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Mr Morley war beim Frühstück nicht besonders guter Laune. Er mäkelte über den gebratenen Speck, wollte wissen, warum der Kaffee wie flüssiger Schlamm aussehe, und brummte, jede neue Sorte Cornflakes sei noch ungenießbarer als die vorhergehende.

Mr Morley war ein kleiner Mann mit energischem Unterkiefer und streitsüchtigem Kinn. Seine Schwester, die ihm den Haushalt führte, war groß und kräftig und sah aus wie ein Grenadier. Sie betrachtete ihren Bruder nachdenklich und fragte, ob das Badewasser wieder kalt gewesen sei.

Ziemlich widerwillig verneinte Mr Morley. Er warf einen Blick in die Zeitung und knurrte, die Regierung scheine nun von bloßer Unfähigkeit in einen Zustand regelrechten Schwachsinns überzugehen.

Miss Morley bestätigte mit tiefer Bassstimme, es sei einfach schändlich.

Nachdem sich Mr Morley eingehend über den Schwachsinn der Regierung ausgelassen hatte, trank er eine zweite Tasse von dem verachteten Kaffee und entledigte sich der eigentlichen Last, die ihn bedrückte.

«Die Mädchen», sagte er, «sind alle gleich! Wankelmütig, egoistisch – man kann sich in keiner Weise auf sie verlassen.»

«Gladys?», fragte der Grenadier, und Mr Morley knurrte: «Ja! Ihre Tante ist schwer erkrankt, und sie hat zu ihr nach Somerset fahren müssen.»

Miss Morley meinte: «Sehr unangenehm, mein Lieber, aber es ist doch wohl kaum ihre Schuld.»

Mr Morley schüttelte düster den Kopf.

«Woher soll ich wissen, dass die Tante wirklich einen Schlaganfall gehabt hat? Woher soll ich wissen, dass die ganze Sache nicht ein abgekartetes Spiel ist zwischen dem Mädchen und diesem höchst unpassenden jungen Mann, mit dem sie dauernd herumzieht? Der Bursche ist ein Taugenichts, wie er im Buche steht! Wahrscheinlich haben sie für heute einen Ausflug zusammen verabredet!»

«Aber nein, mein Lieber – ich kann mir nicht denken, dass Gladys so etwas tun würde. Du hast sie doch selbst immer sehr gewissenhaft gefunden.»

«Ja, ja – »

«Ein intelligentes Mädchen, tüchtig und fleißig, hast du gesagt.»

«Ja, ja, Georgina – aber das war, ehe dieser unwillkommene junge Mann aufgetaucht ist. In der letzten Zeit ist sie anders geworden – ganz anders: geistesabwesend, zerstreut, nervös.» Der Grenadier tat einen tiefen Seufzer.

«Es ist nun einmal so, Henry, dass Mädchen sich verlieben. Dagegen lässt sich nichts machen.»

«Das sollte aber ihre Arbeit als meine Sekretärin nicht beeinträchtigen!», schnauzte Morley. «Und gerade heute, da ich besonders viel zu tun habe! Verschiedene sehr wichtige Patienten. Höchst unangenehm!»

«Ich bin überzeugt, dass es für dich äußerst lästig sein muss, Henry. Wie macht sich übrigens der neue Boy?»

Mr Morley sagte düster: «Es ist der ärgste, den ich jemals gehabt habe. Kann keinen einzigen Namen richtig verstehen und hat die gröbsten Manieren. Wenn er sich nicht bessert, werfe ich ihn raus und versuche es mit einem anderen. Ich weiß nicht, was heutzutage in unseren Schulen los ist. Produzieren lauter Schwachköpfe, die nichts von dem verstehen, was man ihnen sagt, geschweige denn, dass sie es behalten.»

Er sah auf die Uhr.

«Ich muss runtergehen. Ein vollbesetzter Vormittag, und außerdem muss ich noch diese Sainsbury Seale zwischendurch drannehmen, weil sie Schmerzen hat. Ich hab ihr vorgeschlagen, sich von Reilly behandeln zu lassen, aber sie hat nichts davon wissen wollen.»

«Natürlich nicht», sagte Georgina.

«Reilly ist sehr tüchtig – wirklich sehr tüchtig. Erstklassige Diplome. Ganz modern in seiner Arbeit.»

«Er hat keine ruhige Hand», murrte Miss Morley. «Meiner Meinung nach trinkt er.»

Ihr Bruder lachte – seine gute Laune war wiederhergestellt. «Ich komme, wie gewöhnlich, um halb zwei zu einem Sandwich rauf!», sagte er.

Im Savoy stocherte Mr Amberiotis in den Zähnen und lachte vor sich hin. Alles lief nach Wunsch.

Er hatte Glück gehabt, wie gewöhnlich. Kaum zu glauben, dass die paar freundlichen Worte, die er mit diesem törichten Frauenzimmer gesprochen hatte, sich derart bezahlt machten! Ja – man musste eben ein gütiger, freundlicher Mensch sein. Und großzügig! Künftig würde er sogar noch großzügiger sein können. Der kleine Dimitri… Und der gute Konstantopopolous, der sich mit seinem kleinen Restaurant so plagen musste. Was für angenehme Überraschungen standen ihnen bevor… Der Zahnstocher rutschte aus, und Mr Amberiotis zuckte zusammen. Die rosigen Zukunftsvisionen verblassten und machten den Sorgen der unmittelbaren Gegenwart Platz. Er fühlte vorsichtig mit der Zunge und nahm sein kleines Notizbuch aus der Tasche.

«Zwölf Uhr, Queen Charlotte Street 58.»

Er versuchte, sich wieder in die frühere triumphierende Stimmung zu versetzen, aber vergeblich. Die Welt war zu sechs dürftigen Worten zusammengeschrumpft: Zwölf Uhr, Queen Charlotte Street 58.

Im Glengowrie Court Hotel in South Kensington war das Frühstück vorbei. Miss Sainsbury Seale saß in der Halle und unterhielt sich mit Mrs Bolitho. Ihre Tische im Speisesaal standen nebeneinander, und sie hatten sich am Tage nach Miss Seales Ankunft vor einer Woche kennen gelernt.

Miss Sainsbury Seale sagte: «Wissen Sie, meine Liebe, der Schmerz hat wirklich aufgehört! Nicht mehr der kleinste Stich! Ich möchte eigentlich fast anrufen und…»

Mrs Bolitho unterbrach sie: «Also, jetzt seien Sie nicht töricht, meine Liebe. Sie gehen zum Zahnarzt, und dann haben Sie es hinter sich.»

Mrs Bolitho war eine große, imponierende Person mit einer tiefen Stimme. Miss Sainsbury Seale war ein Wesen um die Vierzig mit gebleichtem Haar, das ihr in unordentlichen Locken um den Kopf hing. Ihre Kleider hatten keine rechte Form und sahen irgendwie künstlerisch aus; sie trug einen Zwicker, der dauernd herunterfiel, und redete viel.

Jetzt sagte sie schüchtern: «Aber ich habe wirklich überhaupt keine Schmerzen mehr.»

«Unsinn. Sie haben mir doch erzählt, dass Sie in der Nacht kein Auge schließen konnten.»

«Ja, das stimmt – das stimmt wirklich – aber vielleicht ist der Nerv jetzt tatsächlich tot.»

«Ein Grund mehr, um zum Zahnarzt zu gehen», erklärte Mrs Bolitho energisch. «Wir schieben es alle gern hinaus, aber das ist bloß Feigheit. Besser, man gibt sich einen Ruck und hat es dann hinter sich.»

Miss Sainsbury Seale setzte zu einer Antwort an. Vielleicht wollte sie rebellisch murmeln: «Ja, aber es ist schließlich nicht Ihr Zahn!» Sie sagte jedoch nur: «Wahrscheinlich haben Sie Recht. Und Mr Morley ist ja auch so vorsichtig und tut einem überhaupt nicht weh.»

Die Sitzung des Verwaltungsrats war vorüber. Alles war glatt gelaufen. Der Geschäftsbericht war glänzend. Kein Misston wäre am Platz gewesen. Und doch hatte Samuel Rotherstein, der eine Art sechsten Sinn für so etwas besaß, Derartiges empfunden: eine winzige Nuance im Auftreten des Präsidenten.

Einige Male hatte seine Stimme eine Schärfe angenommen, die durch den Verlauf der Sitzung keineswegs gerechtfertigt war.

Vielleicht irgendein geheimer Kummer? Allerdings war Rotherstein nicht imstande, die Vorstellung eines geheimen Kummers mit Alistair Blunt in Verbindung zu bringen. Dazu war der Mann zu leidenschaftslos. Er war so normal – so vollkommen britisch.

Natürlich konnte es die Leber sein. Auch Mr Rotherstein hatte von Zeit zu Zeit Leberbeschwerden. Aber Alistair hatte noch niemals über seine Leber geklagt. Seine Gesundheit war ebenso unerschütterlich wie seine Nerven und sein finanzielles Geschick. Und doch – irgendetwas war da: Ein- oder zweimal hatte sich der Präsident mit der Hand ans Gesicht gegriffen. Er hatte im Sitzen das Kinn aufgestützt, eine für ihn ungewöhnliche Haltung. Und ein paarmal hatte er – ja, man musste schon sagen – zerstreut ausgesehen.

Die Herren verließen das Sitzungszimmer und gingen die Treppe hinunter. Rotherstein sagte: «Ich kann Sie wohl nicht im Wagen mitnehmen?»

Alistair Blunt schüttelte lächelnd den Kopf. «Ich habe meinen eigenen Wagen unten.» Er schaute auf die Uhr. «Ich fahre nicht in die City zurück.» Nach einer Pause fügte er hinzu: «Ich muss nämlich zum Zahnarzt.»

Hercule Poirot stieg aus seinem Taxi, zahlte und klingelte am Haus Queen Charlotte Street 58.

Ein Bursche in roter Uniform öffnete die Tür; er hatte Sommersprossen, rote Haare und einen ernsten Gesichtsausdruck.

Hercule Poirot sagte: «Zu Mr Morley!»

Tief im Herzen gab er sich der lächerlichen Hoffnung hin, Mr Morley sei vielleicht unpässlich, sei abberufen worden oder könnte heute keine Patienten empfangen… Alles vergebens. Der Boy trat zurück, Hercule Poirot schritt durch den Hauseingang, und die Tür fiel mit der ruhigen Gefühllosigkeit eines unabänderlichen Verhängnisses hinter ihm zu.

Der Boy fragte: «Ihren Namen, bitte?»

Poirot nannte seinen Namen; eine Tür auf der rechten Seite der Halle flog auf, und er betrat das Wartezimmer. Der Raum war geschmackvoll möbliert und wirkte auf Hercule Poirot unbeschreiblich niederdrückend. Auf dem polierten Sheraton-Tisch lagen, sorgfältig geordnet, Zeitungen und Zeitschriften. Auf der Hepplewhite-Anrichte standen zwei versilberte Leuchter und ein Tafelaufsatz. Den Kaminsims krönten zwei Bronzevasen und eine bronzene Uhr. An den Fenstern hingen blaue Samtvorhänge. Die Sesselbezüge waren mit roten Vögeln und Blumen gemustert.

In einem der Sessel saß ein militärisch aussehender Herr mit grimmigem Schnurrbart und gelber Hautfarbe. Er betrachtete Poirot, als hielte er ihn für irgendein schädliches Insekt. Er schien nicht so sehr eine Schusswaffe zu vermissen als eine Flitspritze.

Poirot sah ihn verdrießlich an und dachte: Manche Engländer sind wirklich dermaßen unerfreulich und lächerlich, dass man sie schon bei der Geburt von ihrem Leiden erlösen müsste.

Nach längerem Glotzen riss der militärische Herr die Times an sich, rückte seinen Sessel so, dass ihm Poirots Anblick erspart blieb, und begann zu lesen.

Poirot griff nach dem Punch. Er ging ihn sorgfältig durch, konnte aber keinen der Witze komisch finden.

Der Boy kam herein, sagte: «Colonel Arrowbumby?», und führte den militärisch aussehenden Herr hinaus.

Während Poirot noch darüber nachdachte, ob es einen so unwahrscheinlichen Namen tatsächlich geben konnte, ging die Tür von Neuem auf, und es erschien ein junger Mann von etwa dreißig Jahren.

Er trat an den Tisch und blätterte unruhig in den Zeitschriften.

Poirot sah ihn von der Seite an und dachte: Ein unangenehmer, gefährlich aussehender junger Mann – möglicherweise ein Mörder. Jedenfalls sah er weit mehr wie ein Mörder aus als viele von den Mördern, die Hercule Poirot im Laufe seiner Karriere geschnappt hatte.

Der Boy öffnete die Tür und sagte in die leere Luft: «Mr Pierer?» Poirot zog den richtigen Schluss, dass diese Aufforderung ihm galt, und erhob sich. Er folgte dem Boy zum hinteren Ende der Halle und um die Ecke zu einem kleinen Aufzug, der sie in den zweiten Stock brachte. Dort führte ihn der Boy einen Gang entlang, öffnete die Tür zu einem kleinen Vorzimmer, klopfte an die zweite Tür, öffnete diese, ohne eine Antwort abzuwarten, und trat zurück, um Poirot eintreten zu lassen.

Unter dem Rauschen von fließendem Wasser ging Poirot hinein und entdeckte hinter der Tür Mr Morley, der sich mit berufsmäßiger Gründlichkeit in einem Becken an der Wand die Hände wusch.

Auch im Leben der größten Männer gibt es gewisse demütigende Situationen. Man pflegt zu sagen, dass niemand vor seinem Kammerdiener ein Held ist. Es könnte hinzugefügt werden, dass wenige Männer vor sich selbst Helden sind, wenn sie den Zahnarzt besuchen.

Hercule Poirot war sich dieser Tatsache mit geradezu morbider Schärfe bewusst. Gewöhnlich hatte er eine sehr gute Meinung von sich selbst. Er, Hercule Poirot, war anderen Männern in vielfacher Beziehung überlegen. In diesem Augenblick jedoch war er unfähig, sich in irgendeiner Beziehung überlegen zu fühlen. Seine Moral hatte den Nullpunkt erreicht. Er war jetzt nichts anderes als jenes wohl bekannte feige Wesen: ein Mensch, der sich vor dem Zahnarzt fürchtet.

Mr Morley hatte seine professionellen Waschungen beendet und sagte nun in seinem professionell ermunternden Ton: «Längst nicht warm genug für diese Jahreszeit, nicht wahr?»

Sachte geleitete er den Patienten an den kritischen Ort – zum Behandlungsstuhl! Er spielte gewandt mit der Kopfstütze, die er auf und nieder gleiten ließ.

Hercule Poirot tat einen tiefen Atemzug, stieg hinauf, setzte sich hin und überließ seinen Kopf ergeben den Händen Mr Morleys.

«Haben Sie irgendwelche besonderen Beschwerden?», fragte er.

Etwas undeutlich, da die Bildung der Konsonanten mit offenem Mund ihm Schwierigkeiten bereitete, gab Hercule Poirot zu verstehen, dass keine besonderen Beschwerden zu verzeichnen seien. In der Tat handelte es sich nur um eine der beiden regelmäßigen jährlichen Untersuchungen, die sein Sinn für Ordnung und Reinlichkeit verlangte. Es war natürlich möglich, dass es überhaupt nichts zu tun gab… Vielleicht übersah Mr Morley den zweiten Zahn von hinten, der ihn unlängst so gezwickt hatte… vielleicht – aber nicht wahrscheinlich, denn Mr Morley war ein sehr guter Zahnarzt.

Mr Morley ging langsam von Zahn zu Zahn, klopfte, stocherte und murmelte dazu kleine Bemerkungen.

«Diese Füllung ist ein bisschen abgenützt – nichts Ernstes. Das Zahnfleisch ist erfreulicherweise in recht gutem Zustand.» Aufenthalt an einer verdächtigen Stelle; eine Drehung der Sonde – nein, weiter – falscher Alarm. Jetzt nahm er den Unterkiefer vor. Nummer eins, Nummer zwei – weiter auf Nummer drei? Nein.

«Der Hund», dachte Poirot mit einem wirren Vergleich, «hat den Hasen gewittert!»

«Hier ist eine kleine Stelle. Haben Sie da gar keine Schmerzen gehabt? Hm, merkwürdig.» Die Untersuchung ging weiter. Endlich richtete sich Mr Morley befriedigt auf.

«Alles in allem nichts Ernstes. Bloß zwei Füllungen und eine Spur von Karies an dem einen oberen Backenzahn. Ich glaube, wir können die ganze Arbeit in der heutigen Sitzung erledigen.» Er knipste einen Schalter an, und ein Summen ertönte. Mr Morley nahm den Bohrer vom Haken und setzte mit liebevoller Sorgfalt eine Nadel ein.

«Sagen Sie, wenn es wehtut», befahl er kurz und machte sich an sein furchtbares Werk.

Poirot brauchte von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch zu machen; er brauchte nicht die Hand zu heben, zusammenzuzucken oder gar zu brüllen. Genau im richtigen Augenblick hielt Mr Morley den Bohrer an, erteilte kurz den Befehl «ausspülen», tupfte etwas auf den Zahn, wählte eine neue Nadel und bohrte weiter. Die Folter der Bohrmaschine bestand mehr in der Furcht als im Schmerz. Während Mr Morley die Füllung vorbereitete, wurde das Gespräch aufgenommen.

«Muss heute alles selbst machen», erklärte er. «Miss Nevill ist abberufen worden. Sie erinnern sich doch an Miss Nevill?»

Poirot bejahte die Frage heuchlerisch.

«Musste zu einer kranken Verwandten aufs Land fahren. Solche Sachen passieren immer, wenn gerade viel zu tun ist. Ich bin heute Morgen schon im Rückstand. Der Patient vor Ihnen hat sich verspätet. Sehr unangenehm, wenn so etwas vorkommt. Wirft den ganzen Terminplan um. Dann muss ich noch eine Patientin einschieben, weil sie Schmerzen hat. Für solche Fälle reserviere ich am Vormittag immer eine Extra-Viertelstunde. Immerhin, es verstärkt den Andrang.»

Mr Morley guckte prüfend in seinen kleinen Mörser. Dann nahm er das Gespräch wieder auf.

«Ich werde Ihnen sagen, was ich immer beobachtet habe, Mr Poirot. Die großen Leute, die bedeutenden Leute, halten sich immer genau an die Zeit – lassen einen niemals warten. Fürstlichkeiten zum Beispiel. Äußerst pünktlich. Und mit den großen Geschäftsleuten ist es ebenso. Gerade heute Vormittag kommt ein sehr wichtiger Mann zu mir – Alistair Blunt!»

Mr Morley betonte den Namen mit triumphierendem Klang.

Poirot, der durch mehrere Watteröllchen und ein unter seiner Zunge glucksendes Glasröhrchen am Sprechen gehindert war, gab ein unbestimmtes Geräusch von sich.

Alistair Blunt! Solche Namen waren es, die einen heutzutage erschauern ließen! Nicht Herzöge, Grafen oder Ministerpräsidenten – nein, Alistair Blunt. Ein Mann, dessen Gesicht dem großen Publikum fast unbekannt war, dessen Name nur in einer gelegentlichen kleinen Zeitungsnotiz auftauchte. Keineswegs eine auffallende Erscheinung. Bloß ein stiller, äußerlich durch nichts bemerkenswerter Engländer, der an der Spitze der größten englischen Bankfirma stand.

Ein Mann von ungeheurem Reichtum, ein Mann, dessen Wort Regierungen bildete und stürzte und der doch nur ein ruhiges, bescheidenes Leben führte, der niemals öffentlich auftrat oder Reden hielt. Und doch ein Mann, in dessen Händen höchste Macht lag…

Mr Morleys Stimme klang immer noch ehrfürchtig, als er sich über Poirot beugte und die Füllung in den Zahn presste.

«Kommt zu seinen Sitzungen immer pünktlich auf die Minute. Schickt seinen Wagen oft weg und geht zu Fuß ins Büro zurück. Netter, stiller, anspruchsloser Mensch. Spielt gern Golf und interessiert sich sehr für seinen Garten. Man käme nie auf die Idee, dass der Mann halb Europa aufkaufen könnte, ein ganz einfacher Mensch wie Sie und ich.»

Bei dieser unüberlegten Personenverbindung stieg ein plötzlicher Groll in Poirot auf. Zugegeben, Mr Morley war ein guter Zahnarzt; aber es gab noch andere gute Zahnärzte in London. Es gab jedoch nur einen Hercule Poirot.

«Bitte spülen», gebot Mr Morley. Kritisch schaute er seinem Patienten in den Mund.

«So, das scheint in Ordnung zu sein. Schließen Sie bitte den Mund – langsam. Geht es ganz bequem? Sie spüren die Füllung gar nicht? Bitte nochmals öffnen. Nein, das scheint ganz in Ordnung.»

Das Tischchen schwang zurück, der Sessel drehte sich. Hercule Poirot kletterte herab, ein freier Mann.

«Also, auf Wiedersehen, Mr Poirot. Ich hoffe, Sie haben in meinem Haus keinen Verbrecher aufgespürt?»

Poirot sagte lächelnd: «Vorhin erschien mir jeder wie ein Verbrecher! Jetzt wird sich das vielleicht geändert haben.»

«Ah, ja – vor oder nach dem Zahnarzt: Das macht einen gewaltigen Unterschied! Obwohl wir die Leute heutzutage nicht mehr so quälen wie früher. Soll ich für Sie nach dem Aufzug klingeln?»

«Nein, nein, ich gehe zu Fuß.»

«Wie Sie wollen, der Aufzug ist gleich neben der Treppe.»

Poirot ging hinaus. Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er, wie das Wasser im Waschbecken zu rauschen begann. Er ging die zwei Stockwerke hinunter. Vom letzten Treppenabsatz aus sah er, wie der angloindische Colonel zur Tür geführt wurde.

Der Mann sieht gar nicht so übel aus, dachte Poirot besänftigt. Vermutlich ein ausgezeichneter Schütze, der manchen Tiger erlegt hat. Ein brauchbarer Mann – eine regelrechte Stütze des Empire.

Er betrat das Wartezimmer, um Hut und Stock zu holen, die er dort gelassen hatte. Zu seinem Erstaunen war der unruhige junge Mann immer noch da. Ein weiterer Patient las den Field.

Poirots neuerwachte wohl wollende Stimmung veranlasste ihn, den jungen Mann näher zu betrachten. Er sah immer noch so wild aus, als wolle er einen Mord begehen – aber nicht eigentlich wie ein Mörder, dachte Poirot freundlich. In kurzer Zeit würde dieser junge Mann nach überstandener Folter zweifellos mit vergnügtem Lächeln die Treppe hinabspringen und niemandem etwas Böses wünschen.

Der Boy kam herein und sagte klar und deutlich: «Mr Blunt.»

Der Mann, der am Tisch saß, legte den Field hin und stand auf. Mittelgroß, in mittleren Jahren, weder dick noch mager. Gut angezogen, ruhig. Er verließ hinter dem Boy das Zimmer.

Einer der reichsten und mächtigsten Männer Englands – und doch musste er wie jeder gewöhnliche Mensch zum Zahnarzt gehen und dort dieselben Seelenqualen durchmachen wie jeder andere!

Dieser Gedanke schoss Poirot durch den Kopf, während er Hut und Stock nahm und zur Tür ging. Auf der Schwelle sah er sich noch einmal um und erschrak: Der junge Mann musste in der Tat sehr böse Zahnschmerzen haben!

In der Halle blieb Poirot einen Augenblick vor dem Spiegel stehen, um seinen Schnurrbart in Ordnung zu bringen, der durch Mr Morleys Bemühungen leicht durcheinander geraten war.

Eben hatte er das Werk zu seiner Zufriedenheit vollendet, als der Lift wieder herunterkam und der Boy unter misstönendem Pfeifen aus dem hinteren Teil der Halle auftauchte. Beim Anblick Poirots brach er seine musikalische Darbietung abrupt ab und kam nach vorn, um ihm die Haustür zu öffnen.

In diesem Augenblick fuhr ein Taxi vor, die Tür öffnete sich, und ein weiblicher Fuß wurde sichtbar. Poirot betrachtete den Fuß mit galantem Interesse. Eine schmale Fessel, ein Strumpf von recht guter Qualität. Gar kein schlechter Fuß. Aber der Schuh gefiel ihm nicht. Ein nagelneuer Lackschuh mit einer großen, blitzenden Schnalle. Er schüttelte den Kopf.

Nicht schick – geradezu provinziell!

Als die Dame aus dem Taxi stieg, blieb sie mit dem andern Fuß an der Tür hängen und riss sich dabei die Schnalle ab, die klirrend aufs Pflaster fiel. Ritterlich sprang Poirot hinzu, hob die Schnalle auf und überreichte sie der Eigentümerin mit einer Verbeugung.

O weh! Eher fünfzig als vierzig. Zwicker auf der Nase. Unordentliches, gelblichgraues Haar – ein Kleid, das ihr nicht stand: ein scheußliches, niederdrückendes Grün! Sie dankte ihm: Der Zwicker fiel zu Boden, die Tasche folgte. Poirot, höflich wie immer, wenn auch nicht mehr galant, hob beides auf. Sie ging die Stufen zum Haus Queen Charlotte Street 58 hinauf, und Poirot wandte sich an den Chauffeur, der mürrisch sein mageres Trinkgeld betrachtete. «Sie sind frei, was?»

Der Chauffeur sagte düster: «Ja, ja, ich bin frei.»

«Ich auch», sagte Hercule Poirot. «Frei von allen Sorgen!»

Er bemerkte, dass der Mann ihn mit tiefem Misstrauen ansah. «Nein, lieber Freund, ich bin nicht betrunken. Ich bin nur beim Zahnarzt gewesen und muss erst in sechs Monaten wieder hin. Das ist ein wundervolles Gefühl.»

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