5

Als sie die Totenschau verließen, sagte Japp triumphierend zu Poirot: «Saubere Arbeit, das! Hat die Leute vollkommen verblüfft!»

Poirot nickte.

«Sie, Poirot, sind als erster draufgekommen», lobte Japp. «Aber wissen Sie, ich habe auch meine Zweifel gehabt wegen der Leiche. Schließlich schlägt man einem toten Menschen nicht ohne triftigen Grund das Gesicht kaputt. Und der einzige triftige Grund konnte sein, dass man die Identität verschleiern wollte.» Er fügte großmütig hinzu: «Aber ich wäre nicht so schnell daraufgekommen, dass es gerade die andere Frau war.»

Poirot lächelte.

«Und doch, lieber Freund, waren die beiden Frauen einander äußerlich gar nicht so unähnlich. Mrs Chapman war eine fesche, gut aussehende Person, stark geschminkt und elegant angezogen. Miss Sainsbury Seale war nachlässig gekleidet und hat Lippenstift und Rouge nur vom Hörensagen gekannt. Aber in den wesentlichen Punkten bestand Übereinstimmung zwischen den beiden Frauen. Beide waren in den Vierzigern, beide hatten ungefähr die gleiche Größe und Figur. Beide besaßen angegrautes Haar, das sie blond färbten.»

«Ja, natürlich, da haben Sie Recht. Eines müssen wir zugeben – nämlich, dass die schöne Mabelle uns beide mordsmäßig reingelegt hat. Ich hätte schwören mögen, dass sie das war, wofür sie sich ausgab.»

«Aber lieber Freund, sie war wirklich das, wofür sie sich ausgegeben hat. Wir kennen doch ihre ganze Vergangenheit.»

«Wir haben nicht gewusst, dass sie imstande war, einen Mord zu begehen – und es sieht doch ganz danach aus. Nicht Sylvia hat Mabelle umgebracht, sondern Mabelle Sylvia.»

Hercule Poirot wiegte kummervoll den Kopf. Er konnte sich noch immer nicht mit der Vorstellung abfinden, dass Mabelle Sainsbury Seale eine Mörderin sein sollte. Und doch klang ihm Mr Barnes’ leise, ironische Stimme im Ohr: ‹Sorgen Sie dafür, dass auf die achtbaren Leute aufgepasst wird…›

Mabelle Sainsbury Seale war äußerst achtbar gewesen.

Mit Nachdruck schloss Japp: «Ich werde diesen Fall bis zum bitteren Ende verfolgen, Poirot. Dieses Frauenzimmer wird mich nicht mehr reinlegen.»

Am nächsten Tag rief Japp an. Seine Stimme klang sonderbar: «Poirot, wollen Sie das Neueste hören? Es ist aus, mein Lieber. Aus!»

«Pardon? Die Verbindung scheint nicht gut zu sein. Ich habe nicht ganz verstanden.»

«Es ist aus, alter Freund. A-U-S. Wir können einpacken! Uns hinsetzen und die Daumen drehen!»

Seine Stimme klang jetzt unverkennbar erbittert.

«Was ist aus?»

«Unser ganzer lausiger, verdammter Fall! Die Suche nach der vermissten Person! Das ganze Drum und Dran!»

«Aber ich verstehe immer noch nicht…»

«Also hören Sie zu, und zwar genau, denn ich kann keine Namen nennen. Sie wissen, dass wir überall nach – nach dieser Miss… suchen, und jetzt ist die ganze Aktion abgeblasen. Die Jagdhunde werden zurückgepfiffen – verstehen Sie jetzt?»

«Ja, ja. Aber warum?»

«Befehl vom lieben guten Auswärtigen Amt.»

«Das ist aber doch sehr ungewöhnlich?»

«Nun, dann und wann kommt so was schon vor.»

«Warum ist man so rücksichtsvoll gegen – gegen den Pelzmantel?»

«Um die dreht es sich nicht. Die ist ihnen ganz egal. Aber man will es nicht zu einem Prozess kommen lassen, weil man Angst hat, dass dann zu viel über Mrs A. C. bekannt wird – über die Leiche! Ich kann nur annehmen, dass der Ehemann – A. C, verstehen Sie…?»

«Ja, ja, gewiss.»

«Dass der Ehemann irgendwo im Ausland zur Zeit an einer kitzligen Sache arbeitet und nicht gestört werden soll.»

«Tsch!»

«Was sagen Sie?»

«Es war, mon ami, ein Ausruf des Verdrusses.»

«Aha – ich dachte, Sie hätten sich einen Schnupfen geholt! Verdruss ist gut! Ich möchte lieber ein stärkeres Wort gebrauchen. Dass man die Dame einfach laufen lässt, reizt mich bis zur Weißglut.»

Poirot sagte leise: «Man wird sie nicht laufen lassen.»

«Ich sage Ihnen doch, dass uns die Hände gebunden sind…!»

«Ihnen vielleicht – mir nicht.»

«Braver alter Poirot! Sie wollen die Sache weiterverfolgen?»

«Mais oui – bis zum Tod!»

«Nun – sorgen Sie nur dafür, dass es nicht Ihr eigener ist, alter Freund! Wenn die Geschichte so weitergeht, wie sie angefangen hat, dann wird Ihnen wahrscheinlich demnächst jemand ein Paket mit einer Giftschlange schicken!»

Als Poirot den Hörer auflegte, fragte er sich: «Warum habe ich nur diese dramatische Phrase gebraucht ‹bis zum Tod›? Vraiment – absurd!»

Der Brief kam mit der Abendpost. Er war mit der Maschine geschrieben, bis auf die Unterschrift:

Lieber M. Poirot!

Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich morgen aufsuchen könnten. Ich habe vielleicht einen Auftrag für Sie. Ich schlage vor, dass Sie um halb eins in meine Wohnung am Chelsea Embankment kommen. Sollte Ihnen diese Zeit nicht passen, bitte ich Sie, telefonisch einen anderen Termin mit meinem Sekretär zu vereinbaren. Verzeihen Sie, dass ich Sie so kurzfristig bemühen muss.

Ihr ergebener Alistair Blunt

Poirot strich den Bogen glatt und las den Brief zum zweiten Mal. In diesem Augenblick läutete das Telefon.

Eine unpersönliche Stimme fragte: «Welche Nummer haben Sie?»

«Hier ist Whitehall 7272.»

Eine Pause. Ein Knacken. Dann eine Stimme. Eine weibliche Stimme.

«M. Poirot?»

«Ja.»

«M. Poirot, Sie haben einen Brief erhalten – oder werden ihn sehr bald erhalten.»

«Wer ist dort?»

«Es ist unnötig, dass Sie das wissen.»

«Gut. Ich habe, Madame, mit der Abendpost acht Briefe und drei Rechnungen erhalten.»

«Dann wissen Sie, welchen Brief ich meine. Wenn Sie klug sind, M. Poirot, werden Sie den Auftrag ablehnen, den man Ihnen erteilen will.»

«Das, Madame, ist eine Frage, die ich selbst zu entscheiden habe.»

Die Stimme sagte kühl: «Ich warne Sie, M. Poirot. Ihre Einmischung wird nicht länger geduldet. Halten Sie sich aus der Sache raus.»

«Und wenn ich mich nicht raushalte?»

«Dann werden wir Maßnahmen ergreifen, um zu erreichen, dass Ihre Einmischung nicht mehr zu befürchten ist…»

«Das ist eine Drohung, Madame!»

«Wir verlangen nichts anderes, als dass Sie Vernunft annehmen. Es ist zu Ihrem eigenen Besten.»

«Sie sind wirklich großmütig!»

«Sie können den vorgezeichneten Gang der Ereignisse nicht ändern. Kümmern Sie sich also nicht um Dinge, die Sie nichts angehen. Verstehen Sie mich?»

«Gewiss verstehe ich Sie. Ich bin nur der Meinung, dass Mr Morleys Tod mich angeht.»

«Morley war nur eine Nebenfigur. Er hat unsere Pläne gestört.»

«Er war immerhin ein Mensch, Madame – und ist vor seiner Zeit gestorben.»

«Er war bedeutungslos.»

Poirots Stimme klang gefährlich, als er ruhig sagte: «In diesem Punkt irren Sie sich…»

«Es war seine eigene Schuld. Er weigerte sich, Vernunft anzunehmen.»

«Ich weigere mich ebenfalls, Vernunft anzunehmen.»

«Dann sind Sie ein Narr.»

Es knackte im Apparat; am anderen Ende war der Hörer aufgelegt worden.

Poirot rief «Allo?» und legte dann seinerseits auf. Er machte sich nicht die Mühe, durch die Zentrale ermitteln zu lassen, woher der Anruf gekommen war. Er war ziemlich sicher, dass er von einem öffentlichen Fernsprecher aus geführt worden war.

Was ihn beschäftigte und verwirrte, war, dass er sich einbildete, die Stimme schon irgendwo gehört zu haben. Er zermarterte sich das Gehirn in dem vergeblichen Versuch, sich ihrer Besitzerin zu erinnern. Konnte es die Stimme von Sainsbury Seale sein?

Mabelle Sainsbury Seale hatte eine hohe, affektierte Stimme mit übertrieben deutlicher Aussprache gehabt. Die Stimme am Telefon hatte ganz anders geklungen – und doch war es vielleicht Miss Sainsbury Seale gewesen, nur verstellt. Sie war ja einmal Schauspielerin gewesen. Vermutlich machte es ihr keine großen Schwierigkeiten, die Stimme zu verstellen.

Aber diese Erklärung befriedigte ihn nicht. Nein, die Stimme erinnerte ihn an eine andere Frau. Es war keine Stimme, die er gut kannte, aber er war immer noch überzeugt, sie schon einmal – oder vielleicht zweimal – gehört zu haben.

Warum – so überlegte er – hatte sie sich die Mühe gemacht, ihn anzurufen und ihm zu drohen? Glaubten diese Leute wirklich, dass er sich einschüchtern lassen würde? Schlechte Psychologen!

Im Gotischen Haus wurde Poirot vom Sekretär Alistair Blunts empfangen, einem hoch gewachsenen, etwas schlaffen jungen Mann mit vollendeten Umgangsformen.

Er entschuldigte sich liebenswürdig.

«Es tut mir außerordentlich Leid, M. Poirot – und Mr Blunt gleichfalls. Er ist ins Außenministerium gerufen worden. Ich habe bei Ihnen zu Hause angerufen, aber leider waren Sie schon fort.»

Der junge Mann sprach rasch weiter. «Mr Blunt hat mich beauftragt, Sie zu bitten, das Wochenende mit ihm in seinem Landhaus in Kent zu verbringen. Sie wissen: Exsham. Falls es Ihnen passt, würde er Sie morgen Abend mit dem Wagen abholen.»

Poirot zögerte.

Der junge Mann sagte in überredendem Ton: «Es liegt Mr Blunt wirklich sehr viel daran, mit Ihnen zu sprechen.»

Hercule Poirot neigte den Kopf.

«Danke. Ich nehme die Einladung an.»

«Ah, das ist famos. Mr Blunt wird entzückt sein. Wenn er Sie morgen um etwa Viertel vor sechs abholen würde, wäre das – oh, guten Morgen, Mrs Olivera.»

Jane Oliveras Mutter war eingetreten. Sie war sehr elegant angezogen; auf ihrer kunstvoll gebauten Frisur balancierte schräg ein Hut, der das eine Auge fast verdeckte.

«Mr Selby, hat Ihnen Mr Blunt wegen der Gartenstühle Bescheid gesagt? Ich wollte gestern Abend mit ihm darüber sprechen, weil ich wusste, dass wir übers Wochenende hinausfahren, und…»

Mrs Olivera bemerkte Poirots Anwesenheit und verstummte.

«Darf ich Sie Mrs Olivera vorstellen, M. Poirot?»

«Ich hatte schon das Vergnügen, Madame kennen zu lernen.»

Poirot machte eine Verbeugung.

Mrs Olivera sagte zerstreut: «Oh – guten Tag. Mr Selby, ich weiß natürlich, dass Alistair ein viel beschäftigter Mann ist, und dass diese kleinen häuslichen Dinge ihm vielleicht unwichtig vorkommen.»

«Es ist alles in Ordnung, Mrs Olivera», entgegnete Selby. «Ich habe bei der Firma Deevers wegen der Stühle angerufen.»

«So – da fällt mir aber ein Stein vom Herzen. Nun etwas anderes, Mr Selby: Können Sie mir sagen…» Mrs Olivera gackerte weiter. Sie kam Poirot vor wie eine Henne. Eine große, fette Henne. Immer noch gackernd, bewegte sie sich majestätisch auf die Tür zu.

«… und wenn Sie bestimmt wissen, dass wir dieses Wochenende ganz unter uns sind…»

Mr Selby hustete.

«Äh – M. Poirot kommt ebenfalls zum Wochenende hinaus.»

Mrs Olivera brach ab. Sie drehte sich um und betrachtete Poirot mit sichtlichem Missfallen.

«So? Wirklich?»

«Mr Blunt war so liebenswürdig, mich einzuladen», erklärte Poirot höflich.

«Also, das wundert mich – das ist doch sehr sonderbar von Alistair. Sie werden verzeihen, M. Poirot, aber Mr Blunt hat mir ausdrücklich gesagt, dass er diesmal das Wochenende nur im Familienkreis zu verbringen wünschte.»

Selby sagte mit fester Stimme: «Mr Blunt liegt besonders viel daran, dass M. Poirot mit nach Exsham kommt.»

«Tatsächlich? Mir gegenüber hat er nichts davon erwähnt.»

Die Tür ging auf. Jane erschien und sagte ungeduldig: «Mutter, kommst du nicht? Wir sind auf Viertel nach eins zum Mittagessen verabredet.»

«Ich komme schon, Jane. Sei nicht so ungeduldig.»

«Mach schnell, um Himmels willen – hallo, M. Poirot!»

Sie war plötzlich ganz still. Ihr Gesicht erstarrte, und ihre Augen verrieten, dass sie auf der Hut war.

Mrs Olivera sagte mit eisiger Stimme: «M. Poirot kommt zum Wochenende nach Exsham hinaus.»

«Aha.»

Jane Olivera trat zurück und ließ ihre Mutter durch die Tür gehen. Sie schien ihr folgen zu wollen, drehte sich dann aber rasch herum.

«M. Poirot!»

Es klang wie ein Befehl.

Poirot ging quer durchs Zimmer zu ihr hin.

Sie sagte leise: «Sie kommen mit nach Exsham? Warum?»

Poirot zuckte die Achseln.

«Es war ein liebenswürdiger Einfall Ihres Onkels.»

Jane sagte: «Aber er kann doch nicht wissen… er kann nicht… – Wann hat er Sie denn eingeladen? Ach, es ist doch nicht notwendig…»

«Jane!» Mrs Olivera rief aus der Halle.

Jane sagte in leisem, beschwörendem Ton: «Bleiben Sie weg. Bitte, kommen Sie nicht.»

Sie ging hinaus. Poirot hörte, wie sich draußen eine Auseinandersetzung abspielte.

«Ich kann deine Frechheit wirklich nicht länger dulden, Jane… Ich werde Maßnahmen ergreifen, damit du dich nicht mehr einmischst…»

Der Sekretär sagte: «Dann also morgen Abend, kurz vor sechs, M. Poirot?»

Poirot nickte mechanisch. Er stand da wie jemand, der ein Gespenst gesehen hat. Aber es waren die Ohren, nicht die Augen, durch die er den Schlag empfangen hatte. Zwei von den Sätzen, die durch die offene Tür zu ihm gedrungen waren, stimmten fast wörtlich mit dem überein, was er am Abend zuvor am Telefon gehört hatte – und er wusste jetzt, wieso ihm die Stimme bekannt vorgekommen war.

Als er in den Sonnenschein hinaustrat, schüttelte er fassungslos den Kopf. Mrs Olivera? Aber das war doch unmöglich! Es konnte nicht Mrs Olivera gewesen sein, die am Telefon zu ihm gesprochen hatte!

Diese hohlköpfige Gesellschaftshyäne – egoistisch, dumm, habgierig? Wie hatte er sie eben im Stillen genannt? «Diese große, fette Henne? C’est ridicule!» murmelte er.

Seine Ohren, entschied er, mussten ihn getäuscht haben. Und trotzdem…

Der Rolls-Royce holte Poirot pünktlich vor sechs ab. Alistair Blunt und sein Sekretär waren die einzigen Insassen. Mrs Olivera und Jane waren mit dem anderen Wagen schon früher hinausgefahren.

Die Fahrt verlief ereignislos. Blunt erzählte ein bisschen von seinem Garten und von einer kürzlich veranstalteten Blumenausstellung. Und dann bat er Poirot, ihm von seinen interessantesten Kriminalfällen zu erzählen. Für den Rest der Fahrt drehte sich die Unterhaltung um die bedeutendsten Fälle in der Karriere Hercule Poirots. Blunt verschlang gierig wie irgendein Schuljunge jede Einzelheit, die er darüber erfahren konnte.

Die behagliche Stimmung schwand, sobald sie in Exsham waren. Mrs Olivera strahlte eisige Missbilligung aus. Sie übersah Poirot so weit wie möglich und richtete das Wort ausschließlich an den Gastgeber und den Sekretär.

Mr Selby führte Poirot in das für ihn bestimmte Zimmer. Das Haus war reizend, nicht sehr groß, und mit demselben unauffälligen guten Geschmack eingerichtet, den Poirot schon in London bewundert hatte. Alles war kostbar, aber einfach. Die Bedienung war musterhaft, die Küche englisch, und die Weine, die bei Tisch getrunken wurden, bewogen Poirot zu geradezu leidenschaftlicher Anerkennung. Es gab eine ausgezeichnete klare Suppe, gebratene Seezunge, Hammelrücken mit jungen Erbsen und Erdbeeren mit Schlagrahm.

Poirot genoss diese kreatürlichen Freuden mit solcher Hingabe, dass er sich um die unverändert eisige Haltung von Mrs Olivera und die ungehörige Schroffheit ihrer Tochter kaum kümmerte. Jane begegnete ihm aus irgendeinem Grunde mit entschiedener Feindseligkeit. Warum wohl? fragte sich Poirot verwirrt, als das Abendessen seinem Ende zuging.

Blunt ließ den Blick mit sanftem Erstaunen über den Tisch schweifen und fragte: «Speist Helen heute Abend nicht mit uns?»

Julia Olivera presste die Lippen zu einem geraden Strich zusammen und sagte: «Die gute Helen hat sich, glaube ich, im Garten überanstrengt. Ich fand, es würde ihr weit besser tun, sich ins Bett zu legen und auszuruhen, als sich umzuziehen und zum Essen herüberzukommen. Sie hat es vollkommen eingesehen.»

«Aha, ich verstehe.» Blunt machte ein unbestimmtes, etwas überraschtes Gesicht. «Ich dachte, sie würde zum Wochenende gern etwas Abwechslung haben.»

«Helen ist ein so einfacher Mensch. Sie geht gern früh zu Bett.»

Als Poirot sich in den Salon zu den Damen begab, während Blunt zurückblieb, um ein paar Minuten mit seinem Sekretär zu sprechen, hörte er, wie Jane Olivera zu ihrer Mutter sagte: «Die Art, wie du Helen Montressor abgeschoben hast, war Onkel Alistair gar nicht recht, Mutter.»

«Unsinn», antwortete Mrs Olivera unbekümmert. «Alistair ist nur zu gutmütig. Arme Verwandte sind ja schön und gut – es ist sehr großzügig von ihm, dass er ihr das Bauernhäuschen ohne Miete überlässt, aber zu glauben, dass er sie nun jedes Wochenende zum Abendessen einladen muss, ist albern! Sie ist doch nur eine Cousine zweiten Grades oder so etwas. Ich bin der Meinung, dass Alistair nicht ausgenützt werden sollte!»

«In ihrer Art ist sie stolz», sagte Jane. «Sie arbeitet viel im Garten.»

«Das zeigt, dass sie die richtige Auffassung von ihrer Stellung hat», erklärte Mrs Olivera zufrieden. «Die Schotten sind sehr selbständig und werden deshalb auch geachtet.» Sie machte es sich auf dem Sofa bequem und fuhr fort, ohne von Poirot Notiz zu nehmen: «Bring mir doch einmal die Low Down Review, Liebes. Es steht etwas drin über Lois von Schuyler und ihren marokkanischen Führer – das möchte ich lesen.»

Alistair Blunt erschien in der Tür: «Wenn Sie jetzt bitte in mein Zimmer kommen würden, M. Poirot!», sagte er.

Es war ein gemütliches Zimmer mit tiefen Sesseln und Diwans; angenehme Unordnung herrschte, die es um so wohnlicher erscheinen ließ. Selbstverständlich hätte Hercule Poirot eine größere Symmetrie vorgezogen.

Blunt bot seinem Gast eine Zigarette an, entzündete seine Pfeife und kam ohne Umschweife zum Thema.

«Da sind noch verschiedene Dinge, über die ich mir den Kopf zerbreche. Ich meine natürlich den Fall Sainsbury Seale. Aus Gründen, die ich nicht kenne, die aber zweifellos gerechtfertigt sind, haben die Behörden die Jagd abgeblasen. Ich weiß nicht genau, wer Albert Chapman ist und was er treibt – aber jedenfalls scheint seine Tätigkeit ziemlich wichtig zu sein und zu den Dingen zu gehören, die den Betreffenden leicht in eine schwierige Lage bringen können. Die näheren Umstände sind mir unbekannt, aber der Premierminister hat mir angedeutet, dass die Öffentlichkeit nichts über die Sache erfahren darf und dass es umso besser ist, je rascher der Fall aus dem Gedächtnis des Publikums verschwindet. Das alles finde ich vollkommen in Ordnung. Die Behörden nehmen nun einmal diesen Standpunkt ein, und sie wissen, was notwendig ist. Infolgedessen sind der Polizei die Hände gebunden.»

Er beugte sich vor.

«Aber ich möchte die Wahrheit wissen, M. Poirot. Und Sie sind der Mann, der die Wahrheit für mich ergründen kann. Sie sind durch keine offiziellen Rücksichten behindert.»

«Was wünschen Sie, dass ich tun soll, Mr Blunt?»

«Ich wünsche, dass Sie diese Frau finden – Sainsbury Seale.»

«Lebend oder tot?»

Blunt erhob erstaunt die Augenbrauen.

«Sie halten es für möglich, dass sie tot ist?»

Hercule Poirot schwieg einige Augenblicke, dann sagte er langsam und mit Nachdruck: «Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Ja, ich glaube, dass sie tot ist.»

«Warum nehmen Sie das an?»

Hercule Poirot lächelte leicht.

«Es wird Ihnen albern vorkommen: Weil ich ein Paar ungetragene Strümpfe meiner Schublade gefunden habe.»

Alistair Blunt starrte ihn verwundert an.

«Sie sind ein seltsamer Mensch, M. Poirot.»

«Ich bin sehr seltsam. Das heißt, ich bin ordentlich, methodisch und logisch, und ich liebe es nicht, Tatsachen zu verdrehen, um eine Theorie zu stützen – das ist, wie ich leider feststellen muss, wirklich ungewöhnlich…»

Alistair Blunt sagte: «Ich habe mir die ganze Sache durch den Kopf gehen lassen – brauche immer eine Weile, bis ich etwas durchdacht habe. Und diese Geschichte ist so verdammt sonderbar! Ich meine – erst erschießt sich dieser Zahnarzt, dann wird diese Mrs Chapman mit zerschmettertem Gesicht in ihre eigene Pelztruhe gesteckt… Widerlich! Verdammt widerlich! Ich kann mir nicht helfen, aber es muss doch etwas dahinterstecken.»

Poirot nickte.

Blunt fuhr fort: «Und wissen Sie: Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass die Seale meiner Frau nie begegnet ist. Das war einfach ein Vorwand, um mich anzusprechen. Aber wozu? Was hat sie davon gehabt? Ich meine – was hatte sie davon, außer einem kleinen Geldbetrag? Trotzdem habe ich das Gefühl, als sei das Zusammentreffen mit mir bewusst herbeigeführt worden. Es hat so verdächtig gut geklappt! Aber warum? Das frage ich mich immerzu: warum?»

«Ja, das ist tatsächlich die Hauptfrage: warum? Ich habe mich das auch gefragt – und ich kann es nicht verstehen.»

«Sie machen sich gar keine bestimmten Ideen über die Sache?»

Poirot schüttelte den Kopf.

«Meine Ideen sind im höchsten Maße kindisch. Ich sage mir, es sei vielleicht eine List gewesen, um jemanden auf Ihre Person aufmerksam zu machen – um sozusagen mit dem Finger auf Sie zu weisen. Aber auch das ist albern, denn Sie sind eine ziemlich bekannte Erscheinung, und jedenfalls wäre es viel einfacher gewesen zu sagen: ‹Schau, das ist er – der Mann, der jetzt zur Tür hineingeht.›»

«Warum sollte jemand auf meine Person aufmerksam gemacht werden?»

«Mr Blunt, versetzen Sie sich noch einmal zurück an den betreffenden Vormittag beim Zahnarzt. Hat Morley gar nichts gesagt, was Ihnen ungewöhnlich vorgekommen ist? Können Sie sich an nichts erinnern, was uns als Spur dienen könnte?»

Blunt dachte angestrengt nach. Dann schüttelte er den Kopf.

«Es tut mir Leid. Mir fällt nicht das Geringste ein.»

«Sind Sie ganz sicher, dass er die Frau nicht erwähnt hat – Miss Sainsbury Seale?»

«Ganz sicher.»

«Auch nicht die andere – Mrs Chapman?»

«Nein, nein – wir haben überhaupt nicht von Menschen gesprochen. Nur von Rosen, von Gärten, die Regen nötig haben, und von Ferien – von nichts anderem.»

«Und niemand ist während Ihrer Anwesenheit ins Zimmer gekommen?»

«Warten Sie – nein, ich glaube nicht. Sonst war immer eine junge Dame da, eine Blondine. Aber an dem Tag habe ich sie nicht gesehen. Oh, jetzt erinnere ich mich: Ein zweiter Zahnarzt ist für einen Augenblick hereingekommen – dem Akzent nach anscheinend ein Ire.»

«Und was sagte oder tat er?»

«Er fragte Morley etwas und ging gleich wieder hinaus. Er war nur ganz kurz im Sprechzimmer.»

«Und sonst können Sie sich auf nichts besinnen? Auf gar nichts?»

«Nein, Morley hat sich ganz normal benommen.»

Hercule Poirot murmelte nachdenklich: «Ja, ich fand ihn auch ganz normal.»

Es entstand eine längere Pause. Dann fragte Poirot: «Können Sie sich an einen jungen Mann erinnern, der mit Ihnen unten im Wartezimmer war?»

Alistair Blunt runzelte die Stirn.

«Warten Sie einmal – ja, ich entsinne mich – ein ziemlich unruhiger junger Mann. Aber etwas Besonderes ist mir an ihm nicht aufgefallen. Warum fragen Sie?»

«Würden Sie ihn wieder erkennen, wenn Sie ihn sähen?»

Blunt schüttelte den Kopf.

«Ich habe ihn kaum angeschaut.»

«Versuchte er nicht, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen?»

«Nein.» Blunt sah Poirot mit unverhüllter Neugierde an. «Worauf wollen Sie hinaus? Wer war der junge Mann?»

«Er heißt Howard Raikes.»

Poirot passte scharf auf, wie Blunt reagieren würde; aber es erfolgte nichts.

«Kenne ich den Namen? Habe ich den Mann schon irgendwo getroffen?»

«Ich glaube nicht, dass Sie ihm schon begegnet sind. Er ist ein Freund Ihrer Nichte, Miss Olivera.»

«Aha, einer von Janes Freunden.»

«Ihre Mutter hält, soviel ich weiß, nicht sehr viel von dieser Freundschaft.»

Blunt sagte geistesabwesend: «Ich kann mir nicht denken, dass das auf Jane großen Eindruck macht.»

«Mrs Olivera hat sogar so ernste Einwände gegen diese Freundschaft, dass sie ihre Tochter aus Amerika nach England gebracht hat, um sie von diesem jungen Mann zu trennen.»

«Oh!» Nun hatte Blunt begriffen. «Der war das also!»

«Aha, jetzt fangen Sie an, Interesse zu bekommen!»

«Ich halte ihn für einen in jeder Beziehung höchst unliebsamen Burschen. Ist in alle möglichen umstürzlerischen Aktionen verwickelt.»

«Von Miss Olivera habe ich gehört, dass er an dem betreffenden Vormittag nur zu dem Zweck in die Queen Charlotte Street gegangen ist, um Sie zu sehen.»

«Und um mich zu bewegen, Gefallen an ihm zu finden?»

«Nun – nicht ganz –, die Absicht war eher, dass er bewogen werden sollte, an Ihnen Gefallen zu finden.»

Alistair Blunt sagte empört: «Das ist ja wohl der Gipfel der Frechheit!»

Poirot unterdrückte ein Lächeln.

«Anscheinend verkörpern Sie so ungefähr alles, was er ablehnt.»

«Ganz bestimmt gehört er zu der Sorte junger Leute, die ich ablehne! Vertrödelt seine Zeit damit, große politische Reden zu halten und das Blaue vom Himmel herunterzuschwätzen, anstatt irgendeine ordentliche Arbeit anzupacken!»

«Würden Sie mir erlauben, eine unverschämte und sehr persönliche Frage an Sie zu richten?», bat Poirot nach einer kleinen Pause.

«Schießen Sie los.»

«Wie sehen, für den Fall Ihres Todes, Ihre testamentarischen Verfügungen aus?»

Blunt starrte ihn an.

«Warum wollen Sie das wissen?»

«Weil – immerhin eine schwache Möglichkeit besteht» – Poirot zuckte die Achseln – «dass dies für unseren Fall wichtig ist.»

«Unsinn!»

«Vielleicht – vielleicht auch nicht.»

Alistair Blunt sagte kalt: «Ich denke, Sie sind unnötig dramatisch, M. Poirot. Niemand hat versucht, mich zu ermorden oder dergleichen.»

«Eine Bombe am Frühstückstisch – ein Schuss auf der Straße…»

«Ach, diese Dinge! Ein Mann, der in der internationalen Hochfinanz mitmischt, wird immer derartigen kleinen Aufmerksamkeiten von verrückten Fanatikern ausgesetzt sein!»

«Es kann sich auch um jemanden handeln, der nicht fanatisch und nicht verrückt ist.»

Blunt machte große Augen.

«Worauf wollen Sie hinaus…?»

«In nüchternen Worten möchte ich gern wissen, wer aus Ihrem Tod Nutzen zieht.»

Blunt lachte.

«Hauptsächlich das St. Edward’s Hospital, das Krebskrankenhaus und das Königliche Blindeninstitut.»

«Aha!»

«Außerdem habe ich einen bestimmten Geldbetrag meiner angeheirateten Nichte, Mrs Julia Olivera, vermacht; einen gleich hohen Betrag – der aber treuhänderisch zu verwalten ist – ihrer Tochter, Jane Olivera; und schließlich ein namhaftes Legat meiner einzigen noch lebenden Blutsverwandten, einer Cousine, Helen Montressor, die in sehr schlechten Verhältnissen ist und hier auf dem Besitz ein kleines Bauernhaus bewohnt.»

Er hielt inne und sagte: «Das alles, M. Poirot, ist streng vertraulich.»

«Natürlich, Monsieur, natürlich.»

In spöttischem Ton fügte Blunt hinzu: «Ich hoffe, Sie wollen nicht behaupten, M. Poirot, dass Julia oder Jane Olivera oder meine Cousine Helen Montressor mich um meines Geldes willen umzubringen beabsichtigen?»

«Ich behaupte nichts – gar nichts.»

Blunts leichte Gereiztheit verflog wieder. Er fragte: «Und meinen Auftrag nehmen Sie an?»

«Die Suche nach Miss Sainsbury Seale? Jawohl.»

«Bravo!», sagte Alistair Blunt herzlich.

Beim Verlassen des Zimmers stieß Poirot um ein Haar mit Jane zusammen.

«Ich bitte um Entschuldigung, Mademoiselle», sagte er höflich.

Jane Olivera trat etwas zur Seite.

«Wissen Sie, was ich über Sie denke, M. Poirot?»

«Eh bien, Mademoiselle…»

Sie ließ ihn nicht ausreden. Ihre Frage hatte nur rein rhetorischen Wert besessen. Jane Olivera war im Begriff, selbst darauf zu antworten.

«Sie sind ein Spitzel – das sind Sie! Ein elender, niedriger, gemeiner Spitzel, der seine Nase in alles steckt und nichts als Verwirrung stiftet!»

«Ich versichere Ihnen, Mademoiselle…»

«Ich weiß genau, worauf Sie es abgesehen haben! Und ich weiß jetzt auch, wie Sie lügen! Warum geben Sie es nicht offen zu? Aber eines kann ich Ihnen sagen: Sie werden nichts, gar nichts herausbekommen! Es gibt für Sie nichts herauszubekommen! Niemand hat die Absicht, meinem werten Onkel auch nur ein Haar zu krümmen. Dem passiert nichts. Dem wird nie etwas passieren. Frisch und gesund, korrekt, wohlhabend – und voll von Gemeinplätzen! Er ist nichts als ein stumpfsinniger John Bull – ohne ein Gramm Phantasie oder Weitblick!»

Sie senkte ihre wohlklingende Stimme und zischte hasserfüllt: «Ich kann Ihren Anblick nicht ertragen – Sie verdammter kleiner Bourgeois-Detektiv!» Und sie rannte fluchtartig davon.

Hercule Poirot blieb mit weit aufgerissenen Augen und hochgezogenen Brauen stehen; seine Hand spielte nachdenklich am Schnurrbart.

Die Bezeichnung «Bourgeois» passte gut auf ihn – das musste er zugeben. Seine Lebensphilosophie war durchaus bürgerlich – war es immer gewesen. Aber dass die elegante und gepflegte Jane Olivera dieses Wort anwandte, um ihre Verachtung für ihn auszudrücken, gab ihm zu denken.

Immer noch in Gedanken versunken, ging er in den Salon. Mrs Olivera war gerade dabei, eine Patience zu legen. Sie schaute auf, als Poirot hereinkam, ließ flüchtig einen Blick über ihn gleiten, als betrachte sie einen besonders unappetitlichen Käfer, und murmelte zerstreut: «Roter Bube auf schwarze Dame.»

Wie ein begossener Pudel zog Poirot sich zurück. Er überlegte traurig: «Ach, es scheint, dass mich hier niemand mag!»

Er schlenderte durch die Glastür hinaus in den Garten. Es war ein herrlicher Abend, erfüllt vom Duft der nächtlich atmenden Büsche und Sträucher. Poirot schnüffelte und schlug einen Weg ein, der zwischen zwei hohen Hecken verlief.

Hercule Poirot bog um eine Ecke, und zwei Gestalten fuhren auseinander. Offenbar hatte er ein Liebespaar gestört. Hastig kehrte er um und ging den gleichen Weg zurück. Sogar hier draußen war er anscheinend überflüssig. Er kam an Alistair Blunts Fenster vorbei; Blunt diktierte Mr Selby. Es schien letzten Endes nur einen einzigen Aufenthaltsort für Hercule Poirot zu geben: Er ging zu Bett. Aber noch eine ganze Weile dachte er über die verschiedenen phantastischen Aspekte nach, die die Lage bot.

Hatte er sich geirrt, als er in der Stimme am Telefon Mrs Olivera zu erkennen glaubte? Oder hatte er sich nicht geirrt? Der Gedanke war absurd!

Er rief sich die dramatischen Enthüllungen des stillen, kleinen Mr Barnes ins Gedächtnis zurück und stellte Mutmaßungen an über die geheimnisvollen Wege des Mr QX 912, alias Albert Chapman.

Mit plötzlichem Unbehagen erinnerte er sich an den ängstlichen Blick des Stubenmädchens Agnes. Es war immer dasselbe: Die Leute wollten mit einzelnen Dingen nicht herausrücken! Meist waren es ganz unwichtige Dinge; aber solange sie nicht aus dem Weg geräumt waren, kam man nicht vorwärts. Und was lag augenblicklich nicht alles auf seinem Weg!

Was ihn am meisten am klaren Denken und methodischen Fortschreiten hinderte, war das widerspruchsvolle und unlösbare Problem Sainsbury Seale. Denn wenn die Tatsachen stimmten, die Hercule Poirot festgestellt hatte, dann ergab überhaupt nichts mehr einen Sinn! Poirot fragte sich, voll Erstaunen über seine eigene Frage: «Könnte es sein, dass ich alt werde?»

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