4

Die Zeit verging. Seit Mr Morleys Tod war mehr als ein Monat verstrichen, und noch immer wusste man nichts von Miss Sainsbury Seale. Japp wurde jedes Mal grimmiger, wenn er auf die Sache zu sprechen kam.

«Zum Donnerwetter, Poirot – irgendwo muss das Weib doch stecken!»

«Zweifellos, mon cher.»

«Entweder ist sie tot oder lebendig. Wenn sie tot ist – wo ist dann die Leiche? Nehmen wir an, sie hat Selbstmord begangen…»

«Noch ein Selbstmord?»

«Lassen wir das. Sie behaupten immer noch, Morley sei ermordet worden – ich behaupte, es war Selbstmord.»

«Wo die Pistole herkam, haben Sie nicht feststellen können?»

«Nein, ein ausländisches Fabrikat.»

«Das lässt doch gewisse Schlüsse zu, nicht wahr…?»

«Nicht, wie Sie glauben. Morley war oft im Ausland. Er kann die Pistole im Ausland gekauft haben. Eine Menge Leute haben gern eine Waffe bei sich, wenn sie im Ausland sind. Sie haben dann das Gefühl, das Leben sei gefährlich.»

Er brach ab und knurrte: «Bringen Sie mich nicht vom Thema ab. Ich wollte gerade sagen: Wenn – nur wenn, verstehen Sie – die Dame Selbstmord begangen hat, wenn sie zum Beispiel ins Wasser gegangen ist, dann hätte die Leiche längst irgendwo auftauchen müssen. Wenn sie ermordet worden ist, natürlich auch.»

«Nicht, wenn man die Leiche mit einem Gewicht beschwert und in die Themse geworfen hat.»

«Aus einem Keller im Chinesenviertel, was?»

«Ich weiß – ich werde rot, wenn ich so was sage.»

«Und umgebracht worden ist sie wahrscheinlich von einer internationalen Verbrecherbande?»

Poirot meinte seufzend: «Man hat mir unlängst erzählt, dass es so etwas wirklich gibt.»

«Wer hat Ihnen das erzählt?»

«Mr Reginald Barnes aus der Castlegarden Road in Ealing.»

«Nun, der könnte vielleicht etwas wissen», sagte Japp nachdenklich. «Er hat sich im Innenministerium mit der Überwachung der Ausländer befasst.»

«Aber Sie sind anderer Meinung?»

«Es ist nicht mein Gebiet – gewiss, ja, es gibt solche Sachen –, aber doch sehr selten.»

Es herrschte einen Augenblick Schweigen, dann begann Japp von neuem: «Ein paar ergänzende kleine Informationen haben wir bekommen. Die Seale ist von Indien nach England auf dem gleichen Schiff gereist wie Amberiotis. Aber da sie in der zweiten und er in der ersten Klasse gefahren ist, glaube ich nicht, dass viel dahintersteckt. Allerdings bildet sich einer der Kellner im Savoy ein, sie und Amberiotis ungefähr eine Woche vor dessen Tod zusammen gesehen zu haben.»

«Es könnte also eine Verbindung zwischen den beiden bestanden haben?»

«Möglicherweise – aber für wahrscheinlich halte ich es nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Missionsdame sich auf dunkle Machenschaften einlässt.»

«Hatte Amberiotis sich auf – wie Sie sich ausdrücken – ‹dunkle Machenschaften› eingelassen?», fragte Poirot.

«Ja.»

«Das wissen Sie bestimmt?»

«Ja. Natürlich – die Schmutzarbeit hat er nicht selbst gemacht. Wir hätten ihm nichts anhaben können. Organisieren und Berichte anfordern – das war seine Spezialität.»

Japp machte eine Pause und fuhr dann fort: «Aber das bringt uns mit der Sainsbury Seale nicht weiter. Die konnte nicht zu diesen Leuten gehören.»

«Denken Sie daran, dass sie in Indien gelebt hat. Dort hat es letztes Jahr eine Menge Unruhen gegeben.»

«Amberiotis und die tugendhafte Miss Sainsbury Seale – ich bin einfach nicht imstande, mir die beiden als Partner vorzustellen.»

«Wussten Sie, dass Miss Sainsbury Seale mit der verstorbenen Mrs Alistair Blunt eng befreundet war?»

«Wer behauptet das? Kann ich nicht glauben. Ganz verschiedene soziale Schichten.»

«Sie hat es selbst behauptet.»

«Und wem gegenüber?»

«Alistair Blunt.»

«Ah – so ist das gewesen! Nun, er ist ja wohl gewöhnt, dass ihm solche Sachen erzählt werden. Meinen Sie, Amberiotis habe die Seale irgendwie vorgeschoben? Das hätte zu nichts geführt. Blunt hätte sie mit ein paar Pfund für wohltätige Zwecke abgespeist. Hätte sie niemals zu sich eingeladen oder so etwas Ähnliches. So naiv ist er schließlich auch nicht.»

Das war von so stringenter Logik, dass Poirot ihm nur beipflichten konnte.

«Und dennoch», fuhr Japp fort, «ist die Seale ein Mensch aus Fleisch und Blut – ich meine: Manchmal stößt man sozusagen auf eine Attrappe, auf jemanden, der sich beispielsweise für Miss Spinks ausgibt, ohne dass diese Miss Spinks in Wirklichkeit existiert. Aber diese Frau ist echt, hat eine Vergangenheit und einen realen Hintergrund. Wir wissen alles über sie, von ihrer Kindheit angefangen. Sie hat ein vollkommen normales, nachvollziehbares Leben geführt – und auf einmal: Hokuspokus verschwindibus!»

«Das muss einen Grund haben», sagte Poirot.

«Den Morley hat sie nicht erschossen – falls Sie das meinen sollten. Amberiotis hat ihn höchst lebendig gesehen, nachdem sie schon fort war, und wir haben die Wege überprüft, die sie nach dem Verlassen der Queen Charlotte Street gegangen ist.»

Poirot unterbrach ungeduldig: «Ich behaupte keinen Augenblick, dass sie Morley erschossen hat – natürlich hat sie das nicht getan. Aber trotzdem…»

Japp sagte: «Wenn Ihre Theorie stimmt, dass Morley ermordet worden ist, dann ist es viel wahrscheinlicher, dass er etwas zu ihr gesagt hat, was – ohne dass sie es wusste – auf die Spur seines Mörders führt. In diesem Fall könnte es sein, dass sie absichtlich aus dem Weg geräumt worden ist.»

Poirot sagte: «All das setzt eine Organisation voraus – irgendeinen Apparat, der in keinem Verhältnis zum Tod eines unauffälligen Zahnarztes in der Queen Charlotte Street steht.»

«Sie müssen nicht alles glauben, was Reginald Barnes Ihnen erzählt! Er ist ein komischer Vogel – sieht überall Spione und Verräter.»

Japp stand auf, und Poirot sagte: «Verständigen Sie mich, wenn Sie etwas Neues hören.»

Als Japp gegangen war, blieb Poirot stirnrunzelnd am Tisch sitzen. Er hatte das sichere Gefühl, auf etwas zu warten. Aber auf was?

Er erinnerte sich, dass er schon früher einmal so dagesessen und einige Vorgänge und Namen aufgeschrieben hatte.

Draußen vor dem Fenster war ein Vogel vorbeigeflogen, einen Zweig im Schnabel.

Auch er hatte Zweige zusammengesucht. Nun lagen sie vor ihm – eine ganze Reihe. Jeder einzelne Zweig hatte seinen Platz in Poirots säuberlich registrierendem Gehirn – aber er hatte noch nicht versucht, Ordnung in die Zweige zu bringen. Das war der nächste Schritt: die Zweige ordnen.

Was hielt ihn davon ab? Er wusste die Antwort: Er wartete auf etwas. Auf etwas Unvermeidliches, Vorbestimmtes – auf das nächste Glied in der Kette. Wenn es eintrat, dann – erst dann – konnte er weitermachen.

Eine Woche danach, spät am Abend, kam der Anruf. Japps Stimme am Telefon klang schroff.

«Sie sind da, Poirot? Wir haben sie gefunden. Es wäre gut, wenn Sie herkämen. King Leopold Mansions, Battersea Park. Appartement Nummer 45.»

Eine Viertelstunde später setzte ein Taxi Poirot vor den King Leopold Mansions ab.

Das war ein großer Block von Etagenwohnungen, die alle auf den Battersea Park hinausgingen. Nummer 45 lag im zweiten Stock. Japp öffnete persönlich die Tür. Sein Gesicht durchzogen grimmige Falten.

«Kommen Sie herein», sagte er. «Sie ist nicht besonders schön anzuschauen, aber ich nehme an, Sie wollen sie selbst sehen.»

Poirot fragte – aber es war eigentlich keine Frage: «Tot?»

«Man kann es wohl mausetot nennen.»

Poirot neigte den Kopf zur Seite und lauschte auf ein wohl bekanntes Geräusch, das hinter einer Tür zu seiner Rechten hervordrang.

«Das ist der Portier», sagte Japp. «Übergibt sich gerade. Ich musste ihn zur Identifizierung heraufholen.»

Er führte Poirot den Korridor entlang. Poirot rümpfte die Nase.

«Nicht erfreulich», sagte Japp. «Aber was soll man machen? Die Frau ist seit mehr als einem Monat tot.»

Der Raum, den sie betraten, war eine kleine Rumpel- und Kofferkammer. In der Mitte stand eine große, metallene Truhe, wie man sie zur Aufbewahrung von Pelzen hat. Der Deckel war geöffnet.

Poirot trat vor und schaute in die Truhe. Als erstes sah er den Fuß – mit einem abgetragenen Schuh bekleidet, auf dem eine Schnalle befestigt war. Das erste, was er von Miss Sainsbury Seale erblickt hatte, war – fiel ihm ein – eine Schuhschnalle.

Sein Blick wanderte über den Rock und die Jacke aus grünem Wollstoff bis hinauf zum Kopf. Er gab ein undeutliches Geräusch von sich.

«Ich weiß», sagte Japp. «Sieht schauderhaft aus.»

Das Gesicht war dermaßen zugerichtet, dass sein ursprüngliches Aussehen nicht mehr zu erkennen war. Berücksichtigte man noch den natürlichen Verwesungsprozess, so war es kein Wunder, dass die beiden Männer leicht erbsengrün aussahen, als sie sich schließlich abwandten.

«Das», brummte Japp, «gehört zum Beruf – zu unserem Beruf. Keine Frage: Manchmal ist unsere Arbeit lausig. Nebenan ist noch ein Tropfen Cognac. Sie sollten etwas davon trinken.»

Das Wohnzimmer war modern und elegant eingerichtet: viel Chrom und ein paar mächtige, eckige Polstersessel, bezogen mit blass rehbraunem, geometrisch gemustertem Stoff.

Poirot fand die Karaffe und goss sich einen Cognac ein. Er trank ihn aus und schüttelte dann den Kopf.

«Das war nicht schön, gar nicht schön! Jetzt erzählen Sie, lieber Freund.»

«Die Wohnung gehört einer Mrs Albert Chapman. Mrs Chapman ist, wie ich höre, eine hübsche Blondine in den Vierzigern. Zahlt ihre Rechnungen pünktlich, spielt gern mit den Nachbarn Bridge, lebt aber mehr oder weniger zurückgezogen. Keine Kinder. Mr Chapman ist Geschäftsreisender. Die Seale ist am Abend unserer Unterhaltung mit ihr hierher gekommen, etwa um Viertel nach sieben – also vermutlich auf direktem Weg vom Glengowrie Court Hotel. Wie der Portier sagt, war sie schon vorher einmal da. Sie sehen: Alles klar und einwandfrei – ein netter, freundschaftlicher Besuch. Der Portier fuhr Miss Sainsbury Seale im Lift hinauf. Er sah noch, wie sie vor der Wohnungstür stand und auf die Klingel drückte.»

Poirot bemerkte: «Da hat er sich aber reichlich Zeit gelassen, bis ihm das eingefallen ist!»

«Er lag anscheinend mit einer Darmerkrankung im Spital, und ein anderer Portier musste ihn in dieser Zeit vertreten. Erst vor ungefähr einer Woche will er in einer alten Zeitung die Personenbeschreibung der verschwundenen Seale entdeckt und zu seiner Frau gesagt haben: ‹Hört sich an wie die Dame, die damals zu Mrs Chapman im zweiten Stock auf Besuch gekommen ist. Jedenfalls hat die ein grünes Wollkleid angehabt und Schnallenschuhe.› Und nach einer weiteren Stunde hat er gesagt: ‹Und ihren Namen hat sie mir doch auch gesagt, sie hieß tatsächlich Miss Sowieso Seale.›»

«Hinterher», fuhr Japp fort, «hat er vier Tage gebraucht, um seine natürliche Abneigung gegen eine Fühlungnahme mit der Polizei zu überwinden und mit seiner Aussage zu uns zu kommen. Wir haben erst nicht recht geglaubt, dass es zu etwas führen würde. Sie haben keine Ahnung, wie oft wir falschen Alarm bekommen haben. Immerhin habe ich Sergeant Beddas hierher geschickt – das ist ein aufgeweckter junger Kerl. Hat ein bisschen zu viel von dieser neuen, hochgestochenen Ausbildung genossen, aber da ist nichts zu machen – das ist jetzt modern.

Nun, Beddas hatte gleich das Gefühl, wir seien diesmal auf dem richtigen Dampfer. Erstens ist diese Mrs Chapman seit über einem Monat von niemandem im Haus gesehen worden. Sie ist abgereist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Das ist doch sonderbar. Überhaupt ist alles sonderbar, was Beddas über Mr und Mrs Chapman erfahren konnte. So entschloss er sich, die Wohnung mal näher anzuschauen. Wir stellten einen Haussuchungsbefehl aus und besorgten uns vom Geschäftsführer einen Schlüssel. Fanden zuerst nichts Interessantes, außer im Badezimmer. Dort war irgendeine eilige Säuberung vorgenommen worden. Auf dem Linoleum war eine Blutspur – in einer Ecke, wo man sie beim Aufwischen übersehen hatte. Danach ging es nur noch darum, die Leiche zu finden. Mrs Chapman konnte kein Gepäck mitgenommen haben, denn dann hätte der Portier davon gewusst. Deshalb musste die Leiche noch in der Wohnung sein. Die Pelztruhe hatten wir rasch aufgespürt – luftdicht verschlossen, verstehen Sie –, gerade das richtige Versteck. Die Schlüssel lagen in einer Schublade des Toilettentisches. Die Truhe wurde geöffnet – und da war sie, unsere verschwundene Dame!»

«Und diese Mrs Chapman?», fragte Poirot.

«Sehr richtig! Wer ist Sylvia – so heißt sie nämlich –, und wo ist Sylvia? Eines steht fest: Sylvia oder ihre Freunde haben die Seale umgebracht und in die Truhe gesteckt.»

Poirot nickte und fragte: «Aber warum hat man ihr das Gesicht so ruiniert? Das war nicht hübsch.»

«Das glaube ich, dass das nicht hübsch war! Und was das ‹Warum› angeht, kann man wohl nur Vermutungen anstellen. Vielleicht aus bloßer Wut. Oder vielleicht in der Absicht, die Identifizierung der Leiche unmöglich zu machen.»

Poirot runzelte die Stirn.

«Aber es hat sie nicht unmöglich gemacht.»

«Nein, weil wir nicht nur eine sehr genaue Beschreibung der Kleider hatten, die Mabelle Sainsbury Seale bei ihrem Verschwinden trug, sondern weil auch ihre Handtasche mit in die Pelztruhe gestopft worden ist, in der sich ein alter Briefumschlag befand, der an sie adressiert war.»

Poirot setzte sich auf und sagte: «Aber das ist doch widersinnig!»

«Gewiss ist es das. Ich nehme an, es war ein Versehen.»

«Ja – vielleicht ein Versehen. Aber…» Er stand auf. «Sie haben die Wohnung durchsucht?»

«Ziemlich gründlich. Wir haben keine aufschlussreichen Hinweise gefunden.»

«Ich möchte Mrs Chapmans Schlafzimmer sehen.»

«Dann kommen Sie mit.»

Das Schlafzimmer wies keinerlei Anzeichen einer hastigen Flucht auf. Es war ordentlich und gut aufgeräumt. Das Bett war unbenützt, aber für die Nacht hergerichtet. Auf allem lag eine dicke Staubschicht.

«Keine Fingerabdrücke, soweit wir feststellen konnten. In der Küche haben wir ein paar gefunden, aber ich erwarte, dass sie von dem Mädchen stammen werden», erläuterte Japp.

«Das lässt also darauf schließen, dass die ganze Wohnung nach dem Mord sehr sorgfältig gesäubert worden ist?»

«Ja.»

Poirot ließ den Blick langsam durchs Zimmer schweifen. Es war, wie das Wohnzimmer, modern eingerichtet, und zwar – diesen Eindruck hatte er – von einem Menschen mit mäßigem Einkommen. Die Gegenstände darin waren nicht billig, aber auch nicht übertrieben kostspielig. Sie sahen nach etwas aus, waren aber nicht erstklassig. Die vorherrschende Farbe war Rosarot. Er schaute in den eingebauten Garderobenschrank und befühlte die Kleider – elegante Kleider, aber wiederum nicht von erster Qualität. Sein Blick fiel auf die Schuhe; sie gehörten überwiegend zur Kategorie der Sandalen, die augenblicklich in Mode war, und manche besaßen turmhohe Korksohlen. Er nahm einen Schuh in die Hand, vermerkte die Tatsache, dass Mrs Chapman Größe fünf trug, und stellte ihn wieder hin. In einem anderen Schrank fand er einen Haufen Pelze, die man offenbar achtlos hineingeworfen hatte.

«Das stammt aus der Pelztruhe», sagte Japp.

Poirot nickte. Er strich über einen grauen Eichhörnchenmantel und meinte anerkennend: «Erstklassige Felle.» Dann ging er ins Badezimmer. Dort gab es Schönheitsmittel in verschwenderischer Fülle. Poirot betrachtete sie interessiert. Puder, Rouge, Tagescreme, Nachtcreme, Pflegemasken, zwei verschiedene Haarfärbemittel. Japp sagte: «Keine natürliche Blondine, wie Sie sehen.»

Poirot murmelte: «Mit vierzig, mon ami, beginnt bei manchen Frauen das Haar zu ergrauen – aber Mrs Chapman gehört nicht zu denen, die klein beigeben.»

«Wahrscheinlich trägt sie jetzt zur Abwechslung rotes Haar.»

«Wer weiß?»

Japp sagte: «Etwas quält Sie, Poirot. Was ist es?»

«Ja, etwas quält mich, quält mich sehr ernsthaft. Es gibt hier für mich, verstehen Sie, ein unlösbares Problem.»

Entschlossen ging er nochmals in die Kofferkammer. Er packte den Schuh am Fuß der toten Frau. Der Schuh leistete Widerstand und ließ sich nur mit Gewalt ausziehen.

Er untersuchte die Schnalle. Sie war mit ungeschickter Hand angenäht worden. Hercule Poirot seufzte.

«Wahrscheinlich träume ich!», murmelte er.

«Was treiben Sie da eigentlich – wollen Sie die Sache noch komplizierter machen?», unterbrach ihn Japp.

«Genau das.»

«Ein Lackschuh», sagte Japp, «komplett mit Schnalle. Was ist los mit dem Schuh?»

«Nichts – absolut nichts. Und trotzdem – ich verstehe es nicht.»

Hercule Poirot sah sehr nachdenklich aus.

Mrs Merton aus Appartement 82 der King Leopold Mansions war vom Portier als Mrs Chapmans beste Bekannte im Hause bezeichnet worden. Zum Appartement 82 lenkten also Japp und Poirot ihre nächsten Schritte.

Mrs Merton war eine geschwätzige Dame mit lebhaften schwarzen Augen und einer sorgfältig hergerichteten Frisur. Es bedurfte keiner Mühe, sie zum Reden zu bringen. Sie zeigte sich der dramatischen Situation gewachsen.

«Sylvia Chapman – also natürlich kenne ich sie nicht sehr gut – nicht intim, sozusagen. Wir haben gelegentlich zusammen Bridge gespielt und sind miteinander ins Kino gegangen. Aber sagen Sie mir – sie ist doch nicht etwa tot, wie?»

Japp beruhigte Mrs Merton.

«Nun, ich bin froh, das zu hören. Eben war der Briefträger hier und hat alles mögliche erzählt von einer Leiche, die in einer der Wohnungen gefunden worden sein soll – aber man darf ja nicht die Hälfte von dem glauben, was die Leute so schwatzen, finden Sie nicht auch?»

Japp stellte eine weitere Frage.

«Nein, ich habe nichts von Mrs Chapman gehört – seit ihrer Abreise. Sie muss ganz plötzlich verreist sein, denn wir hatten damals verabredet, dass wir uns in der folgenden Woche den Film mit Grear Garson anschauen wollten, und da hat sie nichts von Verreisen gesagt.»

Von einer Miss Sainsbury Seale hatte Frau Merton nie etwas gehört. Bestimmt hatte Mrs Chapman diesen Namen niemals erwähnt.

«Und trotzdem, wissen Sie, kommt mir der Name bekannt vor – ganz entschieden. Ich muss ihn in allerletzter Zeit irgendwo gehört haben.»

Trocken entgegnete Japp: «Der Name hat wochenlang in allen Zeitungen gestanden.»

«Natürlich – eine Vermisstenmeldung, nicht wahr? Und Sie meinen, dass Mrs Chapman sie kannte? Nein, ich bin ganz sicher, dass Sylvia den Namen nie erwähnt hat.»

«Wissen Sie etwas über Mr Chapman, Mrs Merton?»

Ein sonderbarer Ausdruck erschien auf Mrs Mertons Gesicht.

«Er ist, glaube ich, Geschäftsreisender – wenigstens hat mir Mrs Chapman das erzählt. Vertritt seine Firma im Ausland – eine Rüstungsfirma, glaube ich. Er bereist ganz Europa.»

«Sind Sie jemals mit ihm zusammengekommen?»

«Nein, nie. Er war so selten zu Hause, und wenn er da war, wollte Mrs Chapman mit ihm allein sein. Sehr begreiflich.»

«Wissen Sie, ob Mrs Chapman nähere Verwandte oder Freunde besitzt?»

«Ob Freunde, weiß ich nicht. Nahe Verwandte hat sie wohl keine. Jedenfalls hat sie nie von ihnen gesprochen.»

«War sie jemals in Indien?»

«Nicht, dass ich wüsste.»

Mrs Merton machte eine Pause. Dann stieß sie hervor: «Aber bitte, sagen Sie mir doch: Warum stellen Sie diese ganzen Fragen? Ich verstehe schon, dass Sie von der Kriminalpolizei kommen, aber dann muss doch ein besonderer Grund vorliegen.»

«Nun, Mrs Merton, in Mrs Chapmans Wohnung ist tatsächlich eine Leiche gefunden worden.»

«Oh!» Mrs Merton sah einen Augenblick aus wie der Hund im Märchen, dessen Augen so groß wie Untertassen waren.

«Eine Leiche! Etwa Mr Chapman? Oder ein Ausländer?»

«Überhaupt kein Mann – eine Frauenleiche.»

«Eine Frau?» Mrs Mertons Erstaunen schien noch zu wachsen.

Poirot fragte milde: «Warum dachten Sie, es sei ein Mann?»

«Ach, ich weiß nicht. Es kam mir wahrscheinlicher vor…»

«Aber warum? Pflegte Mrs Chapman Männerbesuche zu empfangen?»

«O nein – keineswegs.» Mrs Merton war ganz empört. «So etwas habe ich nicht gemeint. So eine Frau war Sylvia Chapman nicht im Geringsten! Es war nur, weil Mr Chapman – ich meine…» Sie brach ab.

«Ich glaube», sagte Poirot, «Sie wissen ein bisschen mehr, als Sie uns erzählt haben, Madame.»

Mrs Merton erklärte zögernd: «Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich möchte keinen Vertrauensbruch begehen und habe natürlich niemandem verraten, was Sylvia mir erzählt hat – außer zwei Freundinnen, von denen ich bestimmt wusste, dass sie kein Wort weitersagen würden.»

Mrs Merton holte tief Atem.

«Was hat Ihnen Mrs Chapman erzählt?», fragte Japp.

Mrs Merton beugte sich vor und senkte die Stimme. «Es ist ihr eines Tages gewissermaßen zufällig entschlüpft. Wir sahen einen Film, der vom Geheimdienst handelte, und Mrs Chapman sagte, es sei deutlich zu merken, dass die Filmleute nicht viel von diesem Metier verstünden. Und dann ist es herausgekommen, nur hat sie mich beschworen, darüber zu schweigen. Mr Chapman ist nämlich beim Geheimdienst tätig. Das ist der wirkliche Grund, weshalb er dauernd ins Ausland fahren muss. Die Geschäftsreisen sind nur ein Vorwand.»

Als sie die Treppe hinunter zu Nummer 42 zurückgingen, war Japp sichtlich wütend.

Sergeant Beddas, der tüchtige junge Mann, erwartete die beiden und sagte respektvoll: «Aus dem Mädchen habe ich nichts Vernünftiges herausbringen können, Chefinspektor. Mrs Chapman hat ihre Bedienung anscheinend ziemlich häufig gewechselt. Diese Nelly hat die Stellung erst seit ein oder zwei Monaten gehabt. Sie sagt, Mrs Chapman sei eine nette Dame gewesen, habe gern Radio gehört und mit ihr nie unfreundlich gesprochen. Manchmal hat sie Briefe aus dem Ausland bekommen, ein paar aus Deutschland, zwei aus Amerika, einen aus Italien und einen aus Russland. Der Freund des Mädchens sammelt Marken, und Mrs Chapman gab ihr diese stets, wenn ein Brief gekommen war.»

«Unter Mrs Chapmans Papieren haben Sie nichts gefunden?»

«Nicht das Geringste, Chefinspektor. Es war auch nicht viel an Papieren da. Ein paar Rechnungen und Quittungen – alle von hiesigen Firmen. Einige alte Theaterprogramme, ein paar Kochrezepte, die sie aus der Zeitung ausgeschnitten hatte, und eine Broschüre über die Zenana-Mission.»

«Nun, und wer die ins Haus gebracht hat, ist leicht zu erraten. Das klingt kaum nach einer Mörderin, was? Und doch scheint sie das gewesen zu sein. Zumindest muss sie eine Komplizin sein. Und fremde Männer sind an dem Abend nicht im Haus gesehen worden?»

«Der Portier kann sich an keine erinnern, aber es ist ja auch schon ziemlich lange her, und überhaupt ist das Haus sehr groß – ein dauerndes Kommen und Gehen. An das Datum erinnert er sich nur deshalb, weil er am nächsten Tag ins Spital gebracht worden ist und sich an dem betreffenden Abend schon sehr schlecht gefühlt hat.»

Der Arzt kam aus dem Badezimmer, wo er sich die Hände gewaschen hatte.

«Eine höchst unappetitliche Leiche», sagte er heiter. «Schicken Sie sie mir rüber, sobald Sie soweit sind. Dann werde ich mich an die Arbeit machen.»

«Todesursache noch nicht festgestellt, Doktor?»

«Bevor ich die Autopsie gemacht habe, kann ich unmöglich etwas Genaues sagen. Die Verletzungen im Gesicht sind ihr bestimmt erst nach dem Tod beigebracht worden, möchte ich behaupten. Aber mit Sicherheit lässt es sich erst sagen, wenn ich sie auf dem Seziertisch habe. Frau in mittleren Jahren, anscheinend soweit gesund, Haare an der Wurzel grau, aber blond gefärbt. Vielleicht hat sie am Körper besondere Merkmale – wenn nicht, wird sie schwer zu identifizieren sein –, ach, Sie wissen, wer es ist? Das ist großartig. Was? Die vermisste Frau, über die soviel in der Zeitung stand? Ich lese die Zeitung immer nur flüchtig. Löse nur die Kreuzworträtsel.»

«Und das ist nun die öffentliche Meinung!», sagte Japp bitter, als der Arzt hinausging.

Poirot stand über den Schreibtisch gebeugt. Er nahm ein braunes Adressbüchlein zur Hand und schlug es beim Buchstaben Z auf. Da stand:

Dr. Zacharias, Prince Albert Road 17; Zaccoletti und Drake, Fischgeschäft.

Und darunter stand:

Zahnarzt, Mr Morley, Queen Charlotte Street 58.

In Poirots Augen leuchtete ein grünes Licht. «Es wird», sagte er, «nicht schwierig sein, die Leiche einwandfrei zu identifizieren.»

Japp sah ihn erstaunt sein.

«Sie glauben doch nicht etwa…»

«Ich will ganz sicher sein!», antwortete Poirot heftig.

Miss Morley war aufs Land gezogen. Sie wohnte jetzt in einem Bauernhäuschen in der Nähe von Hertford. Der Grenadier empfing Poirot freundlich. Seit dem Tod ihres Bruders war ihr Gesicht jedoch noch grimmiger, ihre Haltung noch aufrechter, ihre allgemeine Einstellung zum Leben noch unnachgiebiger geworden. Sie trug schwer an dem Makel, mit dem das Ergebnis der Leichenschau die Berufsehre ihres Bruders befleckt hatte. Auf Poirots Fragen antwortete sie bereitwillig und sachverständig. Mr Morleys Papiere, soweit sie mit seiner Arbeit zusammenhingen, waren von Miss Nevill geordnet und seinem Nachfolger übergeben worden. Manche Patienten waren zu Mr Reilly übergewechselt, andere hatten den neuen Partner gewählt. Als sie ihre Auskünfte erteilt hatte, sagte sie: «Sie haben also diese Patientin von Henry gefunden – Miss Sainsbury Seale –, und auch sie ist ermordet worden.»

Das ‹auch› klang herausfordernd. Sie sagte es mit besonderem Nachdruck.

«Hat Ihr Bruder», fragte Poirot, «Miss Sainsbury Seale Ihnen gegenüber nie erwähnt?»

«Nein, ich kann mich nicht erinnern. Wir haben gewöhnlich nicht viel über seine Arbeit gesprochen. Er war froh, sie vergessen zu können, wenn der Tag vorbei war. Manchmal war er sehr müde.»

«Können Sie sich erinnern, von einer Patientin namens Chapman gehört zu haben?»

«Chapman? Nein, ich glaube nicht. Bei allen diesen Dingen könnte Ihnen am ehesten Miss Nevill behilflich sein.»

«Wo ist sie denn jetzt?»

«Ich glaube, sie arbeitet bei einem Zahnarzt in Ramsgate.»

«Sie hat also diesen jungen Mr Carter noch nicht geheiratet?»

«Nein, und ich hoffe, dass auch in Zukunft nichts daraus wird. Ich mag den jungen Mann nicht, Mr Poirot, ich mag ihn wirklich nicht. Mit dem stimmt etwas nicht.»

«Würden Sie es für möglich halten, dass er Ihren Bruder erschossen hat?», erkundigte sich Poirot.

Miss Morley sagte langsam: «Ich habe das Gefühl, dass er vielleicht dazu fähig gewesen wäre – denn er ist sehr unbeherrscht. Aber ich sehe nicht ein, welchen Grund – übrigens auch welche Gelegenheit – er dafür gehabt haben könnte. Schließlich ist es Henry nicht gelungen, Gladys von ihm abzubringen. Sie hat weiter treu zu ihm gehalten.»

«Glauben Sie, dass man ihn bestochen haben könnte?»

«Bestochen? Meinen Bruder umzubringen? Das halte ich für einen phantastischen Gedanken!»

In diesem Augenblick brachte ein nettes, dunkelhaariges Mädchen den Tee. Als es die Tür hinter sich schloss, erkundigte sich Poirot: «Dieses Mädchen war schon in London bei Ihnen, nicht wahr?»

«Agnes? Ja, sie war unser Stubenmädchen. Ich habe die Köchin entlassen, und Agnes macht jetzt alles. Sie hat sich zu einer sehr netten kleinen Köchin entwickelt.»

Poirot nickte. Er erinnerte sich der häuslichen Verhältnisse in der Queen Charlotte Street 58 noch sehr genau. Sie waren zur Zeit der Tragödie gründlich untersucht worden. Mr Morley und seine Schwester hatten ihre Wohnräume in den beiden oberen Stockwerken des Hauses. Das Souterrain war gänzlich abgeschlossen, mit Ausnahme eines schmalen Ganges, der zum Hinterhof führte; dort waren ein Sprachrohr und ein Aufzug zum obersten Stock angebracht, der die Lebensmittel und anderen Waren für den Haushalt hinaufbeförderte. Den einzigen Zugang zum Haus bildete daher die vordere Eingangstür, die von Alfred bedient wurde. Dies hatte der Polizei einen sicheren Anhaltspunkt dafür geboten, dass an dem betreffenden Vormittag kein Außenseiter das Haus hatte betreten können.

Köchin und Stubenmädchen waren schon jahrelang bei den Morleys und hatten einen guten Leumund. Obwohl es also theoretisch möglich gewesen wäre, dass sich eine von den beiden in den zweiten Stock hinuntergeschlichen und dort den Hausherrn erschossen hatte, war doch diese Annahme niemals ernstlich in Erwägung gezogen worden. Beim Verhör hatten beide keinen übermäßig ängstlichen oder aufgeregten Eindruck gemacht, und es bestand im Ganzen keinerlei Anlass, sie mit dem Tod Morleys in Verbindung zu bringen.

Aber als Poirot beim Fortgehen von Agnes Hut und Stock überreicht bekam, wandte sie sich mit auffallender Nervosität an ihn mit der Frage: «Ist – ist etwas Neues herausgekommen über den Tod von Mr Morley?»

Poirot sah sie aufmerksam an: «Nichts Neues ist bekannt geworden», antwortete er.

«Glaubt man immer noch, dass er sich umgebracht hat, weil ihm ein Versehen mit dem Mittel passiert ist?»

«Ja. Warum fragen Sie?»

Agnes strich sich verlegen über die Schürze. Sie wandte das Gesicht zur Seite und stotterte undeutlich: «Miss Morley glaubt nicht daran.»

«Und Sie?»

«Ich? Ach, ich weiß ja nichts. Ich wollte nur – ganz sicher sein.»

Hercule Poirot sagte mit seiner sanftesten Stimme: «Es wäre für Sie eine Erleichterung, wenn Sie ohne jeden Zweifel wüssten, dass es Selbstmord war?»

«O ja», antwortete Agnes rasch, «das wäre wirklich eine Erleichterung.»

«Aus irgendeinem bestimmten Grund?»

Ihr erschrockener Blick begegnete dem seinen. Sie zuckte zurück.

«Ich – ich weiß keinen bestimmten Grund. Ich wollte nur fragen.»

«Ja, aber warum hat sie gefragt?», murmelte Poirot vor sich hin, als er den Weg zum Gartentor hinunterschritt. Er war überzeugt, dass es eine Antwort auf diese Frage gab. Aber einstweilen konnte er die Antwort nicht erraten.

Trotzdem hatte er das Gefühl, einen Schritt weitergekommen zu sein.

Beim Heimkommen fand Poirot zu seiner Überraschung einen unerwarteten Besucher vor.

Ein kahler Kopf war über dem Rücken eines Lehnstuhls sichtbar, und es erhob sich die kleine, adrette Gestalt von Mr Barnes.

Er blinzelte, wie üblich, und entschuldigte sich trocken für sein unangemeldetes Erscheinen. Er war gekommen – so erklärte er –, um M. Hercule Poirots Besuch zu erwidern.

Poirot seinerseits erklärte, er sei entzückt, Mr Barnes zu sehen. George wurde beauftragt, Kaffee zu bringen – es sei denn, der Besuch ziehe Tee oder Whisky-Soda vor?

«Kaffee wäre ausgezeichnet», sagte Mr Barnes. «Ich nehme an, dass Ihr Diener ihn gut macht, was das englische Personal meist nicht fertig bringt.»

Nach dem Austausch einiger höflicher Bemerkungen räusperte sich Mr Barnes schließlich und sagte:

«Ich will ganz offen mit Ihnen sein, M. Poirot. Es ist die reine Neugierde, die mich zu Ihnen geführt hat. Sie, dachte ich, würden über alle Einzelheiten dieses seltsamen Falles am besten informiert sein. Ich ersehe aus der Zeitung, dass man die verschwundene Mabelle Sainsbury Seale gefunden hat und dass eine Leichenschau abgehalten und bis zur Beibringung neuer Beweismittel vertagt wurde. Als Todesursache wurde eine Überdosis Medinal angegeben.»

«Genau so verhält es sich», bestätigte Poirot, und nach einer Pause fragte er: «Haben Sie jemals etwas von Albert Chapman gehört, Mr Barnes?»

«Ah, der Gatte der Dame, in deren Wohnung Miss Seale umgekommen ist? Wie es scheint, eine schwer zu fassende Persönlichkeit.»

«Aber doch wohl kaum eine Persönlichkeit, die es nicht gibt?»

«Oh, keineswegs», sagte Mr Barnes. «Es gibt ihn. O ja, es gibt ihn – oder hat ihn gegeben. Ich hörte, er sei tot. Aber auf solche Gerüchte kann man sich nie verlassen.»

«Wer war Chapman, Mr Barnes?»

«Ich glaube nicht, dass da Näheres herauskommt, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Man wird an der Lesart vom ‹Vertreter einer Rüstungsfirma› festhalten.»

«Er war also tatsächlich beim Geheimdienst?»

«Natürlich war er das. Aber er hatte nicht das Recht, es seiner Frau zu verraten – keinesfalls. Er hätte sogar den Dienst quittieren müssen, als er heiratete. Als verheirateter Mann bleibt man gewöhnlich nicht aktiv – das heißt, wenn man zum Kreis der Geheimagenten gehört.»

«Und Chapman hat zu diesen gehört?»

«Ja. QX 912: Das war seine Chiffre. Namen werden dort nie gebraucht. Ich will nicht behaupten, QX 912 sei ein besonders wichtiger Mann gewesen. Aber er war gut verwendbar, weil er so unauffällig aussah. Für Botenreisen kreuz und quer durch Europa hat man ihn viel eingesetzt.»

«Dann war er also im Besitz wertvoller Informationen?»

«Ach, vermutlich hat er überhaupt nichts gewusst», meinte Mr Barnes fröhlich. «Seine Aufgabe bestand einzig darin, in Eisenbahnzügen, Schiffen und Flugzeugen hin- und herzurasen und eine passende Begründung für seine jeweilige Reise bereit zu haben.»

«Und Sie haben gehört, er sei tot?»

«Das habe ich gehört», erwiderte Mr Barnes. «Aber man darf nicht alles glauben, was man hört. Ich tue das nie.»

Poirot schaute Mr Barnes forschend an: «Was ist, glauben Sie, aus seiner Frau geworden?»

«Ich habe keine Ahnung», erklärte Barnes. «Sie vielleicht?»

«Ich hatte eine Ahnung», sagte Poirot zögernd, «aber es ist alles sehr verworren.»

Mr Barnes murmelte mitfühlend: «Macht Ihnen irgendein bestimmter Punkt Schwierigkeiten?»

Hercule Poirot antwortete langsam: «Ja. Etwas, das ich mit eigenen Augen gesehen habe…»

Japp betrat Poirots Wohnzimmer und knallte seinen steifen Hut mit solcher Wucht auf den Tisch, dass alles wackelte. «Was zum Teufel», fragte er, «hat Sie auf den Gedanken gebracht?»

«Mein lieber Japp, ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen.»

Langsam und nachdrücklich sagte Japp: «Was hat Sie auf den Gedanken gebracht, die Leiche sei nicht die von Miss Sainsbury Seale?»

«Es war das Gesicht, das man so zugerichtet hat. Warum sollte es notwendig gewesen sein, einer toten Frau das anzutun?», sagte Poirot leise.

«Ich hoffe nur, der alte Morley ist an einem Ort, wo er davon erfährt. Wissen Sie, es ist sehr gut möglich, dass er mit Vorbedacht aus dem Weg geräumt worden ist – damit er keine Aussage machen konnte!», erklärte Japp unmutig.

«Es wäre natürlich weit besser, wenn er selbst als Zeuge hätte auftreten können.»

«Leatheran genügt auch, Morleys Nachfolger. Er ist ein tüchtiger, fähiger Mann, der einen guten Eindruck macht, und das Beweismaterial ist nicht anzuzweifeln.»

Die Abendblätter des folgenden Tages enthielten eine sensationelle Nachricht: Die in einer Wohnung am Battersea Park aufgefundene Frauenleiche, von der angenommen worden war, es sei die von Miss Sainsbury Seale, war einwandfrei als die von Mrs Albert Chapman identifiziert worden. Zahnarzt Leatheran, Queen Charlotte Street 58, hatte sie auf Grund des Gebisses, dessen genaue Einzelheiten in der Kartei seines verstorbenen Vorgängers Morley verzeichnet waren, mit Bestimmtheit als Mrs Albert Chapman erkannt.

Die Leiche war mit den Sachen von Miss Sainsbury Seale bekleidet gewesen, und Miss Sainsbury Seales Handtasche hatte daneben gelegen. Wo aber befand sich Miss Sainsbury Seale?

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