Vierundzwanzig Stunden später rief Japp bei Poirot an.
Seine Stimme klang enttäuscht: «Unser ganzer Fall ist geplatzt!»
«Was meinen Sie damit, lieber Freund?»
«Morley hat tatsächlich Selbstmord begangen. Wir haben das Motiv herausgefunden.»
«Und zwar?»
«Ich habe eben den ärztlichen Bericht über den Tod von Amberiotis bekommen. Wenn man alle komplizierten Fachausdrücke weglässt, dann ergibt sich, dass der Mann an einer Überdosis Adrenalin und Procain gestorben ist. Die Mittel haben auf das Herz gewirkt und den Tod herbeigeführt. Als der arme Teufel gestern Nachmittag sagte, er fühle sich sehr schlecht, sprach er die reine Wahrheit. Nun, da kann man nichts machen. Die Einspritzung, die der Zahnarzt zur örtlichen Betäubung ins Zahnfleisch macht, ist eine Mischung aus Adrenalin und Procain. Morley muss sich geirrt und eine zu große Dosis gespritzt haben. Nachdem Amberiotis fort war, wurde ihm klar, was er angerichtet hatte, und da erschoss er sich eben.»
«Mit einer Pistole, die er nicht besessen hat?»
«Vielleicht hat er sie doch besessen. Verwandte wissen nicht immer alles. Sie würden sogar erstaunt sein, wenn Sie wüssten, wie viele Dinge Verwandte nicht wissen!»
«Ja, das mag stimmen.»
«Damit ist die Sache erledigt», sagte Japp. «Die Angelegenheit hat sich vollkommen logisch aufgeklärt.»
«Davon», entgegnete Poirot, «bin ich gar nicht überzeugt. Es ist zwar richtig, dass Patienten in einzelnen Fällen auf die Lokalanästhesie ungünstig reagiert haben. Überempfindlichkeit gegen Adrenalin ist eine wohl bekannte Erscheinung. In Verbindung mit Procain besitzen manchmal ganz kleine Dosen schon eine starke toxische Wirkung. Aber der Arzt oder Zahnarzt, dem so etwas passiert, geht doch nicht so weit, sich umzubringen!»
«Ja, aber da sprechen Sie von Fällen, in denen die Mittel in normaler Dosis angewendet worden sind. In solchen Fällen kann dem Arzt kein besonderer Vorwurf gemacht werden, denn der Tod wird dadurch herbeigeführt, dass der Patient die Mittel nicht verträgt. In unserm Fall handelt es sich aber eindeutig um eine zu große Dosis. Die genaue Menge steht noch nicht fest – diese Mengenanalysen dauern immer endlos –, aber jedenfalls ist die normale Dosis bei weitem überschritten worden. Das bedeutet, dass Morley einen folgenschweren Irrtum begangen haben muss.»
«Aber selbst dann», sagte Poirot, «war es nur ein Irrtum und kein Verbrechen.»
«Nein, das nicht, aber es hätte ihm beruflich sehr geschadet. Wahrscheinlich hätte es ihn sogar ruiniert. Niemand würde mehr zu einem Zahnarzt gehen, der fähig ist, einem Patienten eine tödliche Dosis Gift beizubringen, nur weil er zufällig gerade ein bisschen zerstreut ist.»
«Es ist schon merkwürdig, das gebe ich zu.»
«Solche Dinge kommen eben vor – sowohl bei Ärzten wie bei Apothekern. Jahrelang sind sie gewissenhaft und zuverlässig – dann auf einmal ein Augenblick der Unachtsamkeit, und das Unglück ist geschehen, und der arme Teufel hat die Folgen zu tragen. Morley war ein sensibler Mensch. Bei den Ärzten ist meistens ein Laborant oder ein Apotheker mitverantwortlich – oft sogar allein verantwortlich. In unserem Fall trug Morley die ganze Verantwortung.»
Poirot war noch nicht überzeugt.
«Hätte er dann nicht irgendeine Mitteilung hinterlassen, um zu erklären, was geschehen war? Und dass er die Folgen nicht auf sich nehmen könne? Nur ein paar Worte in diesem Sinne? Eine Nachricht an seine Schwester?»
«Nein – wie ich die Sache sehe, wurde ihm ganz plötzlich klar, was er angerichtet hatte, und da verlor er die Nerven und suchte den einfachsten Ausweg!»
Poirot antwortete nicht, und Japp sagte gütig: «Ich kenne Sie, alter Freund. Wo Sie einmal einen Mord ahnen, können Sie sich nicht damit abfinden, dass es keiner war. Diesmal bin ich daran schuld, dass Sie auf die falsche Spur geraten sind. Ich habe mich eben geirrt, das gebe ich offen zu.»
«Haben Sie irgendetwas über Amberiotis in Erfahrung gebracht?», fragte Poirot abwesend.
«Ja, ziemlich viel. Er war ein Spion und außerdem ein übler Erpresser. Es hätte einer schon Grund genug haben können, ihn zu ermorden. Aber Morley beabsichtigte dies bestimmt nicht. Er tötete ihn durch Zufall – und bezahlte dafür selber mit dem Leben. Morley beging Selbstmord – glauben Sie mir, Poirot!»
«Wir werden sehen!», murmelte der kleine Mann.
Hercule Poirot saß an seinem schönen, modernen Schreibtisch. Er liebte moderne Möbel. Ihre eckigen, soliden Formen sagten ihm mehr zu als die weichen Konturen älterer Stilrichtungen.
Vor ihm lag ein quadratisches Blatt Papier mit säuberlichen Überschriften und Bemerkungen. Manche davon waren mit Fragezeichen versehen. Zuoberst stand:
Amberiotis. Spionage. Zu diesem Zweck in England? War letztes Jahr in Indien. Während dieser Zeit Unruhen und Aufstände. Könnte kommunistischer Agent sein.
Es folgte ein leerer Zwischenraum. Dann kam die nächste Überschrift:
Frank Carter? Morley hielt nichts von ihm. Ist kürzlich von seiner Firma entlassen worden. Warum?
Dann kam ein Name, hinter dem nur ein Fragezeichen stand:
Howard Raikes?
Auf diesen folgte ein Satz in Anführungsstrichen:
«Aber das ist doch absurd!»???
Hercule Poirots Kopf war fragend zur Seite geneigt. Vor dem Fenster flog ein Vogel vorbei, einen Zweig im Schnabel, mit dem er ein Nest bauen wollte. Hercule Poirot sah ebenfalls wie ein Vogel aus, als er so dasaß und den eiförmigen Kopf zur Seite neigte.
Etwas weiter unten auf dem Blatt machte er eine weitere Eintragung:
Barnes?
Nach einer Pause schrieb er:
Morleys Büro? Spur auf dem Teppich. Möglichkeiten.
Die letzte Notiz betrachtete er längere Zeit. Dann stand er auf, ließ sich Hut und Stock geben und ging aus.
Dreiviertelstunden später verließ Hercule Poirot die Untergrundstation Ealing Broadway, und fünf Minuten später war er am Ziel. Castlegardens Road 88.
Es war ein kleines Zweifamilienhaus, dessen sorgfältig angelegter Vorgarten Poirot ein beifälliges Nicken abnötigte. «Wunderbar symmetrisch», murmelte er vor sich hin.
Mr Barnes war zu Hause. Poirot wurde in ein kleines, steif eingerichtetes Esszimmer geführt, in das ihm Mr Barnes alsbald folgte.
Er war ein kleiner Mann mit blinzelnden Augen und nahezu kahlem Kopf.
«M. Poirot? Nun, das ist wirklich eine große Ehre!», sagte er.
«Sie müssen verzeihen, dass ich Sie so unvorbereitet überfalle», sagte Poirot betont höflich.
«Das ist immer bei weitem das beste», antwortete Mr Barnes. Er machte eine einladende Handbewegung. «Setzen Sie sich, M. Poirot. Wir haben zweifellos über eine Menge Dinge zu reden. Ich vermute, es handelt sich um die Queen Charlotte Street 58?»
«Sie vermuten richtig – aber wie kommt es, dass Sie überhaupt so etwas vermuten?», fragte Poirot verblüfft.
«Mein lieber M. Poirot», sagte Mr Barnes, «ich bin zwar schon vor längerer Zeit aus dem Innenministerium ausgeschieden – aber ganz eingerostet bin ich deswegen doch noch nicht. In einer streng geheimen Angelegenheit ist es besser, sich nicht der Polizei zu bedienen. Erregt nur unnützes Aufsehen!»
«Lassen Sie mich noch eine weitere Frage stellen. Warum vermuten Sie, dass diese Angelegenheit streng geheim ist?»
«Ist sie das vielleicht nicht?», fragte der andere zurück.
«Nun, wenn sie es nicht ist, dann bin ich der Meinung, dass sie es sein sollte.» Er beugte sich vor und klopfte mit seinem Zwicker auf die Stuhllehne. «Beim Geheimdienst will man nie das kleine Gesindel fangen, sondern die großen Drahtzieher – aber um an sie heranzukommen, muss man sich davor hüten, das kleine Gesindel kopfscheu zu machen.»
«Mir scheint, Sie wissen mehr als ich, Mr Barnes», entgegnete Poirot immer erstaunter.
«Ich weiß überhaupt nichts», erwiderte Mr Barnes. «Ich versuche nur, zwei Tatbestände zu kombinieren.»
«Und welches ist der eine Tatbestand?», fragte Poirot.
«Amberiotis», sagte Barnes schnell. «Sie dürfen nicht vergessen, dass ich ihm ein paar Minuten lang im Wartezimmer gegenübergesessen habe. Mich hat er nicht erkannt. Ich bin immer ein unauffälliger Mensch gewesen. Das ist manchmal sehr nützlich. Aber ich habe ihn sehr wohl erkannt. Und ich konnte mir denken, was er hier bei uns in England vorhatte.»
«Und was war das?»
«Seine Politik richtet sich gegen die konservative Hochfinanz, wie Alistair Blunt sie verkörpert.»
Nach einer Pause fuhr Mr Barnes fort: «Blunt gehört zu den Leuten, die im Privatleben jede Rechnung bezahlen und nie mehr ausgeben, als sie einnehmen – gleichgültig, ob er jährlich zwei Pence oder einige Millionen Pfund verdient. Das ist so seine Art. Und er sieht einfach nicht ein, warum ein Staat das nicht ebenso machen soll. Keine kostspieligen Experimente. Keine wahnsinnigen Ausgaben für utopische Experimente. Aus diesem Grund» – er hielt einen Augenblick inne – «aus diesem Grund haben sich gewisse Leute entschlossen, Blunt aus dem Weg zu räumen.»
«Aha», murmelte Poirot.
Mr Barnes nickte. «Ja», bestätigte er. «Ich weiß, wovon ich rede. Es sind ganz reizende Leute darunter. Mit langen Haaren, ernsten Augen und voll von Idealen einer besseren Welt. Auch andere, nicht so reizende – sogar recht ekelhafte Leute. Und dann eine dritte Gruppe, die sich als die ‹starken Männer› aufspielt. Aber alle haben den gleichen Gedanken: Blunt muss weg!»
Er beugte sich vor.
«Sie sind bestimmt hinter Blunt her, das weiß ich. Und ich bin der Auffassung, dass sie ihn gestern Vormittag um ein Haar erwischt hätten. Vielleicht irre ich mich – aber er wäre nicht der erste von der Liste.»
Er machte eine Pause und nannte dann ruhig und überlegt drei Namen. Den eines ungewöhnlich befähigten Schatzkanzlers, den eines fortschrittlichen und weitblickenden Fabrikanten und den eines hoffnungsvollen jungen Politikers, der sich der Gunst der Wählerschaft erfreut hatte. Der erste war auf dem Operationstisch gestorben, der zweite war einer geheimnisvollen Krankheit erlegen, die man zu spät erkannt hatte, der dritte war von einem Auto überfahren und getötet worden.
«Es war alles sehr einfach», sagte Barnes. «Im ersten Fall ist ein Versehen bei der Narkose passiert – kann vorkommen. Im zweiten Fall hat es rätselhafte Symptome gegeben, die der Arzt – ein braver, ziemlich ahnungsloser Hausarzt – nicht deuten konnte. Im dritten Fall hat eine verängstigte Mutter, die zu ihrem kranken Kind wollte, ihren Wagen unvorsichtig gesteuert. Eine rührende Geschichte – das Gericht hat sie freigesprochen!»
Nach einer Weile fuhr er fort: «Alles ganz mit rechten Dingen zugegangen – und bald vergessen. Aber ich will Ihnen einmal erzählen, was aus den drei Leuten geworden ist. Der Mann, der die Narkose gemacht hat, besitzt jetzt ein eigenes erstklassiges Forschungslaboratorium mit der teuersten Einrichtung. Der Hausarzt hat seine Praxis aufgegeben, hat einen hübschen kleinen Besitz auf dem Land und eine Jacht. Die Mutter lässt alle ihre Kinder auf die kostspieligste Weise erziehen, lebt in einem entzückenden Landhaus, Riesengarten, Ponys zum Reiten und so weiter.»
Er nickte langsam. «In jedem Beruf und in jedem Lebenskreis gibt es jemanden, der einer Versuchung erliegt. In unserm Fall hat die Schwierigkeit darin bestanden, dass Morley ihr nicht erlegen ist!»
«Glauben Sie, dass es sich so abgespielt hat?», fragte nun Poirot.
«Ja», sagte Barnes. «Wissen Sie, es ist nicht leicht, an solch große Männer heranzukommen. Sie sind im allgemeinen gut geschützt. Der Trick mit dem Auto ist riskant und funktioniert nicht immer. Aber beim Zahnarzt ist man ziemlich wehrlos.»
Er nahm seinen Klemmer ab, putzte ihn blank und setzte ihn wieder auf. Dann sagte er: «Das ist meine Theorie. Morley hat sich geweigert, den Auftrag auszuführen! Aber da er schon zu viel wusste, musste man ihn beseitigen.»
«Man?», fragte Poirot.
«Wenn ich sage ‹man›, so meine ich die Organisation, die hinter alledem steht. Den eigentlichen Mord hat natürlich eine Einzelperson begangen.»
«Und zwar wer?»
«Nun, ich könnte eine Vermutung aussprechen», sagte Barnes. «Aber es ist wirklich nur eine Vermutung, und vielleicht irre ich mich.»
Poirot fragte ruhig: «Reilly?»
«Natürlich. Das ist der gegebene Mann. Ich denke mir, dass von Morley wahrscheinlich gar nicht verlangt worden ist, die Tat selbst zu begehen. Seine Aufgabe dürfte darin bestanden haben, Blunt im letzten Augenblick an seinen Partner abzutreten. Plötzliches Unwohlsein oder etwas Ähnliches. Den eigentlichen Mord hatte Reilly zu begehen – ein bedauerlicher Unglücksfall – Tod eines bekannten Bankiers –, der beklagenswerte junge Zahnarzt in so kummervoller und zerknirschter Verfassung, dass ihn das Gericht nur leicht bestraft hätte. Hinterher hätte er seine Praxis aufgegeben und sich irgendwo mit einem Jahreseinkommen von mehreren tausend Pfund zur Ruhe gesetzt.»
Mr Barnes schaute zu Poirot hinüber.
«Glauben Sie ja nicht, dass ich spinne», sagte er. «Solche Dinge kommen vor.»
«Ja, ja, ich weiß, sie kommen vor.»
Mr Barnes klopfte auf ein Buch in marktschreierischem Einband, das auf dem Tisch in der Nähe lag, und fuhr fort: «Ich lese einen Haufen solcher Spionagegeschichten. Manche klingen phantastisch. Aber merkwürdigerweise sind sie nicht phantastischer als die Wirklichkeit. Es gibt tatsächlich bildschöne Abenteurerinnen, dunkle Ehrenmänner mit ausländischem Akzent, internationale Banden und Meisterverbrecher! Ich würde erröten, wenn ich manches von dem, was ich weiß, gedruckt läse – kein Mensch würde es nur einen Augenblick lang glauben!»
«Welche Rolle spielt Amberiotis in Ihrer Theorie?»
«Darüber bin ich mir nicht ganz klar. Ich glaube, dass er hereingelegt werden sollte. Er hat mehr als einmal doppeltes Spiel gespielt, und ich möchte behaupten, man wollte ihn diesmal zum Sündenbock machen. Aber das ist natürlich nur eine Annahme.»
Hercule Poirot sagte mit ruhiger Stimme: «Angenommen, Ihre Theorie stimmt – was folgt dann jetzt?»
Mr Barnes rieb sich die Nase. «Sie werden sich von neuem an Blunt heranmachen», erklärte er. «Doch, doch – sie versuchen es noch einmal. Die Zeit ist knapp. Er hat Leute, die ihn beschützen, denke ich mir. Die werden jetzt besonders aufpassen müssen. Nicht auf jemanden, der mit dem Revolver hinterm Busch sitzt – so einfach ist das nicht. Sorgen Sie dafür, dass auf die achtbaren Leute aufgepasst wird – auf die Verwandten, auf die Dienerschaft, die seit Jahren im Hause ist, auf den Apothekergehilfen, der eine Medizin zurechtmacht, auf den Händler, der Blunt den Portwein liefert. Alistair Blunt aus dem Weg zu räumen, ist viele Millionen wert, und es ist erstaunlich, was jemand für – sagen wir – eine hübsche Jahresrente von viertausend Pfund zu tun bereit ist!»
«So viel wird dafür bezahlt?»
«Möglicherweise auch mehr…»
Poirot schwieg einen Augenblick und sagte dann: «Ich habe von Anfang an Reilly verdächtigt.»
«Weil er Ire ist und der IRA angehören könnte?»
«Nicht so sehr deshalb, sondern weil der Teppich eine Spur aufwies, als sei die Leiche darübergezerrt worden. Wäre Morley dagegen von einem Patienten erschossen worden, dann hätte das im Sprechzimmer stattgefunden, und es wäre unnötig gewesen, die Leiche an eine andere Stelle zu schaffen. Das ist der Grund, weswegen ich von Anfang an den Verdacht hatte, er sei nicht im Sprechzimmer, sondern nebenan im Büro erschossen worden. Und das würde bedeuten, dass ihn nicht ein Patient umgebracht hat, sondern ein Bewohner des Hauses.»
«Saubere Beweisführung», nickte Mr Barnes anerkennend.
Hercule Poirot stand auf und reichte ihm die Hand. «Ich danke Ihnen», sagte er. «Sie haben mir sehr geholfen.»
Auf dem Heimweg machte Poirot einen Abstecher ins Glengowrie Court Hotel. Dieser Besuch hatte zur Folge, dass er am folgenden Morgen sehr früh bei Japp anrief.
«Bon jour, mon ami. Heute ist die gerichtliche Leichenschau, nicht wahr?»
«Ja. Gehen Sie hin?»
«Ich glaube nicht.»
«Es ist auch nicht der Mühe wert, nehme ich an.»
«Haben Sie Miss Sainsbury Seale als Zeugin geladen?»
«Die schöne Mabelle – warum schreibt sie sich nicht einfach ‹Mabel›? Diese Weiber machen mich ganz verrückt! Nein, ich lade sie nicht vor. Es ist unnötig.»
«Sie haben nichts von ihr gehört?»
«Nein, warum auch?»
Hercule Poirot sagte: «Das wundert mich eigentlich. Vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, dass Miss Sainsbury Seale vorgestern Abend kurz vor dem Nachtessen das Glengowrie Court Hotel verlassen hat – und noch nicht wieder zurückgekehrt ist.»
«Was? Die ist ausgerissen?»
«Das wäre eine denkbare Erklärung.»
«Aber warum? Sie müssen wissen: Sie ist vollkommen in Ordnung. Was sie uns erzählt hat, stimmt durchwegs. Ich habe ihretwegen nach Kalkutta gekabelt, und gestern Abend ist die Antwort gekommen. Alles in Ordnung. Sie ist dort seit Jahren bekannt, und ihr ganzer Bericht entspricht der Wahrheit – nur mit ihrer Ehe hat sie ein bisschen geschwindelt. Hat einen Hindu-Studenten geheiratet und dann herausgefunden, dass er außerdem noch verschiedene andere Beziehungen zu holder Weiblichkeit unterhielt. Da hat sie ihren Mädchennamen wieder angenommen und in Wohltätigkeit gemacht. Sie steht auf bestem Fuß mit den Missionaren – gibt Sprachunterricht und betätigt sich bei Liebhaberbühnen. In meinen Augen ist sie eine fürchterliche Person – aber jedenfalls weit erhaben über den Verdacht, in eine Mordaffäre verwickelt zu sein. Und jetzt erzählen Sie mir, sie sei uns davongelaufen! Ich kann es nicht verstehen.» Er hielt einen Augenblick inne und sagte dann unsicher: «Vielleicht ist ihr bloß das Hotel verleidet? Mir hätte es auch so gehen können.»
«Ihre Sachen sind noch dort. Sie hat nichts mitgenommen», erklärte Poirot.
Japp stieß einen Fluch aus.
«Wann ist sie fortgegangen?»
«Ungefähr um Viertel vor sieben.»
«Und was sagen die Leute im Hotel?»
«Sie regen sich sehr auf. Die Leiterin des Hotels, Mrs Harrison, sieht ganz verzweifelt aus.»
«Warum hat sie keine Anzeige bei der Polizei gemacht?»
«Weil eine Dame, mon cher, wenn sie zufällig einmal eine Nacht ausbleibt – ich gebe zu, dass im vorliegenden Fall die äußere Erscheinung keine solche Vermutung zulässt –, mit Recht erbost wäre, bei ihrer Rückkehr feststellen zu müssen, dass die Polizei benachrichtigt worden ist. Mrs Harrison hatte verschiedene Spitäler angerufen, falls Miss Seale vielleicht ein Unfall zugestoßen wäre. Sie hat sich gerade überlegt, ob sie Anzeige bei der Polizei erstatten sollte, als ich erschien. Mein Auftauchen bildete für sie gewissermaßen die Antwort auf ihr Gebet. Ich habe alles übernommen und mich verpflichtet, die Unterstützung eines besonders diskreten Kriminalbeamten zu gewinnen.»
«Mit dem diskreten Kriminalbeamten meinen Sie vermutlich mich?»
«Sie vermuten richtig.»
Japp stöhnte: «Also gut. Treffen wir uns nach der Leichenschau im Glengowrie Court Hotel.»
Japp brummte, während sie auf Mrs Harrison warteten: «Möchte wissen, aus welchem Grund das Frauenzimmer verschwunden ist?»
«Geben Sie zu, dass es merkwürdig ist?»
Sie hatten keine Zeit, das Gespräch fortzusetzen. Mrs Harrison, die Besitzerin des Glengowrie Court Hotels, kam auf sie zu. Mrs Harrison war redselig und den Tränen nahe. Sie sorgte sich so um Miss Sainsbury Seale. Was konnte ihr nur zugestoßen sein? Rasch ließ sie alle Möglichkeiten des Verhängnisses Revue passieren: Gedächtnisverlust, plötzliche Erkrankung, Blutsturz, Autounglück. Raubüberfall… Endlich hielt sie, nach Atem ringend, inne und murmelte: «So eine nette, gebildete Dame – und sie hat sich bei uns offensichtlich so wohl gefühlt…»
Auf Japps Bitte hin führte sie die beiden Männer in das keusche Schlafzimmer hinauf, das die verschwundene Dame bewohnt hatte. Dort herrschten Ordnung und Sauberkeit. Kleider hingen an der Garderobe, ein Nachtgewand lag zusammengefaltet auf dem Bett, und in einer Ecke standen Miss Sainsbury Seales zwei bescheidene Handkoffer. Unter dem Toilettentisch befand sich eine Reihe von Schuhen: ein Paar praktische Sporthalbschuhe, zwei Paar ziemlich gewagte Kreationen aus Glaceleder, mit hohen Absätzen und Verzierungen, ein Paar Abendschuhe aus glattem schwarzen Satin, so gut wie neu, und ein Paar Pantoffeln. Poirot bemerkte, dass die Abendschuhe eine Nummer kleiner waren als die Straßenschuhe – das ließ entweder auf Hühneraugen oder auf Eitelkeit schließen. Er überlegte, ob Miss Sainsbury Seale wohl Zeit gefunden hatte, vor dem Ausgehen ihre Schuhschnalle wieder anzunähen. Er hoffte es. Nachlässigkeit in der Kleidung störte ihn immer.
Japp war damit beschäftigt, einige Briefe durchzusehen, die er in einer Schublade des Toilettentisches gefunden hatte. Hercule Poirot zog vorsichtig eine Lade der Kommode auf. Sie enthielt lauter Unterwäsche. Er schob die Lade sittsam wieder zu und murmelte, dass Miss Sainsbury Seale anscheinend keine Abneigung dagegen habe, Wolle auf der bloßen Haut zu tragen. Dann öffnete er eine andere Schublade, die Strümpfe enthielt.
«Etwas Besonderes, Poirot?», erkundigte sich Japp.
Poirot hielt ein Paar Strümpfe in die Höhe und sagte niedergeschlagen: «Nummer zehn, billige Glanzseide, Preis vermutlich zwei Shilling elf Pence.»
«Sie brauchen noch nichts für die Testamentseröffnung zu taxieren, alter Freund», lachte Japp. «Hier sind zwei Briefe aus Indien, ein paar Quittungen von Wohltätigkeitsvereinen, keine Rechnungen. Eine höchst schätzenswerte Person, unsere Miss Sainsbury Seale.»
«Hat aber keinen guten Geschmack, was Kleider angeht», murmelte Poirot bedauernd.
«Wahrscheinlich betrachtet sie Kleider als weltlichen Tand.»
Japp war dabei, von einem alten Brief, der zwei Monate zurücklag, den Absender zu notieren.
«Vielleicht wissen die Leute etwas über sie», sagte er. «Wohnen draußen in Hampstead. Der Brief klingt, als ob es ziemlich gute Bekannte wären.»
Es ließ sich im Glengowrie Court Hotel nichts weiter ermitteln, ausgenommen die Feststellung, dass Miss Sainsbury Seale beim Ausgehen in keiner Weise einen erregten oder bekümmerten Eindruck gemacht hatte. Eine baldige Rückkehr lag offensichtlich in ihrer Absicht, denn sie hatte auf dem Weg durch die Halle ihrer neuen Freundin, Mrs Bolitho, zugerufen: «Nach dem Essen werde ich Ihnen die Patience zeigen, von der ich Ihnen erzählt habe!»
Aber sie war nicht zurückgekehrt. Sie war die Cromwell Road hinuntergegangen und verschwunden. Japp und Poirot begaben sich zu den Leuten in West-Hampstead, deren Adresse sie auf dem Brief gefunden hatten.
Es war ein freundliches Haus, und die Familie Adams bestand aus zahlreichen freundlichen Leuten. Jahrelang hatten sie in Indien gelebt, und mit Wärme sprachen sie von Miss Sainsbury Seale. Aber helfen konnten sie nicht.
Sie hatten sie in der letzten Zeit nicht mehr gesehen, einen ganzen Monat nicht, seit sie aus den Osterferien zurückgekommen waren. Damals hatte sie in einem Hotel nahe dem Russell Square gewohnt. Mrs Adams gab Poirot die Adresse dieses Hotels und auch die Adresse einer anderen mit Miss Seale befreundeten angloindischen Familie, die in Streatham wohnte. Aber auch diese beiden Adressen erwiesen sich als Fehlschläge. Miss Sainsbury Seale hatte zwar in dem fraglichen Hotel gewohnt, aber man erinnerte sich dort an nichts, was irgendwie von Wert war. Eine nette, ruhige Dame, die vorher im Ausland gelebt hatte. Auch die Leute in Streatham konnten keine Auskunft geben. Sie hatten Miss Seale seit Februar nicht mehr gesehen.
Blieb noch die Möglichkeit eines Unfalls, aber auch diese löste sich in nichts auf. In keinem Krankenhaus fand sich jemand, der der abgegebenen Beschreibung entsprach.
Miss Seale war spurlos verschwunden.
Am folgenden Morgen ging Poirot ins Holborn Palace Hotel und fragte nach Mr Howard Raikes.
Er wäre kaum überrascht gewesen, hätte man ihm gesagt, dass auch Mr Howard Raikes eines schönen Abends ausgegangen und nicht zurückgekommen sei. Mr Howard Raikes wohnte jedoch noch im Holborn Palace; es hieß, er sei gerade beim Frühstück.
Das Auftauchen Hercule Poirots im Speisesaal schien Mr Raikes nur ein zweifelhaftes Vergnügen zu bereiten. Er sah zwar nicht mehr ganz so mordlustig aus wie in Poirots undeutlichem Erinnerungsbild, machte aber immer noch einen äußerst finsteren Eindruck. Er starrte den ungeladenen Gast an und sagte unliebenswürdig: «Was zum Teufel wollen Sie von mir?»
«Sie gestatten?»
Poirot zog sich einen Stuhl vom Nebentisch heran.
Mr Raikes sagte: «Lassen Sie sich durch mich nicht stören! Nehmen Sie Platz und tun Sie, als ob Sie zu Hause wären!»
Lächelnd machte Poirot von der Erlaubnis Gebrauch.
Ungnädig wiederholte der junge Mann: «Also, was wollen Sie?»
«Erinnern Sie sich an mich, Mr Raikes?»
«Habe Sie in meinem Leben noch nicht gesehen.»
«Da irren Sie sich. Vor drei Tagen haben Sie wenigstens fünf Minuten lang mit mir im gleichen Zimmer gesessen.»
«Ich kann mich nicht an jeden Menschen erinnern, mit dem ich auf irgendeiner verdammten Gesellschaft zusammenkomme.»
«Es war keine Gesellschaft», sagte Poirot. «Es war im Wartezimmer eines Zahnarztes.» Eine plötzliche Erregung flammte in den Augen des jungen Mannes auf, erstarb aber sofort wieder. Sein Verhalten änderte sich. Er war nicht mehr ungeduldig und gleichgültig. Er war plötzlich auf der Hut.
«Und – », fragte er lauernd.
Poirot beobachtete ihn prüfend, ehe er antwortete. Er hatte das ganz bestimmte Gefühl, dies sei wirklich ein gefährlicher junger Mann. Ein schmales, asketisches Gesicht, ein aggressives Kinn, fanatische Augen. Aber es war ein Gesicht, das Frauen vielleicht anziehend fanden.
In Gedanken fasste Poirot seinen Eindruck zusammen: Ein Wolf mit Ideen…
Grob fragte Raikes: «Was wollen Sie eigentlich von mir, zum Teufel?»
«Mein Besuch ist Ihnen unangenehm?»
«Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind.»
«Ich bitte um Entschuldigung.»
Wie ein Taschenspieler förderte Poirot eine Visitenkarte zutage und reichte sie über den Tisch.
Von neuem spiegelten Mr Raikes’ Züge jene Empfindungen wider, die Poirot nicht deuten konnte. Es war nicht Furcht – eher Angriffslust. Und dann, ganz deutlich: Zorn. Er warf die Visitenkarte auf den Tisch.
«Der sind Sie also? Ich habe von Ihnen gehört.»
«Die meisten Menschen haben von mir gehört», murmelte Poirot bescheiden.
«Ein Privatdetektiv, was? Einer von der kostspieligen Sorte. Einer von denen, die engagiert werden, wo Geld keine Rolle spielt – wo die Leute jeden Preis zahlen, nur um ihre elende Haut zu retten!»
«Wenn Sie Ihren Kaffee nicht trinken», meinte Hercule Poirot, «wird er kalt.»
Er sprach freundlich und mit Autorität.
Raikes starrte ihn an.
«Sagen Sie: Was sind Sie eigentlich für ein Vogel?»
«Der Kaffee in diesem Lande ist ohnehin sehr schlecht», erklärte Poirot bedauernd.
«Das kann man wohl behaupten», bestätigte Mr Raikes.
«Aber wenn Sie ihn kalt werden lassen, ist er praktisch ungenießbar.»
Der junge Mann beugte sich vor.
«Worauf wollen Sie hinaus? Wozu sind Sie hergekommen?»
Poirot zuckte die Achseln.
«Ich wollte – Sie sprechen.»
Raikes’ Augen wurden schmal.
«Wenn Sie etwa auf Geld aus sind, dann sind Sie an den Falschen geraten! Leute wie ich können sich nicht leisten zu kaufen, was sie haben wollen. Gehen Sie lieber zu dem Mann, der Ihnen Ihr Honorar zahlt.»
Poirot meinte seufzend: «Bis jetzt hat mir noch keiner etwas bezahlt!»
«Das können Sie mir lange erzählen», fauchte Raikes.
«Es entspricht der Wahrheit», sagte Hercule Poirot. «Ich verschwende eine Menge wertvolle Zeit ohne jede wie immer geartete Entschädigung. Bloß, um – sagen wir – meine Neugier zu befriedigen.»
«Und ich nehme an», entgegnete Mr Raikes, «dass Sie neulich bei dem verfluchten Zahnarzt ebenfalls bloß Ihre Neugier befriedigt haben.»
Poirot schüttelte den Kopf.
«Sie übersehen die allereinfachste Ursache, weswegen man sich im Wartezimmer eines Zahnarztes aufhält – nämlich, um sich die Zähne behandeln zu lassen.»
«Deshalb waren Sie also dort?» Mr Raikes’ Ton drückte ungläubige Verachtung aus. «Um sich die Zähne behandeln zu lassen?»
«Gewiss.»
«Sie werden verzeihen, wenn ich Ihnen sage, dass ich das nicht glaube.»
«Darf ich dann fragen, Mr Raikes, was Sie beim Zahnarzt gemacht haben?»
Mr Raikes lächelte plötzlich: «Jetzt haben Sie mich erwischt! Ich war ebenfalls zur Behandlung dort.»
«Sie haben vielleicht Zahnschmerzen gehabt?»
«Richtig, Sie Schlaumeier.»
«Und trotzdem sind Sie fortgegangen, ohne sich behandeln zu lassen?»
«Nun, und wenn schon? Das ist doch meine Angelegenheit…» Er hielt inne und sagte dann mit rasch aufflammendem Zorn: «Ach, zum Teufel, warum reden wir immer um die Sache herum? Sie waren einfach dort, um auf Ihren Prominenten aufzupassen. Und Ihrem wertvollen Mr Alistair Blunt ist ja auch nichts zugestoßen. Mir können Sie nichts nachweisen.»
«Wohin gingen Sie, als Sie so plötzlich das Wartezimmer verließen?», fragte Poirot plötzlich scharf.
«Aus dem Hause, natürlich.»
«Aha!» Poirot blickte nach der Decke. «Aber niemand sah Sie hinausgehen, Mr Raikes.»
«Macht das etwas aus?»
«Möglicherweise. Bedenken Sie: Kurz darauf ist in demselben Haus jemand eines gewaltsamen Todes gestorben.»
Raikes sagte: «Ach so, Sie meinen den Zahnklempner.»
Poirots Stimme klang hart, als er antwortete: «Ja, ich meine den Zahnklempner.»
Raikes starrte ihn an. «Wollen Sie das etwa mir in die Schuhe schieben?», fragte er. «Ist das Ihre Absicht? Das wird Ihnen nicht gelingen. Ich habe eben den Bericht über die gestrige Leichenschau gelesen. Der arme Teufel hat sich erschossen, weil er sich bei einer Lokalanästhesie irrte und der betreffende Patient starb.»
Poirot fuhr unbewegt fort: «Könnten Sie beweisen, dass Sie das Haus verlassen haben? Kann jemand mit Bestimmtheit angeben, wo Sie sich zwischen zwölf und eins aufgehalten haben?»
Raikes kniff die Augen zusammen.
«Sie versuchen also tatsächlich, die Geschichte mir in die Schuhe zu schieben? Wahrscheinlich hat Blunt Sie dazu angestiftet?»
Poirot seufzte: «Verzeihen Sie – aber dieses fortwährende Herumreiten auf Mr Alistair Blunt ist anscheinend eine Zwangsvorstellung von Ihnen. Ich stehe nicht in seinen Diensten und habe nie in seinen Diensten gestanden. Ich befasse mich nicht mit seinem Schutz, sondern mit dem Tod eines Menschen, der in seinem selbstgewählten Beruf nützliche Arbeit geleistet hat.»
Raikes schüttelte den Kopf. «Tut mir Leid», murrte er, «ich glaube Ihnen nicht. Sie sind und bleiben für mich Blunts Privatschnüffler.» Ein harter Zug trat in sein Gesicht, als er sich über den Tisch lehnte. «Aber Sie können ihn nicht schützen, verstehen Sie? Er muss verschwinden – er und alles, was er verkörpert. Eine neue Zeit muss anbrechen. Das alte, korrupte Finanzsystem muss weg – dieses verfluchte Netz von Bankiers, das die Welt wie ein Spinngewebe umgibt. Alles das muss weggefegt werden. Ich habe nichts gegen Blunt als Person – aber als Typus hasse ich ihn. Er ist mittelmäßig – ein Philister. Er ist einer von denen, die man nur mit Dynamit wegsprengen kann. Er gehört zu den Leuten, die sagen: ‹Die Grundlagen der Zivilisation darf man nicht zerstören.› Darf man das wirklich nicht? Er wird schon sehen! Blunt ist ein Hindernis auf dem Weg zum Fortschritt und muss deshalb beseitigt werden. Für Menschen wie Blunt ist heutzutage auf der Welt kein Platz – Menschen, die sich nach der Vergangenheit zurücksehnen und so leben möchten, wie ihre Väter oder sogar Großväter gelebt haben! Hier in England gibt es viele solche Leute – verknöcherte alte Reaktionäre, unnütze, verbrauchte Überbleibsel einer morschen Epoche. Bei Gott, die müssen verschwinden! Eine neue Welt muss entstehen. Verstehen Sie: eine neue Welt!»
Poirot seufzte und stand auf. «Ich sehe», sagte er. «Sie sind ein Idealist.»
«Und was ist dagegen einzuwenden?»
«Sie sind zu sehr Idealist, um sich aus dem Tod eines Zahnarztes etwas zu machen.»
Verächtlich sagte Raikes: «Wirklich, was geht mich der Tod eines einzigen, armseligen Zahnarztes an?»
«Sie geht er nichts an», antwortete Poirot. «Mich geht er an. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.»
Als Poirot heimkam, teilte George ihm mit, dass eine Dame auf ihn warte. «Die Dame ist – äh – etwas nervös», sagte George. Da die Dame ihren Namen nicht genannt hatte, stand es Poirot frei zu raten, um wen es sich handelte. Er hatte falsch geraten, denn die junge Frau, die bei seinem Eintritt erregt vom Sofa aufsprang, war die Sekretärin des verstorbenen Mr Morley, Gladys Nevill.
«Ach, M. Poirot, es ist mir so unangenehm, Sie in dieser Weise zu überfallen, und ich weiß wirklich nicht, wie ich den Mut gefunden habe, herzukommen – ich fürchte, Sie werden mich für sehr aufdringlich halten, und ich möchte Ihre Zeit wirklich nicht in Anspruch nehmen – ich weiß ja, wie wenig Zeit ein viel beschäftigter Mann wie Sie hat, aber ich war tatsächlich so unglücklich – ich denke mir nur, Sie werden es für reine Zeitverschwendung halten…»
Durch seinen langjährigen Umgang mit dem englischen Volk gewitzt, schlug Poirot eine Tasse Tee vor. Miss Nevills Reaktion entsprach vollkommen seinen Erwartungen.
«Also, M. Poirot, das ist wirklich reizend von Ihnen. Es ist ja noch ziemlich früh am Vormittag – aber eine Tasse Tee kann man immer vertragen, nicht wahr?»
Poirot, der eine Tasse Tee immer entbehren konnte, stimmte ihr heuchlerisch zu. George erhielt entsprechende Anweisungen, und in erstaunlich kurzer Zeit saßen Poirot und seine Besucherin einander an einem Teetischchen gegenüber.
«Ich muss Sie um Entschuldigung bitten», sagte Miss Nevill, die unter dem Einfluss des Getränks ihr gewohntes sicheres Auftreten allmählich wiedergewann, «aber die Sache ist so, dass mich die gestrige Leichenschau ziemlich aufgeregt hat.»
«Davon bin ich überzeugt», meinte Poirot freundlich.
«Nicht, dass ich als Zeugin hätte aussagen sollen oder dergleichen – davon war gar nicht die Rede. Aber ich hatte das Gefühl, Miss Morley müsste eine Begleitung haben. Gewiss, Mr Reilly war da – aber ich meine: ein weibliches Wesen als Begleitung. Außerdem schätzt Miss Morley Mr Reilly nicht besonders. Deshalb hielt ich es für meine Pflicht, mit ihr hinzugehen.»
«Da haben Sie bestimmt ein gutes Werk getan», sagte Poirot.
«Ach nein – ich musste es einfach tun. Schauen Sie, ich habe eine ganze Reihe von Jahren für Mr Morley gearbeitet – die ganze Sache war ein schwerer Schlag für mich, und die Leichenschau hat natürlich alles noch verschlimmert…»
«Ja, das kann ich mir denken.»
Miss Nevill beugte sich mit ernstem Gesicht vor.
«Aber es stimmt ja alles nicht, M. Poirot. Es stimmt wirklich nicht.»
«Was stimmt nicht, Mademoiselle?»
«Nun, die Art und Weise, wie sich alles abgespielt haben soll – ich meine, dass er einem Patienten eine tödliche Dosis…»
«Sie glauben das nicht?»
«Ich bin überzeugt, dass es nicht so war. Gelegentlich kommt es schon vor, dass die örtliche Betäubung eine nachteilige Wirkung hat, aber nur bei Patienten, die bestimmte körperliche Beschwerden haben – meist ist das Herz nicht in Ordnung. Aber eine Überdosis ist etwas äußerst Seltenes. Schauen Sie – Zahnärzte sind so gewohnt, die vorgeschriebene Dosis zu geben, dass das Spritzen zu einem ganz mechanischen Vorgang wird – man gibt die richtige Dosis automatisch.»
Poirot nickte zustimmend: «Ja, diesen Gedanken habe ich auch gehabt.»
«Schauen Sie, die Mittel sind vollkommen standardisiert. Es ist nicht wie bei einem Apotheker, der dauernd verschiedene Rezepte zurechtmacht oder die Dosierung verändern muss – da kann natürlich durch Unaufmerksamkeit leicht ein Irrtum entstehen. Oder bei einem Arzt, der viele verschiedenartige Rezepte schreiben muss. Aber bei einem Zahnarzt ist das ganz anders.»
«Haben Sie versucht, diese Auffassung bei der gerichtlichen Leichenschau zu äußern?», erkundigte sich Poirot.
Gladys Nevill schüttelte den Kopf. «Nein!», stieß sie schließlich hervor, «ich habe mich gescheut, die – die Dinge noch zu verschlimmern. Natürlich weiß ich, dass Mr Morley ein solcher Irrtum nicht hätte passieren können – aber dann hätten die Leute gedacht, er habe es absichtlich getan.»
Poirot nickte, und Gladys Nevill fuhr hastig fort: «Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, M. Poirot. Weil Sie keine – keine Behörde sind. Aber ich bin der Ansicht, irgendjemand müsse erfahren, wie – wie wenig überzeugend die ganze Geschichte klingt.»
«Leider wünscht das niemand zu erfahren», murmelte Poirot.
Sie schaute ihn überrascht an, und nach einer Weile sagte er: «Ich wüsste gern Näheres über das Telegramm, durch das Sie neulich aus London fortgelockt worden sind.»
«Ehrlich gesagt, M. Poirot, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es erscheint mir so sonderbar. Schauen Sie: Das Telegramm muss jemand abgeschickt haben, der genau über mich Bescheid weiß – und auch über meine Tante, wo sie wohnt und dergleichen.»
«Ja, man hat den Eindruck, dass es entweder aus Ihrem engsten Bekanntenkreis stammt oder von jemandem, der bei Morleys im Haus lebt und gut über Sie informiert ist.»
«Von meinen Freunden würde niemand so etwas tun, Monsieur Poirot.»
«Sie selbst haben gar keine Vermutungen?»
Das Mädchen zögerte und sagte dann langsam: «Ganz zu Anfang, als ich hörte, Mr Morley habe sich erschossen, dachte ich, er habe das Telegramm vielleicht selber geschickt.»
«Sie meinen, aus Rücksicht auf Sie – um Sie aus dem Weg zu haben?»
Sie nickte.
«Aber dann ist mir dieser Gedanke zu phantastisch vorgekommen – selbst wenn er wirklich geplant hätte, sich an diesem Vormittag umzubringen. Es ist tatsächlich sehr sonderbar. Frank – mein Freund – hat sich dabei zuerst ganz albern benommen. Er hat mir vorgeworfen, ich hätte an diesem Tag mit einem anderen Mann verreisen wollen – als ob ich jemals so etwas tun würde!»
«Gibt es einen – anderen Mann?»
Miss Nevill errötete.
«Nein, natürlich nicht. Doch Frank ist in letzter Zeit so anders gewesen – so bedrückt und misstrauisch. Aber wissen Sie, das war nur, weil er seine Stellung verloren hat und keine neue finden konnte. Müßiggang ist so schädlich für einen Mann. Ich habe mich um Frank sehr gesorgt.»
«Er hat sich sehr aufgeregt, nicht wahr, als er feststellte, dass Sie an dem betreffenden Tag verreist waren?»
«Ja – denn er war gekommen, um mir zu erzählen, dass er eine neue Stellung gefunden habe – eine wunderbare Stellung – zehn Pfund in der Woche. Und er war ungeduldig: Ich sollte es sofort erfahren. Außerdem wünschte er wohl, dass auch Mr Morley es erfahren sollte, denn es kränkte ihn sehr, dass Mr Morley ihn nicht schätzte.»
Leichthin sagte Poirot: «Ich würde Ihren Freund gern kennen lernen.»
«Das wäre mir sehr recht, M. Poirot. Aber augenblicklich hat er nur den Sonntag frei. Während der Woche arbeitet er auf dem Land.»
«Ah, die neue Stellung. Was ist das übrigens für eine Arbeit?»
«Genau weiß ich das auch nicht. Ich glaube, so eine Art Sekretärsposten. Oder bei einer Behörde. Ich muss meine Briefe an Franks Londoner Adresse schicken, und von dort werden sie ihm nachgesandt.»
«Finden Sie das nicht ein bisschen sonderbar?»
«Ja, anfangs fand ich es schon – aber Frank meint, das werde heuzutage oft gemacht.»
Poirot sah sie ein paar Sekunden schweigend an. Dann sagte er entschlossen: «Morgen ist Sonntag, nicht wahr? Vielleicht machen Sie mir beide das Vergnügen, mit mir zu Mittag zu essen – sagen wir, im Longans Corner Restaurant? Ich möchte diesen traurigen Vorfall mit Ihnen beiden besprechen.»
«Danke vielmals, M. Poirot. Ich – wir werden uns sehr freuen!»
Frank Carter war ein blonder, mittelgroßer junger Mann, dessen Erscheinung billige Eleganz verriet. Er redete bereitwillig und fließend. Seine Augen standen ziemlich nahe beisammen und bewegten sich unruhig hin und her, wenn er verlegen war. Er war misstrauisch und etwas feindselig gestimmt.
«Ich hatte keine Ahnung, dass wir das Vergnügen haben würden, mit Ihnen zu speisen, M. Poirot. Gladys hat mir nichts davon erzählt.»
Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu.
«Es wurde erst gestern vereinbart», entschuldigte Poirot lächelnd. «Miss Nevill hat sich über die näheren Umstände von Mr Morleys Tod sehr aufgeregt, und ich dachte, wenn wir alle einmal einen Kriegsrat abhalten würden…»
Frank Carter unterbrach ihn grob.
«Morleys Tod? Morleys Tod hängt mir schon zum Hals heraus! Denk doch einfach nicht mehr an den Mann, Gladys. Ich verstehe nicht, was an ihm so großartig gewesen sein soll.»
«Oh, Frank – das darfst du nicht sagen. Schon allein, dass er mir hundert Pfund vermacht hat – gestern Abend habe ich den Brief bekommen, in dem das stand.»
«Nun ja, das ist ja ganz gut und schön», gab Frank grollend zu. «Aber warum schließlich auch nicht? Wie eine Sklavin hat er dich schuften lassen – und wer hat alle die fetten Honorare eingesteckt? Er!»
«Aber das war doch vollkommen in Ordnung – er hat mir ein sehr gutes Gehalt gezahlt.»
«Nicht, was ich unter einem guten Gehalt verstehe! Mein liebes Kind, du bist viel zu gutmütig – du lässt dich ausnützen. Ich habe Morley ganz richtig eingeschätzt. Du weißt so gut wie ich, dass er alles versucht hat, um uns beide auseinanderzubringen.»
«Er hat es nicht besser verstanden.»
«Er hat es sehr wohl verstanden. Der Mann ist jetzt tot, sonst hätte ich ihm einmal meine Meinung gesagt – kannst dich darauf verlassen.»
«Zu diesem Zweck sind Sie auch am Todestag von Mr Morley ins Haus gekommen, nicht wahr?», fragte Hercule Poirot freundlich.
Frank Carter sagte zornig: «Wer hat das behauptet…?»
«Sie sind doch gekommen, nicht wahr?»
«Nun, und wenn schon? Ich wollte Miss Nevill sprechen.»
«Aber man hat Ihnen mitgeteilt, sie sei nicht da.»
«Ja, und das hat mich äußerst misstrauisch gemacht, kann ich Ihnen sagen. Ich habe diesem rothaarigen Trottel gesagt, dass ich warten und selbst mit Morley sprechen würde. Ich hatte es satt, dass er Gladys dauernd gegen mich aufhetzte, und wollte ihm klarmachen, dass ich kein armseliger Taugenichts bin, sondern ein Mann in guter Stellung, der absolut in der Lage ist zu heiraten.»
«Aber Sie haben doch nicht mit Morley gesprochen?»
«Nein, ich bekam das Warten in dieser verstaubten Gruft satt und ging fort.»
«Um welche Zeit verließen Sie das Haus?»
«Daran kann ich mich nicht erinnern.»
«Haben Sie eine halbe Stunde gewartet – länger oder kürzer als eine halbe Stunde?»
«Ich sage Ihnen doch, ich weiß es nicht. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die dauernd auf die Uhr schauen.»
«War noch jemand im Wartezimmer, während Sie dort warteten?»
«Ein dicker, öliger Kerl war da, als ich eintrat, aber er wurde bald zu Morley gerufen. Dann war ich allein.»
«Dann müssen Sie vor halb eins gegangen sein – denn um diese Zeit ist eine Dame gekommen.»
«Schon möglich. Wie gesagt, die Bude ist mir auf die Nerven gegangen.»
Poirot sah ihn nachdenklich an. Das forsche Auftreten wirkte irgendwie unecht. Aber das ließ sich vielleicht auch durch bloße Nervosität erklären. Einfach und ungekünstelt sagte darum Poirot: «Miss Nevill erzählte mir, dass Sie großes Glück gehabt und eine sehr gute Stellung gefunden haben.»
«Das Gehalt ist gut.»
«Zehn Pfund pro Woche, habe ich gehört.»
«Stimmt. Nicht übel, was? Das beweist, dass ich etwas erreichen kann, wenn ich es mir in den Kopf setze.»
Carter sah sehr stolz aus.
«Ja, in der Tat. Und die Arbeit ist nicht zu anstrengend?»
«Es geht.»
«Und interessant?»
«O ja, ganz interessant. Da wir gerade von Arbeit reden: Ich habe mich immer gefragt, wie ihr Privatdetektive eigentlich arbeitet. Ich nehme an, die Zeiten des seligen Sherlock Holmes sind vorbei, oder? Heutzutage gibt es wohl nur noch Scheidungsaffären zu bearbeiten?»
«Ich befasse mich nicht mit Ehescheidungen.»
«So? Dann begreife ich nicht, wie Sie existieren können.»
«Man richtet sich ein, lieber Freund, man richtet sich ein.»
«Aber Sie sind doch eine Koryphäe auf Ihrem Gebiet, nicht wahr, M. Poirot?», warf Gladys Nevill ein. «Mr Morley hat das immer behauptet. Ich meine: Detektive wie Sie arbeiten für königliche Hoheiten oder für das Innenministerium oder für Herzoginnen.»
Poirot lächelte sie an. «Sie schmeicheln mir», sagte er dann.
Nachdenklich kehrte Poirot heim und rief sofort Japp an.
«Verzeihen Sie, lieber Freund, wenn ich Sie störe, aber haben Sie eigentlich etwas unternommen, um dem bewussten Telegramm an Gladys Nevill auf die Spur zu kommen?»
«Sind Sie immer noch an der Sache dran? Ja, wir haben das Telegramm tatsächlich aufgespürt. Die Sache war sehr schlau eingefädelt: Die Tante wohnt in Richbourne in Somerset, und das Telegramm wurde in Richbarn, einem Londoner Vorort, aufgegeben.»
Anerkennend meinte Poirot:
«Das war schlau – ja, das war schlau. Wenn die Empfängerin zufällig nach dem Aufgabeort sah, besaß dieser Name genügend Ähnlichkeit mit Richbourne, um keinen Verdacht zu erregen.» Er hielt inne. «Wissen Sie, was ich denke, Japp?»
«Nun?»
«Hinter dieser Sache steckt Verstand.»
«Hercule Poirot wünscht, dass es Mord ist, also muss es Mord sein.»
«Und wie erklären Sie sich das Telegramm?»
«Ein Zufall. Jemand hat einen Streich gespielt.»
«Aus welchem Grund?»
«Du lieber Himmel, Poirot – aus welchem Grund tut man so etwas? Aus Spaß, aus Fopperei. Ein verdrehter Sinn für Humor – das ist alles.»
«Und der Spaß musste ausgerechnet an dem Tag stattfinden, an dem Morley den Irrtum mit der Injektion begeht?»
«Vielleicht hat dabei ein gewisser Zusammenhang von Ursache und Wirkung bestanden: Eben weil die Assistentin abwesend war, hat sich Morley infolge seiner dadurch bedingten Überlastung in der Dosis geirrt.»
«Ich bin noch nicht überzeugt.»
«Das glaube ich Ihnen – aber sehen Sie nicht, wohin Ihre Auffassung führt? Wenn jemand die Nevill aus dem Weg haben wollte, dann war es vermutlich Morley selbst. Und daraus würde sich ergeben, dass er Amberiotis mit Vorbedacht und nicht aus Versehen umgebracht hat.»
Poirot schwieg.
Japp sagte: «Sehen Sie das ein?»
«Amberiotis kann auch auf andere Weise umgebracht worden sein», erklärte Poirot.
«Ausgeschlossen. Niemand hat ihn im Savoy besucht, und im ärztlichen Befund steht ausdrücklich, dass das Zeug gespritzt und nicht geschluckt worden ist – im Magen war nichts davon zu finden. Da ist nicht viel zu machen – der Fall liegt klar.»
«Ja, das sollen wir eben glauben… Und was ist mit der verschwundenen Dame?»
«An dem Fall arbeiten wir noch. Irgendwo muss das Weibsbild doch sein! Man kann schließlich nicht einfach auf die Straße laufen und sich in Luft auflösen.»
«Das hat sie aber anscheinend getan.»
«Im Augenblick sieht es so aus. Aber irgendwo muss sie sein, tot oder lebendig – und ich glaube nicht, dass sie tot ist.»
«Warum nicht?»
«Weil wir sonst inzwischen die Leiche gefunden hätten.»
«Oh, lieber Freund – tauchen denn Leichen immer schon so bald auf?»
«Wahrscheinlich wollen Sie mir jetzt einreden, die Frau sei gleichfalls umgebracht worden?»
«Man kann nie wissen», sagte Poirot vorsichtig. «Aber die Hauptsache ist, dass Sie sie erst einmal finden.»
«Ja, ja, natürlich. Wir werden jetzt ihren Steckbrief durch die Presse veröffentlichen und auch den Rundfunk mobilisieren.»
«Aha», meinte Poirot, «das könnte was bringen.»
«Machen Sie sich keine Sorgen, alter Freund. Wir werden Ihnen Ihre verschwundene Schönheit schon zur Stelle schaffen – einschließlich wollener Unterwäsche und allem anderen.»
Japp legte auf.
George betrat in seiner gewohnten geräuschlosen Art das Zimmer. Er stellte eine Kanne dampfende Schokolade und etwas Gebäck auf ein Tischchen.
«Haben Sie noch einen Wunsch, Monsieur?»
«Meine Gedanken befinden sich in großer Verwirrung, George.»
«Wirklich, Monsieur? Das tut mir Leid.»
Hercule Poirot goss sich eine Tasse Schokolade ein und rührte gedankenvoll darin herum.
George blieb in ehrerbietiger Haltung wartend stehen, denn er verstand das Zeichen zu deuten. Es gab Augenblicke, in denen Hercule Poirot seine Fälle mit dem Diener besprach. Er pflegte zu sagen, Georges Bemerkungen seien ungewöhnlich nützlich.
«Es ist Ihnen zweifellos bekannt, George, dass mein Zahnarzt eines plötzlichen Todes gestorben ist?»
«Mr Morley, Monsieur? Ja, Monsieur. Sehr unangenehm, Monsieur. Er hat sich erschossen, wie ich höre.»
«Das ist die allgemeine Annahme. Wenn er sich nicht selbst erschossen hat, dann hat man ihn ermordet.»
«Jawohl, Monsieur.»
«Die Frage ist nun: Wenn er ermordet worden ist – wer hat die Tat begangen?»
«Ganz richtig, Monsieur.»
«Es gibt nur eine beschränkte Zahl von Menschen, George, die den Mord begangen haben können. Das heißt: die Menschen, die zu der betreffenden Zeit im Hause waren oder im Hause hätten sein können.»
«Sehr richtig, Monsieur.»
«Diese Menschen sind: eine Köchin und ein Hausmädchen – freundliche Angestellte, von denen kaum anzunehmen ist, dass sie etwas Derartiges tun würden. Ferner eine treue Schwester – ebenfalls sehr unwahrscheinlich –, die aber immerhin das ganze Geld ihres Bruders erbt; man darf den finanziellen Aspekt nie vollständig außer Acht lassen. Ein fähiger und tüchtiger Teilhaber – das eventuelle Motiv unbekannt. Ein etwas einfältiger Boy, der gern billige Kriminalromane liest. Und endlich ein Herr aus Griechenland mit etwas zweifelhafter Vergangenheit.»
George hustete.
«Diese Ausländer, Monsieur…»
«Ganz richtig. Ich pflichte Ihnen vollkommen bei. Der Herr aus Griechenland ist entschieden verdächtig. Aber schauen Sie, George, der griechische Herr ist gleichfalls gestorben, und es ist anscheinend Mr Morley gewesen, der ihn umgebracht hat, – ob mit Absicht oder auf Grund eines bedauerlichen Irrtums, wissen wir nicht.»
«Es könnte so sein, Monsieur, dass die Herren sich gegenseitig umgebracht haben. Ich meine Folgendes, Monsieur: Jeder der beiden Herren hatte den Plan gefasst, den anderen Herrn umzubringen – natürlich ohne Wissen des anderen Herrn.»
Hercule Poirot schnurrte beifällig. «Äußerst scharfsinnig, George. Der Zahnarzt ermordet den unglücklichen Herrn, der im Sessel sitzt, ohne zu wissen, dass besagtes Opfer im gleichen Augenblick genau überlegt, wann es die Pistole ziehen soll. So könnte es sich natürlich abgespielt haben – aber, George, das kommt mir doch höchst unwahrscheinlich vor. Und unsere Personenliste ist noch nicht zu Ende. Es gibt noch zwei weitere Leute, die im gegebenen Moment möglicherweise im Hause waren. Alle Patienten vor Mr Amberiotis sind beim Verlassen des Hauses gesehen worden – alle bis auf einen jungen Amerikaner. Er hat das Wartezimmer ungefähr zwanzig Minuten vor zwölf verlassen, aber niemand hat gesehen, dass er aus dem Haus gegangen ist. Deshalb müssen wir ihn als einen möglichen Täter betrachten. Der andere ist ein gewisser Frank Carter – kein Patient –, der kurz nach zwölf ins Haus gekommen ist, mit der Absicht, Mr Morley zu sprechen. Den hat auch niemand weggehen sehen. Das, mein guter George, sind die Tatsachen: Was halten Sie davon?»
«Um welche Zeit wurde der Mord begangen, Monsieur…?»
«Wenn der Mord von Mr Amberiotis begangen wurde, dann irgendwann zwischen zwölf Uhr und zwölf Uhr fünfundzwanzig. Wenn ein anderer den Mord begangen hat, dann muss das nach zwölf Uhr fünfundzwanzig geschehen sein, denn sonst hätte Amberiotis die Leiche sehen müssen.»
Er blickte George aufmunternd an.
«Nun, mein guter George, was halten Sie von der Geschichte?»
George überlegte. Schließlich sagte er: «Was mir auffällt, Monsieur…»
«Ja, George?»
«Monsieur werden sich einen anderen Zahnarzt suchen müssen…»
«Sie übertreffen sich selbst, George. Dieser Aspekt der Angelegenheit war mir noch gar nicht aufgegangen!»
Mit befriedigtem Gesicht verließ George das Zimmer. Hercule Poirot blieb sitzen, schlürfte seine Schokolade und ging in Gedanken nochmals die Ereignisse durch, die er soeben geschildert hatte. Er war überzeugt, dass die Tatsachen seiner Darstellung entsprachen. Unter den aufgezählten Personen befand sich diejenige, die den Mord begangen hatte – gleichgültig, wer hinter dem Anschlag stand.
Plötzlich schossen Poirots Augenbrauen in die Höhe: Ihm war eingefallen, dass seine Liste eine Lücke enthielt. Und niemand durfte ausgelassen werden – auch nicht die unwahrscheinlichste Person.
Noch jemand war zur Zeit des Mordes im Haus gewesen. Er notierte: Barnes.
George meldete: «Eine Dame möchte Sie am Telefon sprechen, Monsieur.»
Eine Woche zuvor hatte Poirot die Person einer Besucherin falsch erraten. Diesmal riet er richtig. Er erkannte die Stimme sofort.
«M. Hercule Poirot?»
«Am Apparat.»
«Hier ist Jane Olivera – die Nichte von Mr Alistair Blunt.»
«Ja, Miss Olivera?»
«Könnten Sie bitte ins Gotische Haus kommen? Ich glaube nämlich, dass Sie etwas erfahren müssten.»
«Gewiss. Um welche Zeit würde es Ihnen passen?»
«Um halb sieben, bitte.»
«Ich werde kommen.»
«Ich – ich hoffe, ich störe Sie nicht in Ihrer Arbeit?»
«Ganz und gar nicht. Ich habe Ihren Anruf erwartet.»
Er legte rasch auf und wandte sich lächelnd vom Telefon ab. Er war neugierig, welche Ausrede Jane Olivera sich wohl ausgedacht haben mochte, um ihn kommen zu lassen.
Bei seiner Ankunft im Gotischen Haus wurde er direkt in die große Bibliothek geführt, durch deren Fenster man auf die Themse hinaussah. Alistair Blunt saß am Schreibtisch und spielte zerstreut mit einem Papiermesser. Er machte das leicht gequälte Gesicht eines Mannes, dem das Weibervolk um sich herum zunehmend auf die Nerven geht.
Jane Olivera stand beim Kamin. Eine rundliche Dame in mittleren Jahren zeterte bei Poirots Eintreten gerade: «– und ich bin wirklich der Meinung, Alistair, dass in dieser Angelegenheit auf meine Gefühle Rücksicht genommen werden muss.»
«Ja, natürlich, Julia – natürlich, natürlich.»
Alistair sprach in beschwichtigendem Ton und stand auf, um Poirot zu begrüßen.
«Und wenn ihr euch Schauergeschichten erzählt, verlasse ich das Zimmer», fügte die Dame hinzu.
«An deiner Stelle, Mutter, würde ich lieber gleich hinausgehen», meinte Jane höflich.
Mrs Olivera rauschte aus dem Zimmer, ohne von Poirot Notiz zu nehmen.
«Sehr freundlich, dass Sie gekommen sind, M. Poirot», begrüßte Alistair Blunt ihn. «Ich glaube, Sie kennen Miss Olivera bereits?»
Jane sagte rasch: «Es handelt sich um diese verschwundene Frau, von der alle Zeitungen voll sind – Miss Sowieso Seale.»
«Sainsbury Seale? Ja?»
«Es ist ein so pompöser Name – deshalb habe ich mich daran erinnert. Wer soll erzählen – ich oder du, Onkel Alistair?»
«Mein liebes Kind – die Geschichte gehört dir.»
Jane wandte sich wieder an Poirot.
«Vielleicht ist es ganz unwichtig – aber ich habe jedenfalls gemeint, dass Sie es erfahren sollten.»
«Ja?»
«Es war beim letzten Mal, als Onkel Alistair zum Zahnarzt ging – ich meine: nicht neulich, sondern vor etwa drei Monaten. Ich habe ihn in die Queen Charlotte Street begleitet; der Wagen sollte mich dann zu Freunden am Regent’s Park bringen und hinterher Onkel Alistair wieder abholen. Wir hielten vor Nummer 58, und Onkel stieg aus. In diesem Augenblick kam eine Frau aus dem Haus – eine Frau in mittleren Jahren mit wirrem Haar und geschmacklos angezogen. Sie schoss auf Onkel zu und sagte» – hier ging Jane Oliveras Stimme in ein affektiertes Quietschen über – «‹Oh, Mr Blunt, Sie können sich gewiss nicht mehr an mich erinnern!› Ihm war natürlich anzumerken, dass er sich wirklich nicht im Geringsten an sie erinnerte.»
Blunt seufzte.
«Das geht mir immer so. Die Leute sagen…»
«Er machte ein ganz bestimmtes Gesicht», fuhr Jane fort, «das ich genau kenne – ein Gesicht, das den Leuten etwas vormachen soll, aber keinen Säugling täuschen könnte – und sagte lahm: ‹Oh – äh – doch, gewiss.› Darauf sagte das schreckliche Weib: ‹Ich war sehr befreundet mit Ihrer Frau, wissen Sie!›»
«Auch das sagen die Leute immer», fügte Alistair Blunt in düsterem Ton hinzu. Er lächelte verlegen.
«Es läuft immer auf dasselbe hinaus: ein Beitrag für irgendeinen wohltätigen Zweck. Damals habe ich mich mit fünf Pfund zugunsten einer Zenana-Mission loskaufen können – billig!»
«Hatte sie wirklich Ihre Frau gekannt?»
«Nun, da sie sich für die Zenana-Mission interessierte, hätte das nur in Indien gewesen sein können, wo wir vor etwa zehn Jahren waren. Aber ‹sehr befreundet› war sie mit meiner Frau sicher nicht, denn davon hätte ich gewusst. Wahrscheinlich hat sie sie einmal bei irgendeinem Empfang getroffen.»
Jane meinte: «Ich glaube nicht, dass sie Tante Rebecca überhaupt gekannt hat. Das war sicher nur ein Vorwand, um dich anzusprechen, Onkel.»
Alistair Blunt murmelte nachsichtig: «Nun, das ist sehr gut möglich.»
«Hat sie noch weitere ‹Annäherungsversuche› gemacht?», fragte Poirot.
Blunt schüttelte den Kopf.
«Ich habe nie wieder an sie gedacht. Sogar ihr Name war mir entfallen, bis Jane ihn in der Zeitung entdeckt hat.»
Unsicher sagte Jane: «Nun, ich fand, dass M. Poirot von dieser Begegnung erfahren sollte!»
«Ich danke Ihnen, Mademoiselle», erwiderte Poirot höflich. Zu Blunt gewandt, fügte er hinzu: «Ich möchte Sie nicht unnötig aufhalten, Mr Blunt. Sie sind ein viel beschäftigter Mann.»
Jane sagte schnell: «Ich bringe Sie hinunter.»
Poirot lächelte hinter seinem Schnurrbart.
Im Erdgeschoss blieb Jane plötzlich stehen: «Kommen Sie hier rein!», flüsterte sie und führte ihn in ein kleines Zimmer, das neben der Halle lag. Sie drehte sich um und stand ihm gegenüber. «Was meinten Sie, als Sie am Telefon sagten, Sie hätten meinen Anruf erwartet?»
Poirot lächelte: «Genau, was ich gesagt habe, Mademoiselle. Ich habe Ihren Anruf erwartet – und der Anruf ist gekommen.»
«Wollen Sie damit sagen, Sie hätten gewusst, dass ich Sie wegen dieser Sainsbury Seale anrufen würde?»
Poirot schüttelte den Kopf.
«Das war nur ein Vorwand. Sie hätten nötigenfalls auch einen anderen Vorwand gefunden.»
«Aus welchem anderen Grund hätte ich Sie anrufen sollen?», fragte das Mädchen wütend.
«Aus welchem Grund sollten Sie die kleine Information über Miss Sainsbury Seale mir zukommen lassen statt der Polizei? Das wäre doch der normale Weg gewesen.»
«Also gut – was wissen Sie eigentlich?»
«Ich weiß, dass Sie sich für mich interessieren, seit Sie erfahren haben, dass ich neulich im Holborn Palace Hotel war.»
Sie wurde so blass, dass er erschrak. Er hätte nie gedacht, dass diese tiefgebräunte Haut eine derart grünliche Schattierung annehmen könnte.
Mit ruhiger, fester Stimme fuhr er fort: «Sie haben mich veranlasst, heute hierher zu kommen, weil Sie mich ausholen wollen – das ist das richtige Wort, nicht wahr? – ja, weil Sie mich ausholen wollen – über Mr Howard Raikes.»
«Wer ist das?», fragte Jane wenig überzeugend.
Poirot sagte: «Sie brauchen mich nicht auszuholen, Mademoiselle. Ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß – oder vielmehr, was ich erraten habe. Damals, als ich mit Chefinspektor Japp zum ersten Mal hier ins Haus kam, waren Sie überrascht, uns zu sehen – erschrocken. Sie dachten, Ihrem Onkel sei etwas zugestoßen. Warum?»
«Nun, er gehört zu den Leuten, denen etwas zustoßen könnte. Einmal hat er eine Bombe in einem Postpaket bekommen, und jetzt erhält er fast täglich Drohbriefe.»
Poirot fuhr fort: «Chefinspektor Japp sagte Ihnen, dass ein gewisser Morley, ein Zahnarzt, erschossen aufgefunden worden sei. Sie erinnern sich vielleicht noch an Ihre Antwort. Sie sagten: ‹Aber das ist doch absurd!›»
«Habe ich das gesagt? Das war absurd von mir, nicht wahr?»
«Es war eine sehr sonderbare Bemerkung, Mademoiselle. Sie verriet, dass Sie von der Existenz des Mr Morley wussten und dass Sie erwartet hatten, etwas würde passieren – nicht ihm, aber möglicherweise in seinem Hause.»
«Sie denken sich gern zu Ihrem Vergnügen Geschichten aus, wie?»
Poirot ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Sie hatten erwartet – oder vielmehr gefürchtet –, dass etwas in Mr Morleys Haus Ihrem Onkel passieren würde. Aber wenn dem so war, dann mussten Sie etwas wissen, was wir nicht wussten. Ich ließ die Menschen, die an jenem Tag Mr Morleys Haus betreten hatten, vor meinem inneren Auge Revue passieren und kam sofort auf die einzige Person, die mit Ihnen in Verbindung stehen könnte – es war dieser junge Amerikaner, Howard Raikes.»
«Das klingt ja wie ein Schauerroman! Was bringt die nächste spannende Fortsetzung?»
«Ich suchte Mr Raikes auf. Er ist ein gefährlicher und anziehender junger Mann.»
Poirot schaltete eine ausdrucksvolle Pause ein.
Jane sagte nachdenklich: «Das ist er wirklich, nicht wahr?» Sie lächelte. «Also schön! Sie haben gewonnen! Ich bin fast gestorben vor Angst!»
Sie beugte sich vor.
«Ich werde Ihnen alles erzählen, M. Poirot. Sie kann man nicht an der Nase herumführen. Lieber erzähle ich es Ihnen, als dass Sie herumschnüffeln und alles selbst herausbringen. Ich liebe diesen Howard Raikes. Meine Mutter hat mich nur nach England gebracht, um mich von ihm zu trennen. Teils deshalb, und teils weil sie hofft, Onkel Alistair könnte mich genügend lieb gewinnen, um mir sein Vermögen zu vermachen. – Mutter ist eine angeheiratete Nichte. Ihre Mutter war die Schwester von Rebecca Arnholt. Wir sind also nur sehr entfernt verwandt – aber Blutsverwandte hat er nicht, und deshalb bildet Mutter sich ein, wir könnten ihn einmal beerben. Sie sehen, ich bin offen, M. Poirot. Solche Leute sind wir. Wir haben selbst eine Masse Geld – eine geradezu unanständige Masse, sagt Howard –, aber nicht in der Größenordnung von Onkel Alistair.»
Sie hielt inne und schlug mit der Hand wütend auf die Stuhllehne.
«Wie kann ich es Ihnen begreiflich machen? Alles, woran ich auf Grund meiner ganzen Erziehung glaube, verabscheut Howard und will es vernichten. Und wissen Sie – manchmal empfinde ich genauso wie er. Ich habe Onkel Alistair sehr gern, aber er geht mir auf die Nerven. Er ist so schwerfällig – so englisch – so vorsichtig und konservativ. Manchmal habe ich das Gefühl, er und seine Klasse müssten wirklich hinweggefegt werden – sie stehen dem Fortschritt im Wege, nur ohne sie wird man etwas erreichen können!»
«Sie bekennen sich zu den Ideen von Mr Raikes?»
«Ja – und nein. Howard ist radikaler als die meisten seiner Genossen. Wissen Sie, es gibt Leute, die bis zu einem gewissen Punkt mit Howard übereinstimmen. Sie wären bereit, etwas Neues zu wagen, wenn Onkel Alistair und seine Leute es zulassen würden. Aber das tun die niemals! Sie sitzen bloß da, wackeln mit den Köpfen und sagen: ‹Das dürfen wir nicht riskieren.› Und: ‹Das wäre keine gesunde Wirtschaft›. Und: ‹Wir müssen verantwortungsbewusst sein.›» Jane hatte sich richtig in Rage geredet.
«Warum hat Mr Raikes den Zahnarzt in der Queen Charlotte Street aufgesucht?», fragte Poirot betont sachlich.
«Weil ich wollte, dass er Onkel Alistair kennen lernt, und nicht wusste, wie ich das anders zustande bringen sollte. Howard ist so erbittert über Onkel Alistair, so erfüllt von – ja, von Hass, und ich glaube, das würde sich ändern, wenn er einmal sehen könnte, was für ein netter, gütiger, bescheidener Mensch Onkel in Wirklichkeit ist. Hier im Haus ließ sich ein Zusammentreffen nicht ermöglichen – Mutter hätte alles verdorben.»
«Und nachdem Sie alles vorbereitet hatten, wurden Sie – ängstlich, nicht wahr?», fragte Poirot sachte.
Ihre Augen weiteten sich und wurden dunkel.
«Ja. Weil – weil Howard – weil Howard sich manchmal hinreißen lässt. Er – er – »
«Er ist für ein abgekürztes Verfahren. Für die Vernichtung», sagte Poirot.
«Nein, nein, so nicht!», rief Jane Olivera.