2

Es war Viertel vor drei, als das Telefon läutete.

Hercule Poirot saß gerade in seinem Lehnstuhl und verdaute zufrieden ein ausgezeichnetes Mittagsmahl. Er rührte sich nicht, als das Klingelzeichen ertönte, sondern wartete darauf, dass der treue George erscheinen und das Gespräch entgegennehmen würde.

«Eh bien?», fragte er, als George: «Einen Augenblick» murmelte und den Hörer senkte.

«Es ist Chefinspektor Japp.»

«Aha!» Poirot hob den Hörer ans Ohr. «Eh bien, mon vieux», sagte er. «Wie geht es?»

«Sind Sie es, Poirot?»

«Natürlich.»

«Ich höre, Sie sind heute früh beim Zahnarzt gewesen? Stimmt das?»

«Scotland Yard erfährt alles», murmelte Poirot.

«Bei einem gewissen Morley, Queen Charlotte Street 58?»

«Ja.» Poirots Stimme hatte sich verändert. «Warum?»

«Es war ein richtiger Besuch beim Zahnarzt, ja? Ich meine – Sie sind nicht hingegangen, um etwas herauszukriegen oder so?», fuhr Chefinspektor Japp fort.

«Keineswegs. Wenn Sie es genau wissen wollen: Er hat mir drei Füllungen gemacht», antwortete Poirot.

«Was für einen Eindruck haben Sie von ihm gehabt? Hat er sich so benommen wie immer?»

«Doch, das möchte ich eigentlich behaupten. Warum?»

Japps Stimme war von berufsmäßiger Kühle.

«Weil er sich kurz darauf erschossen hat.»

«Was?»

Japp fragte scharf: «Das überrascht Sie?»

«Offen gestanden: ja.»

«Ich sehe in der Sache nicht ganz klar», sagte Japp. «Würde gern mit Ihnen darüber sprechen. Sie können wohl nicht vorbeikommen, oder?»

«Wo sind Sie denn?»

«In der Queen Charlotte Street.»

«Ich komme sofort!», erwiderte Poirot.

Die Haustür von Nummer 58 wurde von einem Polizisten geöffnet. Er fragte respektvoll: «M. Poirot?»

«Jawohl!»

«Der Chefinspektor ist oben im zweiten Stock. Sie wissen, wo?»

«Ich war heute Vormittag da.»

Drei Männer befanden sich im Zimmer. Japp schaute auf, als Poirot hereinkam.

«Freue mich, Sie zu sehen, Poirot. Wir wollen ihn gerade abtransportieren. Möchten Sie ihn vorher sehen?»

Ein Mann mit einer Kamera, der neben der Leiche gekniet hatte, stand auf. Poirot trat vor. Die Leiche lag in der Nähe des Kamins. Mr Morley sah im Tod fast so aus, wie er im Leben ausgesehen hatte. Knapp unter seiner rechten Schläfe saß ein kleines, geschwärztes Loch. Eine kleine Pistole lag neben seiner ausgestreckten Hand auf dem Fußboden.

Poirot schüttelte langsam den Kopf.

Japp sagte: «Also gut, Sie können ihn jetzt fortschaffen.»

Mr Morley wurde hinausgetragen. Japp und Poirot blieben allein.

Poirot setzte sich und sagte: «Erzählen Sie.»

Japps Gesicht war sehr nachdenklich.

«Es ist möglich, dass er sich erschossen hat. Es ist sogar wahrscheinlich. Auf der Waffe sind nur seine eigenen Fingerabdrücke. Aber ganz überzeugt bin ich nicht.»

«Was spricht Ihrer Auffassung nach dagegen?»

«Also, zunächst einmal sehe ich keinen Grund für einen Selbstmord. Morley war gesund, er hat gut verdient, und niemand weiß etwas von Sorgen, die er gehabt haben könnte. Er war auch in keine Weibergeschichte verwickelt.» Japp verbesserte sich vorsichtig: «Wenigstens soweit wir wissen. Er war nicht trübsinnig oder bedrückt oder anders als sonst. Das ist einer der Gründe, weswegen mir daran liegt, Ihre Meinung zu hören. Sie haben ihn heute früh gesehen, und ich würde gern wissen, ob Ihnen etwas Besonderes aufgefallen ist.»

Poirot schüttelte den Kopf.

«Gar nichts. Er war – wie soll ich sagen – die Normalität in Person.»

«Das lässt die Sache in einem merkwürdigen Licht erscheinen, nicht wahr? Jedenfalls würde man nicht annehmen, dass jemand sich sozusagen mitten in der Geschäftszeit erschießt. Warum hat er nicht bis heute Abend gewartet? Das wäre das Natürliche gewesen.»

Poirot pflichtete ihm bei.

«Wann hat sich die Tragödie ereignet?»

«Schwer zu sagen. Anscheinend hat niemand den Schuss gehört. Aber das war auch nicht gut möglich. Zwischen diesem Zimmer und dem Korridor liegen zwei Türen, die beide mit Filz abgedichtet sind.»

«Wann ist er aufgefunden worden?»

«Ungefähr um halb zwei – durch den Boy Alfred Biggs. Kein großes Kirchenlicht, in keiner Beziehung. Anscheinend hat die Patientin, die für halb ein Uhr bestellt war, Krach geschlagen, weil sie so lange warten musste. Etwa um ein Uhr zehn ist der Boy heraufgekommen und hat geklopft. Er bekam keine Antwort und wagte offenbar nicht, hineinzugehen. Morley hatte ihn schon ein paarmal angeschnauzt, und er hatte Angst, wieder etwas verkehrt zu machen. So ging er wieder hinunter, und die Patientin hat um ein Uhr fünfzehn wutschnaubend das Haus verlassen. Ich kann es ihr nicht verübeln. Man hatte sie fast eine Stunde warten lassen, und sie wollte zu Mittag essen.»

«Wer war die Patientin?»

Japp grinste.

«Der Aussage des Boys nach eine Miss Shirty – aber aus dem Ordinationsbuch geht hervor, dass sie Kirby hieß.»

«Wie hat sich das Hereinrufen der Patienten gewöhnlich abgespielt?»

«Wenn Morley bereit war, den nächsten Patienten zu empfangen, hat er auf den Klingelknopf dort drüben gedrückt, und dann hat der Boy den Patienten heraufgebracht.»

«Und wann hat Morley zum letzten Mal auf den Klingelknopf gedrückt?»

«Fünf Minuten nach zwölf. Der Boy hat den wartenden Patienten heraufgeführt. Laut Ordinationsbuch war es Mr Amberiotis, zur Zeit im Savoy wohnend.»

Ein schwaches Lächeln umspielte Poirots Lippen. Er murmelte: «Ich bin neugierig, was unser Boy aus dem Namen gemacht hat!»

«Ein hübsches Durcheinander, möchte ich behaupten. Wir können ihn ja fragen, wenn uns nach Lachen zumute ist.»

Poirot sagte: «Und um welche Zeit ist dieser Mr Amberiotis fortgegangen?»

«Das weiß der Boy nicht, weil er ihn nicht hinausgelassen hat. Viele Patienten gehen einfach die Treppen hinunter, ohne nach dem Lift zu klingeln, und verlassen ungesehen das Haus.»

Poirot nickte.

Japp fuhr fort: «Aber ich habe im Savoy angerufen. Mr Amberiotis hat mir ganz präzise Angaben gemacht. Er sagt, er habe auf die Uhr gesehen, als er die Haustür hinter sich schloss, und da sei es fünfundzwanzig Minuten nach zwölf gewesen.»

«Etwas von Bedeutung konnte er Ihnen nicht mitteilen?»

«Nein. Er meinte nur, der Zahnarzt habe einen vollkommen normalen und ruhigen Eindruck gemacht.»

«Eh bien», murmelte Poirot, «das ist also anscheinend ganz klar. Zwischen zwölf Uhr fünfundzwanzig und ein Uhr dreißig ist etwas vorgefallen – und zwar vermutlich eher gegen den ersten Zeitpunkt hin.»

«Richtig, denn sonst…»

«Sonst hätte er nach dem nächsten Patienten geklingelt.»

«Ganz meine Meinung. Dem entspricht auch der ärztliche Befund, soweit man damit etwas anfangen kann. Der Polizeiarzt hat die Leiche untersucht – um zwei Uhr zwanzig. Er wollte sich nicht festlegen – das tun sie heutzutage nie, angeblich wegen der Verschiedenheiten in der individuellen Reaktion. Immerhin sagt er, dass Morley nicht später als ein Uhr erschossen worden ist, wahrscheinlich aber sogar erheblich früher – eine bestimmtere Angabe wollte er nicht machen.»

Poirot meinte nachdenklich: «Dann ist also unser Zahnarzt um zwölf Uhr fünfundzwanzig ein normaler Zahnarzt, liebenswürdig, gesittet und tüchtig. Und danach? Verzweiflung, Entsetzen – was Sie wollen –, und er erschießt sich.»

«Komisch ist es schon», sagte Japp. «Sie müssen zugeben, dass es komisch ist.»

«Komisch», meinte Poirot, «ist nicht das richtige Wort.»

«Ja, ja, ich weiß – aber man sagt das eben so. Es ist sonderbar – wenn Ihnen dieses Wort besser gefällt.»

«Hat die Pistole ihm gehört?»

«Nein, er hat überhaupt keine besessen. Hat nie eine besessen. Seine Schwester behauptet, im ganzen Haus sei keine Waffe. Natürlich könnte er sie gekauft haben, falls er sich entschlossen hatte, Selbstmord zu begehen. Wenn ja, werden wir bald Näheres darüber wissen.»

Poirot fragte: «Worüber machen Sie sich sonst noch Gedanken?»

Japp rieb sich die Nase.

«Nun – zum Beispiel über die Art, wie er dalag. Ich will nicht behaupten, dass es unmöglich ist, so hinzufallen – aber irgendetwas daran hat nicht gestimmt! Und dann waren auch auf dem Teppich ein paar Spuren – als ob etwas darübergeschleift worden wäre.»

«Das könnte entschieden eine Bedeutung haben.»

«Ja – falls nicht der Boy die Hand dabei im Spiel hat. Ich habe das Gefühl, dass vielleicht er versucht hat, die Leiche vom Platz zu bewegen, nachdem er sie entdeckt hatte. Das leugnet er natürlich, aber vielleicht bloß aus Angst. Er ist einer von diesen jungen Eseln, die immer irgendeine Ungeschicklichkeit begehen, dann dafür angeschrien werden und infolgedessen fast automatisch dazu gelangen, in jeder Lebenslage zu lügen.»

Poirot sah sich nachdenklich im Zimmer um. Er schaute auf das Waschbecken, das hinter der Tür an der Wand befestigt war, und auf den hohen Aktenschrank auf der anderen Seite der Tür. Auf den Behandlungsstuhl und die ihn umgebenden Apparaturen beim Fenster, dann auf den Kamin und schließlich wieder auf die Stelle, wo die Leiche gelegen hatte. Neben dem Kamin befand sich eine zweite Tür.

Japp deutete auf die Tür neben dem Kamin. «Da drin ist noch ein kleines Büro.» Er öffnete die Tür. Sie führte in einen kleinen Raum, der einen Schreibtisch, einen Tisch mit Spirituskocher und Teegeschirr sowie einige Stühle enthielt. Einen zweiten Ausgang gab es nicht.

«Hier hat seine Sekretärin und Assistentin gearbeitet», erklärte Japp. «Miss Nevill. Sie ist heute anscheinend nicht da gewesen.»

Poirots Blick begegnete dem seinen. Poirot sagte: «Ich erinnere mich, dass er mir davon erzählt hat. Könnte nicht auch das – ein Argument gegen den Selbstmord sein?»

«Sie meinen, man hätte sie absichtlich fortgelockt?» Er zögerte einen Augenblick und fragte dann: «Aber wenn Morley wirklich ermordet worden ist – wer hätte es tun können?»

«Nahezu jeder hätte es tun können», erklärte Poirot ernst. «Seine Schwester konnte ihn erschießen, sein Partner Reilly konnte es tun, der Boy Alfred – alle Patienten besaßen die Möglichkeit, Morley zu töten.» Er überlegte einen Augenblick. «Am leichtesten von allen konnte ihn Amberiotis erschießen.»

«Aber in dem Fall müssen wir herausfinden, warum.»

«Ganz richtig. Sie sind wieder bei dem ursprünglichen Problem angelangt: Warum? Amberiotis wohnt im Savoy. Warum sollte ein reicher Grieche den Wunsch haben, einen harmlosen Zahnarzt zu erschießen?»

«Das ist tatsächlich unsere Hauptschwierigkeit: das Motiv!»

Poirot zuckte die Achseln.

«Es sieht so aus, als habe der Tod in ganz unkünstlerischer Weise den Falschen ausgesucht. Der geheimnisvolle Grieche, der reiche Bankier, der berühmte Detektiv – wie natürlich hätte es sich gemacht, wenn einer von diesen erschossen worden wäre! Denn geheimnisvolle Ausländer können in Spionagegeschichten verwickelt sein, reiche Bankiers haben Verwandte, die von deren Tod profitieren, und berühmte Detektive bilden eine Gefahr für verbrecherische Elemente.»

«Wogegen der arme alte Morley niemandem etwas zuleide getan hat», ergänzte Japp missmutig.

«Vielleicht doch?»

Japp fuhr herum.

«Woran denken Sie?»

«An nichts. Nur eine zufällige Bemerkung.» Er berichtete Japp, dass Morley so nebenbei etwas über sein Physiognomiengedächtnis und das Wiederauftauchen eines bekannten Gesichts unter seinen Patienten gesagt hatte.

Japp machte ein bedenkliches Gesicht.

«Möglich ist es schon, nehme ich an. Aber es scheint ein bisschen weit hergeholt. Es muss jemand gewesen sein, der seine Identität verschleiern wollte. Unter den Patienten heute Morgen ist Ihnen niemand aufgefallen?»

Poirot murmelte: «Im Wartezimmer habe ich einen jungen Mann bemerkt, der aussah wie ein Mörder!»

Japp meinte überrascht: «Was meinen Sie damit?»

Poirot lächelte: «Mon cher – das war, als ich das Haus betrat! Ich war nervös, voll dummer Gedanken – enfin, ich war schlechter Laune. Alles erschien mir in einem unheilvollen Licht. Das Wartezimmer, die Patienten, sogar der Treppenläufer! In Wirklichkeit wird der junge Mann wohl nur böse Zahnschmerzen gehabt haben – das war alles!»

«Ich weiß, wie das ist», sagte Japp. «Trotzdem werden wir uns Ihren Mörder einmal näher ansehen. Wir werden uns alle möglichen Verdächtigen vornehmen, ob es nun Selbstmord ist oder nicht. Ich denke, das Nächste wird eine nochmalige Unterhaltung mit Miss Morley sein. Ich habe sie nur ganz kurz gesprochen. Natürlich war es ein schwerer Schlag für sie, aber sie gehört zu den Leuten, die nicht zusammenklappen. Kommen Sie, wir wollen mit ihr sprechen.»

Hoch aufgerichtet und unbewegt hörte Georgina Morley den beiden Männern zu und beantwortete ihre Fragen. Sie sagte mit Nachdruck: «Es scheint mir unglaublich – ganz unglaublich –, dass mein Bruder Selbstmord begangen haben soll!»

«Ist Ihnen klar, Mademoiselle, dass dann nur eine einzige andere Möglichkeit übrig bleibt?», sagte Poirot.

«Sie meinen: Mord.» Einen Augenblick schwieg sie nachdenklich. Dann sagte sie langsam: «Es stimmt – diese Lösung erscheint ebenso unmöglich wie die andere.»

«Aber nicht ganz so unmöglich?»

«Nein, weil – verstehen Sie, in meinem Fall spreche ich von etwas, das ich genau kannte, nämlich vom Seelenzustand meines Bruders. Ich weiß, dass ihn nichts bedrückte, dass er keinen Grund – nicht den geringsten Grund – hatte, sich das Leben zu nehmen!»

«Sie haben ihn heute früh gesprochen, bevor er in die Praxis ging?»

«Ja, beim Frühstück.»

«Und er war ganz wie immer – in keiner Weise verändert?»

«Verändert war er – aber nicht, wie Sie meinen. Er war bloß ärgerlich.»

«Warum das?»

«Er hatte einen sehr arbeitsreichen Vormittag vor sich, und seine Assistentin konnte nicht kommen.»

«Das ist Miss Nevill?»

«Ja.»

«Worin bestand ihre Tätigkeit?»

«Sie hat die ganze Korrespondenz meines Bruders erledigt und das Ordinationsbuch und die Kartei geführt. Ferner hat sie die Sterilisierung der Instrumente besorgt, die Füllungen angerührt und hat ihm auch sonst bei den Behandlungen assistiert.»

«Ist sie schon lange bei ihm?»

«Seit drei Jahren. Sie ist ein sehr zuverlässiges Mädchen, und wir hatten sie beide gern.»

Poirot sagte: «Wie mir Ihr Bruder gesagt hat, ist sie zu einer erkrankten Verwandten gerufen worden.»

«Ja.»

«Und darüber hat sich Ihr Bruder so sehr geärgert?»

«Ja.» Ein leichtes Zögern lag in Miss Morleys Antwort. Sie sprach eilig weiter. «Sie – Sie müssen meinen Bruder nicht für gefühllos halten. Nur hat er im Augenblick geglaubt…»

«Ja, Miss Morley?»

«Nun, er hat geglaubt, sie sei vielleicht absichtlich vom Dienst ferngeblieben. Bitte, missverstehen Sie mich nicht – ich bin ganz überzeugt, dass Gladys so etwas nie tun würde. Ich habe das Henry auch gesagt. Aber die Sache ist so, dass sie sich mit einem sehr unerfreulichen jungen Mann verlobt hat – Henry war wütend darüber – und er hat sich eingebildet, dieser junge Mann hätte sie überredet, ihre Arbeit im Stich zu lassen.»

«Wäre das wahrscheinlich gewesen?»

«Nach meiner Überzeugung nicht. Gladys ist ein sehr gewissenhaftes Mädchen.»

«Aber es hätte dem jungen Mann entsprochen, einen solchen Vorschlag zu machen?»

«Das möchte ich allerdings annehmen.»

«Was treibt dieser junge Mann – wie heißt er übrigens?»

«Carter, Frank Carter. Er ist – oder vielmehr, er war – Versicherungsangestellter. Vor ein paar Wochen verlor er seine Stellung, und seitdem arbeitet er nicht mehr. Henry hat gesagt – und ich glaube, er hatte Recht –, Carter sei ein ausgemachter Taugenichts. Gladys hatte ihm einen Teil ihrer Ersparnisse geliehen, und mein Bruder war wütend darüber.»

Japp fragte interessiert: «Hat Ihr Bruder versucht, Miss Nevill zu einer Auflösung des Verlöbnisses zu bewegen?»

«Ja, ich weiß, dass er das getan hat.»

«Dann wäre es also durchaus möglich, dass dieser Frank Carter einen Groll gegen Ihren Bruder hegte?»

Der Grenadier antwortete derb: «Unsinn! Das heißt, wenn Sie meinen, dass Frank Carter Henry erschossen hat. Gewiss hat mein Bruder versucht, das Mädchen von dem jungen Mann abzubringen, aber sie hat seinen Rat nicht befolgt – sie hängt wie närrisch an Frank.»

«Fällt Ihnen sonst noch jemand ein, der einen Groll gegen Ihren Bruder hegte?»

Miss Morley schüttelte den Kopf.

«Mit seinem Partner Reilly ist er gut ausgekommen?»

Miss Morley antwortete säuerlich: «So gut, wie man mit einem Iren eben auskommen kann.»

«Was meinen Sie damit, Miss Morley?»

«Nun, Iren sind jähzornig und haben die größte Freude an jedem nur denkbaren Streit. Mr Reilly liebt politische Debatten.»

«Sonst hat es nichts gegeben?»

«Sonst nichts. Mr Reilly hat viele Fehler, ist aber sehr tüchtig in seinem Beruf – wenigstens hat mein Bruder das immer gesagt.»

Japp ließ nicht locker: «Worin bestehen seine Fehler?»

«Er trinkt – aber machen Sie bitte keinen Gebrauch von dieser Information.»

«Hat es zwischen ihm und Ihrem Bruder über diesen Punkt Differenzen gegeben?»

«Henry hat es ihm gegenüber ein paarmal angedeutet.»

«Als Zahnarzt», fuhr Miss Morley belehrend fort, «braucht man eine ruhige Hand, und ein Atem, der nach Alkohol riecht, flößt dem Patienten kein Vertrauen ein.»

Japp nickte zustimmend. Dann sagte er: «Können Sie uns etwas über die finanziellen Verhältnisse Ihres Bruders sagen?»

«Henry verdiente gut und hatte auch gewisse Ersparnisse. Ferner besaßen wir beide ein kleines Zinseinkommen, das wir von unserem Vater geerbt haben.»

Japp räusperte sich und murmelte: «Sie wissen wohl nicht, ob Ihr Bruder ein Testament hinterlassen hat?»

«Doch, das hat er, und ich kann Ihnen auch sagen, was drinsteht. Hundert Pfund hat er Gladys Nevill vermacht, und alles übrige fällt an mich.»

«Aha. Nun…»

Wildes Pochen an der Tür. Dann steckte Alfred den Kopf herein. Seine Glotzaugen nahmen jede Einzelheit der beiden Besucher in sich auf, während er hervorstieß: «Miss Nevill ist zurück. Ganz durcheinander. Sie will wissen, ob sie hereinkommen soll.»

Japp nickte, und Alfred verschwand.

Gladys Nevill war ein großes, blondes, etwas blutarmes Mädchen von ungefähr achtundzwanzig Jahren. Obwohl offensichtlich sehr aufgeregt, zeigte sie sofort, dass sie tüchtig und intelligent war.

Unter dem Vorwand, Mr Morleys Papiere durchsehen zu wollen, führte Japp sie hinunter in das kleine Büro neben dem Ordinationszimmer.

«Sie sind heute abberufen worden, Miss Nevill – », begann Japp das Gespräch.

Sie unterbrach ihn.

«Ja, jemand hat sich einen dummen Scherz erlaubt. Ich finde es unerhört, dass jemand sich so etwas ausdenkt. Wirklich unerhört.»

«Wie soll ich das verstehen, Miss Nevill?»

«Meiner Tante hat überhaupt nichts gefehlt. Sie war ganz erstaunt, als ich so plötzlich auftauchte. Natürlich habe ich mich sehr gefreut, dass sie wohlauf war – aber wütend war ich doch. Ein solches Telegramm zu schicken und alles durcheinanderzubringen!»

«Besitzen Sie das Telegramm noch, Miss Nevill?»

«Nein, ich habe es weggeworfen – auf dem Bahnhof, glaube ich. Es stand nur drin: Tante gestern Abend Schlaganfall, bitte sofort kommen›.»

«Sind Sie ganz sicher – hm – », Japp hüstelte, «dass es nicht Ihr Freund war, Mr Carter, der Ihnen das Telegramm geschickt hat?»

«Frank? Ja, aber wozu denn? Oh – ich verstehe! Sie meinen – ein abgekartetes Spiel zwischen uns beiden? Nein, Inspektor – so etwas würde weder er noch ich tun.»

Ihre Empörung schien echt, und Japp hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Aber eine Frage nach den Patienten des Vormittags brachte sie wieder völlig ins Gleichgewicht.

«Die Patienten stehen alle hier im Buch. Sie werden es schon gesehen haben. Über die meisten weiß ich Bescheid. Zehn Uhr Mrs Soames – wegen ihres neuen Gebisses. Zehn Uhr dreißig Lady Grant – das ist eine ältere Dame – wohnt am Lowndes Square.

Dann um elf Uhr, Mr Hercule Poirot, als dritter Patient; der kommt regelmäßig – oh, natürlich, da ist er ja! Entschuldigen Sie, Mr Poirot, aber ich bin ganz durcheinander! Elf Uhr dreißig Mr Alistair Blunt – das ist der Bankier, wissen Sie –, nur eine kurze Sitzung, denn Mr Morley hatte die Füllung das letzte Mal vorbereitet. Dann Miss Sainsbury Seale – die hat extra angerufen, weil sie Schmerzen hatte; Mr Morley wollte sie zwischendurch drannehmen. Sie schwatzt furchtbar viel – kann kein Ende finden –, eine sehr umständliche Dame. Dann um zwölf Uhr Mr Amberiotis – ein neuer Patient, der im Savoy abgestiegen ist. Eine ganze Menge Ausländer und Amerikaner kommen zu Mr Morley. Schließlich um zwölf Uhr dreißig Miss Kirby. Die kommt aus Worthing.»

Poirot sagte: «Als ich hier war, saß im Wartezimmer ein großer, militärisch aussehender Herr. Wer kann das gewesen sein?»

«Einer von Mr Reillys Patienten, nehme ich an. Ich werde Ihnen schnell einmal seine Liste besorgen, ja?»

«Ja, danke, Miss Nevill.»

Nach wenigen Minuten kam sie mit einem Buch zurück, das ähnlich aussah wie das von Mr Morley. Sie las vor: «Zehn Uhr Betty Heath – das ist ein kleines Mädchen von neun Jahren. Elf Uhr Colonel Abercrombie.»

«Abercrombie!», murmelte Poirot. «C’etait ca!»

«Elf Uhr dreißig Mr Howard Raikes. Zwölf Uhr Mr Barnes. Das sind alle Patienten von heute Vormittag. Mr Reilly ist natürlich nicht so stark beansprucht wie Mr Morley.»

«Können Sie uns irgendetwas über diese Patienten von Mr Reilly mitteilen?»

«Colonel Abercrombie ist ein langjähriger Patient, und Mrs Heath schickt alle ihre Kinder zu Mr Reilly. Über Mr Raikes und Mr Barnes kann ich Ihnen nichts sagen, obwohl ich glaube, die beiden Namen schon gehört zu haben. Verstehen Sie, ich nehme alle Telefongespräche entgegen…»

Japp sagte: «Wir können ja Mr Reilly selbst fragen. Ich möchte ihn so bald wie möglich sprechen.»

Miss Nevill ging hinaus. Japp sagte zu Poirot: «Alles alte Patienten von Morley, außer Amberiotis. Mit Mr Amberiotis gedenke ich sehr bald ein interessantes Gespräch zu führen. Wie die Dinge nun mal liegen, war er der letzte, der Morley lebend sah, und wir müssen genau feststellen, ob Morley wirklich am Leben war, als Amberiotis kam – oder ging.»

Poirot schüttelte den Kopf und sagte langsam: «Dann müssen Sie ihm aber immer noch ein Motiv nachweisen.»

«Das weiß ich. Aber vielleicht finden wir etwas über Amberiotis in den Polizeiakten.» Gespannt fügte er hinzu: «Sie sehen so nachdenklich aus, Poirot!»

«Ja, ich habe mir eben eine Frage vorgelegt.»

«Was für eine Frage?»

Poirot lächelte schwach und sagte: «Warum, Chefinspektor Japp?»

«Wie… Oh – dafür gibt es eine sehr einfache Erklärung: Alistair Blunt. Sobald der Bezirksinspektor erfuhr, dass Blunt heute Vormittag hier war, meldete er das der Zentrale. Für Leute wie Mr Blunt wird hierzulande gut gesorgt.»

«Sie meinen, dass es Menschen gibt, die ihn gern – aus dem Weg schaffen würden?»

«Blunt mit seiner Hochfinanz ist eine Macht im Staate, die manchem im Wege steht.»

Poirot nickte.

«Das habe ich mehr oder weniger vermutet. Und ich habe das Gefühl, dass» – er machte eine ausdrucksvolle Handbewegung – «vielleicht irgendetwas schief gegangen ist. Als eigentliches Opfer war Alistair Blunt ausersehen. Oder das hier ist nur ein Anfang – der Beginn irgendeiner besonderen Kampagne? Ich rieche – ich rieche» – er schnüffelte in der Luft herum –, «dass hinter dieser Geschichte eine Menge Geld steckt!»

Japp brummte: «Sie gehen mit Ihren Annahmen ein bisschen weit, wissen Sie.»

«Ich behaupte, dass ce pauvre Morley nur eine untergeordnete Figur im Spiel war. Vielleicht hat er etwas gewusst – vielleicht hat er Blunt etwas erzählt –, oder man befürchtete, dass er Blunt etwas erzählen wollte.»

Er brach ab, als Gladys Nevill wieder ins Zimmer kam. «Mr Reilly ist gerade mit einer Extraktion beschäftigt», sagte sie. «Er steht Ihnen in ungefähr zehn Minuten zur Verfügung, falls Ihnen das recht ist.»

Japp war damit einverstanden. In der Zwischenzeit wollte er noch einmal «mit diesem Alfred» reden.

Alfred wurde hin und her gerissen zwischen freudiger Erregung und panischer Angst, man werde ihm für alles Vorgefallene die Schuld zuschieben. Er stand erst seit vierzehn Tagen in Mr Morleys Diensten, und während dieser kurzen Zeit hatte er beständig und unweigerlich alles falsch gemacht. Die dauernden Vorwürfe hatten sein Selbstvertrauen untergraben.

«Er war vielleicht ein bisschen fahriger als sonst», gab Alfred auf eine Frage zur Antwort, «aber im Übrigen kann ich mich an nichts Besonderes erinnern. Ich hätte nie gedacht, dass er sich abmurksen würde.»

Poirot fiel ihm ins Wort. «Sie müssen uns», sagte er, «alles über heute Vormittag erzählen, was Ihnen im Gedächtnis geblieben ist. Sie sind ein wichtiger Zeuge, und Ihre Angaben können für uns von ungeheurem Nutzen sein.»

Alfreds Gesicht lief knallrot an, und seine Brust war stolzgeschwellt. Er hatte Japp bereits einen kurzen Bericht über die Ereignisse des Vormittags gegeben. Jetzt nahm er sich vor, ausführlicher zu werden. Ein wohltuendes Gefühl seiner eigenen Bedeutung durchzog ihn. «Ich kann Ihnen schon Bescheid sagen», sagte er. «Fragen Sie nur immerzu.»

«Zunächst einmal: Ist heute Vormittag irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen?»

Alfred dachte einen Augenblick nach und antwortete dann ziemlich betrübt: «Könnte ich nicht behaupten. Es war alles wie sonst.»

«Sind Unbekannte ins Haus gekommen?»

«Nein.»

«Auch nicht als Patienten?»

«Ach. Sie meinen die Patienten? Es ist niemand gekommen, der nicht angemeldet war.»

«Hätte jemand ungesehen das Haus betreten können…?»

«Ausgeschlossen. Dazu muss man einen Schlüssel haben.»

«Aber hinaus kommt man ohne weiteres?»

«Ja, dazu braucht man nur die Klinke zu drücken, hinauszugehen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Wie gesagt, so machen es die meisten. Sie gehen zu Fuß die Treppe hinunter, während ich den Nächsten im Lift hinauffahre.»

«Ich verstehe. Jetzt erzählen Sie uns einmal, wer heute Morgen zuerst gekommen ist und so weiter. Beschreiben Sie die Personen, wenn Ihnen die Namen entfallen sind.»

Alfred überlegte eine Weile. Dann sagte er: «Dame mit einem kleinen Mädchen; die ist zu Mr Reilly gekommen und eine Mrs Soap oder so ähnlich zu Mr Morley.»

Poirot sagte: «Ganz recht. Fahren Sie fort…»

«Dann eine andere, ältere Dame – ziemlich elegant. Nachher ein großer, militärisch aussehender Herr, und nachher Sie…» Er machte eine Kopfbewegung zu Poirot hin.

«Richtig.»

«Dann der Amerikaner…»

Japp sagte scharf: «Amerikaner?»

«Ja, Sir. Das war bestimmt ein Amerikaner – an der Aussprache deutlich zu hören. Noch jung. Er kam zu früh – war erst auf halb zwölf Uhr bestellt. Und nachher ging er gar nicht ins Sprechzimmer.»

«Wie meinen Sie das?», fragte Japp.

«Ich wollte ihn holen, als Mr Reilly um halb zwölf Uhr läutete – es war übrigens etwas später, vielleicht zwanzig vor zwölf –, und da war er nicht im Wartezimmer. Hat wohl Angst bekommen und ist verduftet.» Mit wissender Miene setzte er hinzu: «Kommt öfters vor.»

Poirot fragte: «Dann muss er kurz nach mir das Haus verlassen haben?»

«Stimmt. Sie sind fortgegangen, nachdem ich einen Herrn hinaufgefahren habe, der in einem Rolls-Royce gekommen war. Oh – ein wunderbarer Wagen –, er gehört Mr Blunt. Dann ging ich hinunter, öffnete Ihnen die Tür und ließ eine Dame herein. Miss Some Berry Seal oder so ähnlich. Dann – dann ging ich schnell in die Küche und aß einen Bissen, und während ich dort unten war, läutete die Klingel – Mr Reillys Klingel. Ich ging ins Wartezimmer, und da war der Amerikaner nicht mehr da. Das habe ich Mr Reilly gemeldet, und er hat ein bisschen geflucht, wie üblich.»

Poirot sagte: «Weiter.»

«Moment – was ist denn dann passiert? Ah, ja: Mr Morley hat geläutet, und ich habe Miss Sowieso im Lift hinaufgefahren; währenddessen ist der Mister mit dem Rolls-Royce die Treppe hinunter und aus dem Haus gegangen. Dann bin ich wieder hinunter, und es sind zwei Herren gekommen – der eine war ein kleiner Herr mit einer komischen Piepsstimme –, ich kann mich nicht an den Namen erinnern. Der ist zu Mr Reilly gekommen. Und ein dicker Ausländer zu Mr Morley.»

«Aha.»

«Miss Seal war nicht lange drin – nicht mehr als eine Viertelstunde. Ich habe sie hinausgeführt und dann den Ausländer hinaufgebracht.»

«Und Sie haben nicht gesehen, wie Mr Amberiotis – der Ausländer – das Haus verlassen hat?»

«Nein, Sir, das habe ich nicht gesehen. Er muss allein hinausgegangen sein. Ich habe weder ihn noch den anderen Herrn mehr gesehen.»

«Wo waren Sie von zwölf Uhr an?»

«Ich setze mich immer in den Lift und warte darauf, ob es läutet – Haustür oder eine der beiden Klingeln aus den Sprechzimmern.»

Poirot vermutete: «Dabei haben Sie vielleicht gelesen?»

Alfred wurde rot.

«Da ist doch nichts dabei? Etwas anderes könnte ich während der Zeit nicht machen.»

«Ganz recht. Was haben Sie gelesen?»

«‹Mord Viertel vor zwölf› heißt das Buch. Ein amerikanischer Kriminalroman, wirklich großartig! Handelt von lauter Gangstern.»

Poirot unterdrückte ein Lächeln.

«Konnten Sie von Ihrem Platz aus hören, ob die Haustür geschlossen wurde?»

«Sie meinen, wenn jemand hinausgegangen wäre? Ich glaube nicht. Ich will damit sagen, dass ich es nicht bemerkt hätte. Sehen Sie, der Lift liegt ganz hinten um die Ecke. Das Läutwerk von der Türglocke und den Klingeln aus den beiden Sprechzimmern ist gerade daneben – das könnte ich nicht überhören.»

Poirot nickte, und Japp fragte: «Was ist dann noch passiert?»

Alfred dachte angestrengt nach.

«Dann ist nur noch die letzte Dame gekommen. Miss Shirty. Ich habe dauernd auf Mr Morleys Klingelzeichen gewartet – aber nichts –, und um ein Uhr ist die Dame ziemlich böse geworden.»

«Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, ungerufen hinaufzugehen und nachzusehen, ob Mr Morley vielleicht frei war?»

Alfred schüttelte sehr energisch den Kopf.

«Mach ich nicht, Sir – würde mir nie im Traum einfallen. Für mich war der letzte Patient immer noch dort oben im Sprechzimmer. Meine Sache war es, auf die Klingel zu warten. Natürlich, wenn ich gewußte hätte, dass sich Mr Morley abgemurkst hat…»

«Ich verstehe – »Poirot machte eine Pause und fuhr dann fort:

«Hat Mr Morleys Selbstmord Sie überrascht, Alfred?»

«Ich war einfach platt. Soweit ich sehe, hat er nicht den geringsten Grund gehabt, sich umzubringen – oh! Er ist doch nicht etwa ermordet worden?»

Ehe Japp etwas sagen konnte, griff Poirot ein: «Angenommen, das wäre der Fall – wären Sie dann weniger überrascht?»

«Ich weiß wirklich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand Mr Morley umbringen wollte. Er war – na, er war so ein alltäglicher Herr. Ist er tatsächlich ermordet worden?»

Poirot entgegnete mit Würde: «Wir müssen jede Möglichkeit in Erwägung ziehen. Das ist auch der Grund, weshalb ich Ihnen gesagt habe, Sie seien ein sehr wichtiger Zeuge und sollten sich alles ins Gedächtnis rufen, was heute Vormittag passiert ist.»

Er legte besonderen Nachdruck auf seine letzten Worte, und Alfred furchte in einer verzweifelten inneren Anstrengung die Stirn. «Ich kann mich an nichts sonst erinnern.» Seine Stimme klang kläglich.

«Schon gut, Alfred. Und sind Sie ganz sicher, dass außer den Patienten keine fremden Personen heute Vormittag das Haus betreten haben?»

«Fremde Personen nicht. Nur der junge Mann von Miss Nevill ist vorbeigekommen – hat sich sehr aufgeregt, als sie nicht da war.»

Japp fragte interessiert: «Wann war das?»

«Etwas nach zwölf Uhr. Als ich ihm sagte, Miss Nevill sei den ganzen Tag abwesend, machte er einen sehr niedergeschlagenen Eindruck und wollte unbedingt mit Mr Morley sprechen. Ich erklärte, Mr Morley sei bis zum Mittagessen beschäftigt, aber er meinte, das mache nichts, er würde warten.»

Poirot fragte: «Und hat er gewartet?»

Plötzliches Erstaunen malte sich in Alfreds Zügen.

«Oh – daran habe ich überhaupt nicht gedacht! Er ist ins Wartezimmer gegangen, aber später war er nicht mehr da! Wahrscheinlich ist es ihm langweilig geworden, und er hat sich gedacht, er würde noch zurückkommen.»

Als Alfred das Zimmer verlassen hatte, sagte Japp scharf: «Halten Sie es für klug, diesem Burschen gegenüber die Möglichkeit eines Mordes anzudeuten?»

Poirot zuckte die Achseln.

«Ich glaube ja. Es wird für ihn ein Ansporn sein, sich jeder kleinen Einzelheit zu erinnern, die er vielleicht gesehen oder gehört hat, und er wird scharf auf alle Vorgänge im Haus achten.»

«Trotzdem, wir wollen unseren Verdacht nicht zu früh bekannt werden lassen.»

«Mon cher, diese Gefahr besteht nicht. Alfred liest Kriminalromane – Alfred ist begeistert von Verbrechen. Was immer Alfred ausplaudern mag, wird man auf das Konto seiner blühenden Phantasie schreiben.»

«Nun, vielleicht haben Sie Recht, Poirot. Jetzt wollen wir einmal hören, was Reilly zu sagen hat.»

Mr Reillys Ordinationszimmer und Büro lagen im ersten Stock. Sie waren von gleicher Größe wie die Räume darüber, aber weniger hell und nicht so komplett eingerichtet. Mr Morleys Partner war ein hoch gewachsener junger Mann, dem eine dunkle Haarlocke unordentlich in die Stirn hing. Er besaß eine angenehme Stimme und einen intelligenten Blick.

«Wir hoffen, Mr Reilly», sagte Japp, nachdem er sich vorgestellt hatte, «dass Sie etwas Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen können.»

«Da hoffen Sie leider vergeblich», antwortete Reilly. «Ich kann nur soviel sagen, dass Henry Morley der letzte Mensch war, der sich das Leben genommen hätte. Ich hätte so etwas tun können – er nicht.»

«Warum könnten Sie es getan haben?»

«Weil ich einen Berg von Sorgen habe», erwiderte der andere. «Zunächst einmal Geldsorgen! Mir ist es noch nie gelungen, meine Ausgaben mit meinen Einnahmen in Einklang zu bringen. Aber Morley war ein sorgsamer Mensch. Bei ihm werden Sie keine Schulden finden, keine Geldschwierigkeiten – davon bin ich überzeugt…»

«Frauengeschichten?», erkundigte sich Japp.

«Sie meinen, ob Morley welche hatte? Dem armen Teufel hat doch jede Daseinsfreude gefehlt! Stand völlig unter dem Pantoffel seiner Schwester.»

Japp fragte Reilly nach Einzelheiten über die Patienten, die er am Vormittag empfangen hatte.

«Oh, ich glaube, die sind alle über jeden Zweifel erhaben. Da war die kleine Betty Heath, ein nettes Kind – ich habe die ganze Familie nach und nach behandelt. Colonel Abercrombie ist ebenfalls ein alter Patient.»

«Wie steht es mit Mr Howard Raikes?», fragte Japp.

«Der mir ausgerissen ist? Der war noch nie bei mir. Ich weiß nichts von ihm. Er hat angerufen und wollte ausdrücklich heute Vormittag behandelt werden.»

«Von wo aus hat er angerufen?»

«Aus dem Holborn Palace Hotel. Er ist Amerikaner, glaube ich.»

«Ja, das hat Alfred auch gesagt.»

«Alfred muss es wissen», sagte Reilly. «Ein Filmnarr, unser Alfred.»

«Und der andere Patient?»

«Barnes? Ein komischer, pedantischer kleiner Mann. Pensionierter Beamter. Wohnt draußen in Ealing.»

Japp machte eine kleine Pause und fragte dann: «Was können Sie uns über Miss Nevill sagen?»

Reilly machte ein erstauntes Gesicht.

«Die wunderschöne blonde Sekretärin? Nein – nichts zu machen! Ihre Beziehungen zum alten Morley waren vollständig unschuldig – davon bin ich überzeugt…»

«Ich habe keineswegs das Gegenteil behauptet», murmelte Japp etwas betreten.

«Verzeihung», sagte Reilly. «Ich habe eben eine schmutzige Phantasie. Dachte, Sie wollten etwas andeuten in Richtung cherchez la femme.

Entschuldigen Sie, wenn ich mich Ihrer Sprache bediene», bemerkte er, Poirot zugewendet. «Habe ich nicht eine glänzende Aussprache? Das kommt davon, wenn man von Nonnen erzogen wird.»

Japp missbilligte seinen leichten Ton. Er fragte: «Wissen Sie Näheres über den jungen Mann, mit dem Miss Nevill verlobt ist? Er heißt Carter, wie ich höre, Frank Carter.»

«Morley hat nicht viel von ihm gehalten», sagte Reilly. «Er hat der Nevill zugeredet, ihm den Laufpass zu geben.»

«Das könnte Carter gegen ihn aufgebracht haben?»

«Hat ihn wahrscheinlich furchtbar gewurmt», pflichtete Reilly ihm vergnügt bei. Er hielt einen Augenblick inne und fragte dann: «Verzeihen Sie: Ist es eigentlich ein Selbstmord, den Sie hier untersuchen – oder ein Mord?»

«Falls es ein Mord wäre – würden Sie dann irgendwelche Vermutungen haben?», fragte Japp scharf.

«Nein. Ich möchte gern, dass Georgina ihn begangen hätte! Eine von diesen humorlosen Frauen, die von der Feindschaft gegen den Alkohol besessen sind. Aber ich fürchte, Georgina ist viel zu moralisch für einen Mord. Natürlich hätte auch ich mit Leichtigkeit in den oberen Stock hinauflaufen und den alten Knaben umbringen können – habe ich aber nicht. Ich kann mir überhaupt niemanden vorstellen, der den Wunsch gehabt haben sollte, Morley zu ermorden. Ebensowenig kann ich mir allerdings vorstellen, dass er sich selbst umbrachte.»

In verändertem Ton fügte er hinzu: «In Wirklichkeit tut mir die ganze Geschichte sehr Leid. Sie müssen mich nicht nach meinen Worten beurteilen. Das ist alles Nervosität, wissen Sie. Ich habe den alten Morley recht gern gehabt und werde ihn sehr vermissen.»

Japp legte den Telefonhörer auf und wandte sich mit ernstem Gesicht Poirot zu: «Mr Amberiotis ‹fühlt sich nicht wohl und möchte heute Nachmittag niemanden empfangen›. Mich wird er aber doch empfangen müssen – und entwischen lasse ich ihn auch nicht! Ich habe schon einen Mann ins Savoy geschickt, der ihn beschatten soll, falls er durchzugehen versucht.»

«Sie glauben, dass Amberiotis Morley erschossen hat?»

«Ich weiß nicht. Aber Amberiotis ist immerhin der letzte gewesen, der Morley lebend gesehen hat. Und er war ein neuer Patient. Nach seinen Angaben war Morley gesund und munter, als er ihn um zwölf Uhr fünfundzwanzig verließ. Das kann wahr sein oder auch nicht. Wenn Morley um diese Zeit wirklich noch in normaler Verfassung war, müssen wir rekonstruieren, was danach geschehen ist. Ist während der nächsten fünf Minuten jemand zu ihm hereingekommen? Carter zum Beispiel? Oder Reilly? Was hat sich abgespielt? Verlassen Sie sich drauf: Um halb eins oder spätestens fünf Minuten nach halb eins war Morley tot – sonst hätte er entweder geklingelt oder Miss Kirby mitteilen lassen, er könne sie nicht empfangen. Nein – entweder ist er umgebracht worden, oder jemand hat ihn im Sprechzimmer aufgesucht und ihm etwas gesagt, was seine ganze Lebenssituation verändert und ihn zum Selbstmord getrieben hat.»

Japp hielt inne.

«Ich werde jeden einzelnen der Patienten verhören, die er heute Vormittag empfangen hat. Es besteht immerhin die vage Möglichkeit, dass er zu einem von ihnen etwas gesagt hat, was uns auf die richtige Spur bringt.»

Er schaute auf die Uhr.

«Mr Alistair Blunt hat sich bereit erklärt, mir um vier Uhr fünfzehn ein paar Minuten zu opfern. Den werden wir also zuerst aufsuchen. Er wohnt am Chelsea Embankment. Dann können wir uns auf dem Weg zu Amberiotis diese Miss Sainsbury Seale vornehmen. Ich möchte gern möglichst viel Material sammeln, bevor wir unseren griechischen Freund in die Zange nehmen. Nachher möchte ich gern ein paar Worte mit dem Amerikaner sprechen, der ‹nach Mord aussah›, wie Sie sagen.»

Hercule Poirot schüttelte den Kopf.

«Nicht nach Mord – nach Zahnweh.»

«Egal – wir werden uns diesen Mr Raikes anschauen. Er hat sich – um es vorsichtig auszudrücken – sonderbar aufgeführt. Und dann werden wir dem Telegramm an Miss Nevill nachgehen und ihrer Tante und ihrem jungen Mann. Wir werden einfach allem und jedem nachgehen!»

Alistair Blunt hatte nie im Rampenlicht des öffentlichen Interesses gestanden. Vielleicht, weil er selbst ein sehr ruhiger und zurückhaltender Mensch war. Vielleicht, weil er viele Jahre hindurch eher die Rolle eines Prinzgemahls als die eines Königs gespielt hatte.

Rebecca Sanseverato, geborene Arnholt, war als eine enttäuschte Frau von fünfundvierzig Jahren nach London gekommen. Sowohl von väterlicher wie von mütterlicher Seite stammte sie aus den vornehmsten Kreisen der Hochfinanz. Ihre Mutter war die Erbin der europäischen Familie Rotherstein. Ihr Vater stand an der Spitze des großen amerikanischen Bankhauses Arnholt. Infolge eines Flugzeugunfalls, der den Tod zweier Brüder und eines Vetters zur Folge hatte, wurde Rebecca Arnholt alleinige Erbin eines unermesslichen Vermögens. Sie heiratete einen europäischen Aristokraten mit berühmtem Namen, den Fürsten Felipe di Sanseverato. Drei Jahre später ließ sie sich scheiden, nachdem sie mit diesem wohlerzogenen Schurken zwei erbärmliche Jahre verbracht hatte; das Kind aus dieser Ehe wurde ihr zugesprochen und starb bald darauf.

Durch ihr Unglück verbittert, konzentrierte Rebecca ihre außergewöhnlichen Geistesgaben auf das Finanzgeschäft – die Fähigkeit dazu lag ihr im Blut. Sie wurde Teilhaberin ihres Vaters.

Nach seinem Tod blieb sie mit ihrem riesigen Besitz weiter eine mächtige Erscheinung in der Finanzwelt. Sie kam nach London, und der jüngere Partner eines dortigen Bankhauses, Alistair Blunt, wurde ins Hotel Claridge geschickt, um mit ihr eine Reihe von Schriftstücken durchzusehen. Ein Jahr später empfing die Welt wie einen elektrischen Schlag die Nachricht, dass Rebecca Sanseverato Alistair Blunt heiraten würde, einen Mann, der nahezu zwanzig Jahre jünger war als sie.

Es gab das übliche Gespött. Rebecca – so sagten ihre Freunde – sei wirklich eine unverbesserliche Närrin, wenn ein Mann im Spiel war! Zuerst Sanseverato – jetzt dieser Jüngling. Natürlich heiratete er sie nur des Geldes wegen. Eine zweite Katastrophe stand ihr mit Sicherheit bevor! Aber zur allgemeinen Überraschung erwies sich die zweite Ehe als ein Erfolg. Die Leute, die prophezeit hatten, Alistair Blunt werde Rebeccas Geld für andere Frauen ausgeben, hatten sich geirrt. Er blieb seiner Frau mit stiller Zuneigung treu. Sogar als er nach ihrem Tod, zehn Jahre später, sich als Erbe ihres riesigen Vermögens jeden Wunsch erfüllen konnte, heiratete er nicht wieder. Er führte weiter sein altes ruhiges und einfaches Leben. Seine finanzielle Begabung war nicht geringer als die seiner Frau. Sein Urteil und seine Geschäfte waren gesund – sein Ruf stand außer Frage. Er beherrschte die gewaltigen Interessen der Arnholts und der Rothersteins durch seine überlegenen Fähigkeiten.

In Gesellschaft ging er sehr wenig. Er besaß ein Haus in Kent und eines in Norfolk, wo er das Wochenende zu verbringen pflegte – nicht mit lärmenden Scharen, sondern mit ein paar ruhigen, gesetzten Freunden. Er spielte gern und mäßig Golf und beschäftigte sich mit seinem Garten.

Das war der Mann, zu dem sich Chefinspektor Japp und Hercule Poirot in einem etwas altersschwachen, rüttelnden Taxi jetzt begaben. Das Gotische Haus war eine bekannte Sehenswürdigkeit am Chelsea Embankment – innen nicht sehr modern, aber äußerst behaglich und mit dem Luxus kostspieliger Schlichtheit eingerichtet. Alistair Blunt ließ seine beiden Besucher nicht warten.

«Chefinspektor Japp?»

Japp begrüßte ihn und stellte Hercule Poirot vor, den Blunt mit Interesse betrachtete.

«Ich kenne natürlich Ihren Namen, M. Poirot. Und mir ist, als hätte ich irgendwo ganz kürzlich…» Er dachte stirnrunzelnd nach.

Poirot sagte: «Heute Vormittag, Mr Blunt – im Wartezimmer de ce pauvre M. Morley.»

Alistair Blunts Stirn glättete sich.

«Natürlich. Ich wusste, dass ich Ihnen irgendwo begegnet bin.» Er wandte sich an Japp. «Was kann ich für Sie tun? Was ich über den armen Morley gehört habe, tut mir außerordentlich Leid.»

«Es hat Sie überrascht, Mr Blunt?»

«Sehr. Natürlich habe ich sehr wenig über ihn gewusst, aber er ist mir keineswegs wie ein Mensch vorgekommen, der Selbstmord begehen würde.»

«Er hat also heute Vormittag einen gesunden und normalen Eindruck gemacht?»

«Ich glaube wohl – ja.» Alistair Blunt hielt inne und sagte dann mit einem fast knabenhaften Lächeln: «Ehrlich gesagt, ich bin ein großer Feigling, wenn es sich um den Zahnarzt handelt. Und den Bohrer, dieses scheußliche Ding, hasse ich einfach. Deshalb habe ich eigentlich nicht viel bemerkt. Jedenfalls nicht, bis alles vorbei war und ich aufstehen durfte. Aber ich muss sagen, dass mir Morley hinterher vollkommen normal erschien. Guter Laune und geschäftig.»

«Hatten Sie ihn schon öfters konsultiert?»

«Es war mein dritter oder vierter Besuch bei ihm.»

Hercule Poirot fragte: «Wer hat Ihnen Morley empfohlen?»

Blunts Augenbrauen zogen sich in konzentriertem Nachdenken zusammen.

«Warten Sie einmal – ich hatte Zahnschmerzen – jemand hat mir gesagt, Morley in der Queen Charlotte Street sei der richtige Mann – nein, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wer das gewesen ist. Tut mir Leid.»

«Falls es Ihnen noch einfällt – würden Sie dann einem von uns beiden Bescheid geben?», bat Poirot.

Alistair Blunt sah ihn neugierig an.

«Das will ich gern tun – natürlich. Warum? Ist es wichtig?»

«Ich habe so eine Ahnung», sagte Poirot, «dass es sogar sehr wichtig sein könnte.»

Sie gingen gerade die Stufen vor dem Haus hinunter, als ein Wagen vorfuhr. Es war einer jener «sportlichen» Wagen, bei denen man sich, um auszusteigen, portionsweise unter dem Steuerrad hindurchquetschen muss.

Das junge Mädchen, das diese gymnastische Übung vollführte, schien hauptsächlich aus Armen und Beinen zu bestehen. Die beiden Männer waren noch einige Schritte vom Haus entfernt, als die Befreiung endlich glückte.

Das Mädchen stand auf dem Trottoir und sah ihnen nach. Dann rief sie plötzlich mit kräftiger Stimme: «He!»

Keiner von beiden drehte sich um, denn weder Japp noch Poirot ahnten, dass der Ruf ihnen galt. Das Mädchen rief nochmals: «He! He! Sie dort!»

Sie blieben stehen und schauten fragend zurück. Das Mädchen ging auf sie zu. Der Eindruck, sie bestehe hauptsächlich aus Armen und Beinen, blieb unverändert. Sie war groß und schlank, und ihr Gesicht strahlte eine Intelligenz und Lebendigkeit aus, die für den Mangel an eigentlicher Schönheit entschädigten. Sie war dunkelhaarig und tiefgebräunt.

«Ich weiß, wer Sie sind – Sie sind dieser Detektiv, Hercule Poirot!»

Ihre Stimme hatte einen tiefen, warmen Klang und den Anflug eines amerikanischen Akzents.

Poirot sagte: «Zu Ihren Diensten, Mademoiselle.»

Ihre Augen streiften seinen Begleiter.

«Chefinspektor Japp», stellte Poirot vor.

Sie riss die Augen auf – fast erschrocken, wie es schien.

Atemlos fragte sie: «Warum sind Sie bei uns gewesen? Es ist – es ist doch Onkel Alistair nichts zugestoßen?»

Poirot fragte rasch: «Warum glauben Sie das, Mademoiselle?»

«Es ist nichts passiert? Gut.»

Japp griff Poirots Frage auf. «Warum glauben Sie, dass Mr Blunt etwas zugestoßen sein könnte, Miss…»

Fragend hielt er inne, und mechanisch antwortete sie: «Olivera. Jane Olivera.» Dann ließ sie ein leichtes, wenig überzeugendes Lachen hören. «Wenn man Spürhunde auf der Schwelle findet, denkt man unwillkürlich an ein Verbrechen im Haus, nicht wahr?»

«Mr Blunt ist nichts zugestoßen. Zu meiner Freude kann ich Ihnen dies versichern, Miss Olivera.»

Sie sah Poirot scharf an.

«Hat er Sie zu sich gebeten?»

Japp antwortete: «Nein, Miss Olivera, wir haben ihn aufgesucht, um zu erfahren, ob er zur Aufklärung eines Selbstmordes beitragen kann, der sich heute ereignet hat.»

«Ein Selbstmord? Wer hat sich denn umgebracht?»

«Ein Zahnarzt namens Morley in der Queen Charlotte Street 58.»

«Oh!», murmelte Jane Olivera ausdruckslos.

Sie sah stirnrunzelnd vor sich hin. Dann sagte sie unvermittelt: «Aber das ist doch absurd!» Plötzlich wandte sie sich um, ließ die beiden Männer ohne Gruß stehen, lief die Stufen zum Gotischen Haus hinauf, schloss die Tür auf und verschwand.

«Nun!», murrte Japp und starrte ihr nach. «Das war eine sonderbare Bemerkung!»

«Interessant», bemerkte Poirot milde.

Japp riss sich zusammen, schaute auf die Uhr und winkte einem vorbeifahrenden Taxi.

«Wir haben noch Zeit, auf dem Weg ins Savoy einen Sprung zu dieser Sainsbury Seale zu machen.»

Miss Sainsbury Seale saß in der matt erleuchteten Halle des Glengowrie Court Hotels und trank ihren Nachmittagstee.

Das Auftauchen eines Kriminalbeamten in Zivil erregte sie – aber es war, wie Japp beobachtete, eine angenehme Erregung.

Poirot stellte zu seinem Kummer fest, dass sie ihre Schuhschnalle noch nicht wieder angenäht hatte.

«Wirklich, Kommissar», flötete Miss Sainsbury Seale, «ich weiß wirklich nicht, wo wir hingehen könnten, um für uns zu sein. So schwierig – gerade um die Teezeit –, aber vielleicht würden Sie gern eine Tasse Tee nehmen – Sie und – Ihr Freund?»

«Für mich nicht, Madame», dankte Japp. «Dies ist M. Hercule Poirot.»

«Wirklich?», flüsterte Miss Sainsbury Seale. «Dann könnten wir vielleicht – möchten Sie wirklich beide keinen Tee? Nein? Nun, dann könnten wir es vielleicht mit dem Salon versuchen, obwohl der häufig besetzt ist. Oh – dort drüben wird eine Ecke frei – in der Nische. Die Leute stehen gerade auf. Wollen wir dorthin?»

Sie steuerte auf ein Sofa und zwei Stühle zu, die verhältnismäßig abgelegen in einem Alkoven standen. Poirot und Japp folgten ihr, wobei Poirot eine Schärpe und ein Taschentuch aufhob, die Miss Sainsbury unterwegs verloren hatte. Er gab ihr beides zurück.

«Oh, danke vielmals – wie unachtsam von mir! Also bitte, Inspektor – nein Chefinspektor, nicht wahr? – stellen Sie alle Fragen, die Sie wünschen. Eine unglückselige Geschichte. Der arme Mann – er hat wohl irgendwelchen Kummer gehabt? Wir leben in so schweren Zeiten!»

«Schien es Ihnen, Miss Sainsbury Seale, als hätte er einen besonderen Kummer?»

«Also – » Miss Sainsbury Seale überlegte eine Weile und sagte schließlich fast widerwillig: «Wissen Sie, eigentlich kann ich das nicht behaupten. Aber vielleicht habe ich es auch einfach nicht bemerkt – unter den herrschenden Umständen. Ich bin leider ziemlich feig, müssen Sie wissen.»

Miss Sainsbury Seale kicherte ein bisschen und ordnete ihre vogelnestartige Frisur.

«Können Sie uns sagen, wer noch im Wartezimmer war, als Sie sich dort aufhielten?»

«Lassen Sie mich nachdenken – es war nur ein junger Mann da. Er muss wohl Schmerzen gehabt haben, denn er murmelte dauernd vor sich hin, sah ganz wild aus und blätterte ziellos in einem Magazin. Und dann sprang er plötzlich auf und ging hinaus. Wahrscheinlich hatte er starke Zahnschmerzen.»

«Der junge Mann mit den Zahnschmerzen war also der einzige Patient, der Ihnen bei Mr Morley begegnete?»

«Ja, ich kann mich sonst an keinen mehr erinnern!», erklärte Miss Sainsbury Seale traurig.

Japp änderte die Taktik.

«Sie haben wohl nichts dagegen, der Leichenschau als Zeugin beizuwohnen?», fragte er freundlich.

Nach einem ersten Schrei der Bestürzung schien sich Miss Sainsbury Seale mit dem Gedanken anzufreunden. Eine vorsichtig tastende Befragung durch Japp förderte ihre ganze Lebensgeschichte zutage. Sie war, wie sich herausstellte, vor einem halben Jahr aus Indien nach England gekommen. Hier hatte sie in verschiedenen Hotels und Pensionen gelebt, bis sie schließlich im Glengowrie Court Hotel gelandet war, das ihr wegen seiner anheimelnden Atmosphäre sehr zusagte. In Indien hatte sie meist in Kalkutta gelebt, wo sie in der Mission tätig war und Sprachunterricht erteilte.

«Eine gute, reine Aussprache – sehr wichtig – Chefinspektor. Sehen Sie», Miss Sainsbury Seale lächelte einfältig und warf sich in die Brust, «als junges Mädchen war ich beim Theater. Oh – nur in kleinen Rollen –, Sie verstehen. In der Provinz! Aber ich hatte großen Ehrgeiz. Ein Repertoire. Dann bin ich auf eine Welttournee gegangen: Shakespeare, Bernard Shaw.»

Sie seufzte. «Das Schlimmste bei uns armen Frauen ist unser Herz – wir sind Sklavinnen unseres Herzens. Eine unüberlegte, überstürzte Heirat. Ach – wir sind fast sofort wieder auseinander gegangen. Ich war – grausam enttäuscht. Später nahm ich meinen Mädchennamen wieder an. Glücklicherweise stellte mir eine Freundin etwas Kapital zur Verfügung, und so begann ich mit meinem Sprachunterricht. Ich beteiligte mich an der Gründung einer sehr guten Liebhaberbühne. Ich muss Ihnen einmal die Zeitungsausschnitte zeigen.»

Chefinspektor Japp erkannte die Gefahr, die ihm jetzt drohte. Er ergriff die Flucht. Miss Sainsbury Seales letzte Worte waren: «Und wenn etwa zufällig mein Name in die Zeitung kommen sollte – ich meine, weil ich doch als Zeugin bei der Leichenschau erscheinen soll –, werden Sie dann auch bestimmt dafür sorgen, dass er richtig buchstabiert wird? Mabelle Sainsbury Seale – Mabelle schreibt sich M-A-B-E-L-L-E und Seale S-E-A-L-E. Und falls Wert darauf gelegt werden sollte… ich bin in Wie es euch gefällt im Oxford Repertory Theatre aufgetreten.»

«Natürlich, natürlich – » Chefinspektor Japp war schon auf und davon. Im Taxi seufzte er und wischte sich die Stirn.

«Wenn es notwendig wird, können wir ja all das nachprüfen, außer sie hat von A bis Z gelogen – aber das glaube ich nicht!»

Poirot schüttelte den Kopf. «Schwindler», sagte er, «pflegen weder so umständlich noch so unzusammenhängend zu lügen.»

Japp fuhr fort: «Ich hatte befürchtet, sie würde vor der Leichenschau bocken – das tun die meisten alten Jungfern. Aber da sie Schauspielerin gewesen ist, ist es für sie die Gelegenheit, wieder einmal im Rampenlicht zu stehen!»

Poirot sagte: «Wollen Sie sie wirklich zur Leichenschau vorladen?»

«Wahrscheinlich nicht. Es kommt darauf an.» Er machte eine Pause und sagte: «Ich bin mehr denn je überzeugt, Poirot – das war kein Selbstmord.»

Sie bezahlten das Taxi und betraten das Savoy. Japp fragte nach Mr Amberiotis.

Der Empfangschef sah die beiden Männer sonderbar an: «Mr Amberiotis? Tut mir Leid, Sie können nicht mit ihm sprechen.»

«Doch, doch, das kann ich», erklärte Japp grimmig und zog seinen Ausweis hervor.

Höflich antwortete der Empfangschef: «Sie haben mich missverstanden, Sir. Mr Amberiotis ist vor einer halben Stunde gestorben.»

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