9

Am folgenden Tag verbrachte Poirot einige Stunden mit einem Theateragenten aus seiner Bekanntschaft. Nachmittags fuhr er nach Oxford. Am Tag darauf machte er eine Autotour über Land und kam spät zurück.

Vor der Abfahrt hatte er mit Alistair Blunt telefoniert und ein Treffen für den Abend verabredet.

Es war halb zehn, als er im Gotischen Haus anlangte. Er ließ sich zu Blunt führen, der allein in der Bibliothek saß.

Blunt schüttelte seinem Besucher die Hand und warf ihm einen fragenden Blick zu.

«Nun?»

Hercule Poirot nickte langsam.

Blunt sah ihn mit ungläubiger Bewunderung an.

«Sie haben sie gefunden?»

«Ja, ich habe sie gefunden.»

Er setzte sich und seufzte.

Alistair Blunt fragte: «Sind Sie müde?»

«Ja, ich bin müde. Und was ich Ihnen zu sagen habe – ist nicht angenehm.»

«Ist sie tot?»

«Das hängt davon ab», antwortete Poirot langsam, «wie Sie die Sache betrachten…»

Blunt sagte stirnrunzelnd: «Mein lieber Mann – ein Mensch muss doch entweder tot oder lebendig sein. Eines von beiden muss also auch auf Miss Sainsbury Seale zutreffen, oder?»

«Ja – aber wer ist Miss Sainsbury Seale?»

«Meinen Sie damit, dass diese Person – gar nicht existiert?», fragte Blunt zögernd.

«Nein, nein: Sie hat existiert. Sie hat in Kalkutta gewohnt, gab Sprachunterricht, war wohltätig, und auf der ‹Maharanah› kam sie nach England. Sie war auf demselben Schiff, das auch Mr Amberiotis benutzte. Obschon sie nicht in der gleichen Klasse reisten, hat er ihr einen kleinen Dienst erwiesen – es drehte sich um ihr Gepäck. In Kleinigkeiten scheint er ein hilfsbereiter Mensch gewesen zu sein. Und manchmal, Mr Blunt, macht sich Hilfsbereitschaft in unerwarteter Weise bezahlt. So erging es auch Mr Amberiotis. Der Zufall wollte, dass er die Dame in London auf der Straße wiedertraf. Er war in Geberlaune und lud sie zum Mittagessen ins Savoy ein. Das war ein unerwartetes Fest für sie – und für Mr Amberiotis ein unerwarteter Glücksfall! Denn seiner Gutmütigkeit lag keinerlei Berechnung zugrunde – er hatte keine Ahnung, dass diese verwelkte, ältliche Dame ihm ein Geschenk machen würde, das für ihn einer Goldgrube gleichkam. Und doch tat sie das – freilich ohne es zu wissen.

Sie war nicht besonders helle, verstehen Sie. Eine brave, gutmütige Haut, aber mit der Intelligenz – sagen wir – einer Henne.»

Blunt fragte: «Dann ist die Chapman also nicht von ihr umgebracht worden?»

Poirot sagte langsam: «Ich weiß nicht recht, wie ich den Fall darstellen soll. Ich werde, glaube ich, dort anfangen, wo er für mich begonnen hat. Mit einem Schuh!»

Blunt fragte verständnislos: «Mit einem Schuh?»

Poirot nickte. «Ja, mit einem Schnallenschuh. Ich kam von der Behandlung beim Zahnarzt, und als ich auf den Stufen des Hauses Queen Charlotte Street 58 stand, hielt ein Taxi, und ich sah den Fuß der Frau, die im Begriff war auszusteigen. Ich gehöre zu den Männern, die sich Fuß und Knöchel bei einer Frau ansehen. Es war ein wohlgeformter Fuß mit schlanker Fessel und einem teuren Strumpf – aber der Schuh gefiel mir nicht. Es war ein neuer, glänzender Lackschuh mit einer großen, verzierten Schnalle. Nicht schick – gar nicht schick!

Und während ich diese Beobachtungen anstellte, kam der restliche Teil der Frau zum Vorschein. Das war, offen gesagt, eine Enttäuschung: eine angejahrte Dame ohne Charme und schlecht angezogen.»

«Miss Sainsbury Seale?»

«Sehr richtig. Bei ihrem Aussteigen ereignete sich ein kleiner Unglücksfall: Die Schnalle ihres einen Schuhs verfing sich in der Tür des Taxis und wurde abgerissen. Ich hob die Schnalle auf und gab sie ihr zurück. Das war alles. Der Zwischenfall war abgeschlossen.

Im weiteren Verlauf des gleichen Tages suchte ich mit Chefinspektor Japp die Dame auf, um ihr verschiedene Fragen zu stellen – übrigens hatte sie da die Schnalle noch nicht wieder angenäht. Am selben Abend verließ Miss Sainsbury Seale ihr Hotel und verschwand spurlos. Bis dahin, wollen wir sagen, reicht der erste Teil.

Der zweite Teil begann, als Chefinspektor Japp mich in die King Leopold Mansions kommen ließ. In einer der Wohnungen stand eine Pelztruhe, und in dieser Pelztruhe war eine Leiche gefunden worden. Das erste, was ich sah, als ich an die Truhe trat, war – ein abgetragener Schnallenschuh!»

«Nun?»

«Sie haben den springenden Punkt nicht ganz erfasst:

Es war ein abgetragener Schuh, ein Schuh, der schon längere Zeit in Gebrauch gewesen war. Nun bedenken Sie aber: Miss Sainsbury Seale war am Abend des gleichen Tages in die King Leopold Mansions gekommen – des Tages, an dem Morley ermordet worden war. Am Morgen waren die Schuhe neu gewesen – am Abend waren sie alt. Sie verstehen – man kann ein Paar Schuhe nicht in einem einzigen Tage abtragen.»

Alistair Blunt bemerkte ziemlich gleichgültig: «Wahrscheinlich hat sie zwei Paar besessen.»

«Ah – aber gerade das war nicht der Fall. Japp und ich hatten ihr Zimmer im Glengowrie Court Hotel durchsucht und keine Schnallenschuhe gefunden. Ja, sie hätte ein Paar alte Schuhe besitzen und nach einem anstrengenden Tag am Abend anziehen können – aber dann hätten wir das neue Paar im Hotel vorfinden müssen, nicht wahr? Sie werden zugeben, dass das Fehlen des zweiten Paars ein auffallender Umstand war.»

Blunt sagte mit schwachem Lächeln: «Ich kann nicht einsehen, dass es so wichtig gewesen sein soll.»

«Nein – wichtig nicht, aber es stört mich, wenn ich mir etwas nicht erklären kann. Ich stand vor der Pelztruhe und betrachtete den Schuh – die Schnalle war erst kürzlich mit der Hand angenäht worden. Ich will zugeben, dass in mir in diesem Augenblick Zweifel aufstiegen. Zweifel an mir selbst. Ja, sagte ich mir im Stillen, Hercule Poirot, vielleicht warst du an diesem Morgen etwas leichtsinnig. Du hast die Welt durch eine rosa Brille gesehen. Sogar die alten Schuhe sind dir neu vorgekommen!»

«Vielleicht war das tatsächlich die richtige Erklärung?»

«Aber nein, keineswegs. Meine Augen täuschen mich nicht! Weiter: Ich untersuchte die Leiche, und was ich sah, gefiel mir gar nicht. Warum war das Gesicht mit Absicht brutal verstümmelt und unkenntlich gemacht worden…?»

Alistair Blunt rückte unruhig hin und her.

«Müssen wir das alles noch einmal durchgehen? Wir wissen doch schon…»

Hercule Poirot entgegnete mit fester Stimme: «Es ist notwendig. Ich muss mit Ihnen alle Phasen des Weges durchgehen, der mich schließlich zur Lösung geführt hat. Ich sagte mir: ‹Hier stimmt etwas nicht. Da liegt eine tote Frau in der Kleidung der Sainsbury Seale – ausgenommen vielleicht die Schuhe? – und daneben die Handtasche der Sainsbury Seale: Und warum hat man ihr Gesicht so zugerichtet, dass es nicht zu erkennen ist? Etwa, weil das Gesicht nicht das von Miss Sainsbury Seale ist?› Und sofort beginne ich alles zusammenzutragen, was ich über die Erscheinung der anderen Frau – der Frau, der die Wohnung gehört – erfahren habe, und ich frage mich: Ist es nicht möglicherweise die andere Frau, die da tot vor mir liegt? Dann gehe ich und schaue mir das Schlafzimmer der anderen Frau an. Ich versuche mir auszumalen, um was für eine Art Frau es sich handelt. Oberflächlich betrachtet, scheint sie sich von der Seale sehr zu unterscheiden. Elegant, auffallend angezogen, stark zurechtgemacht. Aber in den wesentlichen Zügen ihr nicht unähnlich: Haar, Körperbau, Alter. Ein Unterschied ist jedoch vorhanden: Mrs Albert Chapman hatte Schuhgröße fünf, während Miss Sainsbury Seale, wie ich wusste, Strümpfe Nummer zehn trug, also wenigstens Schuhgröße sechs hatte. Mrs Chapman besaß also kleinere Füße als Mrs Sainsbury Seale. Ich ging zu der Leiche zurück. Wenn meine halb gare Theorie stimmte und das die Leiche von Mrs Chapman in Miss Sainsbury Seales Kleidern war, dann mussten ihr die Schuhe zu groß sein. Ich ergriff einen der Schuhe – aber er saß fest. Das sah also aus, als sei es doch die Leiche von Miss Sainsbury Seale! Aber warum war dann das Gesicht verstümmelt? Ihre Identität war doch schon durch die Handtasche bewiesen, die man leicht hätte entfernen können, aber nicht entfernt hatte.

Es war ein Rätsel – ein höchst verwickeltes Rätsel. In meiner Verzweiflung stürzte ich mich auf Mrs Chapmans Adressbuch: Ein Zahnarzt war der einzige Mensch, der mit Bestimmtheit feststellen konnte, wer die tote Frau war – oder nicht war. Zufällig war Mrs Chapmans Zahnarzt Mr Morley. Morley war tot, aber die Identifizierung ließ sich trotzdem ermöglichen. Sie kennen das Ergebnis. Die Leiche wurde bei der Totenschau durch Mr Morleys Nachfolger als diejenige von Mrs Albert Chapman identifiziert.»

Blunt verriet Zeichen der Ungeduld, aber Poirot beachtete sie nicht. Er fuhr fort: «Nun stand ich vor einem psychologischen Problem. Was für eine Art Frau war Mabelle Sainsbury Seale? Auf diese Frage gab es zwei Antworten. Die erste war die nächstliegende, die durch Mabelles ganzes Leben in Indien und durch das Zeugnis ihrer persönlichen Bekannten gegeben wurde. Danach war sie ein gewissenhaftes, ernstes, etwas törichtes Wesen. Gab es noch eine andere Sainsbury Seale? Anscheinend ja. Es gab die Frau, die mit einem bekannten ausländischen Agenten zu Mittag aß; die Frau, die Sie, Mr Blunt, unter der offensichtlich falschen Vorspiegelung, sie sei eine enge Freundin Ihrer Frau gewesen, auf der Straße ansprach; die Frau, die Morleys Haus verließ, unmittelbar bevor dort ein Mord begangen wurde; die Frau, die eine andere just an dem Abend besuchte, an dem diese höchstwahrscheinlich ermordet wurde; die Frau, die seither verschwunden war, obwohl die gesamte Polizeimacht Englands nach ihr suchte. Ließen sich alle diese Handlungen mit dem Leumund vereinbaren, den ihre Freunde ihr ausstellten? Anscheinend doch nicht. Wenn also Miss Sainsbury Seale nicht das gute, liebenswerte Geschöpf war, als das sie erschien, dann war sie möglicherweise eine kaltblütige Mörderin oder zumindest Helfershelferin.

Noch etwas stand mir zur Verfügung: mein eigener persönlicher Eindruck. Ich hatte selbst mit Mabelle Sainsbury Seale gesprochen. Wie hatte sie auf mich gewirkt? Und auf diese Frage, Mr Blunt, war die Antwort am schwersten zu finden. Alles, was sie gesagt hatte, ihre Sprechweise, ihr Auftreten, ihre Bewegungen – alles entsprach völlig der Persönlichkeit, als die sie uns geschildert worden war.

Aber gleichzeitig passte all das ebenso gut auf eine geschickte Schauspielerin, die sich in eine bestimmte Rolle hineingelebt hat. Und schließlich hatte ja Mabelle Sainsbury Seale ihre Laufbahn als Schauspielerin begonnen! Stark beeindruckt war ich von einem Gespräch, das ich mit Mr Barnes aus Ealing führte – auch er war an dem betreffenden Tag in der Queen Charlotte Street zur Behandlung gewesen. Seine Theorie, die er sehr nachdrücklich vertrat, ging dahin, dass die Morde an Morley und Amberiotis sozusagen nur Randerscheinungen waren, und dass Sie, Mr Blunt, das beabsichtigte Opfer darstellten.»

«Ach, gehen Sie, das ist doch ein bisschen weit hergeholt!», meinte Alistair Blunt wegwerfend.

«Wirklich, Mr Blunt? Stimmt es nicht, dass es augenblicklich mehrere politische Gruppen gibt, für die es eine Existenzfrage ist, dass Sie – sagen wir – beseitigt werden?»

«Ja, das ist schon richtig. Aber was soll das mit der Ermordung Morleys zu tun haben?»

«Dieser Fall weist einen bestimmten – wie soll ich mich ausdrücken – verschwenderischen Zug auf. Die Kosten spielen keine Rolle – auch Menschenleben spielen keine Rolle. Ja, wir stehen hier vor einer Kühnheit und Rücksichtslosigkeit, die auf ein wahrhaft großes Verbrechen hindeuten!»

«Sie glauben also nicht, dass sich Morley wegen eines Irrtums erschossen hat?»

«Ich habe das nie geglaubt – keine Sekunde lang. Nein: Morley wurde ermordet, Amberiotis wurde ermordet, die unkenntlich gemachte Frau wurde ermordet. Und warum? Um eines bestimmten hohen Einsatzes willen. Barnes neigte zu der Theorie, man habe versucht, Morley oder seinen Partner zu bestechen, Sie aus dem Weg zu räumen.»

«Unsinn!», sagte Alistair Blunt scharf.

«Ah – ist es wirklich Unsinn? Nehmen wir an, es soll jemand aus dem Weg geräumt werden. Ja, aber der Betreffende ist gewarnt, gewappnet, und man kommt schwer an ihn heran. Um einen solchen Menschen umzubringen, muss man es so einrichten, dass man zu ihm gelangt, ohne seinen Verdacht zu erregen. Wäre das Sprechzimmer des Zahnarztes dafür nicht der ideale Ort?»

«Ja, das dürfte stimmen. Von dieser Seite habe ich die Sache noch nie betrachtet.»

«Sicher stimmt es. Und als mir das aufgegangen war – da sah ich zum ersten Mal einen Schimmer der Lösung vor mir.»

«Sie haben sich also die Theorie des Mr Barnes zu Eigen gemacht? Wer ist übrigens dieser Barnes?»

«Barnes war Reillys Zwölf-Uhr-Patient. Er ist pensionierter Beamter des Innenministeriums und wohnt in Ealing. Ein unauffälliger kleiner Mann. Aber Sie irren sich, wenn Sie sagen, ich hätte mir seine Theorie zu Eigen gemacht. Das habe ich nicht getan. Ich habe mir nur Ihr Prinzip zu Eigen gemacht.»

«Was meinen Sie damit?»

«Von Anfang an bin ich immer wieder vom richtigen Weg abgedrängt worden – manchmal unbeabsichtigt, manchmal bewusst und zu einem bestimmten Zweck. Dauernd wurde mir eingeredet, ja aufgezwungen, es handle sich hier um ein sozusagen öffentliches Verbrechen. Das heißt: Sie, Mr Blunt, standen als öffentliche Erscheinung im Brennpunkt der Geschehnisse Sie, der Bankier, der Finanzmagnat, der Verfechter der konservativen Ideen! Aber jede Person des öffentlichen Lebens hat auch ihr Privatleben. Und das war mein Fehler: Ich vergaß das Privatleben. Es gab private Gründe für die Ermordung Morleys – Frank Carter besaß zum Beispiel solche Gründe. Es konnte auch private Gründe dafür geben, Sie zu ermorden, Mr Blunt. Sie hatten Angehörige, die bei Ihrem Tod erben würden. Es gab Leute, die Ihnen Liebe oder Hass entgegenbrachten – und zwar dem Menschen, nicht dem Politiker.

Und so gelangte ich zu dem klassischen Fall dessen, was ich die ‹aufgezwungene Karte› nenne – zu dem angeblichen Attentat Frank Carters auf Sie. War dieses Attentat echt, dann handelte es sich wirklich um ein politisches Verbrechen. Oder gab es eine andere Erklärung dafür? Es konnte sie geben. Im Gebüsch befand sich noch jemand: der Mann, der herbeieilte und Carter packte. Ein Mann, der mit Leichtigkeit den Schuss abgefeuert und dann die Pistole Carter vor die Füße geschleudert haben konnte, so dass dieser sie fast unvermeidlich aufheben und damit ertappt werden musste.

Ich dachte über das Problem Howard Raikes nach. Raikes befand sich an dem kritischen Vormittag in der Queen Charlotte Street. Raikes ist ein erbitterter Gegner alles dessen, was Sie, Mr Blunt, verkörpern und sind. Ja, aber Raikes ist noch mehr: Er ist der Mann, den Ihre Nichte wahrscheinlich heiraten wird, und Ihre Nichte soll bei Ihrem Tod ein beträchtliches Vermögen erben, wenn Sie auch vorsichtig dafür gesorgt haben, dass sie das Kapital nicht angreifen kann.

War das Ganze schließlich doch ein privates Verbrechen – ein Verbrechen um privater Vorteile, um privater Ziele willen? Warum hatte ich es für ein öffentliches Verbrechen gehalten? Weil mir dieser Gedanke nicht nur einmal, sondern wiederholt – suggeriert und wie eine Spielkarte, die ich unbedingt ziehen sollte, aufgezwungen worden war!

Als mir dieser Einfall gekommen war, sah ich, wie gesagt, zum ersten Mal einen Schimmer der richtigen Lösung. Ich war damals in der Kirche und sang einen Psalm: ‹und stellen mir Fallen an den Weg›, hieß es darin.

Eine Falle? Für mich gestellt? Ja, das konnte sein. Aber dann gab es nur einen einzigen Menschen, der sie gestellt haben konnte. Und das wäre doch widersinnig gewesen! Oder war es nicht widersinnig? Hatte ich den Fall bisher aus der verkehrten Perspektive betrachtet? Geld spielt keine Rolle? Natürlich! Rücksichtslose Opferung von Menschenleben? Jawohl, richtig! Denn der Einsatz, um den es für den Schuldigen ging, war riesengroß…

Aber wenn meine neue, sonderbare Theorie stimmte, dann musste sie sich nicht nur auf vereinzelte Punkte anwenden lassen, sondern auf alles. Sie musste beispielsweise das Geheimnis der gespaltenen Persönlichkeit von Miss Sainsbury Seale erklären. Sie musste das Rätsel des Schnallenschuhs lösen. Und sie musste die Frage beantworten: Wo befindet sich Miss Sainsbury Seale jetzt?

Eh bien – meine Theorie erfüllt alle diese Wünsche, und noch mehr. Sie zeigte mir, dass Miss Sainsbury Seale Anfang, Mitte und Ende des ganzen Falles bildet. Kein Wunder, dass ich geglaubt hatte, es gebe zwei Mabelle Sainsbury Seales. Es gab tatsächlich zwei solche Frauen. Die eine war die liebe, gute, dumme Person, für die ihre Freunde so warm eintraten. Und die andere war die Frau, die in zwei Mordfälle verwickelt war, Lügen erzählte und auf geheimnisvolle Weise verschwand. Denken Sie daran: Der Portier der King Leopold Mansions hat ausgesagt, Miss Sainsbury Seale sei vorher schon einmal da gewesen…

In meiner Rekonstruktion des Falles wurde dieses erste Mal zum einzigen Mal. Sie hat die King Leopold Mansions nicht wieder verlassen. Ihre Rolle wurde von der andern Miss Sainsbury Seale weitergespielt. Diese andere Mabelle Sainsbury Seale zog sich entsprechende Kleider an, trug ein neues Paar Schnallenschuhe, weil die anderen ihr zu groß waren, ging zu einer belebten Tageszeit in das Hotel am Russell Square, packte die Sachen der Toten, bezahlte die Rechnung und zog ins Glengowrie Hotel. Denken Sie daran, dass niemand von den Bekannten der echten Sainsbury Seale sie von da an gesehen hat. Dort spielte sie die Rolle Mabelle Sainsbury Seales über eine Woche lang. Sie trug Mabelle Sainsbury Seales Kleider, sprach mit deren Organ, aber sie musste sich auch ein kleineres Paar Schuhe kaufen. Und dann verschwand sie: Zum letzten Mal wurde sie gesehen, als sie am Abend von Morleys Todestag wiederum die King Leopold Mansions aufsuchte.»

«Wollen Sie behaupten», fragte Alistair Blunt, «dass die Leiche in der Pelztruhe schließlich doch Mabelle Sainsbury Seale war?»

«Natürlich war sie es! Es handelte sich um einen sehr geschickten doppelten Bluff: Das verstümmelte Gesicht sollte Zweifel an ihrer Identität wecken!»

«Aber das Gebiss?»

«Ah! Darauf kommen wir jetzt. Es war nicht ihr Zahnarzt persönlich, der über das Gebiss ausgesagt hat. Morley war tot und konnte über seine Arbeit keine Auskunft mehr geben. Er hätte bestimmt gewusst, wer die Leiche war. Stattdessen wurden die Karteikarten vorgelegt – und die Karten waren gefälscht. Bedenken Sie: Beide Frauen waren Morleys Patientinnen. Es brauchte nichts weiter zu geschehen, als dass ihre Namen auf den Karten ausgetauscht wurden.»

Hercule Poirot fügte hinzu: «Und jetzt verstehen Sie auch, warum ich auf Ihre Frage, ob die Frau tot sei, geantwortet habe: ‹Das kommt darauf an, wie Sie die Sache betrachten.› Denn wenn Sie von Miss Sainsbury Seale sprechen – wen meinen Sie dann? Die Frau, die aus dem Glengowrie Court Hotel verschwand oder die richtige Mabelle Sainsbury Seale?»

«M. Poirot», sagte Alistair Blunt, «ich weiß, dass Sie großes Ansehen genießen. Deshalb finde ich mich damit ab, dass Sie wahrscheinlich Ihre Gründe für diese außergewöhnliche Annahme haben – denn es ist eine Annahme, nicht mehr. Aber soweit ich sehe, ist die ganze Geschichte von einer geradezu phantastischen Unwahrscheinlichkeit. Sie behaupten, Mabelle Sainsbury Seale sei mit Vorbedacht ermordet worden, und auch Morley habe man getötet, um eine Identifizierung der Leiche durch ihn zu verhindern. Aber was ich gern wissen möchte, ist – warum? Warum soll ein derartig verwickelter Plan in Szene gesetzt worden sein, um eine vollkommen harmlose Frauensperson in mittleren Jahren zu beseitigen, die eine Menge Bekannte und anscheinend keinen einzigen Feind besaß?»

«Warum? Ja – das ist die Frage. Warum? Wie Sie sehr richtig sagen: Mabelle Sainsbury Seale war ein vollkommen harmloses Geschöpf, das keiner Fliege etwas zuleide getan hätte! Warum also hat man sie mit Vorbedacht brutal ermordet? Nun, ich will Ihnen sagen, was ich glaube.»

«Ja?»

Hercule Poirot beugte sich vor.

«Ich glaube, dass Mabelle Sainsbury Seale ermordet worden ist, weil sie ein zu gutes Gedächtnis für Physiognomien hatte.»

«Wie meinen Sie das?»

Poirot war jetzt ganz ruhig und sachlich:

«Wir haben die beiden Persönlichkeiten voneinander geschieden: die harmlose Dame aus Indien und die geschickte Schauspielerin, die die Rolle der harmlosen Dame aus Indien spielte. Aber einen Vorfall gab es, der zwischen den beiden Erscheinungsformen lag. Welche Miss Sainsbury Seale war es, die Sie, Mr Blunt, vor Morleys Haustür ansprach? Sie werden sich erinnern, dass sie behauptete, ‹sehr befreundet mit Ihrer Frau› gewesen zu sein. Nach der Ansicht ihrer Bekannten und im Lichte der allgemeinen Umstände kann diese Behauptung nicht gestimmt haben. Deshalb durften wir den Schluss ziehen: ‹Das war eine Lüge – die echte Sainsbury Seale lügt nicht, also handelte es sich um eine Betrügerin, die einen bestimmten Zweck verfolgte.›»

Alistair Blunt nickte.

«Ja, diese Überlegung ist durchaus klar. Obwohl ich nie erfahren habe, welchen Zweck sie eigentlich verfolgt hat.»

«Pardon», fuhr Poirot fort, «erst wollen wir die Sache von der anderen Seite betrachten. Es war die echte Sainsbury Seale. Diese lügt nicht. Also muss ihre Behauptung stimmen.»

«Natürlich lässt es sich auch so betrachten – aber es ist doch höchst unwahrscheinlich…»

«Freilich ist es unwahrscheinlich! Aber wenn wir unsere zweite Hypothese als Tatsache unterstellen, dann stimmt die Behauptung! Demnach hat Miss Sainsbury Seale Ihre Frau wirklich gekannt. Sie war sogar befreundet mit ihr. Also muss Ihre Frau jemand gewesen sein, den Miss Sainsbury Seale gut gekannt haben konnte. Ein Mensch aus der gleichen Lebenssphäre wie sie. Eine Engländerin in Indien, eine Missionarin oder – um noch weiter zurückzugreifen – vielleicht… eine Schauspielerin. Jedenfalls nicht Rebecca Arnholt! Verstehen Sie jetzt, Mr Blunt, woran ich dachte, als ich von einem öffentlichen und einem privaten Leben sprach? Sie sind ein bekannter Großbankier. Aber Sie sind auch ein Mann, der eine reiche Frau geheiratet hat. Und bevor Sie diese heirateten, waren Sie bloß jüngerer Teilhaber in einer Firma, einige Zeit nach Beendigung Ihrer Studien in Oxford.

Sie begreifen: Ich begann den Fall aus der richtigen Perspektive zu betrachten. Kosten spielen keine Rolle? Natürlich nicht – für Sie. Rücksichtslose Opferung von Menschenleben? Auch das macht Ihnen nichts aus, denn Sie sind praktisch seit langer Zeit ein Diktator – und für einen Diktator wird sein eigenes Leben übertrieben wichtig und das der anderen immer unwichtiger.»

«Was wollen Sie damit sagen, Monsieur Poirot…?», fragte Blunt leise.

«Ich will damit sagen, Mr Blunt, dass Sie, als Sie die Ehe mit Rebecca Arnholt schlossen, bereits verheiratet waren. Dass Sie – geblendet durch die Hoffnung weniger auf Reichtum als auf Macht – Ihre erste Ehe verschwiegen und mit Vorbedacht Bigamie getrieben haben. Und dass Ihre richtige Frau sich mit dieser Situation abgefunden hat.»

«Und wer soll diese richtige Frau gewesen sein?»

«Als Mrs Albert Chapman war sie in den King Leopold Mansions bekannt – ein bequemer Ort übrigens, zu Fuß keine fünf Minuten von Ihrem Haus am Chelsea Embankment entfernt. Sie entliehen für sie den Namen eines wirklich existierenden Geheimagenten, weil Sie wussten, dass das die Glaubwürdigkeit der Andeutungen über den ständig abwesenden Gatten erhöhen würde. Ihrer Komödie war ein voller Erfolg beschieden. Niemand schöpfte den geringsten Verdacht. Trotzdem blieb die Tatsache bestehen, dass Ihre Ehe mit Rebecca Arnholt gesetzlich ungültig war und dass Sie sich des Verbrechens der Bigamie schuldig gemacht hatten. An eine Gefahr haben Sie nach so vielen Jahren nicht gedacht. Sie kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel – in Gestalt einer lästigen Frauensperson, die Sie nach fast zwanzig Jahren als Gatten ihrer Freundin erkannte. Der Zufall hatte sie nach England zurückgeführt, der Zufall führte sie in der Queen Charlotte Street mit Ihnen zusammen – und der Zufall wollte es, dass Ihre Nichte dabei war und hörte, was sie zu Ihnen sprach. Sonst hätte ich es wahrscheinlich nie erraten.»

«Ich habe Ihnen selbst davon erzählt, mein lieber Poirot.»

«Nein, es war Ihre Nichte, die darauf bestand, dass ich es erfahren sollte – und da konnten Sie, um keinen Verdacht zu erregen, nicht gut protestieren. Und nach diesem Zufallstreffen passierte noch ein weiteres Malheur – von Ihrem Standpunkt aus betrachtet. Mabelle Sainsbury Seale traf Amberiotis, ging mit ihm essen und erzählte ihm von dieser Begegnung mit dem Mann einer Freundin: ‹Denken Sie nur, nach all den Jahren! Hat natürlich älter ausgesehen, aber sonst kaum verändert!› Ich gebe zu, dass das meinerseits bloßes Rätselraten ist – aber so ungefähr muss es sich abgespielt haben. Ich glaube nicht, dass Mabelle Sainsbury auch nur eine blasse Ahnung gehabt hat, dass es sich bei diesem Mr Blunt, den ihre Freundin geheiratet hatte, um den großen internationalen Finanzgewaltigen handelte. Der Name ist schließlich nicht ungewöhnlich. Aber Amberiotis, müssen Sie bedenken, war nicht nur Geheimagent, sondern auch Erpresser – und Erpresser besitzen einen unheimlichen Riecher für Geheimnisse. Amberiotis überlegte. Er beschloss festzustellen, um welchen Blunt es sich handelte. Und dann – ich zweifle nicht daran – hat er Ihnen geschrieben – oder telefoniert. Ah – gewiss! Für Amberiotis war das eine Goldgrube!»

Nach einer Pause fuhr Poirot fort: «Es gibt nur eine einzige wirksame Methode, um mit einem tüchtigen und erfahrenen Erpresser fertig zu werden: Man muss ihn zum Schweigen bringen. Das Leitmotiv des Falles lautete also nicht – wie ich zunächst irrtümlich angenommen hatte –, ‹Blunt muss verschwinden›. Es lautete im Gegenteil: ‹Amberiotis muss verschwinden›. Aber die Antwort war die gleiche. Am leichtesten kommt man an ein Opfer heran, wenn es nicht auf der Hut ist. Und wo ist man weniger auf der Hut als im Behandlungsstuhl beim Zahnarzt.»

Wiederum machte Poirot eine Pause. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen, als er sagte: «Die Wahrheit über den Fall wurde schon frühzeitig erwähnt. Alfred, der Boy, las einen Kriminalroman, der ‹Mord Viertel vor zwölf› hieß. Wir hätten den Titel als einen Wink des Himmels nehmen sollen. Denn das war natürlich ungefähr der Zeitpunkt, an dem Morley umgebracht wurde. Sie, Mr Blunt, erschossen ihn, als Sie fortgingen. Dann drückten Sie auf den Klingelknopf, ließen Wasser ins Waschbecken laufen und verließen das Sprechzimmer. Sie richteten es so ein, dass Sie die Treppe gerade hinunterkamen, als Alfred die falsche Mabelle Sainsbury Seale zum Aufzug brachte. Sie öffneten die Haustür, vielleicht traten Sie sogar zum Schein einen Augenblick hinaus, aber als sich die Aufzugstüren geschlossen hatten und der Lift nach oben fuhr, schlüpften Sie wieder hinein und rannten die Treppe hinauf. Von meinen eigenen Besuchen her weiß ich, wie Alfred sich zu verhalten pflegte, wenn er einen Patienten ins Sprechzimmer führte. Er klopfte an die Tür, machte sie auf und trat zurück, um den Patienten eintreten zu lassen. Aus dem Sprechzimmer hörte man Wasser rauschen – Schlussfolgerung: Morley wusch sich, wie üblich, die Hände. Aber sehen konnte Alfred ihn nicht.

Kaum war Alfred wieder im Lift hinuntergefahren, schlüpften Sie ins Sprechzimmer. Zusammen mit Ihrer Komplizin hoben Sie die Leiche auf und trugen sie nebenan ins Büro. Dann ein rasches Blättern in den Papieren: Die Karteikarten von Mrs Chapman und Miss Sainsbury Seale wurden vertauscht. Sie zogen einen weißen Kittel an; vielleicht hat Ihre Frau Sie etwas zurechtgeschminkt. Eine eigentliche Maske zu machen war unnötig, denn es war ja Amberiotis’ erster Besuch bei Morley. Er hatte Sie nie gesehen. Und Ihr Bild erscheint nur selten in der Zeitung. Außerdem – warum sollte er Verdacht schöpfen? Vor dem Zahnarzt hat ein Erpresser keine Angst. Miss Sainsbury Seale geht hinunter und wird von Alfred hinausgelassen. Die Klingel ertönt, und Amberiotis wird ins Sprechzimmer gebracht. Er trifft den Zahnarzt an, der sich in gewohnter Weise die Hände wäscht. Er wird zum Stuhl geführt und bezeichnet Ihnen den schmerzenden Zahn. Sie reden das übliche Zeug, sagen ihm, es sei das beste, das Zahnfleisch zu vereisen. Sie nehmen das Procain und Adrenalin zur Hand, spritzen ihm eine tödliche Dosis ein. Außerdem wird er dank der lokalen Betäubung kaum merken, dass Sie kein geübter Zahnarzt sind!

Amberiotis verlässt Sie, ohne Verdacht geschöpft zu haben. Sie schaffen Morleys Leiche aus dem Büro ins Sprechzimmer und legen sie hier auf den Fußboden. Da Sie diesmal allein arbeiten müssen, lassen Sie sie etwas über den Teppich schleifen. Sie wischen die Pistole ab und drücken sie Morley in die Hand. Sie wischen die Türklinken ab, damit Ihre Fingerabdrücke nicht als die obersten erscheinen. Die Instrumente, die Sie benützt haben, liegen schon alle im Sterilisierapparat. Sie verlassen das Sprechzimmer, gehen die Treppe hinunter und schlüpfen im geeigneten Moment aus dem Haus. Das ist für Sie der einzige gefährliche Augenblick.

Alles hätte so wunderbar laufen können! Zwei Menschen, die Ihre Sicherheit bedroht hatten, waren tot. Noch ein dritter Mensch war tot – aber das war von Ihrem Standpunkt aus unvermeidlich gewesen. Und alles war so leicht zu erklären. Morleys Selbstmord erklärte sich durch den Irrtum, den er im Fall Amberiotis begangen hatte. Sein Tod und der von Amberiotis heben sich gegenseitig auf. Nur ein bedauerlicher Unglücksfall.

Aber zu Ihrem Pech ist Hercule Poirot auf der Szene. Poirot hat Zweifel, Poirot erhebt Einwände. Es geht nicht alles so glatt, wie Sie gehofft hatten. Sie müssen also eine zweite Verteidigungslinie errichten. Es muss für den Notfall ein Sündenbock vorhanden sein. Über Morleys Haushalt haben Sie schon genaue Erkundigungen eingezogen. Da ist dieser Frank Carter – der wird genügen. Ihre Komplizin sorgt dafür, dass er auf geheimnisvolle Weise als Gärtner angestellt wird. Wenn er später etwa eine derartig lächerliche Geschichte erzählen sollte, wird ihm niemand Glauben schenken. Irgendwann wird die Leiche in der Pelztruhe ans Licht kommen. Zuerst wird man sie für die von Miss Sainsbury Seale halten, dann aber wird die Identifizierung des Gebisses erfolgen. Große Sensation! Auf den ersten Blick erscheint das als unnötige Komplikation, aber es war notwendig. Sie wünschen nicht, dass die ganze englische Polizei nach einer verschwundenen Mrs Albert Chapman fahndet. Nein, Mrs Chapman soll ruhig tot bleiben, und Miss Sainsbury Seale soll diejenige sein, nach der gefahndet wird – denn die kann die Polizei nie finden. Außerdem werden Sie auf Grund Ihres großen Einflusses nach und nach erreichen können, dass man den Fall einschlafen lässt.

Es war für Sie dringend notwendig, ständig auf dem Laufenden zu sein über das, was ich unternahm. Deshalb ließen Sie mich zu sich kommen und beauftragten mich mit der Suche nach der Verschwundenen. Und Sie fuhren fort, mir ständig wieder eine bestimmte ‹Spielkarte aufzuzwingen›. Ihre Komplizin rief mich an, um mich auf dramatische Weise vor der Übernahme des Auftrags zu warnen. Mir sollte suggeriert werden, es handle sich um Politik, Spionage, was weiß ich – jedenfalls um nichts Persönliches oder Privates. Ihre Gattin ist eine glänzende Schauspielerin, aber wenn man die eigene Stimme verstellt, so neigt man unwillkürlich dazu, eine Fremde nachzuahmen. Ihre Gattin ahmte die Stimme von Mrs Olivera nach. Das hat mir – ich gestehe es offen – viel Kopfzerbrechen verursacht.

Dann luden Sie mich nach Exsham ein – der Schlussakt wurde aufgeführt. Wie einfach, in den Lorbeerbüschen eine geladene Pistole derart zu befestigen, dass sie losgeht, wenn die Büsche gestutzt werden! Die Pistole fällt dem Mann vor die Füße. Verblüfft hebt er sie auf. Was verlangen Sie mehr! Man hat ihn auf frischer Tat ertappt – im Besitz einer Pistole, die der Mordwaffe im Fall Morley gleicht wie ein Ei dem anderen, und zur Begründung seiner Anwesenheit vermag er nur ein lächerliches Märchen vorzubringen. Das war die Falle, in die Hercule Poirot tappen sollte.»

Alistair Blunt bewegte sich in seinem Sessel. Sein Gesicht war ernst und etwas traurig. Er sagte: «Missverstehen Sie mich nicht, Poirot. Wieviel von alledem ist bloße Vermutung? Und wie viel wissen Sie wirklich?»

Poirot erwiderte: «Ich besitze – ausgestellt von einem Standesamt in der Nähe von Oxford – die Abschrift eines Trauscheins von Martin Alistair Blunt und Gerda Grant. Frank Carter hat gesehen, wie kurz nach zwölf Uhr fünfundzwanzig zwei Männer Morleys Sprechzimmer verließen. Der erste war ein dicker Mann: Amberiotis. Der zweite waren natürlich Sie. Frank Carter hat Sie nicht erkannt. Er hat Sie nur von oben gesehen.»

«Anständig von Ihnen, M. Poirot, dass Sie mir das sagen!»

«Carter ging ins Sprechzimmer und fand Morleys Leiche. Sie war schon erkaltet, und das Blut an der Schusswunde war schon trocken. Das bedeutete, dass Morley bereits einige Zeit tot war. Deshalb konnte der Zahnarzt, der Amberiotis behandelt hatte, nicht Morley, sondern nur dessen Mörder gewesen sein.»

«Noch etwas?»

«Ja. Helen Montressor ist heute Nachmittag verhaftet worden.»

Alistair Blunt zuckte zusammen. Dann saß er ganz still. «Das – dürfte wohl entscheidend sein!», flüsterte er.

«Jawohl. Die echte Helen Montressor, Ihre entfernte Cousine, starb vor sieben Jahren in Kanada. Das hatten Sie verschwiegen und sich zunutze gemacht.»

Ein Lächeln trat auf Alistair Blunts Lippen. Er begann zu erzählen, zwanglos und mit einem fast jungenhaften Vergnügen. «Das Ganze hat Gerda riesigen Spaß gemacht, verstehen Sie. Ich möchte gern, dass Sie das begreifen. Sie sind ein gescheiter Kerl. Ich hatte sie geheiratet, ohne meiner Familie etwas zu sagen. Sie spielte damals mit einer Theatergruppe in der Provinz. Meine Familie war ziemlich spießig, und ich sollte in die Firma eintreten. Gerda und ich beschlossen, unsere Ehe geheim zu halten. Sie fuhr fort, Theater zu spielen. Mabelle Sainsbury Seale war ebenfalls bei der Gruppe. Sie wusste von uns beiden. Dann ging sie auf eine Auslandstournee. Gerda hörte ein paarmal aus Indien von ihr. Dann kamen keine Briefe mehr. Mabelle hatte sich mit irgendeinem Hindu eingelassen. Sie war immer eine törichte, leichtgläubige Person gewesen.

Ich wünschte, ich könnte Ihnen begreiflich machen, wie es war, als ich Rebecca kennen lernte und sie heiratete. Gerda verstand es vollkommen. Ich kann es nur so ausdrücken: Ich hatte das Glück, eine Königin zu heiraten, und spielte die Rolle des Prinzgemahls oder sogar des Königs. Meine Ehe mit Gerda betrachtete ich als morganatisch. Ich liebte sie. Ich wollte sie nicht verlieren. Und das Ganze funktionierte großartig. Ich mochte Rebecca wirklich sehr gern. Sie besaß einen hervorragenden Finanzverstand, und der meinige war dem ihren ebenbürtig. Wir haben glänzend zusammengearbeitet. Es war unerhört aufregend. Sie war eine ausgezeichnete Gefährtin, und ich glaube, dass ich sie glücklich gemacht habe. Als sie starb, empfand ich aufrichtig Trauer.

Das Sonderbare war, dass Gerda und ich an unseren geheimen Begegnungen immer mehr Gefallen fanden. Wir hatten alle möglichen schlauen Kombinationen. Sie war die geborene Schauspielerin und verfügte über ein Repertoire von sieben oder acht Charaktergestalten – Mrs Chapman war nur eine davon. In Paris spielte sie eine amerikanische Witwe. Dort traf ich sie, wenn ich geschäftlich nach Frankreich fuhr. Dann wieder fuhr sie als Malerin nach Norwegen, wo ich zu fischen pflegte. Und später ließ ich sie als meine Cousine Helen Montressor auftreten. Die ganze Geschichte hat uns einen Riesenspaß gemacht, und wahrscheinlich haben wir damit auch unsere Liebe jung erhalten. Nach Rebeccas Tod hätten wir ja offiziell heiraten können – aber wir wollten nicht. Gerda wäre es schwer gefallen, mein bürgerliches Leben mitzuleben, und natürlich hätte auch die Vergangenheit in irgendeiner Weise ans Licht kommen können. Aber der wirkliche Grund dafür, dass wir unser bisheriges Leben mehr oder weniger unverändert fortsetzten, war der, dass wir unsere Komödie nicht mehr missen wollten. Ein nach außen hin gemeinsames Leben hätten wir unerträglich langweilig gefunden.»

Blunt schwieg. Seine Stimme klang bitter und hart, als er fortfuhr.

«Und dann hat dieses närrische Frauenzimmer alles verdorben. Mich wieder zu erkennen – nach all den langen Jahren! Und natürlich hat sie es Amberiotis erzählt. Sie sehen ein – Sie müssen einsehen –, dass etwas geschehen musste! Es ging nicht nur um meine Person – um mein egoistisches Interesse. Wenn ich ruiniert und geächtet wurde, bedeutete das auch einen schweren Schlag für das Land – für England. Denn ich habe einiges für England getan, M. Poirot. Geld als solches ist mir eigentlich gleichgültig. Dagegen liebe ich die Macht: Ich liebe es zu herrschen – allerdings ohne zu tyrannisieren. Wir sind demokratisch in England – wirklich demokratisch. Wir dürfen murren, wir dürfen unsere Meinungen äußern und über unsere Staatsmänner lachen. Wir sind frei. An alledem hänge ich – es ist mein Lebenswerk gewesen. Aber wenn ich gehen müsste – nun, Sie können sich vorstellen, was dann geschehen würde. Ich werde gebraucht, M. Poirot. Und ein verdammter, betrügerischer, erpresserischer Gauner von einem Griechen war im Begriff, mein Lebenswerk zu zerstören! Etwas musste geschehen – auch Gerda hat das verstanden. Die Sainsbury Seale hat uns Leid getan – aber es nützte nichts: Wir mussten sie zum Schweigen bringen. Wir konnten uns nicht darauf verlassen, dass sie den Mund halten würde. Gerda suchte sie auf, lud sie zum Tee ein, sagte ihr, sie wohne vorübergehend in Mrs Chapmans Apartment. Mabelle Sainsbury Seale kam, ohne den geringsten Verdacht zu schöpfen. Sie hat nichts gespürt: Im Tee war Medinal, das ist ganz schmerzlos. Man schläft einfach ein und wacht nicht wieder auf. Das Gesicht haben wir erst hinterher verstümmelt – es war grässlich, aber wir hielten es für notwendig. Mrs Chapman musste endgültig vom Schauplatz verschwinden. Ich hatte ‹meiner Cousine Helen› ein Häuschen auf meinem Besitz in Exsham zum Wohnen überlassen. Wir hatten die Absicht, nach einer gewissen Zeit nun doch offiziell zu heiraten. Aber erst mussten wir Amberiotis aus dem Weg räumen. Es ging glänzend. Er hat überhaupt nicht gemerkt, dass ich kein richtiger Zahnarzt war. Die Spritze habe ich tadellos gehandhabt. Den Bohrer habe ich allerdings nicht riskiert. Aber nach der Injektion konnte er natürlich auch nicht mehr genau fühlen, was ich mit seinen Zähnen anstellte.»

Poirot fragte: «Wie war das mit den Pistolen?»

«Die gehörten ursprünglich einem Sekretär von mir, den ich einmal in Amerika beschäftigt habe. Sie waren irgendwo im Ausland gekauft. Er hat sie bei mir vergessen, als er fortging.» Eine Pause entstand. Dann fragte Blunt: «Möchten Sie sonst noch etwas wissen?»

«Und Morley?», sagte Poirot leise.

«Es hat mir Leid getan um Morley», erwiderte Blunt.

Hercule Poirot sagte: «Aha – ich verstehe…»

Nach langem Schweigen fragte Blunt: «Nun, M. Poirot, was wird jetzt geschehen?»

Poirot antwortete: «Helen Montressor ist bereits verhaftet.»

«Und nun bin ich dran?»

«Ja, das habe ich gemeint.»

Blunt fragte leise: «Sie haben nicht viel Freude daran – oder?»

«Nein, ich bin gar nicht erfreut.»

Alistair Blunt sagte: «Ich habe drei Menschen getötet. Ich müsste also vermutlich gehängt werden. Aber Sie haben meine Verteidigung gehört.»

«Worin besteht Ihre Verteidigung?»

«Ich bin nach bestem Wissen und Gewissen der festen Überzeugung, dass ich dringend gebraucht werde, um unserem Land Frieden und Wohlstand zu erhalten.»

«Von Ihrem Standpunkt aus mögen Sie vielleicht Recht haben», gab Poirot zu.

«Also, was geschieht?»

«Sie meinen, ich soll den Fall – aufgeben?»

«Jawohl.»

«Und Ihre Frau?»

«Ich habe ziemlichen Einfluss. Man könnte es auf eine Personenverwechslung hinauslaufen lassen.»

«Und wenn ich mich weigere?»

«Dann», erwiderte Blunt ruhig, «bin ich erledigt.»

Hastig fuhr er fort: «Sie haben es in der Hand, Poirot. Aber ich wiederhole – und ich sage das nicht nur, um mich zu retten: Die Welt braucht mich. Und wissen Sie, warum? Weil ich ein ehrlicher Mensch bin. Und weil ich gesunden Menschenverstand habe – und keine selbstsüchtigen Ziele verfolge.»

Poirot nickte. Seltsamerweise glaubte er Blunt aufs Wort.

«Ja, das ist die eine Seite der Angelegenheit. Sie sind der richtige Mann auf dem richtigen Platz. Aber es gibt eben noch die andere Seite: drei Menschen, deren Tod Sie verschuldet haben.»

«Ja, aber überlegen Sie sich einmal: was für Menschen! Mabelle Sainsbury Seale – von der haben Sie selbst gesagt: ‹Eine Frau mit dem Verstand einer Henne!› Amberiotis – ein Schwindler und Erpresser!»

«Und Morley?»

«Ich habe Ihnen schon gesagt: Um Morley tut es mir Leid. Das war ein anständiger Kerl und ein guter Zahnarzt – aber schließlich gibt es noch andere Zahnärzte.»

«Ja», nickte Poirot, «es gibt noch andere Zahnärzte. Und Frank Carter? Den hätten Sie gleichfalls ohne Bedenken sterben lassen?»

«Mit dem habe ich kein Mitleid. Der taugt nichts. Ein ganz unnützer Geselle!», erwiderte Alistair Blunt.

«Aber auch ein Mensch…»

«Nun ja, Menschen sind wir schließlich alle…»

«Eben, wir alle sind Menschen – das scheinen Sie zu vergessen. Sie sagen, Mabelle Sainsbury Seale sei ein törichter Mensch gewesen, Amberiotis ein gemeiner Mensch, Frank Carter ein unnützer Mensch und Morley – nun, Morley nur ein Zahnarzt, und Zahnärzte gebe es in Hülle und Fülle. Das ist der Punkt, an dem unsere Auffassungen sich trennen. Für mich ist das Leben dieser Menschen ebenso wichtig wie Ihr Leben.»

«Da irren Sie sich!»

«Nein, ich irre mich nicht. Einen einzigen Schritt irrten Sie vom Weg ab – und äußerlich hat das an Ihnen nichts verändert. Nach außen hin sind Sie der gleiche geblieben: aufrecht, verlässlich, ehrenwert. Aber in Ihrem Innern schwoll das Bedürfnis nach Macht zu überwältigender Größe. So haben Sie vier Menschenleben geopfert und sich nichts dabei gedacht.»

«Ist Ihnen denn nicht klar, Poirot, dass die Sicherheit und der Wohlstand der ganzen Nation von mir abhängt?»

«Ich kümmere mich nicht um Nationen, Monsieur. Ich kümmere mich um das Leben einzelner Menschen, die ein Recht darauf haben, dass ihnen dieses Leben nicht mit Gewalt genommen wird.»

Er stand auf.

«Das also ist Ihre Antwort», flüsterte Alistair Blunt.

Hercule Poirot erwiderte mit müder Stimme: «Ja – das ist meine Antwort…»

Er ging zur Tür und öffnete sie. Zwei Männer betraten das Zimmer.

Poirot stieg die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss wartete ein Mädchen. Jane Olivera lehnte blass und abgespannt am Kamin, neben ihr stand Howard Raikes.

Sie fragte: «Nun?»

Behutsam sagte Poirot: «Es ist alles vorbei.»

Raikes knurrte: «Was meinen Sie damit?»

«Alistair Blunt ist unter Mordanklage verhaftet worden.»

Raikes warf ein: «Ich dachte, er würde sich bei Ihnen mit einem Scheck loskaufen.»

«Nein, das habe ich nie gedacht», versicherte Jane.

Poirot sagte seufzend: «Die Welt gehört euch. Der neue Himmel und die neue Erde. In eurer neuen Welt lasst Freiheit sein und Mitleid. Das ist alles, was ich von euch will.»

Hercule Poirot ging durch die verlassenen Straßen zu Fuß nach Hause. Eine unauffällige Gestalt schloss sich ihm an.

«Nun?», fragte Mr Barnes.

Hercule Poirot zuckte die Achseln und machte eine Gebärde des Bedauerns.

Barnes fragte: «Wie hat er sich verteidigt?»

«Er hat alles zugegeben und nur eingewandt, dass seine Handlungsweise gerechtfertigt gewesen sei. Er sagt, sein Land brauche ihn.»

«Das stimmt», meinte Mr Barnes.

Nach ein paar Augenblicken setzte er hinzu: «Glauben Sie nicht?»

«Doch, das glaube ich.»

«Also – dann…»

«Vielleicht irren wir uns», sagte Hercule Poirot.

«Daran habe ich nie gedacht», erwiderte Mr Barnes.

«Ja, vielleicht irren wir uns.»

Sie gingen schweigend ein Stück weiter. Dann erkundigte sich Barnes neugierig: «Worüber denken Sie nach?»

Hercule Poirot zitierte aus der Bibel: «Weil du nun des Herrn Wort verworfen hast, hat er dich auch verworfen, dass du nicht König seist.»

«Hm – ich verstehe», murmelte Mr Barnes. «Saul – die Amalekiter. Ja, so könnte man es deuten.»

Sie gingen wieder weiter. Plötzlich sagte Mr Barnes: «Ich steige hier in die Untergrundbahn. Gute Nacht, Poirot.»

Unschlüssig blieb er stehen. Dann sagte er verlegen: «Wissen Sie, ich wollte Ihnen schon immer etwas sagen.»

«Ja, mon ami?»

«Ich habe das Gefühl, dass es meine Pflicht ist. Habe Sie unabsichtlich irregeführt. Handelt sich um Albert Chapman. Q.X.912.»

«Ja?»

«Ich bin Albert Chapman. Das ist einer der Gründe, weshalb ich an dem Fall so interessiert war. Verstehen Sie: Ich wusste, dass ich nie verheiratet war.» Er eilte kichernd davon.

Poirot stand unbeweglich da. Dann seufzte er tief und wandte sich heimwärts.

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