagen und kletterte schweigend in den Rücksitz. »Mit Ricki geht's heute vie l besser, Sir«, meldete er. Er hatte offensichtlich in den letzten Tagen regelmäßig an Smiley Meldung gemacht. Er war ein ausgeglichener, stiller Junge voller Diensteifer, aber die übrige Brixton-Meute schien ihn zu fürchten, Guillam wußte nicht, warum. »Nicht so nervös, entspannter würde ich sagen. Hat am Vormittag seine Partie Billard gespielt, spielt gern Billard , der Ricki, nachmittags haben wir für Miss Ailsa Tannen ausgegraben, damit sie sie zum Markt fahren konnte. Am Abend haben wir ein Kartenspielchen gemacht, und dann ging's früh zu Bett.«

»Ist er allein fortgewesen?« fragte Smiley. »Nein, Sir.«

»Hat er das Telefon benutzt?«

»Um Gottes willen, nein, Sir, nicht solange ich in der Nähe bin, und bestimmt auch nicht, solange Miss Ailsa da ist.« Ihr Atem hatte die Wagenfenster beschlagen, aber Smiley wollte nicht, daß der Motor lief, und daher arbeiteten auch Heizung und Entlüftung nicht.

»Hat er von seiner Tochter Danny gesprochen?«

»Am Wochenende die ganze Zeit. Jetzt hat sich's ein bißchen gelegt. Ich meine, er hat sich die beiden sozusagen aus dem Gemüt geschlagen.«

»Er hat nicht davon gesprochen, sie wiederzusehen?«

»Nein, Sir.«

»Nichts über Vorbereitungen zu einem Treffen, wenn diese Geschichte hier vorüber ist?«

»Nein, Sir.«

»Oder daß er die beiden nach England holen will?«

»Nein, Sir.«

»Und daß er ihnen Papiere verschaffen will?«

»Nein, Sir.«

Guillam fiel gereizt ein: »Worüber hat er also gesprochen, Herrgott noch mal?«

»Über die russische Dame, Sir. Irina. Er liest gern in ihrem Tagebuch. Er sagt, wenn der Maulwurf geschnappt wird, läßt er ihn vom Circus gegen Irina eintauschen. Dann verschaffen wir ihr ein hübsches Plätzchen, Sir, wie es Miss Ailsa hat, aber droben in Schottland, wo es noch hübscher ist. Er sagt, mich wird er auch nicht vergessen. Gibt mir einen feinen Job im Circus. Er redet mir zu, ich soll eine Fremdsprache lernen, dann hab' ich mehr Möglichkeiten.«

Der gleichmäßigen Stimme von hinten, aus dem Dunkeln, war nicht anzuhören, was Fawn von diesem Rat hielt. »Wo ist er jetzt?«

»Im Bett, Sir.«

»Schließen Sie die Türen leise.«

Ailsa Brimley wartete in der Vorhalle auf sie: eine grauhaarige Sechzigerin mit festem, gescheitem Gesicht. Sie war früher beim Circus, hatte Smiley gesagt, eine von Lord Landsburys Codiererinnen während des Krieges, jetzt im Ruhestand, aber noch immer großartig. Sie trug ein adrettes braunes Kostüm. Sie schüttelte Guillam die Hand, sagte »Angenehm«, verriegelte die Tür, und als er wieder nach ihr schaute, war sie verschwunden. Smiley ging die Treppe hinauf voran. Fawn sollte auf dem unteren Absatz warten, falls er gebraucht würde.

»Ich bin's, Smiley«, sagte er und klopfte an Tarrs Tür. »Ich möchte ein bißchen mit Ihnen plaudern.«

Tarr öffnete sofort. Er mußte sie kommen gehört und hinter der Tür gewartet haben. Er öffnete sie mit der linken Hand, in der rechten hielt er den Revolver, und er blickte an Smiley vorbei in den Korridor.

»Ist nur Guillam«, sagte Smiley. »Eben,« sagte Tarr. »Babies können beißen.« Sie traten ein. Er trug Trainingshosen und eine Art billigen malaiischen Überwurf. Kreuzwortkarten lagen über den ganzen Fußboden verstreut, in der Luft hing der Geruch nach einem Curry-Gericht, das er sich auf einem Kocher zubereitet hatte. »Tut mir leid, Sie zu belästigen«, sagte Smiley mit einer Miene aufrichtigen Bedauerns. »Aber ich muß Sie nochmals fragen, was Sie mit diesen Schweizer Notpässen angefangen haben, die Sie nach Hongkong mitkriegten.«

»Warum?« sagte Tarr schließlich.

Seine flotte Art war dahin. Das Gesicht zeigte Gefängnisblässe, er hatte abgenommen, und während er auf dem Bett saß, den Revolver auf dem Kissen neben sich, forschten seine Augen fieberhaft in den Zügen der beiden Männer, sein Mißtrauen war grenzenlos.

Smiley sagte: »Hören Sie zu. Ich möchte Ihre Geschichte gern glauben. Nach wie vor. Sobald wir das wissen, respektieren wir Ihr Privatleben. Aber wir müssen es wissen. Es ist ungemein wichtig. Ihre ganze Zukunft steht und fällt damit.« Und noch eine ganze Menge außerdem, dachte Guillam und beobachtete schweigend; ein ganzes Bündel labyrinthischer Berechnungen hing an einem Faden, wenn Guillam Smiley überhaupt kannte.

»Ich hab' schon gesagt, ich verbrannte sie. Die Nummern störten mich. Ich schätzte, daß sie aufgeflogen waren. Hätte mir genausogut ein Schild um den Hals hängen können: >Tarr, Ricki Tarr, steckbrieflich gesucht<, wie diese Pässe benutzen.« Smileys Fragen kamen furchtbar langsam. Selbst Guillam konnte sie in der tiefen Stille der Nacht kaum noch erwarten. »Womit verbrannten Sie die Pässe?«

»Das dürfte doch wohl egal sein?«

Aber Smiley schien keine Lust zu haben, die Gründe für seine Fragen zu erläutern, er ließ einfach das Schweigen seine Wirkung tun und war offenbar überzeugt, daß sie nicht ausbleiben werde. Guillam hatte ganze Verhöre so führen sehen: ein ausgeklügelter Katechismus, unter vielen Schichten von Routinefragen versteckt, ermüdende Pausen, während jede Antwort in Langschrift festgehalten wurde und das Hirn des Verdächtigen sich bei der einzigen Frage des Inquisitors mit tausend weiteren quälte, und von Tag zu Tag vermochte er weniger an seiner Geschichte festzuhalten.

»Als Sie Ihren britischen Paß auf den Namen Poole kauften«,

fragte Smiley nach einem weiteren Jahrhundert, »haben Sie da noch mehr Pässe von der gleichen Quelle gekauft?«

»Warum sollte ich?«

Aber Smiley geruhte nicht zu antworten.

»Warum sollte ich?« wiederholte Tarr. »Ich bin schließlich kein Sammler, Hergott noch mal, ich wollte bloß raus von dort unten.«

»Und Ihr Kind schützen«, warf Smiley mit verständnisvollem Lächeln ein. »Und auch dessen Mutter, wenn irgend möglich. Bestimmt haben Sie sich den Kopf zerbrochen, wie Sie's anstellen könnten«, sagte er in anerkennendem Ton. »Schließlich konnten Sie die beiden nicht gut diesem jagdeifrigen Franzosen ausliefern, wie?«

Smiley wartete und schien inzwischen die Karten zu betrachten, las die Wörter in der Senkrechten und in der Waagrechten. Sie waren nichts Besonderes: irgendwelche zufälligen Wörter. Eines war falsch geschrieben, wie Guillam feststellte. Was tut er bloß die ganze Zeit dort droben, fragte sich Guillam, in dieser stinkenden Wanzenburg von Hotel? Welchen verstohlenen Spuren ist er im Geist nachgeschlichen, zwischen Ketchup-Flaschen und Handlungsreisenden eingesperrt?

»Na schön«, sagte Tarr mürrisch, »ich habe also Pässe für Danny und ihre Mutter gekriegt. Mrs. Poole, Miss Danny Poole. Und was tun wir jetzt: uns weinend an den Busen sinken?« Wieder wurde das Schweigen zum Ankläger. »Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt?« fragte Smiley im Tonfall eines enttäuschten Vaters. »Wir sind keine Unmenschen. Wir wollen die beiden nicht ins Unglück stürzen. Warum haben Sie es uns nicht gesagt? Vielleicht hätten wir Ihnen sogar helfen können«, und wandte sich wieder der Betrachtung der Karten zu. Tarr mußte mehrere Päckchen benutzt haben, sie lagen in Mengen auf dem Kokosteppich. »Warum haben Sie es uns nicht gesagt?« wiederholte er. »Es ist kein Verbrechen, für die Menschen zu sorgen, die man liebt.«

Wenn sie einen lassen, überlegte Guillam und dachte dabei an Camilla.

Um Tarr die Antwort zu erleichtern, machte Smiley selber ein paar hilfreiche Vorschläge. »Vielleicht, weil Sie in die Spesenkasse gegriffen haben, um diese britischen Pässe zu bezahlen? Haben Sie es uns deshalb nicht sagen wollen? Du lieber Gott, kein Mensch schert sich hier um Geld. Sie haben uns wertvolle Informationen geliefert. Warum sollten wir um ein paar tausend Dollar markten?« Und die Zeit tröpfelte weiter, und niemand nutzte sie. »Oder vielleicht«, schlug Smiley vor, »weil Sie sich geschämt haben?«

Guillam straffte sich, seine eigenen Probleme waren vergessen. »Ich meine, Sie haben sich vielleicht ganz einfach geschämt. Es war schließlich nicht sehr ritterlich, Danny und ihre Mutter mit ungültigen Pässen diesem sogenannten Franzosen auszuliefern, der so eifrig hinter Mr. Poole her war? Während Sie selber sich davonmachten und als VIP reisten? Ein gräßlicher Gedanke«, bestätigte Smiley, als hätte Tarr, nicht er, diese Erklärung vorgebracht.

»Gräßlich, wenn man sich vorstellt, wie weit Karla gehen würde, um sich Ihres Schweigens zu versichern. Oder Ihrer Dienste.« Der Schweiß auf Tarrs Gesicht wurde plötzlich unerträglich. El war einfach zu viel, es sah aus wie Ströme von Tränen. Die Karten interessierten Smiley jetzt nicht mehr, sein Auge ruhte auf einem anderen Zeitvertreib. Es war ein Spielzeug, bestehend aus zwei Stahlstäben, wie die Griffe einer Zange. Der Trick bestand darin, daß man eine Stahlkugel zwischen ihnen entlangrollen ließ. Je weiter die Kugel rollte, um so mehr Punkte bekam man, wenn die Kugel in ein Loch darunter fiel.

»Ein weiterer Grund, warum Sie es uns nicht erzählen wollten, war wohl der, daß Sie sie verbrannt haben. Ich meine, Sie verbrannten die britischen Pässe, nicht die schweizerischen.« Sieh dich vor, George, dachte Guillam und schob sich behutsam einen Schritt näher heran, um den freien Raum zwischen ihnen zu verkleinern. Sieh dich bloß vor.

»Sie wußten, daß Poole aufgeflogen war, also verbrannten Sie die Poole-Pässe, die Sie für Danny und ihre Mutter gekauft hatten. Ihren eigenen aber behielten Sie, weil Ihnen nichts anderes übrigblieb. Dann buchten Sie die Reise für die beiden auf den Namen Poole, um jedermann zu überzeugen, daß Sie die Poole-Pässe noch immer für verwendbar hielten. Mit jedermann meine ich Karlas Observanten, ja? Sie haben die Schweizer Notpässe aufgetakelt, einen für Danny, einen für ihre Mutter, im Vertrauen darauf, daß die Nummern nicht nachgeprüft würden, und machten dann eine zweite Reservierung, diesesmal nicht in aller Öffentlichkeit. Eine Reservierung für einen früheren Zeitpunkt als die der Damen Poole. Wie war's damit? Die beiden würden in Ostasien bleiben, aber an einem anderen Ort, zum Beispiel in Djakarta: irgendwo, wo Sie Freunde haben.«

Sogar von seinem neuen Standplatz aus brauchte Guillam zu lange. Tarrs Hände schlossen sich um Smileys Kehle, der Stuhl kippte um, und Tarr stürzte ebenfalls. Aus dem Haufen suchte Guillam sich Tarrs Arm heraus und verdrehte ihn auf dem Rücken, wobei er ihn beinah gebrochen hätte. Aus dem Nichts erschien Fawn, nahm die Pistole vom Kopfkissen und ging wieder zu Tarr, als wolle er ihm helfen. Dann zog Smiley seinen Anzug zurecht, und Tarr saß wieder auf dem Bett und betupfte sich den Mund mit einem Taschentuch.

Smiley sagte: »Ich weiß nicht, wo sie sind. Soviel ich weiß, ist ihnen nichts geschehen. Sie glauben mir doch, nicht?« Tarr starrte ihn an und wartete. Seine Augen waren weiß und voll Zorn, aber über Smiley hatte sich eine An Ruhe gesenkt, und Guillam vermutete, daß er die erhoffte Bestätigung erhalten hatte. »Sie sollten sich verdammt noch mal lieber um Ihre eigene Frau kümmern und meine in Ruhe lassen«, flüsterte Tarr hinter vorgehaltener Hand. Mit einem Aufschrei stürzte Guillam auf ihn zu, aber Smiley hielt ihn zurück.

»Solange Sie nicht versuchen, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen«, fuhr Smiley fort, »ist es wahrscheinlich besser, wenn ich es nicht weiß. Es sei denn, Sie möchten, daß ich irgend etwas für sie tue. Geld oder Schutz oder irgendeine Hilfe?« Tarr schüttelte den Kopf. Er hatte Blut im Mund, eine ganze Menge, und Guillam war klar, daß Fawn in geschlagen haben mußte, aber er hatte es nicht gesehen.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte Smiley. »Eine Woche vielleicht. Weniger, wenn ich es machen kann. Versuchen Sie, nicht dauernd dran zu denken.«

Als sie dann gingen, grinste Tarr wieder, woraus Guillam schloß, daß der Besuch oder sein Ausfall gegen Smiley oder der Schlag ins Gesicht ihm gutgetan hatten.

»Diese Fußball-Tippscheine«, sagte Smiley gelassen zu Fawn, als sie ins Auto kletterten: »Sie geben sie doch nicht zur Post, oder?«

»Nein, Sir.«

»Wir können nur hoffen und beten, daß er keinen Treffer hat«, bemerkte Smiley in einer höchst ungewöhnlichen Anwandlung von Scherzhaftigkeit, und alles lachte.

Das Gedächtnis spielt einem erschöpften, überladenen Gehirn seltsame Streiche. Während Guillam fuhr und ein Teil seines bewußten Denkens auf die Straße gerichtet war und der andere sich mit zunehmend abstruseren Vermutungen über Camilla herumschlug, zogen Bilder aus diesem und anderen langen Tagen unkontrolliert durch seinen Kopf. Tage schieren Entsetzens in Marokko, als seine Agenten einer um den anderen ausfielen, und er bei jedem Schritt, der auf der Treppe hörbar wurde, ans Fenster stürzte und auf die Straße spähte; müßige Tage in Brixton, als er diese armselige Welt draußen vorbeigleiten sah und sich fragte, wann er wohl wieder zu ihr gehören werde. Und plötzlich lag der schriftliche Bericht wieder vor ihm auf dem Schreibtisch: auf Blaupause abgezogen, weil er überspielt worden war, Quelle unbekannt und wahrscheinlich unzuverlässig, und jedes Wort stand in fußhohen Lettern vor ihm:

Nach Aussage eines kürzlich aus Lubianka entlassenen Gefangenen hat die Zentrale Moskau im vergangenen Juli im Hinrichtungsblock eine geheime Exekution durchgeführt. Die Opfer waren drei ihrer eigenen Funktionäre. Eines war eine Frau. Alle drei wurden durch Genickschuß liquidiert. »Er trug den Stempel >international<«, sagte Guillam dumpf. Sie hatten auf einem Platz neben dem Rasthaus geparkt, das mit bunten Glühbirnen behängt war. »Irgendwer von London Station hatte daraufgekritzelt: Kann jemand die Toten identifizieren?« Im farbenfrohen Schein der Lichter sah Guillam, wie Smileys Gesicht sich vor Abscheu verzog.

»Ja«, bestätigte er schließlich. »Ja, die Frau war natürlich Irina, nicht wahr? Der eine war Iwlow und der andere war Boris, ihr Mann, nehme ich an.« Seine Stimme war ganz sachlich geblieben. »Tarr darf es nicht erfahren«, fuhr er energischer fort, als schüttelte er seine Müdigkeit ab. »Es ist wichtig, daß er nichts davon ahnt. Gott weiß, was er tun oder nicht tun würde, wenn er wüßte, daß Irina tot ist.« Eine Weile blieben beide regungslos sitzen, vielleicht fehlte beiden, wenn auch aus verschiedenen Gründen, die Kraft oder der Mut.

»Ich sollte telefonieren«, sagte Smiley, machte aber keinerlei Versuch, auszusteigen. »George?«

»Ich muß telefonieren«, murmelte er. »An Lacon.«

»Dann telefonieren Sie doch.« Guillam langte über ihn hinweg und öffnete die Tür.

Smiley kletterte aus dem Wagen, marschierte ein Stück über den geteerten Platz, dann schien er es sich anders überlegt zu haben und kam zurück.

»Kommen Sie, wir essen etwas«, rief er im gleichen zerstreuten Tonfall durchs Fenster. »Ich glaube, nicht einmal Tobys Leute würden uns hierher folgen.«

Es war früher ein Restaurant gewesen und jetzt ein Fernfahrer-

Cafe mit Resten vergangener Pracht. Die Speisekarte war in rotes Leder gebunden und voller Fettflecke. Der Junge, der sie brachte, schlief beinahe.

»Coq au vin soll angeblich eine sichere Sache sein«, sagte Smiley voll Galgenhumor, als er aus der Telefonzelle in der Ecke zurückkam. Und mit ruhigerer Stimme, die nicht weit trug und kein Echo auslöste: »Sagen Sie, wieviel wissen Sie über Karla?«

»Ungefähr soviel, wie ich über Witchcraft und die Quelle Merlin und all das weiß, was sonst noch auf dem Papier stand, das ich für Porteous unterzeichnet habe.«

»Aha, das ist zufällig eine ausgezeichnete Antwort. Sie war vermutlich als Vorwurf gedacht, aber zufällig war die Analogie äußerst treffend.« Der Junge erschien wieder, er schwang eine Flasche Burgunder wie eine Gymnastikkeule. »Lassen Sie sie bitte ein bißchen zu Atem kommen.« Der Junge starrte Smiley an wie einen Irren. »Machen Sie sie auf, und lassen Sie sie auf dem Tisch stehen«, sagte Guillam kurz.

Smiley erzählte nicht die ganze Geschichte. Später stellte Guillam verschiedene Lücken fest. Aber es genügte, um seine Lebensgeister aus den Niederungen zu befreien, in denen sie sich verfangen hatten.


Bei karger Kost berichtet George Smiley von seinem Versuch, Mr. Gerstmann das Leben zu retten


»Es gehört zum Beruf der Agentenführer, daß sie sich selber in Legenden verwandeln«, begann Smiley, fast als hielte er einen Vortrag vor Kursteilnehmern in der Nursery. »Sie tun dies zunächst, um ihre Agenten zu beeindrucken. Später probieren sie es bei ihren Kollegen und machen sich damit, nach meiner persönlichen Erfahrung, nur lächerlich. Manche gehen sogar so weit, daß sie es selber glauben. Das sind die Scharlatane, man muß sie so schnell wie möglich abstoßen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Dennoch, Legenden wurden geschaffen, und eine von ihnen war Karla. Sogar sein Alter war ein Geheimnis. Höchstwahrscheinlich war Karla nicht sein richtiger Name. Jahrzehnte seines Lebens lagen völlig im dunkeln und würden es wohl auch immer bleiben, denn die Leute, mit denen er arbeitete, hatten die Eigenheit, plötzlich zu sterben oder wie Gräber zu schweigen. »Es heißt, sein Vater sei in der Ochrana gewesen und später in der Tscheka aufgetaucht. Das mag stimmen, aber ich glaube es nicht. Andere Quellen wollen wissen, daß er als Küchenjunge in einem Panzerzug gegen die japanischen Besatzungstruppen im Osten gearbeitet habe. Angeblich hat er seine Technik von Berg gelernt - soll genau gesagt sein Lieblingsjünger gewesen sein -, was ungefähr so ist, als studierte ein junger Musiker bei.. ach, nehmen Sie irgendeinen großen Komponisten. Für mich begann seine Karriere im Jahr sechsunddreißig in Spanien, denn dafür haben wir Beweise. Er trat damals als weißrussischer Journalist bei den Franco-Leuten auf und rekrutierte eine Mannschaft deutscher Agenten. Es war eine höchst schwierige Operation und bemerkenswert für einen so jungen Mann. Dann begegnen wir ihm wieder bei der sowjetischen Gegenoffensive auf Smolensk im Herbst einundvierzig, als Abwehroffizier unter Konew. Er hatte die Aufgabe, Partisanennetze hinter den deutschen Linien zu führen. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er, daß sein Funker umgedreht worden war und Botschaften an den Feind funkte. Er drehte ihn wieder zurück und veranstaltete von da an ein Funkfeuerwerk, das ein heilloses Durcheinander stiftete.«

Auch dies sei ein Teil der Legende, sagte Smiley: Es sei Karlas Verdienst gewesen, daß die Deutschen bei Yelnia ihre eigene Front unter Beschuß nahmen.

»Und zwischen diesen beiden Auftritten«, fuhr er fort, »also zwischen sechsunddreißig und zweiundvierzig, besuchte Karla England, wir nehmen an, für ein halbes Jahr. Aber noch heute wissen wir nicht - das heißt, weiß ich nicht -, unter welchem Namen und welcher Tarnung. Was nicht heißen muß, daß Gerald es nicht weiß. Aber Gerald wird es uns kaum erzählen, jedenfalls nicht absichtlich.«

Smiley hatte noch nie so mit Guillam gesprochen. Er hielt nichts von Vertraulichkeiten oder langen Vorträgen; Guillam kannte ihn als einen bei aller Eitelkeit sehr schüchternen Menschen, der sich wenig von einem Meinungsaustausch versprach. »'48 wurde Karla, der seinem Land stets loyal gedient hatte, ns Gefängnis geschickt und anschließend nach Sibirien. Das Ganze hatte nichts mit seiner Person zu tun. Er gehörte nur zufällig zu einer der roten Abwehrgruppen, die der einen oder anderen Säuberungsaktion zum Opfer fielen.«

Und mit Sicherheit sei er, fuhr Smiley fort, nach Stalins Tod und seiner Rehabilitierung nach Amerika gegangen, denn als die indischen Behörden ihn im Sommer '55 unter dem vagen Vorwand eines Verstoßes gegen die Einwanderungsbestimmungen festgenommen hatten, war er gerade aus Kalifornien gelandet. Der Circus-Klatsch brachte ihn später mit den großen Hochverrats-Skandalen in England und den Vereinigten Staaten in Verbindung. Smiley wußte es besser: »Karla war wieder in Ungnade gefallen. Moskau lechzte nach seinem Blut, und wir dachten, wir könnten ihn jetzt auf unsere Seite bringen. Deshalb flog ich nach Delhi. Um mich mit ihm zu unterhalten.«

Er schwieg eine Weile, als der müde Junge herübergeschlurft kam und sich erkundigte, ob alles nach Wunsch sei. Smiley bejahte die Frage pflichtschuldigst.

»Die Geschichte meiner Begegnung mit Karla«, fuhr er fort, »ist typisch für die Stimmung der damaligen Zeit. In den fünfziger Jahren war die Moskauer Zentrale am Boden zerstört. Ranghohe Beamte wurden aus unerfindlichen Gründen erschossen oder ausgemerzt, und bei den unteren Chargen wütete der Massenwahnsinn. In der Folge liefen die im Ausland stationierten Beamten der Zentrale scharenweise über. Aus der ganzen Welt, Singapur, Nairobi, Stockholm, Canberra, Washington und was weiß ich sonst noch, bekamen wir den gleichen stetigen Zulauf von den Außenstellen geschickt: nicht direkt die großen Fische, aber die Kuriere, Fahrer, Chiffreure, Stenotypistinnen. Irgendwie mußten wir reagieren - ich glaube, niemand macht sich je klar, in welchem Maß die Industrie selber ihre Inflation anheizt -, und im Handumdrehen wurde ich eine Art Handlungsreisender, flog an einem Tag in eine Metropole, am nächsten zu einem gottverlassenen Grenzkaff und einmal sogar zu einem Schiff auf hoher See, um Abschlüsse mit abtrünnigen Russen zu machen. Um die Spreu vom Weizen zu scheiden, die Bedingungen festzulegen, für Desinformation und eventuelle Verwendung zu sorgen.« Guillam beobachtete ihn unablässig, aber selbst unter dem gnadenlosen Neonlicht verrieten Smileys Züge nichts als leicht bemühte Konzentration. »Wir hielten für Leute, deren Geschichten Hand und Fuß hatten, sozusagen drei Arten von Verträgen bereit. Hatte der Klient nichts Interessantes zu bieten, so verhökerten wir ihn an ein anderes Land und Schwamm drüber. Auf Vorrat kaufen, nennt man das wohl, so wie es die Skalpjäger heute machen. Oder wir spielten ihn wieder nach Rußland zurück: Vorausgesetzt, daß sein Verrat dort noch nicht bekannt war. Und wenn einer Glück hatte, dann nahmen wir ihn; holten alles aus ihm heraus, was er wußte, und setzten ihn neu ein. Im allgemeinen entschied London darüber. Nicht ich. Aber bedenken Sie eins: Damals war Karla - oder Gerstmann, wie er sich nannte - nur einer von vielen Klienten. Ich habe seine Geschichte von rückwärts erzählt. Es sollte keine Geheimnistuerei sein, Sie müssen sich vielmehr jetzt, bei allem, was zwischen uns vorging oder besser gesagt nicht vorging, stets vor Augen halten, daß ich und alle anderen im Circus lediglich wußten: ein Mann, der sich Gerstmann nannte, installierte eine Richtfunk-Brücke zwischen Rudnew, dem Chef der illegalen Netze in der Moskauer Zentrale, und einem von der Zentrale gesteuerten Apparat, der mangels Kommunikationsmittel brachlag. Sonst nichts. Gerstmann hatte über die kanadische Grenze einen Sender eingeschmuggelt und drei Wochen in San Francisco verbracht, um den neuen Sendetechniker einzuarbeiten. So lautete die Vermutung, und sie wurde durch eine Reihe von Testsendungen bestätigt.«

Für diese Testsendungen zwischen Moskau und Kalifornien, erklärte Smiley, sei ein vereinbarter Code benutzt worden. »Dann, eines schönen Tages, gab Moskau einen direkten Befehl durch...«

»Auch nach dem vereinbarten Code?«

»Genau. Das ist der springende Punkt. Dank einer kleinen Fahrlässigkeit von Rudnews Codierern waren wir um eine Nasenlänge voraus. Unsere Funker haben ihren Code geknackt, und so kamen wir an unsere Information. Gerstmann sollte San Francisco verlassen und sich in Delhi mit dem Tass-Korrespondenten treffen, einem Talentsucher, der auf eine heiße chinesische Spur gestoßen sei und sofortige Anleitung nötig habe. Warum er dazu von San Francisco nach Delhi mußte, und warum es ausgerechnet Karla sein mußte - davon später. Wichtig ist nur: Als Gerstmann sich am Treffpunkt in Delhi einstellte, händigte der Tass-Mann ihm ein Flugticket aus und bestellte ihm, er müsse unverzüglich zurück nach Moskau. Keine Fragen. Der Befehl kam von Rudnew persönlich. Er war mit Rudnews Arbeitsnamen unterzeichnet und selbst für russische Maßstäbe äußerst barsch.« Woraufhin der Tass-Mann das Weite suchte, und Gerstmann stand da mit einer Menge Fragen und achtundzwanzig Stunden Zeit bis zum Abflug.

»Er blieb aber nicht lange so stehen, denn die indischen Behörden nahmen ihn auf unser Ersuchen hin fest und transportierten ihn ins Gefängnis von Delhi. Soviel ich mich erinnere, hatten wir den Indern einen Anteil am Produkt versprochen. Ich glaube jedenfalls, so war's«, bemerkte er, verstummte und blickte abwesend durch den rauchigen Raum, wie jemand, der durch das Versagen seines Gedächtnisses zutiefst betroffen ist. »Oder vielleicht haben wir auch gesagt, sie könnten ihn haben, wenn wir mit ihm fertig seien. Ach, du liebe Zeit.«

»Ist ja egal«, sagte Guillam.

»Es war das einzige Mal in Karlas Leben, wie gesagt, daß der Circus ihm voraus war«, fuhr Smiley fort, nachdem er einen Schluck Wein getrunken und ein saures Gesicht geschnitten hatte. »Er konnte es nicht wissen, aber das Netz in San Francisco, das er gerade eingerichtet hatte, war am Tag seines Abflugs nach Delhi mit Haut und Haaren aufgerollt worden. Die Stöpsler hatten alles mitgehört, Control verkaufte die Geschichte, sobald er sie von den Funkern bekam, an die Amerikaner, die vereinbarungsgemäß Karla unbehelligt ließen, aber das übrige kalifornische Netz Rudnews zerschlugen. Gerstmann flog ahnungslos nach Delhi, und er hatte noch immer keine blasse Ahnung, als ich ins Gefängnis von Delhi kam, um ihm eine Versicherungspolice zu verkaufen, wie Control es nannte. Karlas Wahl war sehr einfach. Nach dem Stand der Dinge war nicht daran zu zweifeln, daß Gerstmanns Kopf in Moskau auf dem Block lag, da Saschtazy dort alles tat, um ihm das Auffliegen des kalifornischen Netzes anzulasten. Die Affäre hatte in den Staaten großen Wirbel gemacht, und Moskau war über diese Publicity sehr erbost. Ich hatte die amerikanischen Pressefotos von der Festnahme bei mir; sogar ein Foto des Sendegeräts, das Karla eingeschmuggelt hatte, und der Signalpläne, die er vor seinem Abflug in einem Versteck deponierte. Sie wissen, wie kribbelig wir alle werden, wenn etwas in die Presse gelangt.«

Guillam wußte es; und in jähem Schreck dachte er an die Akte Testify, die er zu Beginn dieses Abends an Mendel weitergegeben hatte.

»Kurzum, Karla war das sprichwörtliche Waisenkind des Kalten Krieges. Er hatte seine Heimat verlassen, um eine Sache im Ausland zu erledigen. Die Sache war geplatzt, aber er konnte nicht zurück: die Heimat war feindseliger als die Fremde. Wir konnten nicht dafür sorgen, daß er ständig eingesperrt blieb, also war es Karla anheimgestellt, unseren Schutz zu erbitten. Ich glaube, ich habe nie einen idealeren Fall für einen Frontwechsel gesehen. Ich mußte ihn nur davon überzeugen, daß das Netz in San Francisco im Gefängnis saß, mußte ihm die Pressefotos und Zeitungsausschnitte aus meiner Brieftasche vor die Nase halten, ihm ein wenig von den unfreundlichen Machenschaften Brüderchen Rudnews in Moskau erzählen, daraufhin an die ziemlich überarbeiteten Inquisitoren in Sarratt telegrafieren, und mit ein bißchen Glück könnte ich am Wochenende wieder in London sein. Ich glaube sogar, ich hatte Karten für das >Sadlers Wells<. Ann schwärmte in diesem Jahr fürs Ballett.«

Ja, auch davon hatte Guillam gehört. Ein zwanzigjähriger wallisischer Apoll, der Wunderknabe der Saison. London hatte monatelang über die beiden gelästert.

Die Hitze im Gefängnis war mörderisch, fuhr Smiley fort. In der Mitte der Zelle stand ein Eisentisch, Vieh-Halteringe waren ringsum in die Wände eingelassen. »Sie führten ihn in Handschellen herein, was albern schien, denn er war so schmächtig; ich bat sie, ihm die Handfesseln zu lösen, und als er die Hände frei hatte, legte er sie vor sich auf den Tisch und sah zu, wie das Blut zurückströmte. Es mußte schmerzhaft gewesen sein, aber er äußerste sich nicht dazu. Er war seit einer Woche hier und trug einen Kattunkittel. Rot. Ich habe vergessen, was das Rot bedeutete. Irgendeine Einstufung.« Er trank einen Schluck Wein, verzog wieder das Gesicht, dann wechselte sein Ausdruck, als die Erinnerungen sich erneut zu Wort meldeten. »Also, auf den ersten Blick machte er wenig Eindruck auf mich. Ich hätte schwerlich in dem kleinen Burschen vor mir den schlauen Fuchs aus dem Brief der armen Irina erkannt. Wahrscheinlich stimmt es auch, daß meine Nervenenden ein bißchen abgestumpft waren von den vielen ähnlichen Begegnungen in den letzten Monaten, den Reisen und den - nun ja, den Vorgängen zu Hause.« In den vielen Jahren, die Guillam ihn nun kannte, hatte Smiley nie annähernd so deutlich auf Anns Untreue angespielt. »Aus irgendeinem Grund hat es ganz schön weh getan.« Seine Augen waren geöffnet, aber sein Blick richtete sich auf eine innere Welt. Die Haut der braunen Wangen war gestrafft wie unter der Anspannung seines Gedächtnisses; aber nichts vermochte Guillam über die Einsamkeit hinwegzutäuschen, die dieses eine Geständnis enthüllt hatte. »Ich habe eine Theorie, die leider ziemlich unmoralisch sein dürfte«, fuhr Smiley lockerer fort. »Jeder von uns verfügt über ein bestimmtes Maß an Mitleid. Und wenn wir unsere Gefühle an jede streunende Katze verschwenden, stoßen wir nie zum Kern der Dinge vor. Was halten Sie davon?«

»Wie hat Karla ausgesehen?« fragte Guillam und tat Smileys Frage als reine Rhetorik ab.

»Onkelhaft. Bescheiden und onkelhaft. Er hätte sich gut als Priester gemacht: die armselige, gnomische Sorte, die man in kleinen italienischen Städtchen sehen kann. Kleiner, drahtiger Bursche mit silbrigem Haar und hellbraunen Augen, ganz verrunzelt. Oder als Schullehrer, er hätte Schullehrer sein können: hart, was immer das bedeuten mag, und gescheit, im Rahmen seiner Erfahrung: aber trotzdem Kleinformat. Einen weiteren ersten Eindruck machte er nicht, außer daß sein Blick fest war und sich vom Beginn unseres Gesprächs an auf mich heftete. Wenn man es Gespräch nennen kann - denn er sprach kein Wort. Nicht ein einziges, solange wir beisammen waren, nicht eine Silbe. Außerdem war es brüllend heiß, und ich war von den vielen Reisen l völlig kaputt.«

Weniger aus Hunger, als um der Form Genüge zu tun, machte Smiley sich über seinen Teller her. Er aß lustlos ein paar Bissen, ehe er seine Erzählung wieder aufnahm. »So», murmelte er, »jetzt muß sich die Köchin nicht kränken. Offen gestanden war ich gegen Gerstmann ein bißchen voreingenommen. Wir alle haben unsere Vorurteile, und meines richtet sich gegen Radioleute. Sie sind nach meiner Erfahrung eine lästige Bande, schlechte Außenarbeiter, meist überzogen und aufs peinlichste unzuverlässig, wenn es darauf ankommt. Gerstmann war für mich auch nur einer aus diesem Clan. Vielleicht suche ich auch nur nach Entschuldigungen dafür, daß ich ihn mit weniger . . .«, er zögerte, »weniger Sorgfalt, weniger Behutsamkeit behandelte, als man rückblickend für nötig erachtet.« Plötzlich wurde er wieder sicherer. »Dabei bin ich keineswegs überzeugt, daß ich mich überhaupt entschuldigen muß«, sagte er.

Hier spürte Guillam eine Aufwallung ungewöhnlichen Zorns, die sich durch ein geisterhaftes Lächeln um Smileys blasse Lippen ausdrückte. »Hol's der Teufel«, murmelte Smiley. Guillam wartete verdutzt.

»Ich erinnere mich auch, daß ich dachte, die nur sieben Tage im Gefängnis haben ihn ganz schön geschafft. Seine Haut hatte schon dieses staubige Weiß. Und er schwitzte überhaupt nicht. Ich um so mehr. Ich sagte also mein Sprüchlein auf, wie bereits ein Dutzendmal in diesem Jahr, nur daß natürlich nicht daran zu denken war, ihn als unseren Agenten nach Rußland zurückzuspielen. »Sie haben die Alternative. Es liegt nur bei Ihnen. Entweder Sie kommen in den Westen, dann verschaffen wir Ihnen innerhalb vernünftiger Grenzen ein angenehmes Leben. Nach der Befragung, bei der mit Ihrer Mitarbeit gerechnet wird, können wir Ihnen zu einem neuen Start verhelfen, einem neuen Namen, Zurückgezogenheit, hinlänglich Geld. Oder Sie können heimkehren, dann werden Sie vermutlich erschossen oder in ein Lager verschickt. Im vergangenen Monat waren Bykow, Schur und Muranow an der Reihe. Warum sagen Sie mir eigentlich nicht, wie Sie wirklich heißen?« Etwas in dieser Art. Dann lehnte ich mich zurück, wischte mir den Schweiß ab und wartete, daß er sagen würde >ja, vielen Dank<. Aber das tat er nicht. Er tat überhaupt nichts. Er sagte kein Wort. Er saß nur da, steif und klein, unter dem großen Ventilator, der nicht funktionierte, und blickte mich mit seinen braunen, beinah lustigen Augen an. Seine Hände lagen vor ihm auf dem Tisch. Sie waren voller Schwielen. Ich erinnere mich, daß ich dachte, ich muß ihn fragen, wo er so hart gearbeitet hat. Er hatte sie mit den Handfläschen nach oben auf dem Tisch liegen, die Finger ein bißchen geknickt - so -, als wären sie noch immer gefesselt.«

Der Junge, der glaubte, Smiley wolle mit dieser Geste einen Wunsch andeuten, kam angetrabt, und Smiley versicherte ihm, daß alles bestens sei und der Wein geradezu einmalig, er frage sich wahrhaftig, wo sie ihn herhätten; bis der Junge sich feixend entfernte und seine Serviette auf den Nebentisch klatschen ließ. »Ich glaube, genau in diesem Augenblick beschlich mich ein ungewöhnlich starkes Gefühl des Unbehagens. Die Hitze machte mir sehr zu schaffen. Der Mief war fürchterlich, und ich weiß noch, daß ich auf das Tropf-Tropf der Schweißperlen lauschte, die von meiner Stirn auf den Eisentisch fielen. Es lag nicht nur an seinem Schweigen; seine völlige körperliche Unbewegtheit fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Gewiß, ich war schon Überläufern begegnet, die sich Zeit ließen, ehe sie sprachen. Für einen Menschen, der auf Verschwiegenheit sogar seinen besten Freunden gegenüber gedrillt ist, kann es eine schmerzhafte Umstellung bedeuten, wenn er plötzlich den Mund auftun und seinen Feinden Geheimnisse ausliefern soll. Es kam mir auch in den Sinn, daß die Gefängnisleute es als ein Gebot der Höflichkeit erachtet haben mochten, ihn schon ein bißchen mürbe für mich zu machen, ehe sie ihn mir vorführten. Sie schworen zwar, das sei nicht der Fall, aber man weiß das nie. Also schrieb ich sein Schweigen zunächst dem Schock zu. Aber diese Unbewegtheit, diese intensive, lauernde Unbewegtheit war etwas ganz anderes. Zumal, da in meinem eigenen Inneren alles in Aufruhr war: Ann, mein eigenes Herzklopfen, die Auswirkungen der Hitze und des Reisens . . .«

»Das kann ich verstehen«, sagte Guillam ruhig. »Wirklich? Sitzen ist eine sehr beredte Sache, das kann ihnen jeder Schauspieler sagen. Wir sitzen je nach unserem Charakter. Wir recken und spreizen uns, wir ruhen wie Boxer zwischen zwei Runden, wir rutschten herum, hocken auf der Kante, schlagen die Beine über und wieder zurück, verlieren die Geduld, verlieren die Ausdauer. Gerstmann tat nichts von allem. Seine Haltung war endgültig und unbeirrbar, seine kleine eckige Gestalt glich einem Felsenkap; er hätte den ganzen Tag so dasitzen können, ohne eine Muskel zu bewegen. Während ich -« Smiley brach in ein linkisches, verlegenes Lachen aus und probierte aufs neue den Wein, der indessen nicht besser geworden war. »Während ich dachte, wenn ich nur irgend etwas vor mir hätte, Papiere, | ein Buch, einen Bericht. Ich glaube, ich bin ein ruheloser Mensch; schusselig, unbeständig. Jedenfalls damals glaubte ich es. Ich fand, daß es mir an philosophischer Gelassenheit fehle. Überhaupt an Philosophie, wenn Sie wollen. Meine Arbeit hatte mir weit mehr zugesetzt, als mir bis dahin klargeworden war. Nun aber, in dieser stinkenden Zelle, fühlte ich mich wirklich deprimiert. Mir war, als hätte man mir die ganze Verantwortung für den Kalten Krieg aufgebürdet. Was natürlich Blech war, ich war einfach erschöpft und ein bißchen krank.« Er trank wieder. »Glauben Sie mir«, drängte er nochmals und ärgerte sich über sich selbst, »niemand braucht sich für das zu entschuldigen, was ich getan habe.«

»Was haben Sie denn getan?« fragte Guillam lachend. »Also, da trat nun diese große Pause ein«, fuhr Smiley fort. »Kaum von Gerstmanns Seite, denn er war ja nur eine einzige große Pause; vielmehr von meiner Seite. Ich hatte meinen Spruch aufgesagt, hatte die Fotos vorgezeigt - denen er überhaupt keine Beachtung schenkte, er schien mir auch so aufs Wort zu glauben, daß das San-Francisco-Netz aufgerollt war - und nahm diesen und jenen Teil nochmals auf, variierte ein bißchen und dann saß ich auf dem trockenen. Nun weiß jeder Narr, was passiert, wenn es einmal so weit ist. Man steht auf und geht: >Es liegt ganz bei Ihnen<, sagt man. >Wir sprechen uns morgen wieder<; irgend etwas. >Gehen Sie und überlegen Sie eine Stunde. < Also, ehe ich selber wußte, was ich tat, hatte ich angefangen, von Ann zu sprechen.« Guillams unterdrückten Ausruf fegte er vom Tisch. »Nein, nicht über meine Ann, mit keinem Wort. Über seine Ann. Ich nahm an, er habe eine. Ich hatte mich, gewiß recht beiläufig, gefragt, woran würde ein Mann in seiner Lage denken, woran würde ich in seiner Lage denken? Und meine Antwort war höchst subjektiv: an seine Frau. Nennt man das Projektion oder Substitution? Ich hasse diese Ausdrücke, aber ich bin überzeugt, daß einer von ihnen hier zutrifft. Ich habe mein eigenes Problem ihm unterstellt, darauf läuft's hinaus, und, wie mir jetzt klar ist, ein Verhör mit mir selber angestellt - er sagte nichts, können Sie sich das vorstellen? - Allerdings ging ich dabei von gewissen äußeren Anhaltspunkten aus. Er sah aus wie ein verheirateter Mann; er sah aus wie die Hälfte eines Ganzen; er sah zu komplett aus, für jemand, der ganz allein im Leben steht. Außerdem wurde er im Gerstmann-Paß als verheiratet bezeichnet; und wir alle haben die Angewohnheit, unsere falschen Lebensläufe oder angenommenen Identitäten der Wirklichkeit zumindest parallel laufen zu lassen.« Wieder verfiel Smiley in Nachdenken. »Ich habe mir das oft gedacht. Ich trug es sogar Control vor: wir sollten die Tarnungen der Gegenseite ernster nehmen, sagte ich. Je mehr Identitäten jemand hat, um so mehr zeigt sich in ihnen die Person, die darunter steckt. Der Fünfzigjährige, der von seinem Alter fünf Jahre abzwackt. Der Verheiratete, der sich als Junggeselle ausgibt; der Vaterlose, der sich zwei Kinder zulegt . . . oder der Fragesteller, der sich selber in das Leben eines Mannes hineinprojiziert, von dem er keine Antwort bekommt. Wenige Menschen können ihre eigentlichen Neigungen verleugnen, wenn sie sich eine andere Persönlichkeit andichten.« Wiederum verlor er sich in seinen Gedanken, und Guillam wartete geduldig, bis er zurückkäme. Denn während Smiley sich auf Karla konzentrierte - oder auch nicht -, konzentrierte Guillam sich auf Smiley und wäre ihm über die längsten Strecken, auf den verwinkeltsten Pfaden gefolgt, um mit ihm Schritt zu halten und die Geschichte bis zum Schluß zu hören.

»Außerdem wußte ich aus den amerikanischen Observanten-Berichten, daß Gerstmann Kettenraucher war: Camels. Ich ließ ein paar Päckchen besorgen, und ich weiß noch, wie seltsam es mir vorkam, als ich dem Wärter Geld gab. Wissen Sie, ich hatte den Eindruck, Gerstmann sehe in der Aushändigung des Geldes von mir an den Inder etwas Symbolisches. Ich trug damals einen Geldgürtel. Ich mußte herumgrapschen und einen Geldschein aus einem Bündel ziehen. Unter Gerstmanns Blick fühlte ich mich wie ein fünftklassiger imperialistischer Unterdrücker.« Er lächelte. »Und das bin ich ganz gewiß nicht. Bill schon eher.

Auch Percy. Aber nicht ich.« Dann nahm er die Erzählung von neuem auf: »Ich fragte ihn also nach Mrs. Gerstmann.« - Er rief den Jungen herbei und sagte, nur um ihn aus dem Weg zu schicken: »Bringen Sie uns bitte Wasser. Eine Karaffe und zwei Gläser. Vielen Dank.«

»Ich fragte ihn, wo sie sich aufhalte. Eine Frage, die ich in bezug auf Ann liebend gern beantwortet wüßte. Keine Antwort, die Augen starr. Im Vergleich zu ihm wirkten die beiden Wärter rechts und links von ihm und ihre Augen lebhaft. Sie müsse ein neues Leben anfangen, sagte ich; eine andere Möglichkeit gebe es nicht. Ob er keinen verläßlichen Freund habe, der sich um sie kümmern könne? Vielleicht könnten wir es ermöglichen, uns heimlich mit ihr in Verbindung zu setzen? Ich wies ihn darauf hin, daß Mrs. Gerstmann mit seiner Rückkehr nach Moskau nicht im geringsten gedient wäre. Ich hörte mich selber sprechen, immer weiter, ich konnte nicht mehr aufhören. Vielleicht wollte ich auch nicht. Ich hatte ernsthaft daran gedacht, mich von Ann zu trennen, ich hielt den Augenblick für gekommen. Eine Rückkehr sei reine Don Quichotterie, sagte ich, ohne jeden praktischen Wert für seine Frau, ganz im Gegenteil. Sie würde geächtet werden; im günstigsten Fall würde man ihr erlauben, ihn vor seiner Erschießung noch kurz zu sehen. Wenn er dagegen mit uns gemeinsame Sache machte, könnten wir sie vielleicht austauschen; erinnern Sie sich, wir hatten damals große Vorräte, und einiges davon ging als Tauschware nach Rußland zurück; warum um alles in der Welt wir es allerdings zu diesem Zweck hätten verwenden sollen, geht über meinen Verstand. Bestimmt, sagte ich, würde sie ihn lieber sicher und gesund im Westen wissen als erschossen oder in Sibirien dem Hungertod ausgeliefert. Ich ritt auf dem Thema herum: sein Gesichtsausdruck ermutigte mich dazu. Ich hätte schwören können, daß ich zu ihm durchdringen würde, daß ich den Sprung in seiner Rüstung entdeckt hatte: während ich in Wirklichkeit - in Wirklichkeit nur ihm zeigte, wo meine Rüstung einen Sprung hatte. Und als ich Sibirien erwähnte, hatte ich eine wunde Stelle berührt. Ich spürte es wie einen Klumpen in meiner eigenen Kehle, ich spürte Gerstmanns Zurückschaudern. Wirklich kein Wunder«, kommentierte Smiley säuerlich: »schließlich war er noch vor kurzem ein Sträfling gewesen. Endlich kam auch der Wärter mit den Zigaretten, einem ganzen Arm voll, und ließ sie auf den Eisentisch klatschen. Ich zählte das Wechselgeld, gab ihm eine Belohnung, und fing dabei wiederum Gerstmanns Blick auf; ich bildete mir ein, Belustigung darin zu lesen, aber ich wußte, daß ich bereits nicht mehr in der Lage war, das zu beurteilen. Ich stellte fest, daß der Wärter mein Trinkgeld liegengelassen hatte; vermutlich haßte er die Engländer. Ich riß ein Päckchen auf und bot Gerstmann eine Zigarette an. >Na los<, sagte ich, >Sie sind doch Kettenraucher, das ist allgemein bekannt. Und Camels sind Ihre Lieblingsmarke. < Meine Stimme klang angespannt und albern, aber ich konnte es nicht ändern. Gerstmann stand auf und bedeutete den Wärtern höflich, daß er in seine Zelle zurückgebracht werden wolle.«

Bedächtig schob Smiley den halb leeren Teller zurück, auf dem sich weiße Fettflocken gebildet hatten wie Winterfrost. »Ehe er die Zelle verließ, überlegte er es sich anders; er nahm ein Päckchen Zigaretten und das Feuerzeug vom Tisch, mein Feuerzeug, ein Geschenk von Ann. >Für George in Liebe von Ann.< Normalerweise wäre es mir nicht im Traum eingefallen, ihn das Feuerzeug nehmen zu lassen; aber diese Situation war nicht normal. Ich fand es sogar durchaus angemessen, daß er ihr Feuerzeug nahm. Ich empfand es, Gott verzeih mir, als Ausdruck unserer Gemeinsamkeit. Er ließ das Feuerzeug und die Zigaretten in die Tasche seines roten Kittels fallen und hielt dann die Hände für die Fesseln hin. Ich sagte: > Zünden Sie sich gleich eine an, wenn Sie wollen.< Ich sagte zu den Wärtern: >Bitte lassen Sie ihn eine Zigarette anzünden.< Aber er machte keine Bewegung. >Es ist beabsichtigt, Sie morgen in die Maschine nach Moskau zu setzen, falls wir zu keiner Einigung gelangen<, fügte ich hinzu. Er überhörte es. Ich sah zu, wie der Wärter ihn hinausführte, dann kehrte ich in mein Hotel zurück, irgendwer fuhr mich hin, ich könnte bis heute nicht sagen, wer. Ich wußte nicht mehr, was ich empfand. Ich war verwirrter und kränker, als ich mir selber eingestehen wollte. Ich aß spärlich, trank zu viel und hatte hohes Fieber. Ich lag auf meinem Bett, schwitzte und träumte von Gerstmann. Ich wünschte mir sehnlichst, er möge bleiben. In meinem Fieberwahn hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, ihn zurückzuhalten, sein Leben neu zu gestalten, ihm wenn möglich zusammen mit seiner Frau eine Idylle zu schaffen. Ihn frei zu machen, ihn ein für allemal aus dem Krieg hereinzuholen. Ich wünschte mir verzweifelt, daß er nicht zurückgehen würde. Wieder blickte er mit dem Ausdruck der Selbstironie auf. »Was ich hier sage, Peter, bedeutet folgendes: Smiley, nicht Gerstmann hat in dieser Nacht seine Krisis durchgemacht.«

»Sie waren krank«, sagte Guillam wieder.

»Sagen wir, müde. Krank oder müde, in jener ganzen Nacht zwischen Aspirin und Chinin und zähen Traumvorstellungen VOM der wiedererstandenen Gerstmannschen Ehe, kehrte ein Bild immer wieder. Gerstmann, auf der Fensterbrüstung, starrt mit seinen regungslosen braunen Augen hinunter auf die Straße und ich rede auf ihn ein, unaufhörlich: >Bleib, nicht springen, bleib. < Wobei mir natürlich nicht klar war, daß es um meine eigene Unsicherheit ging, nicht um die seine. Am frühen Morgen bekam ich vom Arzt eine Spritze, die das Fieber senken sollte. Ich hätte den Fall aufgeben sollen, um einen Ersatzmann telegrafieren. Ich hätte noch warten sollen, ehe ich wieder ins Gefängnis ging, aber ich hatte nur noch Gerstmann im Sinn: ich mußte hören, wie er sich entschieden hatte. Schon um acht ließ ich mich zum Zellenblock führen. Er saß stocksteif auf einer Bank; zum erstenmal sah ich den Soldaten in ihm und wußte, daß er genau wie ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Er war unrasiert und durch den silbernen Flaum auf den Wangen sah er aus wie ein alter Mann. Auf anderen Bänken schliefen Inder, und mit seinem roten Kittel und dem silbrigen Teint wirkte er zwischen ihnen sehr weiß. Er hielt Anns Feuerzeug in der Hand; das Zigarettenpäckchen lag neben ihm auf der Bank - unberührt. Ich schloß daraus, daß er die Nacht und die verschmähten Zigaretten benutzt hatte, um zu prüfen, ob er dem Gefängnis und den Verhören und dem Tod ins Auge blicken könne. Ein Blick in sein Gesicht sagte mir, daß er die Prüfung bestanden hatte. Ich drang nicht in ihn«, sagte Smiley und fuhr in einem Zug fort. »Er hätte sich keinen blauen Dunst vormachen lassen. Seine Maschine flog am späteren Vormittag ab; ich hatte noch zwei Stunden Zeit. Ich bin der schlechteste Advokat der Welt, aber in diesen zwei Stunden versuchte ich alle Gründe anzuführen, die gegen diesen Flug nach Moskau sprachen. Verstehen Sie, ich glaubte, in seinem Gesicht etwas erblickt zu haben, was dem bloßen Dogma haushoch überlegen war; und ich begriff nicht, daß das nur meine eigene Reflektion war. Ich hatte mir eingeredet, Gerstmann sei im Grunde normalen menschlichen Argumenten zugänglich, wenn sie von einem Mann seines Alters und Berufs und, nun ja, seiner eigenen Ausdauer kämen. Ich versprach ihm nicht Reichtum und Frauen und billige Butter, es war klar, daß er dafür keine Verwendung hatte. Ich besaß nun wenigstens genügend Verstand, um das Thema Ehefrau beiseite zu lassen. Ich hielt ihm keine Reden über die Freiheit, was immer das bedeuten mag, oder über den ehrlichen guten Willen des Westens: außerdem war das damals nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Geschichte aufzutischen, und ich selber befand mich in keiner eindeutigen ideologischen Position. Ich versuchte es mit der Kameradschaft. >Sehen Sie<, sagte ich, >wir beide werden alt, und wir beide haben unser Leben damit zugebracht, in den Systemen des anderen die schwachen Stellen zu suchen. Ich durchschaue die Werte des Ostens ebenso, wie Sie die des Westens durchschauen. Wir haben bestimmt beide bis zum Überdruß die technischen Siege dieses elenden Krieges ausgekostet. Aber jetzt wollen Ihre eigenen Leute Sie abschießen. Finden Sie es nicht an der Zeit, zuzugeben, daß Ihre Seite genauso wenig wert ist wie die meine? In unserem Metier<, sagte ich zu ihm, >bekommen wir doch immer nur das Negative zu sehen. In diesem Sinn hat keiner von uns beiden mehr ein Ziel. Als wir jung waren, verschrieben wir uns beide großen Idealen<, wieder spürte ich, daß etwas in ihm vorging, Sibirien, ich hatte einen Nerv getroffen, >aber das ist vorbei. Ja?< Ich drängte ihn, mir nur dieses eine zu beantworten: kam es ihm nicht in den Sinn, daß er und ich auf verschiedenen Wegen sehr wohl zum gleichen Schluß über das Leben gekommen sein konnten? Selbst wenn meine Schlüsse nach seinem Denken reaktionär sein mochten, waren nicht unsere Werke identisch? Glaubte er zum Beispiel nicht auch, daß die Politik im allgemeinen bedeutungslos war? Daß für ihn im Leben jetzt nur noch das Besondere wichtig war? Daß die großen Pläne in den Händen der Politiker nichts anderes hervorbringen als neue Formen des alten Elends? Und daß daher sein Leben, die Rettung seines Lebens vor einem der vielen sinnlosen Erschießungskommandos, wichtiger war - moralisch, ethisch wichtiger -, als das Pflichtgefühl oder die Treue oder der Ehrenstandpunkt oder, was immer es sein mochte, das ihn zur Selbstzerstörung zwang? Kam es ihm nicht in den Sinn, nach all den vielen Reisen seines Lebens, die Integrität eines Systems in Frage zu stellen, das kaltblütig vorhatte, ihn für Missetaten zu erschießen, die er niemals begangen hatte? Ich bat ihn — ja, ich flehte ihn wohl buchstäblich an — wir waren auf der Fahrt zum Flugplatz und er hatte bis jetzt noch immer kein einziges Wort an mich gerichtet -, ich bat ihn, zu überlegen, ob er wirklich glaube; ob der ursprünglich ehrliche Glaube an das System, dem er gedient hatte, ihm in diesem Augenblick noch möglich sei.«

Nun saß Smiley eine ganze Weile schweigend da. »Ich hatte meine ganze Psychologie in den Wind geschlagen; meine berufliche Technik ebenfalls. Sie können sich vorstellen, was Control sagte. Dennoch, mein Bericht erheiterte ihn; er hörte gern von den Schwächen des Menschen. Besonders von den meinen, aus bestimmten Gründen.« Er hatte seine sachliche Art wiedergewonnen. »Das war's also. Als die Maschine bereitstand, ging ich mit ihm an Bord und flog ein Stück mit: damals gab's noch nicht lauter Jetflüge. Er entglitt mir, und ich hatte keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Das Reden hatte ich aufgegeben, aber ich war da, falls er es sich anders überlegen sollte. Das tat er nicht. Er würde lieber sterben als mir geben, was ich wollte; er würde lieber sterben als das politische System verleugnen, dem er sich verschworen hatte. Das letzte, was ich meines Wissens bis heute von ihm sah, war sein ausdrucksloses Gesicht im Rahmen des Kabinenfensters, das mir nachsah, als ich die; Gangway hinunterschritt. Ein paar sehr russisch aussehende Burschen waren zugestiegen und saßen nun hinter ihm, und es hatte wirklich keinen Sinn, daß ich noch länger blieb. Ich flog nach Hause, und Control sagte: >Ich hoffe zu Gott, daß sie ihn abknallen<, und labte mich mit einer Tasse Tee. Dieses widerliche chinesische Kraut, das er immer trinkt, Zitronenjasmin oder so, er läßt es im Kramladen um die Ecke holen. Ich meine, er ließ. Dann schickte er mich zwangsweise für drei Monate in Urlaub. >Ich mag es, wenn Sie zweifeln<, sagte er. >Daran sehe ich, wo Sie stehen. Aber machen Sie keinen Kult daraus, Sie werden sonst zur Nervensäge. < Es war eine Warnung. Ich beherzigte sie. Er sagte auch, ich solle aufhören, mir dauernd wegen der Amerikaner Gedanken zu machen; er versicherte mir, daß er selber kaum jemals an sie denke.«

Guillam blickte ihn an und wartete auf die Lösung. »Aber wie erklären Sie es sich?« fragte er. »Dachte Karla jemals wirklich daran zu bleiben?«

»Ich bin überzeugt, daß es ihm nicht im Traum einfiel«, sagte Smiley angewidert. »Ich habe mich wie ein armer Irrer benommen. Der Archetypus eines knieweichen westlichen Liberalen. Aber ich möchte trotz allem lieber nach meiner Fasson den Narren spielen, als nach der seinen. Ich bin überzeugt«, wiederholte er, »daß ihn weder meine Argumente noch seine prekäre Lage gegenüber der Moskauer Zentrale letztlich auch nur im geringsten beeinflußten. Vermutlich hat er während dieser Nacht einen Plan ausgearbeitet, wie er nach seiner Rückkehr nun seinerseits Rudnew abschießen könnte. Rudnew wurde übrigens wirklich einen Monat später erschossen. Karla bekam Rudnews Job und machte sich daran, seine alten Agenten wieder zu aktivieren. Unter ihnen zweifellos auch Gerald. Komisch, wenn man bedenkt, daß er vielleicht die ganze Zeit über mich angesehen und dabei an Gerald gedacht hat. Vermutlich haben die beiden sich später darüber halb totgelacht.«

Die Episode habe eine weitere Folge gezeitigt, sagte Smiley. Seit seinem Abenteuer in San Francisco habe Karla nie wieder einen Geheimsender angefaßt. Kam für ihn nicht mehr in Frage. Er strich es ein für allemal von seiner Liste: »Botschaftsverbindungen sind etwas anderes. Aber seine Außenagenten müssen die Finger davon lassen. Und Anns Feuerzeug hat er noch immer.«

»Ihr Feuerzeug«, berichtigte Guillam.

»Ja. Ja, meines. Natürlich. Sagen Sie«, fuhr er fort, als der Kellner mit dem Geld abgezogen war, »hat Tarr sich auf irgend jemanden besonders bezogen, als er diese unschöne Anspielung auf Ann machte?«

»Hat er leider. Ja.«

»Das Gerücht ist also schon so konkret?« erkundigte sich Smiley.

»Und bereits überallhin gedrungen? Sogar bis zu Tarr?«

»Ja.«

»Und was besagt es, ganz genau?«

»Daß Bill Haydon ein Verhältnis mit Ann Smiley hatte«, sagte Guillam und spürte, wie ihn jene Kälte überkam, die sein Schutzmantel war, wenn er schlechte Nachrichten für jemanden hatte: Sie sind hochgegangen; Sie sind geschaßt; Sie liegen im Sterben.

»Ah; Aha. Ja. Vielen Dank.« Verlegenes Schweigen.

»Und gab es, gibt es eine Mrs. Gerstmann?« fragte Guillam. »Karla war früher einmal mit einem Mädchen in Leningrad verheiratet, einer Studentin. Sie beging Selbstmord, als er nach Sibirien deportiert wurde.«

»Karla ist demnach gegen alles gefeit«, sagte Guillam schließlich. »Er ist nicht zu kaufen, er ist nicht zu schlagen.« Sie gingen zum Wagen zurück.

»Eigentlich ziemlich teuer, im Verhältnis«, gestand Smiley. »Glauben Sie, der Kellner hat mich beschummelt?« Aber Guillam war nicht in der Stimmung, über den Preis miserabler Mahlzeiten in England zu plaudern. Als er wieder hinter dem Steuer saß, wurde der Tag für ihn aufs neue zum Alptraum, ein trüber Wirbel aus nebelhaft erfaßten Gefahren und argwöhnischen Gedanken.

»Und wer ist nun Quelle Merlin?« fragte er. »Woher könnte Alleline diese Information haben, wenn nicht von den Russen selbst?«

»Oh, er hatte sie natürlich von den Russen.«

»Aber um Gottes willen, wenn die Russen Tarr ausschickten . . .«

»Haben sie nicht. Und Tarr hat auch nicht die britischen Pässe benutzt, nicht wahr? Die Russen haben es mißverstanden. Was Alleline in die Hände bekam, war der Beweis, daß Tarr sie übertölpelt hat. Das ist die wichtige Botschaft, die dieser Sturm im Wasserglas uns zugetragen hat.«

»Was zum Teufel meinte Percy dann mit >Verwirrung stiften

»Und auf Gerald«, pflichtete Smiley bei.

Wieder fuhren sie schweigend dahin, und die Kluft zwischen ihnen schien plötzlich unüberbrückbar zu sein.

»Hören Sie: Ich bin selber noch nicht ganz dahintergekommen, Peter«, sagte Smiley ruhig. »Aber fast. Karla hat den Circus völlig durcheinandergebracht; soviel habe ich begriffen, und Sie auch. Und er hat noch einen letzten gekonnten Knoten geschlungen, und ich kann ihn nicht aufkriegen. Aber ich bin entschlossen. Und wenn ich Ihnen mal was sagen soll: Karla ist nicht gegen alles gefeit, denn er ist ein Fanatiker. Und wenn's nach mir geht, dann kommt der Tag, an dem dieser Mangel an Mäßigung ihn zu Fall bringen wird.«

Es regnete, als sie die Station Stratford erreichten; ein Grüppchen Fußgänger kuschelte sich unter dem Schutzdach zusammen. »Peter, ich möchte, daß Sie von jetzt an ein bißchen kurztreten.«

»Drei Monate Zwangsurlaub?«

»Ziehen Sie für eine Weile die Ruder ein.«

Als Guillam die Tür des Beifahrersitzes hinter Smiley schloß, drängte es ihn plötzlich, ihm gute Nacht oder sogar viel Glück zu wünschen. Er beugte sich über den Sitz, kurbelte das Fenster herunter und holte Atem, um ihm nachzurufen. Aber Smiley war verschwunden. Guillam hatte niemals einen Menschen gekannt, der so schnell in der Menge untertauchen konnte.


Während des Rests derselben Nacht brannte ununterbrochen das Licht im Dachfenster von Mr. Barracloughs Mansarde im Hotel Islay. Ohne sich umzuziehen oder zu rasieren, blieb George Smiley über den Schreibtisch des Majors gebeugt, las, verglich, merkte an, stellte Querbezüge her, alles mit einer Gründlichkeit, die ihn, wenn er sich selber hätte beobachten können, bestimmt an Controls letzte Tage im fünften Stock des Circus erinnert hätte. Dann nahm er eine Umgruppierung vor, er zog Guillams Urlaubstabellen und Krankenlisten für das vergangene Jahr heran und legte sie neben die offizielle Aufstellung der Reisen des Kulturattaches Alexei Alexandrowitsch Poljakow, seine Aufenthalte in Moskau, seine Aufenthalte außerhalb Londons, soweit sie dem Foreign Office durch die Sonderabteilung und die Einreisebehörden gemeldet worden waren. Er verglich sie wiederum mit den Daten, an denen Merlin anscheinend seine Informationen lieferte, und zerlegte, ohne eigentlich zu wissen, warum er das tat, die Witchcraft-Berichte in solche, die zur Zeit ihres Eintreffens nachweisbar aktuell waren, und in solche, die bereits einen oder zwei Monate früher gesammelt sein konnten, sei es von Merlin oder denen, die ihn kontrollierten, um Leerzeiten zu überbrücken: Analysen, Charakterstudien prominenter Regierungsmitglieder, Histörchen aus dem Kreml, die zu einem beliebigen Zeitpunkt aufgelesen und für Durststrecken verwahrt lein mochten. Nachdem er die aktuellen Berichte in einer Liste zusammengefaßt hatte, notierte er ihre Daten in einer eigenen Spalte und warf den Rest beiseite. In diesem Stadium hätte man seine Stimmung am besten mit der eines Wissenschaftlers vergleichen können, der instinktiv spürt, daß er kurz vor einer Entdeckung steht und in jedem Augenblick die logische Verknüpfung erwartet. Später nannte er es in einem Gespräch mit Mendel »alles in eine Teströhre füllen und abwarten, ob es explodiert«. Was ihn am meisten fasziniert habe, sagte er, sei die Bemerkung gewesen, die Guillam über Allelines düstere Warnung von wegen »Verwirrung stiften« gemacht hatte, in anderen Worten, er suchte nach dem »letzten gekonnten Knoten«, den Karla geschlungen hatte, um den ganz bestimmten Verdacht entkräften zu können, den Irinas Tagebuch geweckt hatte.

Zunächst stieß er auf ein paar seltsame Funde. Zum einen, daß jedesmal, wenn Merlin einen seiner neun aktuellen Berichte geliefert hatte, entweder Poljakow in London gewesen war oder Toby Esterhase eine Spritztour ins Ausland gemacht hatte. Zum anderen, daß während der wichtigen Zeit, die auf Tarrs Abenteuer in Hongkong folgte, Poljakow zu dringenden Kulturgesprächen in Moskau gewesen war; und daß bald darauf Merlin mit einer seiner spektakulärsten und aktuellsten Informationen über die »ideologische Durchdringung« der Vereinigten Staaten herausrückte, einschließlich einer Wertung der Ermittlungen des Circus über die wichtigsten amerikanischen Aufklärungsziele. Als er nochmals die Probe machte, entdeckte er, daß auch die Umkehrung stimmte: daß die Berichte, die er mangels engen Bezugs zu jüngsten Ereignissen verworfen hatte, fast immer zur Verteilung gelangten, während Poljakow in Moskau oder auf Urlaub war. Und dann hatte er's.

Keine schlagartige Enthüllung, keine jähe Erleuchtung, kein »Heureka« und keine Anrufe bei Guillam oder Lacon: »Smiley ist der Beste.« Einfach nur, daß hier, in den Berichten, die er geprüft, und in den Notizen, die er zusammengetragen hatte, die Bestätigung einer Theorie lag, der er schon oft nahegekommen war, ohne ihr jedoch einen Namen gegeben zu haben; einer Theorie, für die an diesem Tag Smiley und Guillam und Ricki Tarr, jeder von seinem Blickpunkt aus, den Beweis vor Augen gehabt hatten: daß zwischen dem Maulwurf Gerald und der Quelle Merlin eine nicht mehr wegzuleugnende Verbindung bestand; daß Merlins sprichwörtliche Beweglichkeit ihm erlaubte, sowohl Karlas wie auch Allelines Werkzeug zu sein. Oder sollte er besser sagen, überlegte Smiley- während er sich ein Handtuch umwarf und frohgemut in den Korridor hinaustänzelte, um sich zur Feier des Tages ein Bad zu genehmigen — Karlas Agent? Daß dieser ganzen Verschwörung ein verblüffend einfacher Mechanismus zugrunde lag, dessen Symmetrie für ihn die reine Wonne war. Es war sogar mit Händen zu greifen: hier in London, ein Haus, vom Schatzamt bezahlt, die ganzen sechzigtausend Pfund; und gewiß oft von den unglücklichen Steuerzahlern, die täglich daran vorbeigingen, mit begehrlichen Blicken bedacht - nie würden sie sich etwas Derartiges leisten können, und doch hatten sie es, ohne ihr Wissen, bar bezahlt.

Seit vielen Monaten hatte er sich nicht mehr so erleichtert gefühlt wie jetzt, als er sich die gestohlene Akte über die Operation Testify vornahm.


Bill Roach sieht verbotene Dinge und ist entgeistert


Eins mußte man Matron lassen: Sie hatte sich schon die ganze Woche über wegen Roach Sorgen gemacht, seit sie ihn allein im Waschraum entdeckt hatte, zehn Minuten, nachdem der ganze übrige Schlafsaal zum Frühstück hinuntergegangen war. Er hatte, noch immer im Pyjama, über ein Waschbecken gebeugt dagestanden und sich verbissen die Zähne gebürstet, Als sie ihn ausfragte, mied er ihren Blick. »Es ist sein elender Vater«, hatte sie zu Thursgood gesagt: »Er macht ihn wieder mal fertig.« Und am Freitag: »Sie müssen seiner Mutter schreiben und ihr sagen, daß es ihn erwischt hat.«

Aber nicht einmal Matron hätte trotz all ihres mütterlichen Scharfblicks auf blankes Entsetzen diagnostiziert.

Was konnte er nur tun, er, ein Kind? Hier lag seine Schuld. Hier lag der Anfang des Fadens, der direkt zurückführte zum Unglück seiner Eltern. Hier lag der Fluch, der seinen gebeugten Schultern bei Tag und Nacht die Verantwortung für die Erhaltung des Friedens auf der Welt aufbürdete. Roach, der Beobachter - der »beste Beobachter im ganzen Stall«, um Jim Prideaux' treulich bewahrte Worte zu gebrauchen - hatte am Ende allzu gut beobachtet. Er hätte alles dafür gegeben, sein Geld, den Lederrahmen mit den Fotos seiner Eltern, alles, was ihm in der Welt Wert verlieh, wenn er sich dafür von der Erkenntnis hätte loskaufen können, die ihn seit Sonntagabend quälte. Er hatte Signale gegeben. Sonntagnacht, eine Stunde, nachdem die Lichter gelöscht worden waren, war er geräuschvoll aufs Klo gegangen, hatte sich den Finger in den Hals gesteckt, hatte gewürgt und sich schließlich übergeben. Die Schlafsaal-Aufsicht, die hätte wachen und Alarm schlagen sollen - »Matron, Roach ist krank« - verschlief jedoch die ganze Scharade. Roach kletterte hundeelend wieder in sein Bett. Am nächsten Nachmittag hatte er von der Telefonzelle neben dem Lehrerzimmer aus irgendeine Nummer gewählt und sinnloses Zeug in die Muschel geflüstert, in der Hoffnung, daß einer der Lehrer es hören und ihn für verrückt erklären würde. Niemand achtete auf ihn. Er hatte versucht, Wirklichkeit und Träume zu vermischen, und gehofft, alles, was er erlebt hatte, könne zu einem Phantasiegebilde werden; aber allmorgendlich, wenn er an der Senke vorbeikam, sah er wieder Jims bucklige Gestalt im Mondlicht über den Spaten gebeugt; er sah den schwarzen Schatten des Gesichts unter der Krempe seines alten Huts und hörte Jim beim Graben vor Anstrengung grunzen.

Roach hätte gar nicht dort sein dürfen. Auch das war seine Schuld: sein Wissen war durch Sünde erworben. Nach einer Cellostunde am anderen Ende des Dorfs war er absichtlich langsam zur Schule zurückgekehrt, um zur Abendandacht zu spät zu kommen und Mrs. Thursgoods mißbilligendem Auge zu entgehen. Die ganze Schule lobte Gott, alle, außer ihm und Jim: er hörte sie das Tedeum singen, als er an der Kirche vorüberkam. Er hatte den längeren Weg gewählt, um an der Senke vorbeizukommen, wo Jims Licht brannte. Von seinem gewohnten Platz aus beobachtete Roach, wie Jims Schatten sich langsam über die Fenstergardine bewegte. Er geht früh schlafen, dachte er beifällig, als das Licht plötzlich erlosch; denn Jim war nach seiner Ansicht in letzter Zeit zu viel weg gewesen, er war nach dem Rugby im Alvis weggefahren und erst zurückgekommen, wenn Roach bereits schlief. Dann öffnete sich die Tür des Wohnwagens und schloß sich wieder, und Jim stand an der Gemüsemiete mit einem Spaten in der Hand, und Roach fragte sich in großer Verwunderung, wonach er dort im Dunkeln wohl graben mochte. Nach Gemüse für sein Abendessen? Eine Weile stand Jim völlig still und lauschte auf das Tedeum; dann blickte er langsam in die Runde und direkt auf Roach, der vor den schwarzen Erdhocken nicht zu sehen war. Roach überlegte sogar, ob er ihn anrufen solle; aber er hatte ein zu schlechtes Gewissen, weil er die Andacht geschwänzt hatte.

Dann fing Jim an, Maß zu nehmen. So wenigstens schien es Roach. Anstatt zu graben war er an einer Ecke des Beets niedergekniet und hatte den Spaten auf die Erde gelegt, als wolle er damit etwas anvisieren, was Roach nicht sehen konnte: zum Beispiel den Kirchturm. Daraufhin schritt Jim rasch dorthin, wo das platt des Spatens lag, markierte mit der Ferse die Stelle, hob den Spaten auf und führte schnell mehrere Stiche, Roach zählte zwölf; dann trat er zurück und nahm wieder Maß. Aus der Kirche hörte man nichts; dann Gebete. Jim bückte sich hastig und hob ein Paket aus der Erde, das er sofort unter seinem Dufflecoat verbarg. Sekunden später, und viel schneller, als menschenmöglich schien, fiel die Tür des Wohnwagens wiederum zu, das Licht ging wieder an, und Bill Roach schlich im kühnsten Augenblick seines Lebens auf Zehenspitzen hinunter in die Senke, bis drei Schritt vor dem dürftig verhangenen Fenster, wo er noch hoch genug stand, um hineinschauen zu können. Jim stand am Tisch. Auf der Koje hinter ihm lag ein Stapel Schulhefte, eine Wodkaflasche und ein leeres Glas. Er mußte alles dorthin geworfen haben, um Platz zu schaffen. Er hielt ein Federmesser in der Hand, benutzte es aber nicht. Jim hätte nie eine Schnur durchschnitten, wenn es zu vermeiden war. Das Päckchen war dreißig Zentimeter lang und aus gelbem Material wie ein Tabaksbeutel. Er öffnete es und zog etwas heraus, das wie ein englischer Schraubenschlüssel aussah, der in Rupfen gewickelt war. Aber wer würde einen »Engländer« vergraben, selbst wenn er ihn für den besten Wagen brauchte, den England je fabriziert hat? Die Schrauben oder Bolzen waren in einem eigenen gelben Umschlag; er schüttete sie auf den Tisch und prüfte jedes einzelne Stück. Keine Schrauben: Gewinde. Auch keine Gewinde, aber jetzt waren sie unter Bills Blickfeld gerutscht. Und auch kein »Engländer«, kein Schraubenschlüssel, nichts, aber schon absolut nichts für den Wagen.

Roach war Hals über Kopf hinaufgerannt. Er lief zwischen den Erdhocken durch auf den Fahrweg zu, aber langsamer, als er je gelaufen war; lief durch Sand und tiefes Wasser und saugendes Gras, schlang die Nachtluft hinunter und schluchzte sie wieder hinaus, lief mit Schlagseite wie Jim, hinkte bald auf dem einen Bein, bald auf dem anderen, und warf den Kopf nach vorn, um Tempo zu gewinnen. Er wußte nicht, worauf er zulief. Er hatte sein Bewußtsein hinter sich gelassen; auf den schwarzen Revolver und die Wildlederriemen gebannt; auf die Schrauben und Muttern, aus denen Kugeln geworden waren, als Jim sie methodisch in die Kammer fädelte und sein gefurchtes Gesicht sich dem Lampenlicht zukehrte, bleich und ein wenig blinzelnd in dem hellen Schein.


George Smiley begegnet einem der zahlreichen, unerfreulichen Cousins seiner schönen Frau


»Ich darf nicht zitiert werden, George«, warnte der Minister in seiner schleppenden Sprechweise. »Keine schriftlichen Notizen, kein Wort zuviel l. Ich muß auf meine Wähler Rücksicht nehmen. Sie brauchen das nicht, und Oliver Lacon auch nicht oder, Oliver?«

»Ich weiß«, sagte Smiley. »Bedauere sehr.«

»Sie würden es noch mehr bedauern, wenn Sie meinen Wahlkreis hätten«, erwiderte der Minister.

Wie vorauszusehen war, hatte bereits die Frage, wo sie sich treffen sollten, einen albernen Streit ausgelöst. Smiley hatte Lacon klargemacht, daß es unklug wäre, sich in seinem Büro in Whitehall zu treffen, da sich dort ständig Leute aus dem Circus herumtrieben, von Boten, die Depeschentaschen ablieferten, bis zu Percy Alleline höchstpersönlich, der vorbeischaute, um über Irland zu sprechen. Der Minister seinerseits lehnte sowohl das Hotel Islay wie die Bywater Street ab, mit der willkürlichen Behauptung, beide seien unsicher. Er war unlängst im Fernsehen aufgetreten und stolz darauf, daß die Leute ihn erkannten. So entschieden sie sich nach einigem Hin- und Hertelefonieren für Mendels ziemlich alleinstehenden Tudor-Wohnsitz in Mitcham, wo er und sein blankpoliertes Auto auffielen wie ein Paar weiße Raben, und nun saßen sie, Lacon, Smiley und der Minister, in dem schmucken Vorderzimmer mit den dichten Netzgardinen und der Platte mit frischen Lachsbrötchen auf dem Tisch, während ihr Gastgeber oben stand und den Zugang bewachte. Auf dem Fahrweg versuchten Kinder, den Chauffeur auszuhorchen, wem das Auto gehörte.

Hinter dem Kopf des Ministers stand eine Reihe Bücher über Bienen. Sie waren Mendels Leidenschaft, wie Smiley wußte; er bezeichnete alle Bienen, die nicht aus Surrey stammten, als »exotisch«. Der Minister war ein noch junger Mann, sein dunkler Kiefer sah aus, als sei er ihm bei einer unziemlichen Keilerei ausgerenkt worden. Er hatte einen Kahlkopf, der ihm ein ungerechtfertigt reifes Aussehen verlieh, und den gräßlich schleppenden Tonfall eines Eton-Boys. »Also, welche Anregungen liegen vor?« Er beherrschte auch die Kunst autoritärer Dialogführung. »Nun, ich würde vorschlagen, daß Sie als erstes alle Verhandlungen einstellen, die in letzter Zeit mit den Amerikanern gelaufen sind. Ich denke an den geheimen Anhang ohne Titel, der in Ihrem Safe verwahrt ist«, sagte Smiley, »der sich mit der möglichen weiteren Verwertung von Witchcraft-Material befaßt.«

»Nie davon gehört«, sagte der Minister.

»Ich verstehe natürlich völlig die Beweggründe. Es ist immer verlockend, an die Creme dieses enormen amerikanischen Apparates heranzukommen, und mir ist klar, was dafür spricht, ihnen dafür Witchcraft abzutreten.«

»Was spricht also dagegen?« fragte der Minister, als spräche er mit seinem Börsenmakler.

»Wenn der Maulwurf Gerald existiert«, begann Smiley. Von allen ihren Vettern, hatte Ann einmal stolz gesagt, habe nur Miles Sercombe nicht einen einzigen versöhnlichen Charakterzug. Zum erstenmal glaubte Smiley, daß sie recht hatte. Er kam sich nicht nur idiotisch vor, sondern auch unlogisch. »Wenn der Maulwurf existiert, worüber wir uns einig sein dürften . . . « Er wartete, aber niemand verneinte. »Wenn Gerald existiert«, wiederholte er, »so wird nicht nur der Circus vom Amerikageschäft profitieren, sondern auch die Moskauer Zentrale, denn sie werden von Maulwurf Gerald alles bekommen, was Sie den Amerikanern abkaufen.«

Verdrießlich ließ der Minister die flache Hand auf den Tisch klatschen, auf dessen Politur ein feuchter Abdruck zurückblieb. »Herrgott, ich verstehe kein Wort«, erklärte er. »Dieses Witchcraft-Zeug ist verdammt fabelhaft! Vor einem Monat war's die große Sensation. Jetzt verkriechen wir uns in unsere Höhlen und sagen, die Russen brauen es laufend für uns zusammen. Was zum Teufel geht eigentlich vor?«

»Ich glaube offen gestanden nicht, daß es ganz so widersinnig ist, wie es klingt. Schließlich haben wir selber gelegentlich das eine oder andere russische Netz geführt, und obwohl ich pro domo spreche, darf ich sagen, nicht einmal schlecht. Wir haben das beste Material geliefert, das wir uns leisten konnten. Raketen, Kriegsplanung. Sie haben selber mitgemacht« - dies zu Lacon, der flüchtig Zustimmung nickte, »wir haben ihnen Agenten hinübergeschickt, die wir entbehren konnten, räumten ihnen gute Verbindungen ein, sicherten ihren Kurierdienst, hielten die Luft frei für Signale, so daß wie sie abhören konnten. Diesen Preis zahlten wir dafür, daß wir die Gegenseite führen konnten, daß wir - wie drückten Sie sich aus? — erfuhren, wie sie ihre Kommissare instruierten. Ich bin überzeugt, Karla würde das gleiche für uns tun, wenn er unsere Netze leitete. Er würde noch mehr tun, nicht wahr, wenn er auch den amerikanischen Markt anpeilen könnte.« Er brach ab und blickte Lacon an. »Viel, viel mehr. Eine amerikanische Verbindung, ich meine, eine fette, amerikanische Gewinnbeteiligung würde den Maulwurf Gerald direkt auf Platz eins versetzen. Natürlich indirekt auch den Circus. Als Russe würde man den Engländern praktisch alles geben, was sie wollen, wenn man . . ., wenn man sich dafür die Amerikaner kaufen könnte.«

»Danke«, sagte Lacon.

Der Minister ging, nachdem er sich ein paar Sandwiches für die Rückfahrt mitgenommen und versäumt hatte, sich von Mendel zu verabschieden, vermutlich, weil Mendel nicht seinem Wahlkreis angehörte. Lacon blieb.

»Sie baten mich, alles über Prideaux ausfindig zu machen«, erklärte Lacon schließlich. »Ich habe festgestellt, daß wir doch einige Unterlagen besitzen.«

Er habe zufällig einige Akten über die interne Sicherheit im Circus durchgeblättert, erläuterte er, »einfach um auf meinem Schreibtisch Ordnung zu machen«. Dabei sei er auf einige alte positive Untersuchungsberichte gestoßen. Einer davon habe sich auf Prideaux bezogen.

»Er war komplett sicherheitsüberprüft worden. Nicht ein Schatten zu entdecken. Allerdings«, er senkte die Stimme, was Smiley veranlaßte, aufzublicken, »eins könnte Sie vielleicht trotzdem interessieren. Ein winzig kleines Munkeln über seine Zeit in Oxford. Aber in diesem Alter hat jeder das Recht, ein bißchen rosig angehaucht zu sein.«

»Durchaus.«

Das Schweigen stellte sich erneut ein, es wurde nur von Mendels gedämpften Schritten droben unterbrochen. »Prideaux und Haydon waren damals sehr eng miteinander befreundet, wissen Sie«, bekannte Lacon. »Es war mir entgangen.«

Er hatte es plötzlich schrecklich eilig, wegzukommen. Er tauchte in seine Mappe, holte einen großen neutralen Umschlag hervor, drückte ihn Smiley in die Hand und kehrte in die erhabeneren Gefilde Whitehalls zurück; und Mr. Barraclough vom Hotel Islay zu seiner Lektüre der Operation Testify.


Sam Collins, ein alter Hase, plaudert aus der alten Schule


Es war um die Mittagszeit am folgenden Tag. Smiley hatte gelesen und ein bißchen geschlafen, wieder gelesen und ein Bad genommen, und als er jetzt die Stufen des hübschen Londoner Hauses hinaufstieg, war er guter Laune, denn er mochte Sam. Das Haus war in georgianischem Stil aus braunen Ziegeln erbaut und stand ganz in der Nähe des Grosvenor Square. Es hatte fünf Türstufen und eine schalenförmig eingelassene Messingklingel. Die schwarze Tür war von Säulen flankiert. Er drückte auf die Klingel und hätte ebensogut die Tür aufgedrückt haben können, denn sie öffnete sich sofort. Er betrat einen runden Vorplatz mit einer weiteren Tür im Hintergrund, und die beiden breitschultrigen Männer in Schwarz hätten Wachen in der Westminster Abbey sein können. Über einem Marmorkamin bäumten sich Pferde, es hätte ein Stubbs sein können. Der eine Mann war ihm behilflich, als er den Mantel auszog. Der andere führte ihn zu einem Stehpult, wo er sich eintrug.

»Hebden«, murmelte Smiley, während er schrieb; Sam würde sich an diesen Arbeitsnamen erinnern. »Adrian Hebden.«

Der Mann, der seinen Mantel hatte, wiederholte den Namen in ein Haustelefon. »Mr. Hebden, Mr. Adrian Hebden.«

»Wenn Sie bitte einen Augenblick warten wollen, Sir«, sagte der Mann neben dem Stehpult. Man hörte keine Musik, und Smiley fand, sie gehörte eigentlich hierher; ebenso ein Springbrunnen.

»Ich bin nämlich ein Bekannter von Mr. Collins«, sagte Smiley.

»Wenn Mr. Collins zu sprechen ist. Vielleicht erwartet er mich sogar.«

Der Mann am Telefon murmelte »danke« und hängte auf. Er führte Smiley zur Innentür und drückte sie auf. Nicht das geringste Geräusch war zu hören, nicht einmal ein Schaben auf dem Seidenteppich.

»Mr. Collins ist hier, Sir«, flüsterte er respektvoll. »Die Getränke gehen auf Kosten des Hauses.«

Die drei Empfangsräume gingen ineinander über; sie waren durch Säulen und Bogen optisch abgeteilt und mit Mahagony getäfelt.

In jedem Raum stand ein Tisch. Der dritte war zwanzig Meter entfernt. Die Beleuchtung erhellte nichtssagende Stilleben in gewaltigen Goldrahmen und die grünen Flanellbezüge der Tische. Die Gardinen waren zugezogen, die Tische etwa zu einem Drittel besetzt, jeder mit vier bis fünf Spielern, alles Männer, aber man hörte nichts als das Klicken der Kugel im Rad und das Klicken der Chips, wenn sie verteilt wurden, und das sehr leise Flüstern der Croupiers. »Adrian Hebden«, sagte Sam Collins mit einem Zwinkern in der Stimme. »Lange nicht gesehen.«

»Hallo, Sam«, sagte Smiley, und sie schüttelten sich die Hände. »Kommen Sie mit in meine Höhle«, sagte Sam und nickte dem einzigen anderen Mann zu, der herumstand, einem sehr dicken Mann mit zu hohem Blutdruck und einem zerschlagenen Gesicht. Der dicke Mann nickte zurück.

»Gefällt's Ihnen?« erkundigte sich Sam, als sie einen mit roter Seide bespannten Korridor durchschritten. »Sehr eindrucksvoll«, sagte Smiley höflich.

»Genau«, sagte Sam. »Eindrucksvoll. Genau das ist es.« Er trug einen Smoking. Sein Büro war in Plüsch gehalten, der Schreibtisch hatte eine Marmorplatte und Klauenfüße, aber der Raum selber war klein und keineswegs gut belüftet, eher wie eine Requisitenkammer im Theater, dachte Smiley, voller alter Versatzstücke. »Später kann ich mich vielleicht sogar mit eigenem Geld beteiligen, in einem Jahr oder so. Sind harte Jungs, aber sehr auf Draht, muß man sagen.«

»Bestimmt«, sagte Smiley. »Wie wir, in den alten Tagen.«

»Genau.«

Er war gepflegt und trat unbefangen auf, und er hatte ein gepflegtes schwarzes Schnurrbärtchen. Smiley konnte ihn sich ohne dieses Bärtchen nicht vorstellen. Er war um die fünfzig. Er hatte viele Jahre im Fernen Osten verbracht, wo sie einmal gemeinsam eine Blitzaktion gegen einen chinesischen Geheimsender durchgeführt hatten. Haut und Haar fingen an, grau zu werden, aber im übrigen sah er noch immer aus wie fünfunddreißig. Er konnte grinsen wie ein Schuljunge, seine Kameradschaftlichkeit war aufrichtig. Er hielt beide Hände über dem Tisch wie beim Kartenspiel und blickte Smiley mit einem Besitzerstolz an, als wäre er sein Vater oder sein Sohn oder beides.

»Wenn unser Freund über fünf kommt«, sagte er und lächelte noch immer, »geben Sie Laut, Harry, ja? Im übrigen halten Sie die Klappe, ich versuche gerade, einen Ölscheich rumzukriegen.« Er sprach in einen Apparat auf seinem Schreibtisch. »Wo ist er jetzt?«

»Drei plus«, sagte die schnarrende Stimme. Smiley vermutete, sie gehöre dem lädierten Mann mit dem Überdruck. »Dann kann er noch acht verlieren«, sagte Sam milde. Halten Sie ihn am Tisch, das ist wichtig. Machen Sie einen Helden aus ihm.« Er schaltete ab und grinste. Smiley grinste zurück. »Wirklich, ein großartiges Leben«, versicherte Sam. »Auf jeden Fall besser, als Waschmaschinen verkaufen. Bißchen komisch natürlich, sich um zehn Uhr früh in den Smoking zu schmeißen. Erinnert mich an diplomatische Tarnung.« Smiley lachte. »Geht sogar ehrlich zu, ob Sie's glauben oder nicht«, ergänzte Sam, ohne eine Miene zu verziehen. »Man muß nur gut rechnen können.«

»Das können Sie bestimmt«, sagte Smiley wiederum äußerst höflich.

»Möchten Sie Musik hören?«

Es war Tonband-Musik und kam aus der Decke. Sam drehte so laut auf, wie sie es ertragen konnten.

»Also, was kann ich für Sie tun?« fragte Sam und grinste noch breiter.

»Ich möchte mit Ihnen über die Nacht sprechen, in der die Schüsse auf Jim Prideaux fielen. Sie waren Offizier vom Dienst.« Es entstand eine lange Pause. Sam rauchte braune Zigaretten, die wie Zigarren rochen. Er zündete eine an, ließ das Ende Feuer fangen und sah dann zu, wie die Flamme verglühte. »Schreiben Sie Ihre Memoiren, alter Junge?« fragte Sam. »Wir rollen den Fall erneut auf.«

»Wer ist wir, alter Junge?«

»Ich, meine Wenigkeit und Ihr sehr Ergebener, wobei Lacon schiebt und der Minister zieht.«

»Macht verdirbt den Charakter, aber irgendwer muß regieren, und in diesem Fall wird Bruder Lacon sich widerwillig an die Spitze schieben.«

»Es hat sich nichts geändert«, sagte Smiley.

Sam zog nachdenklich an seiner Zigarette. Die Musik ging in Sätze von Noel Coward über.

»Ein alter Traum von mir«, sagte Sam Collins durch den Rauch. »Eines schönen Tages spaziert Percy Alleline mit einem schäbigen braunen Köfferchen durch diese Tür und bittet um ein Spielchen. Er setzt alle Geheimstimmen auf Rot und verliert.«

»Die Akte ist geflöht«, sagte Smiley. »Jetzt muß ich bei den Leuten rumgehen und fragen, woran sie sich erinnern. So gut wie keine Unterlagen greifbar.«

»Überrascht mich nicht«, sagte Sam. Übers Telefon bestellte er Sandwiches. »Lebe davon«, erklärte er. »Sandwiches und Kanapees. Gehört zur Pfründe.«

Er goß Kaffee ein, als das rote Lämpchen zwischen ihnen auf dem Schreibtisch aufleuchtete.

»Unser Freund ist patt«, sagte die schnarrende Stimme. »Dann zählen Sie mit«, sagte Sam und schaltete ab. Sam erzählte schlicht, aber exakt, wie ein guter Soldat den Hergang einer Schlacht rekapituliert, nicht um nochmals zu gewinnen oder zu verlieren, sondern einfach zur Erinnerung. Er sei gerade aus dem Ausland zurückgekommen, sagte er, von einem Dreijahres-Kontrakt in Vientiane. Er hatte sich bei der Personalabteilung zurückgemeldet, alles mit dem Delphin ins reine gebracht, und da niemand Pläne für ihn zu haben schien, überlegte er, ob er nicht einen Monat Urlaub in Südfrankreich machen sollte, als Mac Fadean, der alte Portier, der praktisch Controls Kammerdiener war, ihn im Korridor aufgriff und in Controls Büro schleppte.

»Das war an welchem Tag genau?« sagte Smiley.

»Am 19. Oktober.«

»Donnerstag.«

»Donnerstag. Ich hatte vor, am Montag nach Nizza zu fliegen. Sie waren in Berlin. Ich wollte Sie zu einem Glas einladen, aber die Mütter sagten, Sie seien occupe, und als ich bei der Reisestelle nachfragte, hieß es, Sie seien nach Berlin geflogen.«

»Ja, das stimmt«, sagte Smiley nur. »Control hat mich hingeschickt.«

Um mich aus dem Weg zu räumen, hätte er hinzufügen können: sogar damals hatte er dieses Gefühl gehabt.

»Ich habe überall nach Bill herumgeschnüffelt, aber Bill war ebenfalls Fehlanzeige. Control hatte ihn irgendwohin aufs Land geschickt«, sagte Sam und mied Smileys Blick.

»Zur Schmetterlings-Hatz«, murmelte Smiley, »aber er ist wiedergekommen.«

Hier schickte Sam einen scharfen, fragenden Blick in Smileys Richtung, aber er berührte das Thema von Bill Haydons Reise nicht mehr.

»Das ganze Haus war wie ausgestorben. Um ein Haar hätte ich die erste Maschine zurück nach Vientiane genommen.«

»Es war wirklich so gut wie tot«, gestand Smiley und dachte: ausgenommen Witchcraft.

Und Control, sagte Sam, sah aus, als habe er Malaria. Er war von einem Meer von Akten umgeben, seine Haut war gelb, und beim Sprechen unterbrach er sich ständig, um sich mit dem Taschentuch die Stirn zu wischen. Er hielt sich kaum mit dem üblichen Tamtam auf, sagte Sam. Er beglückwünschte ihn nicht zu den drei erfolgreichen Jahren im Außendienst und machte nicht einmal eine hinterhältige Anspielung auf sein Privatleben, das damals ziemlich unruhig war; er sagte nur, daß es ihm recht wäre, wenn Sam an Stelle von Mary Masterman den Wochenend-Dienst übernähme, ob Sam es einrichten könne?

»Klar kann ich's einrichten«, sagte ich. »Wenn Sie wollen, daß ich den O.v.D. mache, dann mach' ich ihn.« Er sagte, den Rest der Geschichte werde er mir Sonnabend erzählen. Inzwischen dürfe ich niemandem etwas sagen. Kein Wort zu irgendwem im Hause, auch nicht darüber, worum er mich vorhin gebeten habe. Er brauche einen tüchtigen Mann, der die Telefonzentrale bedienen könne, falls eine Krise ausbräche, aber es mußte jemand von einem Außenposten sein oder jemand wie ich, der lange vom Hauptbüro weggewesen sei. Und es mußte ein alter Hase sein.« Also ging Sam zu Mary Masterman und jammerte ihr vor, daß er den Mieter nicht aus seiner Wohnung herauskriegen könne, ehe er am Montag seinen Urlaub antrete; wie wär's, wenn sie ihn ihren Dienst übernehmen ließe, dann könne er das Hotel sparen? Sam trat am Sonnabend um neun Uhr früh an, mit seiner Zahnbürste und sechs Dosen Bier in einer Aktenmappe, auf der noch Hoteletiketten mit Palmen klebten. Geoff Agate sollte ihn am Sonntag ablösen.

Nochmals hielt Sam sich darüber auf, wie tot das Haus war. Früher war der Sonnabend gewesen wie jeder andere Tag, sagte er. Die meisten Abteilungen hatten über das ganze Wochenende einen Notdienst eingerichtet, manche sogar eine besondere Nachtschicht, und wenn man die Runde im Haus machte, hatte man das Gefühl, daß in diesem Laden einiges los war. Aber an diesem Sonnabend vormittag hätte das Haus evakuiert sein können; was es, wie er später erfuhr, auch tatsächlich gewesen war -, aber auf Controls Befehl. Ein paar Funker werkten im zweiten Stock, die Sende- und Codierräume liefen auf Hochtouren, aber die Jungens dort arbeiteten ohnehin zu jeder Tages- und Nachtzeit. Im übrigen, sagte Sam, herrschte das große Schweigen. Er saß herum und wartete auf Controls Anruf, aber nichts kam. Er schlug eine weitere Stunde damit tot, daß er sich die Portiers vornahm, die er als den faulsten Haufen im ganzen Circus bezeichnete. Er prüfte ihre Anwesenheitslisten und fand zwei Stenotypistinnen und einen diensthabenden Beamten eingetragen, die jedoch nicht da waren, also setzte er den ersten Wachmann, einen Neuen namens Mellows, auf die Meldeliste. Schließlich ging er hinauf, um nachzusehen, ob Control da sei.

»Er saß ganz allein oben, nur Mac Fadean war bei ihm. Die Mütter nicht, Sie nicht, nur der alte Mac, der mit Jasmintee und Sympathie herumhuschte. Zu viel?«

»Nein, bitte erzählen Sie weiter. So viele Einzelheiten, wie sie noch zusammenbringen.«

»Dann ließ Control einen weiteren Schleier fallen. Einen halben Schleier. Irgend jemand erledige etwas für ihn, sagte er. Es sei von größter Wichtigkeit für den Geheimdienst. Das sagte er mehrmals: den Geheimdienst. Nicht für Whitehall oder das Pfund Sterling oder die Fischpreise, sondern für uns. Auch wenn alles vorüber sei, dürfe ich keinen Ton verlauten lassen. Auch nicht zu Ihnen. Oder zu Bill oder Bland oder sonst wem.«

»Und Alleline?«

»Percy hat er überhaupt nicht erwähnt.«

»Nein«, pflichtete Smiley bei »Das konnte er in diesem Stadium wohl kaum mehr.«

»Ich sollte ihn für den Rest der Nacht als Einsatzleiter betrachten. Ich selber sollte als Schaltstelle zwischen Control und allem, was sonstwo im Haus vorgehen mochte, tätig sein. Wenn irgend etwas hereinkomme, ein Signal, ein Anruf, wie unwichtig es auch immer erschiene, dann sollte ich warten, bis die Luft rein sei, dann hinaufflitzen und es Control übermitteln. Niemand dürfe wissen, jetzt oder später, daß Control der Mann am Abzug gewesen war. Auf keinen Fall sollte ich ihn anrufen oder ihm eine Notiz zukommen lassen; sogar die Hausleitungen waren tabu. Ehrlich, George«, sagte Sam und nahm sich ein Sandwich.

»Oh, ich glaube Ihnen«, sagte Smiley, und es kam ihm von Herzen. Sollten Telegramme abzuschicken sein, so müsse Sam ebenfalls den Mittler machen. Er müsse vor dem Abend nicht mit viel Betrieb rechnen. Den Portiers und solchen Leuten, wie Control sich ausdrückte, gegenüber, sollte Sam das verdammtest Mögliche tun, um sich natürlich zu geben und beschäftigt zu wirken. Als die Seance vorüber war, kehrte Sam ins Wachzimmer zurück, ließ sich eine Abendzeitung holen, öffnete eine Bierdose, suchte sich eine Amtsleitung und fing an, sein Hemd zu verwetten. In Kempton fand ein Hindernisrennen statt, was er seit Jahren nicht mehr verfolgt hatte. Am frühen Abend machte er einen zweiten Rundgang und testete die Alarmschwellen im Fußboden der Registratur. Drei von fünfzehn funktionierten nicht, und inzwischen hatten die Portiers ihn aufrichtig liebengelernt. Er kochte sich ein Ei, und als er es gegessen hatte, trottete er hinauf, um dem alten Mac ein Pfund abzuknöpfen und ihm ein Bier zu bringen. »Er hatte mich beauftragt, das Geld für ihn auf irgendeinen alten Klepper mit drei linken Beinen zu setzen. Ich plauderte zehn Minuten mit ihm, dann ging ich wieder hinunter in meinen Bau, schrieb ein paar Briefe, sah mir einen miesen Film an und legte mich in die Falle. Der erste Anruf kam in dem Augenblick, als ich am Einschlafen war. Genau elf Uhr zwanzig. Während der nächsten zehn Stunden hörten die Telefone nicht mehr auf zu klingeln. Ich dachte schon, die Schaltanlagen würden mir ins Gesicht explodieren.«

»Arcadi ist fünf minus«, sagte eine Stimme über die Sprechanlage. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Sam mit seinem gewohnten Grinsen und ließ Smiley mit der Musik allein, um droben die Sache in Ordnung zu bringen.

Smiley sah zu, wie Sams braune Zigarre langsam im Aschenbecher verbrannte. Er wartete, Sam kam nicht zurück, er fragte sich, ob er sie ausdrücken sollte. Rauchen im Dienst ist verboten, dachte er; Hausordnung. »Erledigt«, sagte Sam.

Der erste Anruf kam von dem im Hause wohnenden Sekretär des Foreign Office über die direkte Leitung, sagte Sam. Das Foreign Office hatte sozusagen beim Großen Preis von Whitehall mit einer gerümpften Nasenlänge gewonnen.

»Der Reuter-Chef in London hatte ihm gerade telefonisch von einer Schießerei in Prag Mitteilung gemacht. Ein britischer Spion sei von russischen Sicherheitskräften erschossen worden, die Jagd nach seinem Komplizen sei in vollem Gang, ob das Foreign Office interessiert sei! Der Sekretär gab es zur Information an uns weiter. Ich sagte, es klinge nach einer Ente und legte auf, als Mike Meakin von den Funkern herunterkam, um mir zu sagen, daß über der Tschechoslowakei der Teufel los sei. Die Hälfte sei verschlüsselt, aber die andere Hälfte im Klartext. Er fange dauernd verstümmelte Geschichten über eine Schießerei in der Nähe von Brunn auf. Prag oder Brunn? fragte ich. Oder beides? Nur Brunn. Ich sagte, bleiben Sie dran, und da gingen auch schon alle fünf Summer. Als ich gerade hinausgehen wollte, kam nochmals der Sekretär auf der direkten Leitung. Reuter habe die Meldung berichtigt, sagte er: nicht Prag, sondern Brunn. Ich schloß die Tür, und es war, als hätte man ein Wespennest hinter sich gelassen. Control stand an seinem Schreibtisch, als ich das Büro betrat. Er hatte mich heraufkommen hören. Hat Alleline übrigens diese Treppe mit Läufern belegen lassen?«

»Nein«, sagte Smiley. Er war völlig teilnahmslos. >George ist wie ein Lurch<, hatte Ann einmal in seiner Gegenwart zu Haydon gesagt. »Er senkt seine Körpertemperatur, bis sie mit der Temperatur seiner Umwelt übereinstimmt. Dann verschwendet er keine Anpassungsenergie.«

»Sie wissen, wie schnell er war, wenn er einen ansah. Er schaute auf meine Hände, ob ich ein Telegramm für ihn hätte, und ich wünschte, ich hätte irgend etwas zwischen den Fingern gehabt, aber sie waren leer! >Ich fürchte, es ist eine kleine Panik ausgebrochen<, sagte ich. Ich setzte ihn kurz ins Bild, er sah auf seine Uhr, vermutlich rechnete er aus, was jetzt hätte geschehen sollen, wenn alles geklappt hätte. Ich sagte: >Kann ich bitte Instruktionen haben?< Er setzte sich, ich konnte ihn nicht sehr gut sehen, er hatte nur die niedrige grüne Schreiblampe brennen. Ich wiederholte: >Ich brauche Instruktionen. Soll ich ableugnen? Kann ich irgend jemanden hinzuziehen?< Keine Antwort. Wissen Sie, es gab keinen Menschen, den ich hätte hinzuziehen können, aber das wußte ich damals nicht. >Ich muß Instruktionen haben.< Wir hörten drunten Schritte, und ich wußte, daß die Radiojungens mich suchten. >Möchten Sie hinunterkommen und die Sache selber übernehmen?< fragte ich. Ich ging um den Schreibtisch herum, stieg über die Akten, die alle an verschiedenen Stellen aufgeschlagen waren; man konnte meinen, er stelle eine Enzyklopädie zusammen. Einige mußten aus der Zeit von vor dem Krieg stammen. Er saß so da.«

Sam schloß die Finger, legte die Spitzen an die Stirn und starrte auf den Schreibtisch. Die andere Hand lag auf der Platte und hielt Controls imaginäre Taschenuhr. »>Sagen Sie Mac Fadean, er soll mir ein Taxi besorgen, dann schaffen Sie mir Smiley herbei. < >Und dieses Unternehmen?< fragte ich. Ich mußte die halbe Nacht auf eine Antwort warten. >Ist abzuleugnen<, sagte er. >Beide Männer hatten ausländische Pässe. In diesem Stadium kann kein Mensch wissen, daß sie Engländer sind.< >Es wird nur von einem Mann gesprochen<, sagte ich. Dann sagte ich: >Smiley ist in Berlin.< Jedenfalls glaube ich, daß ich das sagte. Daraufhin wieder zwei Minuten Schweigen. >Jeder andere tut's auch. Es ist egal. < Er hätte mir leid tun sollen, aber in diesem Moment brachte ich wohl nicht viel Sympathie für ihn auf. Ich stand da mit dem Schwarzen Peter in der Hand und wußte nicht, was eigentlich los war. Mac Fadean war nicht zu finden, also dachte ich, Control soll sich sein Taxi selber besorgen, und als ich wieder die Treppe runter war, muß ich ausgesehen haben wie Lord Kitchener. Der alte Schraubendampfer vom Abhördienst schwenkte Berichte vor meiner Nase wie Fähnchen, ein paar Portiers brüllten mir entgegen, der Radiojunge hatte ein Bündel Meldungen in der Hand, die Telefone klingelten, nicht nur meine eigenen, sondern ein halbes Dutzend der direkten Leitungen von der vierten Etage. Ich ging zunächst ins Wachzimmer und schaltete sämtliche Leitungen ab, während ich versuchte, Haltung zu gewinnen. Die Abhör-Hexe - wie heißt dieses Weib gleich wieder- sie hat immer mit dem Delphin Golf gespielt?«

»Purcell. Molly Purcell.«

»Ja, die war's. Ihre Geschichte war wenigstens eindeutig, Radio Prag kündigte innerhalb der nächsten halben Stunde einen Sonderbericht an. Das war vor einer Viertelstunde gewesen. Der Bericht würde einen Akt gröblicher Provokation durch eine westliche Macht betreffen, eine Verletzung der tschechoslowakischen Souveränität und einen Schlag ins Gesicht aller freiheitsliebenden Völker. Davon abgesehen«, sagte Sam trocken, »nichts wie Jubel, Trubel, Heiterkeit. Ich klingelte natürlich in Bywater Street an, dann signalisierte ich nach Berlin, sie sollten Sie aufstöbern und spätestens gestern zurückschicken. Ich gab Mellows die wichtigsten Telefonnummern und schickte ihn weg, er solle sich draußen ein Telefon suchen und alles zusammentrommeln, was er von den hohen Herrschaften an die Strippe bekäme. Percy war übers Wochenende in Schottland und zum Abendessen ausgegangen. Seine Köchin gab Mellows eine Nummer, er läutete dort an und sprach zu Percys Gastgeber. Percy war soeben gegangen.«

»Verzeihung«, unterbrach Smiley. »Wozu haben Sie Bywater Street angerufen?« Er hielt seine Oberlippe zwischen Finger und Daumen und zog sie nach vorn wie eine Mißbildung, während er in die mittlere Entfernung starrte. »Für den Fall, daß Sie früher aus Berlin zurückgekommen wären«, sagte Sam. »Und war ich zurückgekommen?«

»Nein.«

»Mit wem haben Sie dann gesprochen?«

»Mit Ann.«

Smiley sagte: »Ann ist zur Zeit verreist. Könnten Sie mir wiederholen, wie dieses Gespräch verlaufen ist?«

»Ich fragte nach Ihnen, und sie sagte, Sie seien in Berlin.«

»Und das war alles?«

»Es war eine Krise, George«, sagte Sam in warnendem Ton. »Und?«

»Ich fragte sie, ob sie zufällig wisse, wo Bill Haydon sei. Es war dringend. Soviel ich wußte, hatte er Urlaub, aber ich dachte, vielleicht ist er bei ihr. Irgend jemand hat mir mal gesagt, er sei ihr Vetter.« Er fügte hinzu: »Außerdem geht er bei Ihnen ein und aus, wie ich hörte.«

»Ja, das stimmt. Was hat sie gesagt?«

»Warf mir ein pikiertes >Nein< hin und legte auf. Tut mir leid, George, Krieg ist Krieg.«

»Wie klang sie?« fragte Smiley, nachdem er das geflügelte Wort eine Weile in der Luft hatte hängenlassen. »Hab' ich schon gesagt: pikiert.«

Roy Bland war in Leeds, um an der Universität nach Talenten zu schürfen, sagte Sam, war also nicht verfügbar.

Zwischen den einzelnen Anrufen machten sie Sam die Hölle heiß. Ganz, als wäre er auf Kuba eingefallen. Das Militär brüllte etwas von tschechischen Panzerbewegungen an der österreichischen Grenze, die Funker konnten nicht einmal ihre eigenen Gedanken hören, so groß war der Funksalat rings um Brunn, und im Foreign Office bekam der diensthabende Beamte gleichzeitig hysterische Anfälle und gelbes Fieber. Zuerst Lacon und nach ihm der Minister bellten vor den Türen, und um halb eins kam der tschechische Sonderbericht mit zwanzig Minuten Verspätung, aber deshalb noch genauso schlecht. Ein britischer Spion namens Jim Ellis, der mit falschen tschechischen Papieren reiste und von einem tschechischen Konterrevolutionär unterstützt wurde, habe versucht, einen nicht genannten tschechischen General in den Wäldern um Brunn zu entführen und über die österreichische Grenze zu schmuggeln. Ellis sei von Schüssen getroffen worden, aber sie sagten nicht getötet, weitere Verhaftungen standen unmittelbar bevor. Ich suchte Ellis im Verzeichnis der Arbeitsnamen auf und fand Jim Prideaux. Und ich dachte, genau wie Control gedacht haben mußte: Wenn Jim tot ist und tschechische Papiere hatte, wieso wissen sie dann, daß er Engländer ist? Dann kam Bill Haydon an, weiß wie ein Laken. Hatte die Geschichte am Fernschreiber in seinem Club aufgeschnappt. Er machte stracks kehrt und kam in den Circus.«

»Um welche Zeit war das genau?« fragte Smiley mit leichtem Stirnrunzeln. »Es muß ziemlich spät gewesen sein.« Sam sah aus, als hätte er es ihm von Herzen gern erspart. »Ein Uhr fünfzehn«, sagte er.

»Was ziemlich spät ist, nicht wahr, um im Club Fernschreiben zu lesen?«

»Kann ich nicht sagen, alter Junge.«

»Bill ist im Savile, nicht wahr?«

»Weiß nicht«, sagte Sam bockig. Er trank einen Schluck Kaffee. »Aber Bill war eine Wucht, das kann ich Ihnen sagen. Ich habe immer gefunden, daß er ein überkandidelter Bursche ist. Aber nicht in dieser Nacht, glauben Sie mir. Ja, er war erschüttert. Wäre jeder andere auch gewesen. Er kam an und wußte weiter nichts, als daß es eine mordsmäßige Schießerei gegeben hatte. Aber als ich ihm sagte, daß Jim getroffen wurde, starrte er mich an wie ein Verrückter. Ich hab' gedacht, er geht auf mich los. >Getroffen? Wie getroffen? Tödlich?< Ich schob ihm die Meldungen hin, und er las jede einzelne durch . . .«

»Hätte er es nicht schon aus dem Fernschreiben wissen müssen?« fragte Smiley leise. »Ich dachte, um diese Zeit sei es bereits allgemein bekannt gewesen: Ellis niedergeschossen. Das war doch der Knüller, oder?«

»Kommt vermutlich drauf an, welche Meldung er zu sehen kriegte«, sagte Sam und tat den Einwand mit einem Achselzucken ab. »Also, er übernahm die Telefonzentrale, und bis zum Morgen hatte er das wenige zusammengeklaubt, was zu haben war, und fast so etwas wie Ruhe wiederhergestellt. Er sagte den Leuten im Foreign Office, sie sollten abwarten und Tee trinken, er stöberte Toby Esterhase auf und wies ihn an, ein tschechisches Agentenpaar zu kassieren, Studenten an der London School of Economics. Bill hatte sie bisher ungeschoren gelassen, er plante, sie umzudrehen und zurückzuspielen. Tobys Aufklärer zogen ihnen eins über und sperrten sie in Sarratt ein. Dann rief Bill den tschechischen Agentenführer in London an und brüllte wie ein Feldwebel: Wenn Jim Prideaux auch nur ein Haar gekrümmt werde, drohte er, werde er den Tschechen so bloßstellen, daß er zum Gespött der ganzen Zunft würde. Das könne er seinen Brotgebern bestellen. Auf mich wirkte das Ganze wie ein Verkehrsunfall, bei dem Bill der einzige Arzt war. Er rief eine Presseverbindung an und erzählte seinem Mann dort unter dem Siegel der Verschwiegenheit, Ellis sei ein tschechischer Söldner unter amerikanischem Vertrag: er könne die Story ohne Quellenangabe verwenden. Sie schaffte tatsächlich noch die Spätausgabe. Sobald er konnte, lief er in Jims Zimmer, um sich zu überzeugen, daß dort nichts liegengeblieben war, wo ein Journalist hätte einhaken können, falls ein Journalist clever genug wäre, den Zusammenhang herzustellen zwischen Ellis und Prideaux. Ich nehme an, er hat gründlich reinen Tisch gemacht. Angehörige, alles.

»Er hatte keine Angehörigen«, sagte Smiley. »Außer vielleicht Bill«, fügte er fast unhörbar hinzu.

Sam beendete seinen Bericht. »Um acht Uhr traf Percy Alleline ein, er hatte bei der Air Force eine Sondermaschine lockergemacht. Er grinste übers ganze Gesicht. Was ich in Anbetracht von Bills Stimmung nicht sehr schlau von ihm fand. Er wollte wissen, warum ich Dienst machte, und ich verpaßte ihm den gleichen Schmus wie Mary Masterman: aufs Wort. Er benutzte mein Telefon, um eine Verabredung mit dem Minister zu treffen, und hing noch dran, als Roy Bland ankam, stinkwütend und halb besoffen, und wissen wollte, wer zum Teufel von seinem Tischchen gefressen habe, und bezichtigte praktisch mich. Ich sagte: »Herrgott, Mann, und unser alter Jim? Sie könnten ihn bedauern, wenn Sie schon mal dabei sind«, aber Roy ist ein hungriger Knabe und liebt die Lebenden mehr als die Toten. Ich übergab ihm die Telefonzentrale mit herzlichen Grüßen, ging hinüber ins Savoy zum Frühstück und las die Sonntagsblätter. Die meisten beschränkten sich auf eine Wiedergabe der tschechischen Berichte und ein müdes Dementi aus dem Foreign Office.«

Schließlich sagte Smiley: »Und danach gingen Sie nach Südfrankreich?«

»Für zwei zauberhafte Monate.«

»Hat irgend jemand Ihnen nochmals Fragen gestellt — über Control zum Beispiel?«

»Erst als ich wieder zurückkam. Sie waren inzwischen gegangen worden, Control lag krank im Spital.« Sams Stimme wurde ein wenig tiefer. »Er hat doch nichts Dummes angestellt, oder?«

»Nein, er ist nur gestorben.«

»Percy spielte den Obermacher. Er ließ mich rufen und wollte wissen, warum ich für die Masterman Dienst gemacht hatte und in welcher Verbindung ich mit Control stand. Ich blieb bei meiner Geschichte, und Percy nannte mich einen Lügner.«

»Also deshalb hat man Sie geschaßt: Lügen?«

»Alkoholismus, alter Junge. Die Portiers haben sich ein bißchen schadlos gehalten. Zählten fünf Bierdosen im Papierkorb des O.v.D. und meldeten es dem Personalbüro. Es gibt eine eiserne Regel: keinen Alkohol innerhalb des Hauses. Nach der üblichen Zeit befand ein Disziplinarausschuß mich für schuldig, und ich flog im hohen Bogen. Wie war's bei Ihnen?«

»Ach, ganz ähnlich. Ich vermochte sie offenbar nicht zu überzeugen, daß ich mit der Sache nichts zu tun hatte.«

»Wenn Sie mal einen aus dem Weg haben wollen«, sagte Sam, als er Smiley in aller Stille durch eine Seitentür in ein hübsches Gäßchen hinausließ, »Anruf genügt.« Smiley war in Gedanken versunken. »Und wenn Sie jemals ein Spielchen machen möchten, bringen Sie ein paar von Anns smarten Freunden her.«

»Sam, hören Sie zu. Bill war in jener Nacht mit Ann im Bett. Nein, hören Sie zu. Sie haben angerufen, sie sagte, Bill sei nicht dort.

Sobald sie aufgelegt hatte, warf sie Bill aus dem Bett und eine halbe Stunde später tauchte er im Circus auf und wußte bereits, daß es in der Tschechoslowakei eine Schießerei gegeben hatte. Wenn Sie mir die Geschichte in kurzen Worten erzählen würden - auf einer Postkarte - würden Sie es so fassen?«

»Ungefähr.«

»Aber Sie haben Ann bei Ihrem Anruf nichts von der Tschechoslowakei gesagt. . .«

»Er hat auf dem Weg zum Circus bei seinem Club reingeschaut.«

»Wenn geöffnet war. Gut: Aber warum wußte er dann nicht, daß Jim Prideaux getroffen worden war?«

Im Tageslicht sah Sam schlichtweg alt aus, obwohl er noch immer grinste. Er schien etwas sagen zu wollen, besann sich aber anders. Er wirkte zornig, dann enttäuscht, dann wurde sein Gesicht wieder ausdruckslos. »Also, bis dann«, sagte er. »Passen Sie auf sich auf«, und zog sich in die ewige Nacht seines selbstgewählten Arbeitsfelds zurück.


Max, der Aufklärer, berichtet, wie Jim Prideaux ihn auf eine Reise mitnahm


Als Smiley an diesem Morgen das Islay verlassen hatte, um sich zum Grosvenor Square zu begeben, waren die Straßen in grelles Sonnenlicht gebadet, und der Himmel war blau gewesen. Als er jetzt in seinem gemieteten Rover an den unfreundlichen Fassaden der Edgware Road entlangfuhr, hatte der Wind sich gelegt, der Himmel war von Regenwolken schwarz verhangen, und von der Sonne war nur noch ein rötlicher Widerschein auf dem Straßenbelag zurückgeblieben. Er parkte in der St. John's Wood Road, im Vorhof eines neuen Wohnturms mit verglaster Eingangshalle, benutzte aber diesen Eingang nicht. Vorbei an einer großen Skulptur, die ihm eine Art kosmischen Kuddelmuddels darzustellen schien, schritt er im eisigen Nieselregen zu einer abwärts führenden Außentreppe mit der Aufschrift: »Nur Ausgang.« Der erste Treppenabsatz war gefliest und mit einem Geländer aus afrikanischem Teakholz versehen. Danach endete die Großzügigkeit des Erbauers. Rauhputz ersetzte den früheren Luxus, und ein schaler Abfallgeruch erfüllte die Luft. Er bewegte sich mehr vorsichtig als verstohlen, aber als er die Eisentür erreicht hatte, hielt er inne, ehe er mit beiden Händen die lange Klinke anfaßte, riß sich zusammen wie zu einem schweren Gang. Die Tür Öffnete sich ein paar Zentimeter weit und prallte dann gegen ein Hindernis, worauf ein zorniger Ausruf folgte, der ein vielfaches Echo auslöste wie ein Schrei in einem Hallenbad.

»He, können Sie nicht aufpassen?« Smiley schlüpfte durch den Spalt. Die Tür hatte die Stoßstange eines funkelnden Wagens gerammt, aber Smiley beachtete den Wagen nicht. Am anderen Ende der Garage spritzten zwei Männer in Overalls einen Rolls-Royce an. Beide blickten in seine Richtung.

»Warum nicht kommen andere Tür?« fragte die gleiche ärgerliche Stimme. »Sie Mieter hier? Warum nicht benutzen Mieterlift? Diese Treppe für Feuer.«

Es war nicht festzustellen, welcher der Männer sprach, aber er sprach mit einem stark slawischen Akzent. Die Beleuchtung war hinter ihnen. Der kleinere Mann hielt den Schlauch.

Smiley trat vor, wobei er darauf achtete, beide Hände außerhalb der Taschen zu halten. Der Mann mit dem Schlauch machte sich wieder an die Arbeit, aber der größere beobachtete ihn durch das Halbdunkel. Er trug einen weißen Overall und hatte den Kragen hochgeschlagen, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Das schwarze Haar war zurückgestrichen und voll. »Nein, ich bin kein Mieter«, gestand Smiley. »Ich möchte nur fragen, ob ich vielleicht einen Abstellplatz mieten könnte. Mein Name ist Carmichael«, erklärte er lauter. »Ich habe eine Wohnung in dieser Straße gekauft.«

Er machte eine Handbewegung, als wolle er eine Visitenkarte zücken; als könne ein solcher Ausweis ihm förderlicher sein, als seine unbedeutende Erscheinung. «Ich zahle im voraus«, versprach er. »Ich könnte einen entsprechenden Vertrag unterschreiben, oder was immer. Ich möchte, daß alles völlig korrekt ist. Ich kann Referenzen angeben, eine Garantie hinterlegen, alles was zumutbar ist. Es muß nur korrekt sein. Es ist ein Rover. Ein neuer. Ich möchte nichts hinter dem Rücken der Verwaltung tun, es kommt nichts dabei heraus, sage ich immer. Aber alles Zumutbare soll mir recht sein. Ich hätte ihn heruntergefahren, aber ich wollte nicht vorgreifen. Und außerdem, ich weiß, es klingt albern, aber die Rampe war mir unsympathisch. Sie ist noch so neu.« Während dieser ausgedehnten Darlegung seiner Absichten, die in wirrer Bemühtheit vorgebracht wurden, war Smiley im Strahl einer hellen Lampe stehengeblieben, die über ihm von einem Balken hing: eine flehende, ziemlich unerfreuliche Erscheinung, wie man wohl denken mochte, und über den freien Raum hinweg deutlich sichtbar. Die Pose tat ihre Wirkung. Der Mann im weißen Overall schritt auf ein Glashäuschen zu, das zwischen zwei Eisenpfeilern stand, und machte Smiley mit dem schmalen Kopf ein Zeichen, ihm zu folgen. Im Gehen zog er die Handschuhe ab. Lederhandschuhe, handgenäht und sehr elegant. »Nächstes Mal Sie aufpassen, wie Tür aufmachen«, warnte er mit derselben lauten Stimme. »Sie Lift benutzen, ja, oder sonst zahlen ein paar Pfund vielleicht. Mit Lift kein Problem.«

»Max, ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte Smiley, sobald sie in dem Häuschen waren. »Allein. Nicht hier.« Max war breit und kräftig, er hatte ein blasses Knabengesicht, aber die Haut war faltig wie bei einem alten Mann. Er war hübsch, und die braunen Augen waren sehr ruhig. Seine ganze Person strahlte tödliche Ruhe aus.

»Jetzt? Sie wollen jetzt sprechen?«

»Im Wagen. Ich hab ihn draußen. Wenn Sie die Rampe rauf gehen, können Sie direkt einsteigen.«

Max legte die Hände um den Mund und brüllte durch die Garage. Er war einen halben Kopf größer als Smiley und hatte die Stimme eines Feldwebels. Smiley verstand nicht, was er schrie. Wahrscheinlich etwas auf tschechisch. Es kam keine Antwort, aber Max knöpfte bereits seinen Overall auf. »Wegen Jim Prideaux«, sagte Smiley. »Klar.«

Sie fuhren nach Hampstead, wo sie in dem funkelnden Rover sitzen blieben und den Kindern zusahen, die das Eis auf dem Teich zerbrachen. Der Regen hatte endlich aufgehört, vielleicht weil es zu kalt war.

Über der Erde trug Max einen blauen Anzug und ein blaues Hemd. Auch die Krawatte war blau, aber sorgfältig von den beiden anderen Tönen abgesetzt: er hatte lang gesucht, bis er diese Nuance gefunden hatte. Er trug mehrere Ringe und Pilotenstiefel mit Reißverschluß an der Seite.

»Ich gehöre nicht mehr dazu. Hat man's Ihnen gesagt?« fragte Smiley. Max zuckte die Achseln. »Ich dachte, man würde es Ihnen sagen«, sagte Smiley.

Max saß kerzengerade; er lehnte sich nicht an, dazu war er zu stolz. Er blickte Smiley nicht an. Seine braunen Augen waren starr auf den Teich und auf die Kinder gerichtet, die im Schilf tollten und schlitterten.

»Mir erzählt man nichts«, sagte er.

»Ich bin geschaßt worden«, sagte Smiley. »Wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie Sie.«

Max schien sich ein wenig zu recken, dann entspannte er sich wieder. »Tut mir leid, George. Was machen Sie jetzt: Geld stehlen?«

»Ich möchte nicht, daß sie's erfahren, Max.«

»Sie privat, ich privat«, sagte Max und bot Smiley aus einem goldenen Etui eine Zigarette an, die Smiley ablehnte. »Ich möchte hören, was passiert ist«, fuhr Smiley fort. »Ich wollte es in Erfahrung bringen, bevor sie mich geschaßt haben, aber ich hatte keine Zeit mehr.«

»Sind Sie deshalb geschaßt worden?«

»Vielleicht.«

»Sie wissen nicht viel, was?« sagte Max, und sein Blick war lässig auf die Kinder gerichtet.

Smiley sprach sehr einfach und beobachtete Max dabei die ganze Zeit, falls er nicht verstehen sollte. Sie hätten deutsch sprechen können, aber Max tat das nicht gern, wie Smiley wußte. Also sprach er englisch und beobachtete Max' Gesicht. »Ich weiß überhaupt nichts, Max. Ich hatte überhaupt nichts damit zu tun. Ich war in Berlin, als es passierte, ich wußte nichts von der Planung oder den Zusammenhängen. Sie haben mir telegrafiert, aber als ich nach London zurückkam, war es zu spät.«

»Planung«, wiederholte Max. »Das war vielleicht Planung.« Kiefer und Wangen wurden plötzlich ein Meer von Runzeln, und seine Augen verengten sich - eine Grimasse oder ein Lächeln. »Und jetzt haben Sie eine Menge Zeit, wie, George? Herrje, das nenn' ich Planung.«

»Jim hatte eine Sonderaufgabe durchzuführen. Er hat Sie angefordert.«

»Klar. Jim wollte Max als Babysitter.«

»Wie hat er Sie gekriegt? Ist er in Acton aufgetaucht und hat zu Toby Esterhase gesagt >Toby, ich möchte Max haben<. Wie hat er Sie gekriegt?«

Max' Hände lagen auf seinen Knien. Sie waren gepflegt und schlank, bis auf die breiten Knöchel. Jetzt, als der Name Esterhase fiel, drehte er die Handflächen leicht nach innen und machte einen Käfig daraus, als hätte er einen Schmetterling gefangen. »Was zum Teufel?« fragte Max. »Also, was ist passiert?«

»War privat«, sagte Max. »Jim privat, ich privat. Genau wie jetzt.«

»Na«, sagte Smiley. »Bitte.«

Max sprach, als hätte es sich um irgendeinen Verdruß gehandelt: Familie oder Geschäft oder Liebe. Es war ein Montagabend Mitte Oktober, ja, der sechzehnte. Eine tote Zeit, er war seit Wochen nicht im Ausland gewesen und hatte genug. Den ganzen Tag hindurch hatte er ein Haus in Bloomsbury ausgekundschaftet, wo angeblich ein paar chinesische Studenten wohnten; die Aufklärer erwogen, einen Einbruch in ihre Zimmer zu inszenieren.

Er wollte schon zur Laundry nach Acton zurückkehren, um seinen Bericht zu schreiben, als Jim ihn nach der Methode »Zufallstreffen« unterwegs auflas und bis zum Crystal Palace fuhr, wo sie im Auto sitzenblieben und redeten, genau wie jetzt, nur daß sie tschechisch sprachen.

Jim sagte, es laufe eine Sondersache, so groß, so geheim, daß kein Mensch im Circus, auch nicht Toby Esterhase, wissen dürfe, daß sie stattfinde. Komme von der obersten Spitze und sei haarig. Ob Max interessiert sei?

»Ich sage: >Klar, Jim. Max interessiert.< Dann fragen er mich, Urlaub nehmen. Geh zu Toby und sag Toby, meine Mutter krank, ich brauch ein paar Tage Urlaub. Ich hab keine Mutter nicht. >Klar<, sag ich, >ich nehm Urlaub. Für wie lange, bitte, Jim?<« Die ganze Sache sollte nicht länger als das Wochenende dauern, sagte Jim. Am Sonnabend sollten sie drinnen sein und am Sonntag wieder draußen. Dann fragte er Max, ob er zur Zeit irgendwelche gültigen Papiere habe: am besten als Österreicher, kleiner Geschäftsmann, mit passendem Führerschein. Falls Max in Acton nichts bereitliegen habe, würde Jim in Brixton etwas zusammenstellen lassen.

»>Klar<, sage ich. >Ich habe Hartmann, Rudi, aus Linz, Sudeten-Auswanderer.<«

Also erzählte Max Toby eine Geschichte von Schwierigkeiten mit einem Mädchen in Bradford, und Toby hielt Max zehn Minuten lang einen Vortrag über die Sexualmoral der Engländer; und am Donnerstag trafen Jim und Max sich in einem »sicheren Haus«, das die Skalpjäger damals hatten, einer alten Bruchbude in Lambeth. Jim hatte die Schlüssel mitgebracht. Ein Drei-Tage-Werk, wiederholte Jim, eine Geheimkonferenz in der Nähe von Brunn. Jim hatte eine große Landkarte, die sie studierten. Jim wollte mit einem tschechischen Paß reisen, Max würde als Österreicher gehen. Bis Brunn würden sie getrennt reisen. Jim würde von Paris nach Prag fliegen, dann Eisenbahn bis Brunn. Er sagte nicht, welche Papiere er selber bei sich haben würde, aber Max nahm an, tschechische, denn er hatte sie ihn schon öfter benutzen sehen. Max war Hartmann, Rudi, Handelsreisender in Glas und Keramik. Er sollte mit dem Lieferwagen bei Mikulow über die österreichische Grenze, dann nordwärts nach Brunn und sich die Zeit So einteilen, daß er um sechs Uhr dreißig am Samstagabend zum Treffpunkt in einer Seitenstraße in der Nähe des Fußballplatzes sei. Um sieben Uhr würde dort ein großes Match beginnen. Sie vereinbarten die Zeiten, Ausweich-Treffs und besprachen alle Eventualitäten; und außerdem, sagte Max, kannte jeder die Handschrift des anderen. Sobald sie Brunn verlassen hätten, würden sie auf der Straße nach Bilovice bis Krtiny fahren, dann ostwärts nach Racice abzweigen. Irgendwo auf der Straße nach Racice würden sie an einem auf der linken Seite geparkten schwarzen Wagen vorbeikommen, vermutlich einem Fiat. Die ersten beiden Zahlen des Nummernschildes würden neun neun sein. Der Fahrer würde eine Zeitung lesen. Sie würden neben dem Wagen halten, Max würde hinübergehen und fragen, ob ihm etwas fehle. Der Mann würde antworten, sein Arzt habe ihm verboten, mehr als drei Stunden hintereinander zu fahren. Max würde sagen, ja, lange Fahrten gingen aufs Herz. Der Fahrer würde ihnen dann zeigen, wo sie den Lieferwagen abstellen könnten und sie in seinem eigenen Wagen zu dem Treffen mitnehmen. »Wen haben Sie treffen wollen, Max? Hat Jim Ihnen das auch gesagt?«

Nein, Jim hatte weiter nichts gesagt.

Bis Brunn, sagte Max, ging alles ziemlich wie geplant. Als er von Mikulow wegfuhr, folgten ihm eine Zeitlang zwei zivile Motorradfahrer, aber das schrieb er seinen österreichischen Nummernschildern zu und ließ sich nicht stören. Er kam bequem bis nachmittags nach Brunn, und der Ordnung halber nahm er ein Zimmer im Hotel und trank im Restaurant ein paar Tassen Kaffee. Irgendein Hanswurst machte sich an ihn heran, und Max erzählte ihm von den vielerlei Unbilden im Glaswarenhandel und daß ihm sein Mädel in Linz mit einem Amerikaner durchgegangen sei. Jim schaffte das erste Treffen nicht, kam aber zum Ausweich-Treff eine Stunde danach. Max dachte zuerst, der Zug habe Verspätung gehabt, aber Jim sagte »Langsam fahren«, und da wußte Max, daß etwas schiefgegangen war.

Folgendermaßen würde es ablaufen, sagte Jim. Der Plan sei geändert worden. Max sollte sich raushalten. Er sollte Jim kurz vor dem Treffpunkt absetzen und dann bis Montag früh in Brunn warten. Er dürfe mit keiner der Kontaktstellen des Circus Verbindung aufnehmen: mit niemandem von Aggravate, mit niemandem von Plato, und am allerwenigsten mit der Außenstelle in Prag. Sollte Jim am Montag bis acht Uhr früh nicht im Hotel aufgetaucht sein, so müsse Max zusehen, wie er allein herauskomme. Wenn Jim auftauchte, so bestehe Max' Aufgabe darin, Control eine Botschaft von Jim zu überbringen: die Botschaft könne sehr einfach sein, vielleicht nur ein einziges Wort. In London solle er nur zu Control persönlich gehen, über den alten MacFadean eine Verabredung treffen, und Control die Botschaft übermitteln, sei das klar? Für den Fall, daß Jim nicht zurückkommen würde, sollte Max einfach sein früheres Leben wieder aufnehmen und alles ableugnen, inner- und außerhalb des Circus. »Hat Jim gesagt, warum der Plan geändert wurde?«

»Jim hat sich Sorgen gemacht.«

»Es war also etwas passiert, als er auf dem Weg zu dem Treffen mit Ihnen war?«

»Vielleicht. Ich sage Jim: > Hören Sie Jim, ich komme mit. Sie Sorgen, ich Babysitter, ich fahre für Sie, schieße für Sie, was zum Teufel? < Jim wird verdammt wütend. Okay?«

»Okay«, sagte Smiley.

Sie fuhren die Straße nach Racice und fanden den unbeleuchteten Wagen, einen Fiat, vor einem Feldweg geparkt, neun neun auf den Nummernschildern, schwarz. Max hielt den Lieferwagen an und ließ Jim aussteigen. Als Jim auf den Fiat zuging, öffnete der Fahrer die Tür einen Spalt, um die Innenbeleuchtung anzuschalten. Über dem Steuerrad lag eine aufgeschlagene Zeitung. »Konnten Sie sein Gesicht sehen?«

»War im Schatten.«

Max wartete, vermutlich tauschten sie Losungsworte aus, Jim stieg ein, und das Auto fuhr über den Feldweg davon, noch immer ohne Licht. Max kehrte nach Brunn zurück. Er saß gerade bei einem Schnaps im Restaurant, als die ganze Stadt zu dröhnen begann. Er dachte zuerst, es komme aus dem Fußballstadion, dann begriff er, daß es Lastwagen waren, ein ganzer Konvoi, der die Straße hinunterraste. Er fragte die Kellnerin, was los sei, und sie sagte, es habe eine Schießerei in den Wäldern gegeben, Konterrevolutionäre hätten sie angezettelt. Max ging hinaus zum Lieferwagen, stellte das Radio an und hörte die Sondermeldung aus Prag. Damals hörte er zum erstenmal etwas von einem General. Er nahm an, daß überall Absperrungen seien, und außerdem hatte er von Jim Anweisung, bis Montag früh im Hotel zu bleiben.

»Vielleicht schickt Jim mir Botschaft. Vielleicht kommt irgendwer vom Widerstand zu mir.«

»Mit diesem einen Wort«, sagte Smiley ruhig.

»Klar.«

»Er hat nicht gesagt, was für eine Art Wort es sein würde?«

»Sie verrückt«, sagte Max. Es konnte eine Feststellung oder eine Frage sein.

»Ein tschechisches Wort oder ein englisches Wort oder ein deutsches Wort?«

Niemand kam, sagte Max. Auf die verrückte Frage ging er nicht ein.

Am Montag verbrannte er den Paß, mit dem er eingereist war, wechselte die Nummernschilder an seinem Lieferwagen und benutzte seine westdeutschen Fluchtpapiere. Anstatt direkt nach Süden fuhr er nach Südwesten, ließ den Lieferwagen in einem Straßengraben und überquerte die Grenze im Bus bis Freistadt, der sicherste Übergang, den er kannte. In Freistadt genehmigte er sich ein Glas und verbrachte die Nacht mit einem Mädchen, weil er ganz durcheinander und ärgerlich war und wieder zu Atem kommen wollte. Dienstagnacht traf er in London ein und trotz Jims Befehl dachte er, er sollte doch versuchen, Control zu erreichen: »Das war ganz verdammt schwierig«, kommentierte er. Er versuchte es per Telefon, kam aber nicht über die Mütter hinaus. MacFadean war nicht da. Er dachte an Schreiben, aber da fiel ihm ein, daß Jim gesagt hatte, niemand sonst im Circus dürfe etwas erfahren. Er beschloß, Schreiben sei zu gefährlich. Gerüchte in Acton wollten wissen, daß Control krank sei. Er versuchte, das Krankenhaus ausfindig zu machen, aber vergebens. »Hatten Sie den Eindruck, daß die Leute in Acton wußten, wo Sie gewesen waren?«

»Frage ich mich auch.«

Er fragte sich noch immer, als die Personalabteilung ihn kommen ließ und seinen Rudi-Hartmann-Paß sehen wollte. Er sagte, er habe ihn verloren, was schließlich der Wahrheit sehr nahekam. Warum er den Verlust nicht gemeldet habe: Wußte er nicht. Wann hatte er ihn verloren? Wußte er nicht. Wann hatte er Jim Prideaux zum letztenmal gesehen? Erinnerte er sich nicht. Sie schickten ihn zur Nursery nach Sarratt, aber Max fühlte sich in Form und war wütend, und nach ein paar Tagen hatten die Inquisitoren entweder genug von ihm, oder jemand pfiff sie zurück.

»Ich geh wieder zurück nach Acton. Toby Esterhase gibt mir hundert Pfund, sagt, ich soll mich zum Teufel scheren.«

Schrille Beifallsrufe stiegen vom Ufer des Teichs auf. Zwei Buben hatten eine große Eisscholle versenkt und jetzt blubberte das Wasser durch das Loch.

»Max, was ist mit Jim passiert?«

»Was zum Teufel?«

»Sie kriegen solche Dinge zu hören. Es kommt unter den Emigranten herum. Was ist mit ihm passiert? Wer hat ihn geflickt, wie haben sie ihn zurückgekauft?«

»Emigranten reden nicht mehr mit Max.«

»Aber Sie haben etwas gehört, nicht wahr?« Dieses Mal erzählten es ihm die weißen Hände. Smiley sah, wie die Finger sich spreizten, fünf an der einen Hand, drei an der anderen, und er fühlte die Übelkeit aufsteigen, noch ehe Max sprach:

»Sie haben also Jim von hinten angeschossen. Vielleicht ist Jim davongerannt, was zum Teufel? Sie haben Jim ins Gefängnis gesteckt. Das ist nicht gut für Jim. Auch für meine Freunde. Nicht gut.« Er fing an, aufzuzählen. »Pribyl«, begann er und berührte seinen Daumen. »Bukowa, Mirek, von Pribyls Frau und Bruder.« Er nahm einen Finger. »Auch Pribyls Frau.« Ein zweiter Finger, ein dritter: »Kolin Jiri, seine Schwester auch, meistens tot. Das war Netz Aggravate.« Er nahm die andere Hand. »Nach Netz Aggravate kommt Netz Plato. Kommt Rechtsanwalt Rapotin, kommt Oberst Landkron und die Stenotypistinnen Eva Kriegiowa und Hanka Bilowa. Auch meistens tot. Verdammt hoher Preis, George«, er hielt die sauberen Finger nah an Smileys Gesicht, »verdammt hoher Preis für einen einzigen Engländer mit Schuß im Rücken.« Er geriet außer sich. »Was geht Sie's an, George? Circus nicht gut für Tschecho. Alliierte nicht gut für Tschecho. Kein Reicher holt keinen Armen aus dem Gefängnis! Soll ich Ihnen eine Fabelgeschichte erzählen? Wie sagt man, bitte?«

»Märchen«, sagte Smiley.

»Okay, also, ich will keine verdammten Märchen mehr hören, wie die Engländer müssen die Tschechen befreien!«

»Vielleicht war es gar nicht Jim«, sagte Smiley nach langem Schweigen. »Vielleicht hat jemand anderer die Netze hochgehen lassen. Nicht Jim.«

Max öffnete bereits die Tür. »Was zum Teufel?« fragte er. »Max«, sagte Smiley.

»Keine Angst, George. Ich hab keinen, an den ich Sie verkaufen könnte. Okay?«

»Okay.«

Smiley blieb im Auto sitzen und sah zu, wie Max einem Taxi winkte. Mit einer kurzen Handbewegung, als riefe er einen Kellner herbei. Ohne einen Blick auf den Fahrer gab er die Adresse an. Dann fuhr er ab, wiederum saß er sehr aufrecht und starrte vor sich hin wie eine königliche Hoheit, die der Menge nicht achtet. Als das Taxi verschwunden war, erhob sich Inspektor Mendel langsam von der Bank, faltete seine Zeitung zusammen und ging zu dem Rover hinüber.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Die Luft ist rein. Ihr Gewissen ist rein.«

Smiley, der dessen nicht ganz so sicher war, händigte Mendel die Schlüssel des Wagens aus, dann ging er zu Fuß zur Bushaltestelle, zuerst über die Straße und dann nach Westen.


George Smiley trifft sich mit einem Sportjournalisten und stößt abermals auf Toby Esterhases Handschrift


Sein Ziel war die Fleet Street, ein Kellerlokal voller Weinfässer. In anderen Stadtvierteln mochte man halb vier Uhr ein bißchen spät für den vormittäglichen Aperitif finden, aber als Smiley sachte die Tür aufdrückte, drehten sich ein Dutzend schattenhafter Gestalten um und beäugten ihn von der Theke her. Und an einem Ecktisch saß, so unbeachtet wie die künstlichen Gewölbebogen oder die imitierten Musketen an der Wand, Jerry Westerby vor einem großen rosa Gin.

»Alter Knabe«, sagte Jerry Westerby schüchtern, und seine Stimme schien aus dem Boden heraufzukommen. »Das darf doch nicht wahr sein. He, Jimmy!« Die Hand, die er auf Smileys Arm legte, während er mit der anderen Erfrischungen herbeiwinkte, war riesig und mit Muskeln gepolstert, denn Jerry war früher einmal Tormann einer Kricketmannschaft gewesen. Im Gegensatz zu den sonstigen Torwarten war er groß und füllig, aber seine Schultern waren noch immer vorgebeugt wie in Fanghaltung. Er hatte einen Schöpf sandig grauen Haars und ein rotes Gesicht, und er trug die Krawatte eines berühmten Sportclubs über einem cremefarbenen Seidenhemd. Smileys Anblick entzückte ihn sichtlich, denn er strahlte vor Freude.

»Das darf doch nicht wahr sein«, wiederholte er. »Alles was recht ist. Was treiben Sie denn immer?« — und zog ihn mit Gewalt auf den Platz neben ihm. »Sonne aufn Pelz brennen lassen, an die Decke spucken? Heh« - im Moment die dringendste Frage — »Was darf's denn sein?« Smiley bestellte eine Bloody Mary.

»Es ist nicht nur reiner Zufall, Jerry«, gestand Smiley. Es entstand eine kurze Pause, die Jerry plötzlich schnell zu überbrücken trachtete.

»Und was macht der Dämon Weib? Alles in Ordnung? Ist die Sache. Eine der fabelhaftesten Ehen, hab' ich immer gesagt.« Jerry Westerby hatte selber mehrere Ehen geschlossen, aber nur an den wenigsten hatte er seine Freude gehabt. »Schlage Ihnen ein Geschäft vor, George«, erbot er sich und ließ eine der mächtigen Schultern in seine Richtung rollen. »Ich zieh zu Ann und spucke an die Decke, Sie übernehmen meinen Job und schreiben über's Damen-Pingpong. Wie wär' das? Tolles Ding.«

»Cheers«, sagte Smiley jovial.

»Hab' in letzter Zeit nicht viel von den Jungen und Mädchen zu sehen gekriegt«, gestand Jerry unbeholfen und errötete wiederum grundlos. »Weihnachtskarte vom alten Toby voriges Jahr, das ist so ungefähr mein Anteil. Haben mich wohl auch abgeschrieben. Kann's ihnen nicht verübeln.« Er schnippte an den Rand seines Glases. »Zuviel von dem Zeug da, daran liegt's. Sie glauben, ich kann nicht dichthalten. Keinen Mumm mehr.«

»Das glauben sie bestimmt nicht«, sagte Smiley, und das Schweigen ergriff wiederum von ihnen Besitz.

»Zuviel Feuerwasser, nicht gut für roten Krieger«, zitierte Jerry feierlich. Es war einer ihrer alten Indianer-Witze gewesen, erinnerte Smiley sich, und das Herz wurde ihm schwer. »Hugh«, sagte er.

»Hugh«, sagte Jerry, und sie tranken.

»Ich habe Ihren Brief sofort verbrannt, nachdem ich ihn gelesen hatte«, sagte Smiley mit ruhiger, beherrschter Stimme. »Falls Sie sich Gedanken machen sollten. Ich habe zu niemandem ein Wort gesagt. Er kam ohnehin zu spät. Es war alles schon vorbei.« Hier wurde Jerrys lebhafte Gesichtsfarbe zu einem dunklen Scharlachrot.

»Also lag es nicht an dem Brief, den Sie mir schrieben, daß man Sie kaltgestellt hat«, fuhr Smiley im gleichen freundlichen Ton fort, »falls Sie das geglaubt haben sollten. Und außerdem haben Sie ihn doch persönlich eingeworfen.«

»Sehr anständig von Ihnen«, murmelte Jerry. »Vielen Dank. Hätte ihn nicht schreiben sollen. Aus der Schule geplaudert.«

»Unsinn«, sagte Smiley und bestellte zwei weitere. »Sie haben es für die Sache getan.«

Smiley hatte das Gefühl, Lacon sprechen zu hören. Aber wer mit Jerry Westerby sprechen wollte, mußte sich ausdrücken wie seine Zeitung: kurze Sätze, eingängige Meinungen. Jerry stieß den Atem und Schwaden von Zigarettenrauch aus. »Letzter Job, ach, ist Jahre her«, erinnerte er sich mit neugewonnener Munterkeit. »Länger. Kleines Päckchen in Budapest deponieren. Wirklich nichts dabei. Telefonzelle. Oberer Rand. Nur hochgelangt. Hingelegt. Kinderspiel. Glaub' nicht, daß ich's vermasselt hab' oder so. Hab' zuerst brav alles erledigt. Sicherheitssignale. >Leerung jederzeit. Bitte sich zu bedienen.< So, wie sie es uns beigebracht haben, ja? Ihr Junges müßt's schließlich wissen, oder? Ihr seid die weisen Eulen. Sein Teil beitragen, darauf kommt's an. Mehr kann man nicht tun. Eins kommt zum anderen. Ergibt das Muster.«

»Sie werden bald wieder auf Sie zurückkommen«, sagte Smiley tröstend. »Wahrscheinlich sollen Sie nur ein bißchen ausruhen. Das machen sie gern so, wissen Sie.«

»Hoffentlich«, sagte Jerry mit loyalem, aber unsicherem Lächeln. Sein Glas zitterte leicht, als er trank.

»War das die Reise, die Sie gemacht haben, kurz ehe Sie mir den Brief schrieben,« fragte Smiley.

»Klar. Genau die gleiche Reise, Budapest, dann Prag.«

»Und in Prag haben Sie diese Geschichte gehört? Auf die Sie sich in Ihrem Brief bezogen haben?«

An der Theke prophezeite ein blühender Mann in schwarzem Anzug den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Landes. Er gebe uns noch drei Monate, sagte er, dann Sense. »Komischer Kauz, Toby Esterhase«, sagte Jerry. »Aber gut«, sagte Smiley.

»Mein Gott, alter Knabe, erste Güte. Brillant, sage ich. Aber komisch, wissen Sie. Hugh!«

Sie tranken wieder, und Jerry Westerby hielt sich den gereckten Zeigefinger wie eine Apachenfeder hinter den Kopf.

»Der Haken ist«, sagte der blühende Mann an der Theke über sein Glas hinweg, »wir werden nicht mal merken, daß es passiert ist.«

Sie beschlossen, unverzüglich essen zu gehen, da Jerry seine Story für die morgige Ausgabe in Satz geben mußte: der Schläger von Bromwich Albion hatte einen Skandal verursacht. Sie gingen in ein Curry-Lokal, wo man bereitwillig Bier zur Teestunde bekam, und sie machten aus, falls sie jemandem begegnen sollten, würde Jerry George als seinen Bankmanager vorstellen, eine Idee, die ihn während seiner herzhaften Mahlzeit immer wieder belustigte. Die Musikkulisse bezeichnete Jerry als den Hochzeitsflug des Moskitos, und manchmal drohte sie, die schwächeren Töne seiner heiseren Stimme wegzuschwemmen; was vermutlich nicht schadete. Denn während Smiley sich tapfer bemühte, Begeisterung für das Currygericht zu zeigen, war Jerry nach seinem anfänglichen Zögern in eine ganz andere Geschichte eingestiegen, bei der es um einen gewissen Jim Ellis ging: in die Geschichte, die der liebe alte Toby Esterhase ihn nicht hatte in die Zeitung bringen lassen.

Jerry Westerby gehörte einer äußerst seltenen Spezies an, er war der ideale Zeuge! Er hatte keine Phantasie, keine boshafte Ader, keine persönliche Meinung. Nur: die Sache war komisch. Er konnte sie sich nicht aus dem Kopf schlagen, und dabei fiel ihm ein, er hatte seitdem nicht mehr mit Toby gesprochen. »Nur diese Karte da: Fröhliche Weihnachten, Toby. Foto der Leadenhall Street im Schnee.« Er starrte völlig perplex auf den elektrischen Ventilator. »Ist doch nichts Besonderes an der Leadenhall Street, wie, alter Knabe? Kein konspiratives Haus oder Treffpunkt oder sonstwas, oder?«

»Nicht daß ich wüßte«, sagte Smiley lachend. »Konnte mir nicht vorstellen, warum er die Leadenhall Street als Weihnachtskarte benutzte. Verdammt seltsam, finden Sie nicht?« Vielleicht habe er bloß ein Foto von London im Schnee schicken wollen, schlug Smiley vor; schließlich war Toby in mancher Hinsicht ein bißchen ungewöhnlich.

»Komische Art, Grüße zu schicken, muß schon sagen. Hat mir immer eine Kiste Scotch geschickt, pünktlich wie die Uhr.« Jerry runzelte die Stirn und trank aus seinem Krug. »Geht mir nicht um den Scotch«, erklärte er mit jener Ratlosigkeit, die häufig sein inneres Sehvermögen störte. »Kann mir meinen Scotch jederzeit selber kaufen. Nur, wenn man draußen ist, schreibt man allem eine Bedeutung zu, deshalb sind Geschenke wichtig, verstehen Sie, was ich meine?«

Es war vor einem Jahr, ja, im Dezember. Das Restaurant Sport in Prag, sagte Jerry Westerby, gehöre nicht zu den Stammlokalen der Journalisten aus dem Westen. Die meisten lungerten im Cosmo oder im International herum, redeten nur leise und steckten immer zusammen, weil sie nervös waren. Aber Jerrys Lokal war das Sport, und seit er einmal Holotek, den Torwart, nach dem gewonnenen Match gegen die Tataren mitgebracht hatte, stand Jerry unter dem persönlichen Schutz des Barmanns namens Stanislaus oder Stan:

»Stan ist ein wahrer Fürst. Tut genau, was ihm verdammt noch mal Spaß macht. Kommt einem plötzlich vor, als wäre die Tschechoslowakei ein freies Land.«

Restaurant, erklärte er, bedeute Bar. Während Bar in der Tschechoslowakei Nachtclub bedeute, was komisch sei. Smiley stimmte zu, daß es verwirrend sein mußte.

Wie dem auch sei, Jerry hielt immer die Ohren offen, wenn er dort war, es war trotz allem ein tschechisches Lokal, und schon ein paarmal hatte er Toby von dort das fehlende Steinchen mitbringen oder ihn auf irgend jemandens Fährte setzen können. »Auch wenn's bloß um Währungsgeschäfte ging, den schwarzen Markt. Alles Wasser auf die Mühle, meinte Toby. Kleinvieh macht auch Mist - das jedenfalls sagte Toby.« Sehr richtig, pflichtete Smiley bei. So funktioniere es. »Toby war die weise Eule, was?«

»Klar.«

»Ich habe früher immer direkt für Roy Bland gearbeitet, wissen Sie. Dann fiel Roy die Treppe hinauf, und Toby übernahm mich.

Bißchen beunruhigend, solche Veränderungen. Cheers.«

»Wie lange hatten Sie schon für Toby gearbeitet, als Sie diese Reise unternahmen?«

»Paar Jahre, mehr nicht.«

Sie schwiegen eine Weile, das Essen kam, die Krüge wurden frisch gefüllt, und Jerry Westerby würzte sich mit seiner riesigen Hand das schärfste Currygericht der Speisekarte nach und goß feuerrote Soße über das Ganze. Die Soße, sagte er, gebe dem Gericht Aroma. »Der alte Khan hält sie eigens für mich«, erklärte er nebenbei. »Verwahrt sie im Atomkeller.« Also damals, fuhr er fort, in jener Nacht in Stans Bar sei dieser Junge mit dem Salatschüssel-Haarschnitt und dem hübschen Mädchen am Arm dagewesen.

»Und ich dachte: aufgepaßt Jerry-Boy, das da ist ein Kommißhaarschnitt. Stimmt's?«

»Stimmt«, echote Smiley und dachte, in mancher Hinsicht war Jerry selber ein bißchen wie eine Eule.

Es stellte sich heraus, daß der Junge Stans Neffe und sehr stolz auf sein Englisch war: »Toll, was die Leute einem erzählen, wenn sie bloß mit ihren Sprachkenntnissen prahlen können.« Der Junge war auf Urlaub vom Militär und hatte sich in dieses Mädchen verliebt, er hatte noch acht Tage vor sich und hätte die ganze Welt umarmen mögen, einschließlich Jerry. Ja, Jerry sogar ganz besonders, denn Jerry zahlte den Sprit.

»Wir sitzen also alle kunterbunt um den große Tisch in der Ecke, Studenten, hübsche Mädchen, alles mögliche. Der alte Stan war hinter seiner Theke hervorgekommen, und ein Bursche spielte recht ordentlich auf einer Quetschkommode. Jede Menge Gemütlichkeit, jede Menge Sprit, jede Menge Krach.« Der Krach war besonders wichtig, erklärte Jerry, weil er dadurch mit dem Jungen schwatzen konnte, ohne daß irgend jemand aufpaßte.

Der Junge saß neben Jerry, er hatte ihn von Anfang an ins Herz geschlossen. Er hatte einen Arm um das Mädchen gelegt und den anderen um Jerry.

»Einer von den Bengels, die einen anfassen können, ohne daß man das Gruseln kriegt. Mag's im allgemeinen nicht, wenn mich einer anfaßt. Die Griechen tun's. Kann's persönlich nicht leiden.« Smiley sagte, er könne es auch nicht leiden.

»Weil ich grad dran denke, das Mädchen sah ein bißchen aus wie Ann«, überlegte Jerry. »Klasse, verstehen Sie, was ich meine? Garbo-Augen, jede Menge gewisses Etwas.« Und während alle munter sangen und tranken und Ringküssen spielten, fragte dieser Junge auf einmal Jerry, ob er die Wahrheit über Jim Ellis wissen wolle.

»Hab' getan, als hätt' ich nie von ihm gehört«, sagte Jerry zu Smiley. »Schrecklich gern<, sage ich. »Wer ist denn dieser Jim Ellis ?< Und der Junge schaut mich an, als wäre ich plemplem und sagt: >Ein englischer Spion.< Nur hat's niemand gehört, sie schrien alle durcheinander und sangen gepfefferte Lieder. Der Kopf des Mädchens lag auf seiner Schulter, aber sie war schon halb hinüber und im siebenten Himmel, also redete er seelenruhig weiter und war stolz auf sein Englisch, verstehn Sie?«

»Versteh schon«, sagte Smiley.

»>Englischer Spion<. Plärrt mir direkt ins Ohr. >Hat im Krieg mit tschechischen Partisanen gekämpft. Kommt hierher unter dem Namen Hajek und wird von der russischen Geheimpolizei erschossen.< Aber ich hab' bloß die Achseln gezuckt und gesagt:

>Das erste, das ich höre, alter Junge. < Nur nicht drängen, wissen Sie. Auf keinen Fall drängen. Macht sie kopfscheu.«

»Da haben Sie vollkommen recht«, sagte Smiley aus vollem Herzen und beantwortete ein Weilchen geduldig weitere Fragen nach Ann, und wie es sei, wenn man liebte, einen anderen Menschen wirklich und ein ganzes Leben lang liebte.


»Ich leiste gerade meinen Militärdienst ab«, begann der Junge in Jerry Westerbys Bericht. »Ich muß, andernfalls darf ich nicht studieren.« Im Oktober hatte er an einer Grundausbildungsübung in den Wäldern bei Brunn teilgenommen. In diesen Wäldern wimmelte es ständig von Soldaten; im Sommer war das ganze Areal einen Monat lang für die Öffentlichkeit gesperrt gewesen. Es war eine langweilige Infanterieübung, die zwei Wochen dauern sollte, aber am dritten Tag wurde sie ohne Angabe von Gründen abgeblasen und die Truppen wurden in die Stadt zurückbeordert. Der Befehl lautete: Sofort packen und zurück in die Kasernen. Bis zum Abend mußte der Wald geräumt sein. »Nach wenigen Stunden schwirrte es nur so von blödsinnigen Gerüchten«, fuhr Jerry fort. »Einer sagte, die ballistische Forschungsanstalt in Tisnow sei explodiert. Ein anderer sagte, die Übungsbataillone hätten gemeutert und schossen auf die russischen Soldaten. Neuer Aufstand in Prag, die Russen haben die Regierung übernommen, die Deutschen greifen an, Gott weiß was ist passiert. Sie wissen, wie Soldaten sind. Überall gleich, die Soldaten. Latrinengerüchte.« Das Thema Militär brachte Westerby auf verschiedene Bekannte aus seiner eigenen Soldatenzeit, und er fragte nach Leuten, die Smiley flüchtig gekannt und wieder vergessen hatte. Endlich kamen sie zur Sache. »Sie brachen das Lager ab, beluden die Lastwagen und saßen herum und warteten, daß der Konvoi sich in Bewegung setzte. Sie waren eine halbe Stunde gefahren, als es hieß, das Ganze halt, und dem Konvoi befohlen wurde, die Straße freizumachen. Die Wagen mußten sich zwischen die Bäume verdrücken. Blieben im Dreck stecken, in Gräben, alles mögliche. Offenbar heilloses Durcheinander.« Es seien die Russen gewesen, sagte Westerby. Sie kamen aus Richtung Brunn und hatten's furchtbar eilig, und alles, was tschechisch war, mußte die Bahn freimachen oder die Folgen tragen.

»Zuerst brauste eine Motorradstaffel mit aufgeblendeten Scheinwerfern daher, und die Fahrer brüllten sie an. Dann ein Stabsauto und Zivilisten, der Junge schätzte, im ganzen sechs Zivilisten. Dann zwei Lastwagenladungen Spezialtruppen, bis an die Zähne bewaffnet und in Tarnanzügen. Schließlich ein Wagen voller Spürhunde. Alles unter höllischem Getöse. Langweile ich Sie, alter Knabe?«

Westerby tupfte sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht und blinzelte, wie jemand, der gerade wieder zu sich kommt. Der Schweiß war auch durch das Hemd gedrungen; er sah aus, als hätte er unter der Dusche gestanden. Da Curry nicht zu Smileys Lieblingsgerichten zählte, bestellte er zwei weitere Krüge Bier, um den Geschmack hinunterzuspülen. »Das war also der erste Teil der Geschichte. Tschechische Truppen raus, russische Truppen rein. Kapiert?«

Smiley sagte, ja, er glaube, er sei soweit ganz gut mitgekommen. Als sie wieder zurück in Brunn waren, erfuhr der Junge jedoch, daß seine Einheit noch längst nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen sollte. Ihr Konvoi wurde mit einem zweiten gekoppelt, und in der folgenden Nacht rasten sie acht bis zehn Stunden lang ohne bekanntes Ziel in der Gegend herum. Sie fuhren nach Westen bis Trebic, hielten und warteten, während die Nachrichtenabteilung eine lange Sendung durchgab, dann ging es in südöstlicher Richtung zurück, fast bis Znojmo an der österreichischen Grenze, und während des Fahrens wurde wie irre gehupt; niemand wußte, wer die Route befohlen hatte, niemand wollte irgend etwas erklären. Einmal bekamen sie Befehl, die Bajonette aufzupflanzen, ein anderes Mal schlugen sie ein Lager auf und packten alsbald ihren Kram wieder zusammen und zischten ab. Da und dort begegneten sie anderen Einheiten: Bei Breclav Feldpolizei, Panzer, die immer rundum fuhren, einmal zwei Kanonen auf Selbstfahr-Lafetten über eigens verlegte Gleise. Überall die gleiche Geschichte: kopfloses, sinnloses Getümmel. Die älteren Hasen sagten, es sei eine Strafe der Russen dafür, daß man Tscheche sei. Als sie wieder zurück in Brunn waren, hörte der Junge eine ganz andere Erklärung. Die Russen waren hinter einem englischen Spion namens Hajek her. Er hatte die Forschungsanlage ausspionieren wollen und versucht, einen General zu entführen, und die Russen hatten ihn erschossen.

»Also fragte der Junge«, sagte Jerry, »der freche kleine Teufel fragte seinen Unteroffizier: >Wenn Hajek schon erschossen ist, warum müssen wir dann in der Gegend rumbrausen und einen Mordswirbel machen?< Und der Unteroffizier belehrt ihn: >Weil wir hier beim Militär sind.< Auch überall die gleiche Marke, wie?«

Sehr ruhig fragte Smiley: »Wir sprechen da von zwei Nächten, Jerry. In welcher Nacht sind die Russen in den Wald eingedrungen?

Jerry Westerbys Gesicht verzog sich vor Betroffenheit. »Genau das wollte der Junge mir sagen, George. Genau das wollte er mir in Stans Bar stecken. Worum's bei all den Gerüchten ging. Die Russen sind am Freitag eingedrungen. Aber Hajek haben sie erst am Sonnabend erschossen. Also sagten die Schlaumeier: ganz klar, die Russen haben Hajek aufgelauert. Wußten, daß er kommen würde. Wußten alles. Hinterhalt. Üble Geschichte, was? Schlecht für unseren guten Ruf, Sie verstehen, was ich meine. Schlecht für großen Häuptling. Schlecht für ganzen Stamm. Hugh.«

»Hugh«, sagte Smiley in sein Bierglas.

»Toby hat es auch so aufgefaßt. Wir haben es genau gleich beurteilt, bloß verschieden reagiert.«

»Sie haben also Toby alles erzählt«, sagte Smiley beiläufig, während er Jerry eine große Schüssel Bohnen reichte. »Sie mußten ihn ohnehin aufsuchen und ihm sagen, daß Sie das Päckchen für ihn in Budapest abgeliefert hätten, also haben Sie ihm die Hajek-Story auch gleich erzählt.«

Ja, genau so war's, sagte Jerry. Das war's auch, was ihm keine Ruhe gelassen hatte, was ihm komisch vorkam, was ihn veranlaßt hatte, George zu schreiben. »Der alte Toby sagte, es sei Blech. Wird ganz befehlshaberisch und unangenehm. War zuerst ganz weg, schlägt mich auf den Rücken und Westerby ist der Beste. Dann geht er zurück in den Laden, und am nächsten Morgen fährt er das schwere Geschütz auf. Dringende Zusammenkunft, fährt mich im Wagen immer rund um den Park und brüllt Mord und Brand. Sagt, ich war damals so besoffen, daß ich Phantasie und Tatsachen nicht auseinanderhalten konnte. In dieser Tonart. Hat mich ein bißchen gefuchst.«

»Ich nehme an, Sie fragten sich, mit wem er inzwischen gesprochen haben mochte«, sagte Smiley mitfühlend. »Was hat er genau gesagt?« fragte er, keineswegs eindringlich, sondern nur so, als wolle er alles kristallklar vor sich sehen.

»Hat gesagt, es war höchstwahrscheinlich eine abgekartete Sache. Der Junge war ein Provokateur. Irreführung, damit der Circus hinter seinem eigenen Schwanz herjagen sollte. Reißt mir die Ohren ab, weil ich halbgare Gerüchte ausgestreut hätte. Ich sage zu ihm. >Alter Junge<, sage ich, >Toby, ich hab' nur berichtet, alter Junge. Kein Anlaß, daß Ihnen der Kragen platzt. Gestern war ich noch Ihr bestes Stück. Ist doch sinnlos, auf den Boten zu schießen. Wenn die Geschichte Ihnen nicht mehr gefällt, das ist Ihre Sache.« Will mir überhaupt nicht zuhören, verstehen Sie? Völlig unlogisch, habe ich mir gedacht. Ein Bursche wie der. Ist im einen Moment heiß und im nächsten kalt. War nicht seine beste Leistung, verstehen Sie, was ich meine?«

Mit der linken Hand rieb Jerry sich die Schläfe wie ein Schuljunge, der vorgibt, nachzudenken. »Okie dokie«, sagte ich. >Schwamm drüber. Ich schreib's für das Blättchen. Nicht den Teil über die Russen, die zuerst hingekommen sind. Den anderen Teil. Schmutzige Arbeit im Wald, diese Art Schmus.< Ich sag zu ihm: >Wenn's für den Circus nicht gut genug ist, für's Blättchen genügt's.< Da geht er schon wieder die Wand hoch. Am nächsten Tag klingelt so ein Uhu unseren Alten an. Halten Sie diesen Pavian Westerby von der Ellis-Story fern. Steckt ihm die Nase in die D-Vorschrift: formelle Warnung. >Alle weiteren Hinweise auf Jim Ellis alias Hajek gegen das nationale Interesse, also Hände weg.< Zurück zum Damen-Pingpong. Cheers.«

»Aber da hatten Sie mir bereits geschrieben«, erinnerte Smiley ihn. Jerry Westerby wurde feuerrot. »Tut mir schrecklich leid«, sagte er. »Bin richtig fremdenfeindlich und mißtrauisch geworden. Kommt davon, wenn man draußen ist: man traut seinen besten Freunden nicht mehr.«

Er versuchte es nochmals: »Hab' halt gedacht, der alte Toby ist ein bißchen durchgedreht. Hätt' ich nicht tun sollen, wie? Gegen die Regeln.« Trotz seiner Verlegenheit brachte er ein mühsames Grinsen zustande. »Dann hör' ich hintenrum, daß die Firma Sie an die Luft gesetzt hat, und ich komm' mir noch verdammt blöder vor. Kein einsamer Jäger, wie, alter Knabe? Nein . . .?« Die Frage blieb ungestellt; aber vielleicht nicht unbeantwortet.

Als sie gingen, faßte Smiley freundlich Jerrys Arm. »Falls Toby sich mit Ihnen in Verbindung setzen sollte, dann sagen Sie ihm besser nicht, daß wir uns heute getroffen haben. Er ist schon in Ordnung, aber er hat die fixe Idee, alle könnten sich gegen ihn verschwören.«

»Fiele mir nicht im Traum ein, alter Knabe.«

»Und falls er sich wirklich in den nächsten Tagen melden sollte«, fuhr Smiley fort - eine sehr entfernte Möglichkeit, besagte sein Tonfall - »können Sie mir einen Wink zukommen lassen. Dann kann ich Ihnen den Rücken stärken. Rufen Sie übrigens nicht mich an, wählen Sie diese Nummer.«

Plötzlich war Jerry Westerby in Eile; die Story über den Albion-Schläger konnte nicht mehr warten. Aber als er Smileys Karte entgegennahm, fragte er mit einem seltsamen, verlegenen Blick an Smiley vorbei: »Doch nichts Unschönes im Gang, wie, alter Knabe? Keine faulen Sachen im engen Kreis?« Das Grinsen war furchterregend: »Stamm ist nicht auf dem Kriegspfad oder so?«

Smiley lachte und legte eine Hand leicht auf Jerrys gewaltige, ein wenig hochgezogene Schulter. »Jederzeit«, sagte Westerby. »Werde dran denken.«

»Hab' gedacht, Sie wären's gewesen, verstehn Sie: der den Alten angerufen hat.«

»Ich war's aber nicht.«

»Vielleicht war's Alleline.«

»Nehme ich an.«

»Jederzeit«, sagte Westerby nochmals. »Tut mir leid, ja? Grüßen Sie Ann.« Er zögerte.

»Na los, Jerry, raus damit«, sagte Smiley.

»Toby hat eine häßliche Geschichte über sie und Bill, das Großhirn. Hab' ihm gesagt, er soll sich's in seinen dreckigen Schlund stecken. Ist doch nichts dran, wie?«

»Vielen Dank, Jerry. Wiedersehn, Hugh.«

»Hab' gewußt, daß nichts dran ist«, sagte Jerry aufrichtig erfreut, hob wieder den Zeigefinger zur Indianerfeder und trabte zurück in seine Jagdgründe.


Worin sich junge Liebe überraschend in Erinnerung bringt


Als Smiley in dieser Nacht allein in seinem Bett im Islay lag und nicht schlafen konnte, nahm er sich noch einmal die Akte vor, die Lacon ihm in Mendels Haus gegeben hatte. Sie stammte aus den späten fünfziger Jahren, als der Circus genau wie andere Whitehall-Dienststellen unter dem Druck der Konkurrenz die Zuverlässigkeit seiner Mitarbeiter genau unter die Lupe hatte nehmen müssen. Bei den meisten Einträgen handelte es sich um Routineüberprüfungen: Abgehörte Telefongespräche, Überwachungsberichte, endlose Interviews mit Universitätslehrern, Freunden und Bürgern. Ein Dokument jedoch hielt Smiley fest wie ein Magnet; er konnte sich nicht mehr davon trennen. Es war ein Brief, im Index schlicht als »Haydon an Fanshaw, 3. Februar 1937« aufgeführt. Genauer gesagt war es ein handschriftlicher Brief des Studenten Bill Haydon an seinen Tutor Fanshaw, einen Talentsucher des Circus, worin der junge Jim Prideaux als möglicher Kandidat auf eine Anwerbung für den britischen Geheimdienst vorgestellt wurde. Eine geschraubte explication de texte war vorangestellt. Die Optimates seien »ein elitärer Christ Church Club, hauptsächlich ehemalige Eton-Schüler«, schrieb der unbekannte Verfasser. Fanshaw (P.R. de T. Fanshaw, Ehrenlegion, O.B.E.* [* Officer of the Order of the British Empire] Personalakte soundso), war sein Gründer, Haydon (unzählige Referenzen) war in dem betreffenden Jahr seine Primadonna gewesen. Die politische Couleur der Optimates, denen schon Haydons Vater seinerzeit angehört hatte, war unverhohlen konservativ. Fanshaw, inzwischen längst gestorben, kämpfte leidenschaftlich für das Empire, und »die Optimates waren seine private Truppenreserve für das Große Spiel«, wie der Vorspann ausführte. Seltsamerweise erinnerte sich Smiley aus seiner eigenen Studienzeit undeutlich an Fanshaw: Ein dünner, emsiger Mann mit randloser Brille, Neville-Chamberlain-Regenschirm und unnatürlich geröteten Backen, als zahnte er noch immer. Steed Asprey nannte ihn den Tantenonkel.


»Mein lieber Fan, könnten Sie sich entschließen, einige Erkundigungen über den jungen Herrn einzuziehen, dessen Name auf einliegendem Stück Menschenhaut geschrieben steht? (Überflüssige Anmerkung der Inquisitoren: Prideaux.) Vermutlich kennen Sie Jim - wenn Sie ihn überhaupt kennen - als Athletikus von einigen Graden. Was Sie indes nicht wissen, aber wissen sollten, ist folgendes: Er ist kein mieser kleiner Linguist oder sonst ein kompletter Idiot. . .« (hier folgte ein biographischer Überblick von erstaunlicher Genauigkeit:. . . Lycee Lakanal in Paris, für Eton angemeldet, aber nie hingegangen, Jesuitenschule in Prag, zwei Semester Straßburg, Eltern Bankgeschäft auf dem Balkan, Kleinadel, leben getrennt. . .)

»Daher die innige Vertrautheit unseres Jims mit fremden Gebieten und sein elternloses Aussehen, das ich unwiderstehlich finde. Übrigens: wenn er auch aus sämtlichen Bestandteilen Europas zusammengesetzt ist, täuschen Sie sich nicht: die komplette Mischung ist aus unserem Schrot und Korn und uns treu ergeben. Zur Zeit ist er ein bißchen aus dem Tritt, er hat nämlich soeben entdeckt, daß es außerhalb des Spielfelds auch noch eine Welt gibt, und diese Welt bin ich.

Aber zuerst sollen Sie erfahren, wie ich ihn kennenlernte. Wie Sie wissen, entspricht es meinen Gewohnheiten (und Ihrer Anweisung), von Zeit zu Zeit arabische Tracht anzulegen und hinunter zu den Bazaren zu gehen, wo ich mich zu den großen Ungewaschenen setze und den Worten ihrer Propheten lausche, auf daß ich sie besser fertigmachen könne, wenn es soweit ist. Der Juju-Mann en vogue dieses Abends war direkt von Mütterchen Rußlands Busen herbeigeeilt: ein gewisser Professor Chlebnikow, zur Zeit an der Sowjetischen Botschaft in London, ein fideler, recht mitreißender kleiner Bursche, der außer dem üblichen Unsinn auch ein paar ganz witzige Dinge von sich gab. Der genannte Bazar war ein Debattierclub, genannt die Volksfreunde, unsere Konkurrenz, mein lieber Fan, und Ihnen bereits von einigen meiner früheren Streifzüge her bekannt. Nach der Predigt wurde brutal proletarischer Kaffee gereicht, dazu ein grauenhaft demokratisches Brötchen, und ich bemerkte diesen großen Burschen, der allein ganz hinten im Saal saß und offenbar zu schüchtern war, um sich zu den anderen zu gesellen. Sein Gesicht war mir vom Kricketplatz her bekannt, und es stellte sich heraus, daß wir gemeinsam in der College-Mannschaft gespielt hatten, ohne je ein Wort zu wechseln. Ich weiß nicht recht, wie ich ihn beschreiben soll. Er hat Persönlichkeit, Fan. Ich bin jetzt ganz ernst.« Hier wurde die Schrift, bisher verkrampft und stelzig, breiter, als der Schreiber auf Touren kam:

»Er hat die alles beherrschende Gelassenheit. Hartköpfig, im wahren Sinn des Wortes. Einer von den Stillen im Lande, die ihr Team führen, ohne daß man es merkt. Fan, Sie wissen, wie schwer es mir fällt, zu handeln. Sie müssen mich ständig daran erinnern, meinen Verstand daran erinnern, daß ich mich den Gefahren des Lebens stellen muß, wenn ich seine Geheimnisse ergründen will. Jim dagegen handelt aus dem Instinkt... er ist funktionell. . . Er ist meine andere Hälfte, gemeinsam würden wir einen fabelhaften Menschen ergeben, außer daß keiner von uns singen kann. Und Fan, kennen Sie das Gefühl, daß man einfach losziehen und einen neuen Menschen finden muß, oder die eigene Welt geht zum Teufel?«

Die Schrift wurde wieder stetiger.

»>Yavas Lagloo<, sage ich, was russisch sein und etwa heißen soll, >Komm in meine Liebeslaube< oder so ähnlich, und er sagt >Oh, hallo<, was er vermutlich auch zum Erzengel Gabriel gesagt hätte, wenn der zufällig des Weges gekommen wäre. >Wo klemmt's ?< sage ich.

>Nirgends <, sagt er, nachdem er ungefähr eine Stunde lang nachgedacht hatte.

>Was tun Sie dann hier? Wenn's nirgends klemmt, was suchen Sie dann hier?<

Da grinste er mich breit und freundlich an, und wir hopsen rüber zum großen Chlebnikow, schütteln eine Weile seine kleine Hand und vertrollen uns dann in meine Wohnung. Wo wir trinken. Und trinken. Und Fan, er trank alles, was er fassen kriegte. Oder vielleicht ich, ich weiß es nicht mehr. Und wie's Tag wird, wissen Sie, was wir taten? Ich will's Ihnen sagen, Fan. Wir spazierten feierlich hinunter zu den Sportplätzen, ich setz mich mit einer Stoppuhr auf eine Bank, Big Jim steigt in seinen Trainingsanzug und reißt zwanzig Runden herunter. Zwanzig. Ich war völlig erschöpft.

Wir können jederzeit zu Ihnen kommen, er wünscht sich nichts Besseres als meine Gesellschaft oder die meiner gottlosen, göttlichen Freunde. Kurz, er hat mich zu seinem Mephisto ernannt, und ich fühle mich sehr gebauchkitzelt. Nebenbei gesagt, er ist Jungfrau, ungefähr einsachtzig groß, und von derselben Firma hergestellt, die die Hünengräber fabriziert hat. Keine Angst!« Danach gab die Akte wieder nichts mehr her. Smiley richtete sich auf, blätterte hastig die Seiten um und suchte ungeduldig nach etwas Handfestem. Die Tutoren beider Männer versichern (nach zwanzig Jahren), es sei undenkbar, daß die Beziehung zwischen den beiden >mehr als rein freundschaftlicher Natur< gewesen sei . . . Haydons Zeugenaussage wurde nie angefordert. . . Jims Tutor bezeichnet ihn als >intellektuellen Vielfraß nach langem Hungern< und weist jede Andeutung zurück, daß Jim etwa >rot angehaucht war. Die Gegenüberstellung in Sarratt beginnt mit langatmigen Entschuldigungen, vor allem auf Grund von Jims großartigen Leistungen während des Kriegs. Jims Antworten bringen nach den Manieriertheiten von Haydons Brief frischen Wind in die Lektüre. Ein Vertreter der Konkurrenz ist anwesend, ergreift aber kaum das Wort. Nein, Jim hatte Chlebnikow nie wiedergesehen, auch niemanden, der sich als dessen Abgesandter ausgab; nein, mit Ausnahme dieses einen Mals hat er nie mit ihm gesprochen. Nein, er hatte damals keine weiteren Kontakte mit Kommunisten oder Russen gehabt, er konnte sich an keinen Namen eines Mitglieds der Volksfreunde erinnern. Frage: (Alleline) >Was Ihnen wohl keine schlaflosen Nächte bereitet, wie?< Antwort: >Ehrlich gesagt, nein.< (Lachen)


Ja, er war Mitglied bei den Volksfreunden gewesen, genau wie er Mitglied des Theaterclubs am College gewesen war, der philatelistischen Gesellschaft, der Gesellschaft für moderne Sprachen, der Union und der Historischen Gesellschaft, der Ethischen Gesellschaft und der Rudolf Steiner-Arbeitsgruppe . . . Auf diese Weise konnte man interessante Vorträge hören und Leute kennenlernen; besonders dieses. Nein, er hatte nie linke Literatur verteilt, allerdings kurze Zeit Soviet Weekly gelesen . . . Nein, er hatte niemals Beiträge an irgendeine politische Partei entrichtet, weder in Oxford noch später, er hatte sogar nie von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht. . . Daß er sich in Oxford so vielen Clubs anschloß, hatte vor allem einen Grund: Nach einer wechselvollen Schulzeit im Ausland hatte er keine gleichaltrigen englischen Kameraden von früher . . .

Hier sind die Inquisitoren bereits ausnahmslos auf Jims Seite; alle machen gemeinsam Front gegen die Konkurrenz und ihre bürokratische Einmischung.

Frage: (Alleline) »Nur interessehalber, hätten Sie etwas dagegen, mir zu sagen, wo Sie bei Ihren vielen Auslandsaufenthalten Kricketspielen gelernt haben?« (Lachen) Antwort: »Wissen Sie, ich hatte einen Onkel mit einem Kricketplatz in der Nähe von Paris. Ausgesprochener Kricketfan. Mit Netz und allen Schikanen. Wenn ich in den Ferien dort war, mußte ich nonstop mit ihm spielen.« (Anmerkung der Inquisitoren: Comte Henri de Sainte-Yvonne, Dez. 1942, Personalakte. AF64 - 7.) Ende des Interviews. Vertreter der Konkurrenz möchte Haydon als Zeugen vorführen lassen, aber Haydon ist im Ausland und verhindert. Termin auf unbestimmte Zeit verschoben . . .

Smiley war schon fast eingeschlafen, als er die letzte Eintragung las, die achtlos eingefügt worden war, längst nachdem Jims Sicherheitsüberprüfung durch die Konkurrenz formell abgeschlossen war. Es war ein Zeitungsausschnitt vom Juni 1938, eine Besprechung von Haydons damaliger Ein-Mann-Ausstellung, und der Titel lautete »Realismus oder Surrealismus? Oxforder Perspektiven.« Nachdem der Kritiker Bill Haydons Gemäldeausstellung in Grund und Boden verrissen hatte, endete er mit folgender launiger Bemerkung:

»Wie uns zu Ohren kam, hat der treffliche Mr. James Prideaux sich sogar zeitweise von seinem Kricket losgerissen, um beim Hängen der Leinwände behilflich zu sein. Wir meinen zwar, daß er besser daran getan hätte, in der Banbury Road zu bleiben. Da indessen seine Rolle als Förderer der schönen Künste das einzig Echte an der ganzen Veranstaltung war, sollten wir vielleicht nicht allzusehr lästern . . .«

Smiley döste, in seinem Hirn drängten sich, wohlgeordnet, Zweifel, Argwohn und Gewißheiten. Er dachte an Ann und empfand große Zärtlichkeit für sie, sehnte sich danach, ihre Schwachheit mit seiner eigenen zu beschützen. Wie ein junger Mann flüsterte er ihren Namen und stellte sich vor, daß ihr schönes Gesicht sich im Halbdunkel über ihn beuge, während Mrs. Pope Graham durchs Schlüsselloch ihren Bannfluch zeterte. Er dachte an Tarr und Irina und grübelte nutzlos über Liebe und Treue; er dachte an Jim Prideaux und was wohl der Morgen bereithalten würde. Er fühlte in aller Bescheidenheit, daß ein Sieg bevorstand. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt, lange auf den Meeren gekreuzt; morgen, wenn er Glück hatte, würde er vielleicht Land erblicken: eine friedliche kleine verlassene Insel zum Beispiel. Eine, von der Karla nie gehört hatte. Gerade groß genug für ihn und Ann. Er schlief ein.


Dritter Teil


Jim Prideaux rüstet sich für einen Besuch und bekommt selber einen Gast


In Jim Prideaux' Welt war der Donnerstag abgelaufen wie jeder andere Tag, nur daß irgendwann in den frühen Morgenstunden die Wunde in seinem Schulterknochen zu nässen begonnen hatte, woran wohl der Wettlauf vom Mittwochnachmittag schuld war. Er erwachte durch den Schmerz und durch den Luftzug über die feuchte Stelle seines Rückens, wo die Wundabsonderung herabrann. Es war schon einmal passiert, und damals war er mit dem Auto nach Taunton gefahren, aber die Schwestern im Kreiskrankenhaus warfen nur einen Blick auf ihn, dann verfrachteten sie ihn schleunigst in die Notstation, wo er auf Doktor Soundso und eine Röntgenaufnahme warten sollte, und er schnappte sich seine Kleider und verduftete. Er hatte genug von Ärzten und Krankenhäusern. Ob englische oder sonstige, Jim hatte die Nase voll. Sie hatten gesagt, sie Wunde »zeichne noch«.

Er konnte nicht an die Wunde heranreichen, um sie zu behandeln, aber seit dem letzten Mal hatte er sich Dreiecke aus Scharpie zurechtgeschnitten und Bänder an die Ecken genäht. Nachdem er sie sich auf dem Ablaufbrett bereitgelegt hatte, kochte er Wasser, schüttete ein halbes Päckchen Salz hinein und verabreichte sich damit eine improvisierte Dusche, wobei er sich so zusammenkauerte, daß der Strahl seinen Rücken traf. Er tränkte die Scharpie mit einer Desinfektionslösung, warf sie sich auf den Rücken, verschnürte die Bänder über der Brust und legte sich bäuchlings auf sein Bett, einen Wodka in Reichweite. Der Schmerz ließ nach, und Schläfrigkeit überkam ihn, aber er wußte, wenn er jetzt nachgab, würde er den ganzen Tag schlafen; also nahm er die Wodkaflasche mit zum Fenster und setzte sich an den Tisch und korrigierte die Französischhefte von V B, während die Morgendämmerung des Donnerstags in die Senke glitt und die Saatkrähen in den Ulmen zu lärmen begannen.

Manchmal war die Wunde für ihn eine Erinnerung, die er nicht verdrängen konnte. Er beschwor Himmel und Hölle, um sie zu verdrängen und zu vergessen, aber der Himmel oder die Hölle halfen auch nicht immer.

Er ließ sich Zeit mit dem Korrigieren, weil er es gern tat und weil diese Arbeit seine Gedanken bei der Stange hielt. Zwischen halb sieben und sieben war er fertig; er zog eine alte Flanellhose und ein Sportjackett an und schlenderte hinunter zur Kirche, die nie abgeschlossen war. Eine Weile kniete er im Mittelgang der Curtois-Kapelle, einer Familien-Gedenkstätte für die Toten zweier Kriege und fast immer leer. Das Kreuz auf dem kleinen Altar hatten Pioniere bei Verdun geschnitzt. Beim Knien tastete Jim vorsichtig unter dem Kirchenstuhl herum, bis seine Fingerspitzen auf eine Reihe von Klebestreifen stießen, und über diese Spur auf ein Etui aus kaltem Metall. Nachdem er seine Andacht verrichtet hatte, preschte er die Combe Lane bis zur nebelumwallten Spitze des Hügels hinauf, im Trab, um in Schweiß zu kommen, denn die Wärme tat ihm gut, solange sie anhielt, und der Rhythmus dämpfte seine Überwachheit. Nach der schlaflosen Nacht und dem Morgenwodka war er ein bißchen durchgedreht, und als er die Ponys am Hang sah, die ihm ihre törischten Gesichter zuwandten, schrie er sie an: »Trollt euch! Ihr blöden Viecher, glotzt mich nicht so an!« Dann stapfte er die Landstraße entlang wieder zurück, trank Kaffee und wechselte seinen Verband.

Die erste Unterrichtsstunde nach der Morgenandacht war Französisch in Klasse V B, und hier wäre Jim um ein Haar der Gaul durchgegangen: brummte diesem Blödel Clements, Sohn eines Tuchhändlers, eine Strafe auf und mußte sie am Ende der Stunde rückgängig machen. Im Aufenthaltsraum brachte er eine weitere Routine hinter sich, ähnlich der, die er in der Kirche praktiziert hatte: rasch, ohne zu denken, kein Herumfummeln und raus. Es war eine ganz simple Prozedur, die Post zu untersuchen, und es klappte. Er kannte keinen Profi, der das machte. Aber Profis erzählen nicht alles. »Man muß es so sehen«, würde er gesagt haben, »wenn die Gegenseite dich überwacht, dann überwacht sie bestimmt deine Post, denn das ist die einfachste Form der Überwachung: und noch einfacher, wenn die Gegenseite die eigene Seite ist und die Post mit ihr zusammenarbeitet. Was also ist zu tun? Man schickt jede Woche, vom gleichen Briefkasten, zur gleichen Zeit, in gleichem Abstand, einen Umschlag an sich selber und einen zweiten an eine unbeteiligte Person mit der gleichen Adresse. Steckt irgend etwas hinein - Wohltätigkeitskarten mit Weihnachtswunsch, Sonderangebot vom Supermarkt in der Nähe - verklebt den Umschlag sorgfältig, wartet ab und vergleicht die Zeiten des Eintreffens. Wenn der Brief an die eigene Adresse später ankommt als der an die andere Person, dann ist jemand hinter einem her, in diesem Fall Toby.

Die beiden Briefe kamen gleichzeitig an, aber Jim kam zu spät, um den Umschlag an Majoribanks abzufangen, der als ahnungsloser Mitläufer an der Reihe war. So steckte Jim seinen eigenen Brief in die Tasche und stieß hinter seinem Daily Telegraph mißbilligende Töne aus, während Marjoribanks mit einem wütenden »Hol euch der Teufel« eine gedruckte Einladung zur Mitgliedschaft bei den Bibelforschern zerriß. Danach ließ er sich vom üblichen Tagesablauf mittragen, bis zum Rugby-Match der Unterklassen gegen Saint-Ermin, zu dem er als Schiedsrichter abgeordnet war. Es war ein schnelles Spiel, und als es zu Ende war, meldete sein Rücken sich wieder, also trank er Wodka, bis es Zeit fürs erste Läuten war. Er hatte versprochen, dies für den jungen Elwes zu übernehmen. Warum er das versprochen hatte, wußte er nicht mehr, aber die jüngeren Lehrer und besonders die verheirateten bedachten ihn gern mit allerlei kleinen Nebenarbeiten, und er ließ es sich gefallen. Die Glocke war eine alte Schiffsglocke, die Thursgoods Vater ausgegraben hatte und die jetzt zur Tradition gehörte. Als Jim sie läutete, sah er, daß der kleine Bill Roach direkt neben ihm stand und lächelte und um Aufmerksamkeit heischend zu ihm hochblickte, wie er es jeden Tag ein dutzendmal tat. »Hallo Jumbo, wo brennt's denn jetzt wieder?«

»Sir, bitte, Sir.«

»Los, Jumbo, raus mit der Sprache.«

»Sir, da will jemand wissen, wo Sie wohnen, Sir«, sagte Roach. »Was für ein Jemand, Jumbo? Los, ich beiß dich nicht, los, heh . . . heh! Was für ein Jemand? Mann? Frau? Juju-Mann? He! Los, alter Freund«, sagte er sanft und kauerte sich neben Roach nieder. »Kein Grund zum Heulen. Was ist los mit dir? Hast du Fieber?« Er zog ein Taschentuch aus seinem Ärmel. »Was für ein Jemand?« wiederholte er mit derselben leisen Stimme. »Er hat bei Mrs. McCullum gefragt. Er sagte, er sei ein Freund. Dann hat er sich wieder in sein Auto gesetzt, es steht im Kirchhof, Sir.« Ein neuer Tränenschwall. »Er sitzt einfach drinnen.«

»Schert euch doch zum Teufel!« schrie Jim ein Grüppchen älterer Schüler an, die grinsend unter der Tür standen. »Schert euch zum Teufel! Großer Freund?« Er wandte sich wieder an Roach. »Langer Schlaks, Jumbo? Dicke Augenbrauen, schlechte Haltung? Dünner Bursche? Bradbury. Komm mal her und hör auf zu gaffen! Hilf Jumbo rauf zu Matron bringen. Dünner Bursche?« fragte er wieder in gleichmütigem Ton.

Aber Roach hatte es die Sprache verschlagen. Er hatte kein Gedächtnis mehr, keinen Sinn mehr für Größe und Perspektive; sein Unterscheidungsvermögen in der Welt der Erwachsenen war fort. Große Männer, kleine Männer, alte, junge, krumme, gerade, sie waren nur noch ein Heer unerfindlicher Gefahren. Jims Frage mit Nein zu beantworten, war mehr, als er ertragen konnte; mit einem Ja würde er die ganze furchtbare Verantwortung für Jims Enttäuschung auf sich laden.

Er sah Jims Augen auf sich gerichtet, sah, wie das Lächeln erlosch, und dann fühlte er die rettende Berührung der großen Hand auf seinem Arm.

»Braver Jumbo. Keiner hat je so gut beobachtet wie du, was?« Bill Roach legte den Kopf verzagt auf Bradburys Schulter und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er durch die Tränen, daß Jim schon halbwegs die Treppe hinauf war.


Jim war ruhig, fast leicht zumute. Ganze vierzehn Tage lang hatte er gewußt, daß da jemand war. Auch das gehörte zu seiner Routine; die Plätze beobachten, wo die Beobachter ihre Fragen stellten. Die Kirche, wo über jeden Zu- und Weggang in der Gemeinde unbefangen geredet wird; das Rathaus, das Verzeichnis der Wähler. Geschäftsleute, falls sie die Kundenrechnungen aufhoben; Pubs, wenn die Gejagten sie nicht aufsuchten. Er wußte, daß dies in England die natürlichen Fallen waren, die die Observanten automatisch abklapperten, bevor sie über einem zuschnappten. Und so war es denn auch. Als Jim vor zwei Wochen einen netten Plausch mit einem Buchhändler hatte, stieß er auf die Spur, nach der er suchte. Ein Fremder, offenbar aus London, hatte sich nach Wahlkreisen erkundigt; ja, er war ein politischer Herr - nun, mehr so auf der Ebene politischer Erhebungen, ein Professioneller, das konnte man sehen, und unter anderem wollte er - man stelle sich das nur vor, jetzt - die neueste Aufstellung ausgerechnet von Jims Dorf - ja, die Wählerliste -, da sie erwogen, eine Fragebogen-Kampagne von Tür zu Tür in einer Gemeinde j.w.d., besonders bei neu Zugezogenen, zu starten - Ja, man stelle sich nur vor, stimmte Jim zu, und von da an traf er Vorkehrungen. Er kaufte Eisenbahn-Fahrkarten - Taunton nach Exeter, Taunton nach London, Taunton nach Swindon, gültig einen Monat - denn er wußte, wäre er mal wieder auf der Flucht, würde an Fahrkarten schwer heranzukommen sein. Er hatte seine alten Ausweise und sein Gewehr hervorgeholt und hielt sie - leicht greifbar - versteckt; er verstaute einen mit Kleidern vollgestopften Koffer im Gepäckraum des Alvis und sorgte für einen vollen Tank. Diese Vorsichtsmaßnahmen milderten seine Ängste etwas, ließen den Schlaf immerhin zu einer Möglichkeit werden, zumindest solange sein Rücken nicht schmerzte. »Sir, wer hat gewonnen, Sir?«

Prebble, ein Neuer, im Schlafrock und voll Zahnpasta, auf dem Weg zur Krankenstube. Manchmal sprachen die Jungen Jim ohne jeden Grund an, seine Größe und der Buckel reizten sie dazu. »Sir, das Match, Sir, gegen Saint-Ermin.«

»Sir, die ändern haben gewonnen, Sir«, bellte Jim. »Wie Sie selber wissen würden, Sir, wenn Sie zugesehen hätten, Sir«, schwang eine enorme Faust in einem langsamen Schattenboxhieb gegen die Jungen und schubste beide über den Korridor zu Matrons Arzneistube.

»Nacht, Sir.«

»Nacht, du Knallfrosch«, rief Jim und ging hinüber in den Krankenschlafsaal, um einen Blick auf die Kirche und den Friedhof zu werfen. Der Schlafsaal war unbeleuchtet, Jim haßte seinen Anblick und seinen Mief. Zwölf Jungen lagen im Dunkeln und dösten zwischen Abendbrot und Fiebermessen. »Wer ist das?« krächzte eine Stimme.

»Rhino«, sagte eine andere. »He, Rhino, wer hat gegen Saint-Ermin gewonnen?«

Es war ungehörig, Jim mit seinem Spitznamen anzusprechen, aber Jungen im Krankensaal fühlten sich von der Disziplin entbunden. »Rhino? Wer zum Teufel ist Rhino? Kenn ich nicht. Für mich kein Name«, schnaubte Jim und quetschte sich zwischen zwei Betten durch, »Weg mit der Taschenlampe, nicht gestattet. War ein verdammt leichter Sieg. Achtzehn zu null für die Ermins.« Das Fenster reichte fast bis zum Boden. Ein altes Kamingitter schütze es vor den Jungen. »Zu viel Gestümper in der Dreiviertellinie«, brummte er und äugte hinunter. »Ich hasse Rugby«, sagte ein Junge namens Stephen. Der blaue Ford stand im Schatten der Kirche, dicht unter den Ulmen. Vom Erdgeschoß aus wäre er nicht zu sehen gewesen, aber er wirkte nicht versteckt. Jim stand ganz still da, ein bißchen vom Fenster zurück, und inspizierte den Wagen nach verräterischen Zeichen. Das Tageslicht schwand bereits, aber er hatte gute Augen und wußte, wonach er Ausschau halten mußte: zweiter Innenspiegel für den Kurier, Brandstellen unter dem Auspuff. Als sie seine Spannung spürten, begannen die Jungen zu witzeln. »Sir, ist es eine Puppe, Sir? Taugt sie etwas, Sir?«

»Sir, brennt die Schule?«

»Sir, hat sie hübsche Beine?«

»Gosh, Sir, ist es wirklich Miss Aaronson?« Hier begannen alle zu kichern, denn Miss Aaronson war alt und häßlich. »Klappe halten«, schnappte Jim ärgerlich. »Haltet die Klappe, ihr Rübenschweine.« Drunten im Tagesraum verlas Thursgood die Anwesenheitsliste der Großen vor der Lernstunde. »Abercrombie? Sir. Astor? Sir. Blakeney? Krank, Sir.« Von seinem Beobachtungsposten aus sah Jim, wie die Wagentür aufging und George Smiley behutsam aus dem Wagen herauskletterte; er trug einen schweren Mantel.

Matrons Schritte hallten im Korridor. Er hörte das Quietschen ihrer Gummiabsätze und das Klappern der Fieberthermometer in einem Kleistertopf.

»Mein lieber Rhino, was tun Sie in meinem Krankensaal? Und schließen Sie den Vorhang, Sie böser Junge, sonst stirbt mir noch die ganze Bande an Lungenentzündung. William Merridew, aufsetzen, dalli!«

Smiley schloß den Wagen ab. Er war allein und trug nichts bei sich, nicht einmal eine Mappe.

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