18

»Sie sagen, er ist jetzt seit zwölf Tagen verschwunden?«, fragte Jago.

James Read nickte.

Sie waren in Reads Büro. Der oberste Richter saß an seinem Schreibtisch. Jago stand mit dem Rücken zum Fenster. Es war später Abend. Die Dunkelheit draußen spiegelte die Stimmung im Raum wider.

»Das ist nicht gerade sehr lange. Der Captain ist ein erwachsener Mann. Er wird schon auf sich aufpassen. Wann haben Sie denn zuletzt etwas von ihm gehört?«

»Die letzte konkrete Nachricht kam vor sechs Tagen, doch auch nicht von Hawkwood selbst. Wir bekamen einen Bericht von Ludd, in dem er uns mitteilte, dass Officer Hawkwood und Lasseur, der Privateer, vom Schiff geflohen sind.« Read unterbrach sich, dann sagte er: »Ludd schrieb, dass die beiden ein ziemliches Chaos hinterlassen hatten.«

Jago wollte gerade sagen: Auch da hat sich also nichts geändert, doch als er das Gesicht des Obersten Richters sah, schwieg er lieber.

»Was für ein Chaos?«, fragte er schließlich vorsichtig.

»Fünf Tote, darunter ein Kind.«

Jago sah Read entsetzt an. »Was?«

»Soweit ich hörte, war das Kind - ein kleiner Junge - in großer Gefahr. Hawkwood und Lasseur wollten ihm helfen und mussten sich dabei gegen schwere tätliche Übergriffe zur Wehr setzen. Zumindest war das die Erklärung, die man dem Commander des Schiffs gab. Captain Ludd untersucht noch immer die Hintergründe. Wie es aussieht, hat der Commander, ein Leutnant Hellard, die Sache auf eine Art und Weise gehandhabt, die über die disziplinarischen Grenzen der Royal Navy hinausgeht, zumindest was die Behandlung Kriegsgefangener angeht. Er wird sich vor einem Untersuchungsausschuss verantworten müssen und wird wohl kaum ungeschoren davonkommen. Wenn er gedacht hatte, dass man nicht mehr tiefer sinken kann, als ein Gefängnisschiff zu befehligen, dann wird er wohl noch einiges dazulernen.«

Jago, noch immer ziemlich schockiert, sah nachdenklich aus. »Und das war’s? Ist das alles, was Sie wissen?«

»Vielleicht gibt es noch etwas.«

»Was wäre das?«

»Ludd berichtete auch, dass es am Abend nach der Flucht einen Zwischenfall an der Küste gegenüber gegeben hat. Ein Ort namens Warden. Ein Trupp von Zöllnern, mit Unterstützung einiger Dragoner, überraschte eine Schmugglerbande, die gerade eine Warenladung an Land brachte. In dem Durcheinander wurden einige Männer verwundet. Einer der Zöllner beobachtete die Sache mit dem Fernrohr. Er war sich nicht ganz sicher, aber er meinte gesehen zu haben, dass zwei Männer dabei waren, die sich abseits hielten und mit dem Tragen der Schmuggelware nichts zu tun hatten, und als die Schießerei begann, versuchten sie auch nicht, sich an Land zu verstecken, sondern versuchten so schnell wie möglich ins Boot zu gelangen, ehe es verschwand. Er sagte auch, die beiden seien im Gegensatz zu den Schmugglern nicht bewaffnet gewesen. Er fand das … etwas außergewöhnlich.«

»Und Sie denken, das waren der Captain und der Franzose?«, Jago machte ein zweifelndes Gesicht. »Wurden von den Schmugglern welche gefangen oder verhört?«

»Leider hatten die Schmuggler die Oberhand. Sie hatten Unterstützung in der Nähe; und schließlich mussten die Zöllner den Rückzug antreten.« Read spitzte die Lippen.

»Ich weiß, dass das nicht allzu viel hergibt, Sergeant. Vielleicht hilft es auch gar nichts, aber es ist leider alles, was wir an Hinweisen haben.«

Interessant, dass er mich noch immer Sergeant nennt, dachte Jago. Er vermutete, dass es das Höchste war, wozu Read sich als Anrede durchringen konnte. Er zweifelte daran, dass der Oberste Richter ihn jemals mit »Mister« anreden würde. Mister würde bedeuten, dass man respektiert wird, und obwohl James Read gewillt war, die weniger ehrenwerten Seiten seiner geschäftlichen Tätigkeiten zu übersehen nach dem Motto »Eine Hand wäscht die andere«, so war der Richter doch noch nicht bereit, Nathaniel Jago als ein vollwertiges Mitglied der respektablen Gesellschaft anzusehen.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Jago düster, »dann klingt das Ganze nach einem verflucht dicken Schlamassel.«

Read nickte mit zusammengekniffenem Mund. »Nach allem, was ich bisher gehört habe, neige ich zu derselben Ansicht. Das Ganze ist eine sehr heikle, verzwickte Geschichte, besonders wenn man das Schicksal der beiden Marineleutnants mit bedenkt, von denen ich Ihnen erzählte: einer ist tot, der andere vermisst.«

»Und was genau erwarten Sie jetzt von mir?«, fragte Jago skeptisch.

Read legte die Fingerspitzen seiner schlanken Hände aneinander. »Ich weiß, dass Sie diese Gegend gut kennen. Außerdem haben Sie doch Möglichkeiten, die uns als Behörde nicht zur Verfügung stehen. Ich hoffe, Sie können Ihre Kontakte nutzen, um herauszufinden, wo Officer Hawkwood sich befindet, und vielleicht sogar auf seiner Spur zu bleiben.«

Jago zog die Augenbrauen hoch. »Da verlangen Sie ja gar nicht viel, was? Haben Sie daran gedacht, dass er, wenn er tatsächlich in diesem Boot mitgefahren ist, jetzt vielleicht schon in Frankreich ist? Ich habe wohl Kontakte, aber so weit reichen die auch nicht.«

»Ich verstehe Ihren Einwand, aber wir können ja nicht sicher sein, dass er es war. Es ist möglich, dass Hawkwood sich zusammen mit Lasseur noch in der Gegend aufhält, und in diesem Falle könnte er sich in Schwierigkeiten befinden und keine Möglichkeit haben, uns zu benachrichtigen.«

Jago seufzte und nickte. »Also gut, angenommen ich suche ihn und finde ihn tatsächlich. Was dann?«

Read legte die Hände auf den Tisch. »Ich bin bereit, das in Ihrem Ermessen zu lassen.«

Jago sah den Obersten Richter mit verbitterter Miene an. »Das ist nun wirklich ein gewaltiger Vertrauensbeweis. Ich vermute aber, das bedeutet noch nicht, dass Sie bereit sind, mich auf Ihre Gehaltsliste zu setzen?«

Read gestattete sich ein kleines, spöttisches Lächeln. »Dieser Vorschlag wurde mir im Zusammenhang mit Ihrer Hilfe in dem Fall William Lee gemacht. Wurde mir nicht damals berichtet, dass Sie den Gedanken äußerst komisch fanden, weil das eine bedeutende finanzielle Einbuße für Sie bedeutet hätte?«

»Nun ja …« Jago zuckte die Schultern. »Ich dachte nur, ich frage mal. Sie sind sich doch darüber im Klaren, nicht wahr, dass Sie sich, wenn Sie sofort zu mir gekommen wären, einen Haufen Scherereien hätten ersparen können?«

»Im Nachhinein könnten Sie schon Recht haben«, gab Read zu. »Anfangs jedoch dachten wir, je weniger Menschen über Officer Hawkwoods Auftrag Bescheid wissen, desto besser. Wir …«

»Was Sie damit sagen wollen, ist, dass Sie dachten, es könne einen Interessenkonflikt wegen meiner gelegentlichen Importgeschäfte geben«, sagte Jago.

»Ja, das ist schon möglich«, sagte Read ernst.

»Aber jetzt, wo seine Gnaden in der Tinte sitzen, sind es genau diese Interessen, die Sie zu der Hoffnung veranlassen, ich könne Ihnen helfen?«

»Bis auf die Tatsache, dass wir keine handfesten Beweise haben, dass Officer Hawkwood sich tatsächlich in Schwierigkeiten befindet, ist Ihre Annahme korrekt.«

»Na ja, wenigstens sind Sie ehrlich«, sagte Jago. »Das muss man Ihnen lassen. Aber es ist schon eine ziemliche Zumutung.«

Nach einer längeren Pause sagte Read: »Also, sind Sie bereit, es zu machen?«

Jago antwortete nicht gleich. Er drehte sich um und sah aus dem Fenster, wo er die schwach beleuchteten Fenster unten auf der Straße betrachtete, ehe sein Blick nach oben über die mondbeschienenen Dächer wanderte.

Endlich nickte er.

»Ach verdammt, natürlich mach ich’s!«

Der Schuss zerriss die Stille im Stall wie ein Donner. Die Pferde zerrten erschrocken an ihren Stricken und stampften ängstlich. Der Qualm verzog sich.

»Also, das ist jetzt wirklich schade«, sagte Morgan. Er sah auf die Pistolenmündung, die auf einen Punkt über Hawkwoods linker Schulter gerichtet war.

Lasseur ließ die Pistole sinken. Er sah Hawkwood an und grinste verlegen.

Hawkwood sagte nichts. Er stellte gerade fest, dass das Donnern, das er hörte, nicht das Echo des Schusses war, sondern sein eigenes Herzklopfen, das langsam zu einem Crescendo anschwoll.

Morgan streckte die Hand nach der Waffe aus. »Sie war sowieso nicht geladen, Captain. Ich wollte bloß sehen, was Sie damit machen würden. Sie haben doch nicht im Ernst geglaubt, wir würden Ihnen eine geladene Pistole überlassen, oder?«

Morgan schien es fast zu bedauern, als Lasseur ihm wortlos, mit versteinertem Gesicht, die Pistole reichte.

»Das kleinere von zwei Übeln, was?«, sagte Morgan. »Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich überrascht bin. Es ist verdammt schade. Ich hatte hohe Erwartungen in Sie beide gesetzt. Jetzt fehlen mir drei Männer.« Er schüttelte den Kopf. »Es wird interessant sein, was Captain Lasseurs Landsleute dazu sagen werden, wenn sie die Neuigkeit hören. Vielleicht sollte ich Sie denen zur Bestrafung übergeben, Captain, so wie man es auf den Hulks macht. Wissen Sie, wie man Verräter auf den Gefängnisschiffen bestraft? Es ist kein schöner Anblick. Sie nehmen Nadeln und Schießpulver und tätowieren ihnen die Worte Ich habe meine Brüder verraten auf die Stirn. Es soll ziemlich wehtun. Trotzdem, wir wollen nichts übereilen.« Morgan lachte trocken und wandte sich an Del und seinen Begleiter. »Wenn einer von den beiden auch nur furzt - erschießt ihn.«

Croker schien mit dieser Anweisung nicht sehr zufrieden. »Können wir sie nicht sowieso erschießen?«

»Noch nicht. Vielleicht brauchen wir sie noch. Vielleicht brauchen die Hunde ja später etwas Bewegung, wenn Captain Lasseurs Freunde sie nicht verurteilen wollen. Aber erst wollen Cephus und ich natürlich noch ein paar Takte mit Officer Hawkwood reden.«

»Da würde ich zu gern dabei sein«, sagte Croker.

»Mach kein so enttäuschtes Gesicht, mein Junge. Wenn du dich benimmst, bekommst du deine Chance schon noch. Alles zu seiner Zeit. Aber jetzt hat Thaddäus gerade frisch eingestreut, da wäre es schade, das schon wieder schmutzig zu machen. Außerdem würde es die Pferde wieder aufscheuchen, und die haben wir schon genug erschreckt. Ich will nicht riskieren, dass die Stute in Panik gerät und das Fohlen tritt, nach allem, was wir durchgemacht haben.«

Zu Hawkwood sagte Morgan: »Da haben wir Sie wohl ein bisschen erschreckt, was?«

»Hat sich anscheinend in die Hose gemacht«, sagte Croker höhnisch.

Hawkwood schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Das wird Del sein. Ich habe Misthaufen erlebt, die besser riechen als der. Ich dachte, Sie sagten, der darf nicht rein?«

Del zog die Nase kraus. »Wovon faselt der eigentlich?«

»Sein Boss findet, dass du stinkst«, sagte Hawkwood. Er sah verstohlen auf die Pistole in Dels Hand. Es wäre nicht schwer, ihm die abzunehmen, aber Croker wirkte äußerst dienstbeflissen, und Sol war auch nicht zu unterschätzen. Hawkwood wollte kein Spiel mit zwei Unbekannten riskieren. Außerdem musste man auch noch Pepper in Betracht ziehen, und der war eine völlig unbekannte Größe. Dann das Mädchen. Die hatte bewiesen, wozu sie fähig war, indem sie Jilks umgebracht hatte. Hawkwood fragte sich, wie sie das wohl gemacht hatte. Er erinnerte sich wieder an die Pistolen auf dem Schrank.

»Kümmere dich nicht um ihn, Del«, sagte Morgan, der erschöpft wirkte. »Er wollte wohl bloß’nen Witz machen.«

»Ich stinke auch gar nicht«, sagte Del gekränkt. »Das ist die verdammte Farbe. Wie oft soll ich das noch sagen?«

»Du hast ja jetzt gar keine Farbe an dir«, sagte Hawkwood.

»Sehr komisch«, sagte Del, noch immer verunsichert. Er wandte sich an Morgan. »Wo sollen wir sie hinbringen?«

»Mir aus den Augen. Schließt sie in einen Keller ein, dort können sie eine Weile schmoren. Jack, geh du mit. Es ist besser, wenn ihr zu mehreren seid. Und gebt keinem auch nur einen Zoll - das meine ich ernst. Und sowie sie eingeschlossen sind, will ich dich, Del, wieder draußen auf der Straße sehen. Und schickt Asa Higgs eine Nachricht, am besten nehmt ihr eine Brieftaube. Sagt ihm, es gibt’ne Beerdigung.« Er sah Hawkwood und Lasseur an. »Vielleicht sogar drei.«

Morgan warf Pepper seine leere Pistole zu und sah das Mädchen an. »Esther, du reitest jetzt Jilks’ Stute wieder in ihren Stall zurück, ehe es hell wird. Und vergiss nicht, sie trockenzureiben. Es ist besser, man sieht ihr nicht an, dass sie lange geritten worden ist. Wenn du das gemacht hast, warte bis zum Morgen und dann behaupte, du hast ihn gerade gefunden. Nicht zu viele Tränen, nur so viele, dass es glaubwürdig aussieht. Du weißt schon. Wenn du jetzt aufbrichst, müsstest du es gerade schaffen. Thaddäus hilft dir beim Satteln.«

Das Mädchen nickte.

»Also gut«, sagte Morgan. »Jetzt weiß jeder, was er zu tun hat.«

Croker nahm die Laterne. »Auf, bewegt eure Ärsche.« Er hielt den Pistolenlauf an Hawkwoods Wange. »Und sowie du mir nur den geringsten Anlass gibst …«

»Jetzt reicht’s erst mal, Jack«, sagte Morgan. »Deine Chance kommt schon noch.«

Croker machte ein Gesicht, als könne er nicht so lange warten.

Sol, der ebenfalls eine Laterne hatte, ging voran über den Hof und mehrere Treppen hinunter in einen feuchten, gruftähnlichen Gang unter den Fundamenten der alten Klostergebäude.

Croker ließ sie vor einer verschlossenen Tür anhalten und zog den Riegel zurück. Er öffnete die Tür und bedeutete Hawkwood, einzutreten. Als Hawkwood halb an ihm vorbei war, trat Croker ihn mit aller Kraft von hinten gegen die Wade, worauf Hawkwood einknickte und auf dem harten Steinboden landete.

»Passt auf den Froschfresser auf«, knurrte Croker, der sich gerade anschickte, Hawkwood zwischen die Beine zu treten. Hawkwood rollte auf die Seite und fing den Tritt mit dem Oberschenkel ab. Aber auch so war es schmerzhaft genug. Er schrie auf. Es folgten noch zwei weitere schnelle Tritte, ehe Croker sich zurückzog; er hatte endlich auf Sols Mahnung gehört, dass ihr Boss nicht sehr erbaut sein würde, wenn der Mistkerl verrecken würde, ehe er verhört worden war.

Er hielt die Laterne hoch und sah hinunter auf Hawkwood, seine Augen waren finster vor Hass. »Du bist schon so gut wie tot«, sagte er.

Er drehte sich um. »Bringt den anderen rein.«

Del schubste Lasseur in den Keller, und Croker ging hinaus. Lasseur hatte gerade noch Zeit, festzustellen, wo Hawkwood sich befand, ehe die Tür zugeschlagen wurde und sie im Stockdunkeln saßen, in dem nur Hawkwoods schmerzhaftes Stöhnen zu hören war.

Es dauerte einige Minuten, ehe der Schmerz nachließ und Hawkwood sich aufsetzen konnte. Er tat es sehr vorsichtig, wobei er froh war, dass Croker sich auf seine untere Körperhälfte konzentriert hatte. Keiner seiner Tritte war auf die Verletzungen getroffen, die er sich bei dem Kampf auf dem Hulk zugezogen hatte.

Er konnte nichts sehen. Im Keller war es dunkel wie in einer Gruft.

»Matthew?«, kam Lasseurs Stimme aus der Finsternis.

»Bin noch da«, sagte Hawkwood.

Er spürte eine Hand auf seinem Arm. »Bist du verletzt?«

»Ich werde es überleben.«

»Ich sollte Charbonneau zitieren. Was sagte der gleich wieder? ›Der Herr liebt Optimisten.‹«

Hawkwood ignorierte die Schmerzen in Bauch und Oberschenkel und stand auf, er hörte, wie Lasseur das Gleiche tat. Er streckte die Hand aus und fasste Lasseur beim Ärmel. »Die Tür ist auf unserer linken Seite, stimmt’s?«

Lasseur dachte einen Augenblick nach. »Ja.«

»Vergewissern wir uns«, sagte Hawkwood. »Gehen wir rückwärts, bis wir die Wand erreichen.«

Sie gingen fünf Schritte, ehe ihre Rücken die kalte Mauer berührten.

»Und was jetzt?«, fragte Lasseur neugierig.

Hawkwood lehnte sich gegen die Wand und versuchte, sich zu orientieren. Er versuchte, sich zu erinnern, was er in dem Keller gesehen hatte, ehe die Tür zufiel und es dunkel wurde. Crokers Bedürfnis, ihn zu quälen, hatte ihm wertvolle Sekunden geschenkt, in denen er einen Eindruck von seiner Umgebung gewinnen konnte, von der Größe des Raumes und von einigen der Gegenstände, die sich hier befanden.

Das Wichtigste waren die Lage der Tür und ein Bord auf der linken Seite, wo er einen Kerzenstumpf gesehen hatte und daneben etwas, das wie ein Feuerzeug aussah.

»Bleib, wo du bist«, sagte Hawkwood.

Mit ausgestreckten Händen humpelte er in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Dabei musste er an die Soldaten denken, die im Krieg blind geworden waren und jetzt an den Straßenecken betteln mussten, für immer von Dunkelheit umgeben. Ich möchte lieber tot sein als blind, dachte er.

Als seine Hände endlich die Wand berührten, hielt er inne. Er wusste, dass er in der Dunkelheit vielleicht etwas desorientiert war und überlegte, ob er nach rechts oder nach links gehen sollte. Er entschied sich für links. Das Bord war niedrig angebracht, wusste er, etwa in Taillenhöhe. Vorsichtig tastete er sich an der Wand entlang. Nach einigen Schritten fühlte er Holz, er tastete weiter und hatte Metall in der Hand. Es war das Feuerzeug. Ungeschickt befühlte er den Deckel der Büchse, nahm ihn ab und untersuchte den Inhalt. Ja! Er atmete erleichtert auf, als er Feuerstein und Stahl fand, und etwas, das sich wie Distelwolle anfühlte. Er hörte, wie Lasseur einen Laut der Freude ausstieß, als er auf den Feuerstein schlug. Nicht nur enthielt die Büchse Zunder, sondern auf dem Bord daneben lagen auch noch zwei kurze Wachsstöcke neben dem Kerzenstummel.

Ein paar Sekunden später hatten sie Licht.

Hawkwood löschte den Zunder, steckte die Utensilien zum Feuerschlagen wieder in die Büchse und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. »Wir brauchen einen Weg nach draußen oder etwas, womit wir kämpfen können. Am besten beides.«

»Du hast doch noch dein Messer?«, erinnerte Lasseur sich.

»Das wird nicht ausreichen«, sagte Hawkwood. Er sah Lasseur an. »Warum hast du nicht versucht, mich zu erschießen. Du hättest die Chance gehabt, dich zu retten.«

Lasseur, vom Kerzenlicht beleuchtet und mit dieser Frage konfrontiert, schien überrascht. »Du schuldest mir noch viertausend Francs, hast du das vergessen? Ich habe nur meine Interessen gewahrt.«

»Und wer ist jetzt der Optimist?«, sagte Hawkwood und verzog schmerzhaft das Gesicht. Die Geste blieb Lasseur nicht verborgen. Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, du sagtest, du bist nicht verletzt.«

»Nein, ich habe gesagt, ich werde es überleben. Es tut aber höllisch weh.«

»Du kannst es Croker nicht verdenken. Du hast seinen Freund umgebracht.«

»Vielleicht bringe ich Croker auch noch um«, knurrte Hawkwood. Er schwieg. Dann sagte er: »Warum hast du es getan? Was war der wirkliche Grund?«

Lasseur lächelte, dann wurde sein Gesicht ernst. »Ich sagte doch, du bist ein Ehrenmann. Ich sagte auch, um dich sei etwas Dunkles, Ungewisses. Ich halte beide Feststellungen noch immer für richtig. Das hast du bewiesen, als du an meiner Seite um den Jungen gekämpft hast und als du am Strand mein Leben gerettet hast. Wegen dieser beiden Vorfälle allein werde ich dich immer als meinen Freund betrachten. Und meine ganz allgemeine Regel ist, dass ich meine Freunde nicht umbringe. War das wahr, was Morgan gesagt hat? Du bist eigentlich Polizist?«

Hawkwood nickte.

»Da hast du mir einen ganz schönen Bären aufgebunden.«

»Aber ich habe dich nie für dumm gehalten«, sagte Hawkwood. »Das ist ein gewaltiger Unterschied.«

»Ja«, sagte Lasseur. Er sah nachdenklich aus. »Wahrscheinlich hast du Recht.«

Im Kerzenlicht bestätigte es sich: Der Keller hatte nur die eine Tür. Es gab nichts, was man als Waffe hätte benutzen können. Ein Dutzend Half-Anker Fässer waren an einer Wand gestapelt. Daneben lagen sechs größere Fässer. Neben den großen Fässern standen mehrere Korbflaschen, deren Inhalt, soweit es sich im trüben Kerzenlicht feststellen ließ, eine farbige Flüssigkeit war. Neben den Korbflaschen standen Kästen mit Dutzenden von leeren Flaschen. Der Geruch genügte, um ihnen zu verraten, was in den Fässern war. Hawkwood hob eines der kleinen Fässchen an, es war voll. Er vermutete, dass die sechs Fässer, die Asa Higgs von Jess Flynns Farm mitgebracht hatte, auch darunter waren, obwohl man es nicht genau sagen konnte, da sie alle gleich aussahen. Morgan nahm schon ein großes Risiko auf sich, wenn er sie auf seinem Grundstück lagerte, dachte Hawkwood, wenn es tatsächlich mal eine Razzia durch den Zoll geben sollte. Doch das schien unwahrscheinlich, wenn man die Wachen, sowie die vielen offiziellen Hüter des Gesetzes bedachte, die Morgan ebenfalls bezahlte.

An jeder der großen Tonnen war ein Zapfhahn. Hawkwood hielt die Hand unter einen davon und drehte auf. Er ließ etwas von der klaren Flüssigkeit laufen und kostete. Er hatte es für Gin gehalten, aber es war offenbar klares Wasser.

»Wenigstens werden wir nicht verdursten«, sagte Lasseur.

»Kommt drauf an, von welchem Fass du trinkst«, sagte Hawkwood. »Wenn du dir das falsche aussuchst, könntest du eher an Alkoholvergiftung sterben.«

»Was?« Lasseur zog die Augenbrauen hoch.

»Nicht alles, was hier an Brandy hergebracht wird, ist trinkbar. Vieles davon hat über siebzig Prozent, das müssen sie mit Wasser verdünnen. Und manches ist völlig farblos, also setzen sie Karamellsirup hinzu, um es dunkler zu machen. Ich vermute, der ist dort drin.« Hawkwood deutete auf die Korbflaschen und die Fässer. »Wenn du das Zeug unverdünnt trinkst, bringt es dich um.«

»Vielleicht gibt’s schlimmere Todesarten«, sagte Lasseur. Sehnsüchtig sah er die Fässer an. Dann wanderte sein Blick zu einer großen Teekiste. »Was glaubst du, was da drin ist?«

Mehr Schmuggelware, vermutete Hawkwood, aber wahrscheinlich kein Tee, da der Zoll auf Tee schon seit vielen Jahren stark gesunken war. Es war eher möglich, dass es sich um Spitzen, Handschuhe oder Seide handelte. Die Kiste war nicht verschlossen. Er öffnete die Bügel und hob den Deckel an.

Nichts Aufregendes; Stoffbündel, aber weder Spitzen noch Seide. Hawkwood griff hinein, um zu sehen, ob darunter etwas versteckt war, als ihm der Stoff bekannt vorkam. Er hielt die Kerze näher, dann stellte er sie hin und nahm eines der Bündel ganz heraus. Als er es aufrollte, hielt er eine Jacke und eine Hose in der Hand. Die Jacke war dunkelblau, Kragen und Manschetten waren rot. Die Hose war ein schmutziges Weiß.

Ein Laut der Überraschung kam von Lasseur. »Das ist ja eine französische Infanterieuniform.«

Hawkwood nickte. »Kompanie der Füsiliere.«

»Du kennst dich mit französischen Uniformen aus?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Hawkwood.

»Diese hier sind nicht neu.« Lasseur deutete auf ein Loch in der Jacke. »Das war eine Musketenkugel.«

Oder vielleicht sogar eine Kugel aus einer Bakerflinte, dachte Hawkwood.

Es waren mehr als ein Dutzend weiterer Uniformen in der Kiste. Was hatte Morgan damit vor? Er hatte keine Ahnung, aber er würde darüber keine schlaflosen Nächte verbringen. Er warf die Uniform in die Kiste zurück und machte den Deckel zu.

»Ich glaube, wir haben alle Möglichkeiten erschöpft«, sagte Lasseur. »Es sieht aus, als sei dein Messer die einzige Waffe, die wir haben.«

Hawkwood sah sich um.

»Nicht unbedingt.«

Lasseur sah ihn fragend an. »Woran hattest du denn gedacht?«

Hawkwood sagte es ihm.

Lasseur dachte darüber nach.

»Das Dunkle kommt wieder zurück«, sagte er grimmig.


Schritte, gefolgt vom harten Klang von Metall auf Metall.

Sofort war Hawkwood hellwach und öffnete die Augen. Doch es machte keinen Unterschied, er konnte nicht das Geringste sehen. Er überlegte, ob es schon Morgen sein könnte. Hatte er geschlafen? Es schien kaum fünf Minuten, seit sie eingeschlossen worden waren.

Er hörte Stimmen hinter der Tür, aber er konnte nichts verstehen. Er nahm an, dass Lasseur es auch gehört hatte. Schnell nahm er Feuerstein und Stahl, setzte den Zunder in Brand und entzündete damit die Kerze. Er steckte das Feuerzeug wieder ein und hockte sich hin, den Rücken zur Wand, die flackernde Kerze neben seiner Hand auf dem Boden. Er sah hinüber, wo Lasseur hockte. Der Privateer döste.

Das Geräusch wiederholte sich; ein Türriegel wurde zurückgezogen. Die Tür flog auf. Auf der Schwelle stand Croker, die Pistole in der Hand. Hinter ihm stand Sol, ebenfalls bewaffnet und mit einer Laterne.

Hawkwood sah, dass es Morgen war. Im Gang sah man graues Licht, das von draußen hereinfiel.

Croker machte eine kurze Kopfbewegung. »He, du - Ordnungshüter - auf die Beine! Der Froschfresser bleibt hier.«

Hawkwood blieb, wo er war.

Croker hob die Pistole. »Verdammt, bist du taub? Raus, hab ich gesagt! Mr. Morgan will dich sehen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Hawkwood. »Ich bleibe lieber hier.«

Croker kam herein. Zum ersten Mal schien er das Kerzenlicht zu bemerken. »Jetzt sieh dir das an, Sol! Sie haben sich ein Kerzchen angezündet! Wohl im Dunkeln Angst gehabt, was? Wie süß. Behalt den Froschfresser im Auge, ich kümmere mich derweil um seine Hoheit hier.«

Croker kam näher, Sol dicht auf seinen Fersen. Er hielt die Laterne hoch und wirkte unsicher.

Im Keller hatte es immer nach dem Inhalt der Fässer gerochen. Das war nichts Neues, aber erst als Croker auf den Boden sah und merkte, dass er im Laternenschein nass glänzte und dass auch seine Stiefel feucht waren, kam ihm der Verdacht, dass der Geruch vielleicht intensiver als sonst war.

In dem Moment stieß Lasseur das geöffnete Brandyfass um und Hawkwood berührte die auslaufende Flüssigkeit mit der Kerzenflamme.

Croker stieß einen lauten Schrei aus, als blaue Flammen über den Fußboden, seine Stiefel und seine Hose leckten.

Hawkwood wusste, dass das Feuer nicht lange brennen würde, je nachdem wie stark der Alkohol war, aber er verließ sich darauf, dass Croker zunächst in Panik geraten würde, was ihm einen Vorsprung verschaffte. Er stieß sich von der Wand ab und rammte Croker das Messer in den Hals. Die Klinge drang mit tödlicher Wucht ein. Croker riss vor Überraschung die Augen weit auf. Als er zu Boden stürzte, die Pistole noch immer in der Hand, zog Hawkwood die Klinge seitlich noch weiter, ehe er sie wieder herauszog. Den Rest erledigte die Schwerkraft.

Sol drehte sich zu spät um und schrie auf, als Lasseur ihm die leere Flasche auf die Nase schmetterte. Die Laterne fiel ihm aus der Hand. Als Sol zu Boden ging, entwand Lasseur ihm die Pistole und versetzte ihm einen Fußtritt in den Schritt. Sol lag neben Croker auf den Steinen. Lasseur schleuderte die Flasche zur Seite und ignorierte das laute Klirren. Croker, der in Brandy getränkt und brennend auf dem Boden lag, versuchte noch, mit der Pistole zu zielen, aber er starb, indem er in seinem eigenen Blut erstickte.

Hawkwood steckte das Messer wieder in seinen Stiefel und nahm Croker die Pistole aus der Hand. Das Feuer ging langsam aus.

Lasseur war schon draußen im Gang. Hawkwood warf die Tür zu und schob den Riegel vor. Am Fuß der Treppe holte er Lasseur ein.

»Wenn wir zu den Ställen kommen könnten«, sagte Lasseur hastig, »könnten wir zwei Pferde stehlen.«

Aber Hawkwood schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Wenn von Morgans Leuten jemand im Stall ist, müssten wir mit denen fertig werden und die Pferde satteln. Und selbst wenn wir dort wegkämen, müssten wir noch an den Wachen im Tor vorbei. Wir müssen davon ausgehen, dass Morgan seine Leute vorbereitet hat. Die würden uns hören und einkreisen. Bisher weiß noch keiner, dass wir ausgebrochen sind. Je länger wir das hinauszögern können, desto besser. Es ist besser, wenn wir hinten über die Mauer klettern und uns dann in Richtung auf die Wälder zu halten.«

»Morgan hat auch draußen an der Mauer Männer.«

»Aber in großen Abständen. Mit denen werden wir fertig.«

Hawkwood dachte an die Palisaden. Es waren die einzigen Schwachpunkte, die er gesehen hatte. Sie würden über offenes Gelände laufen müssen, aber wenn er das abwog gegen das Risiko, gut sichtbar auf laut trappelnden Pferden zu fliehen, schien das immer noch die vernünftigere Lösung. Und eigentlich hatten sie auch gar keine andere Wahl.

Lasseur betrachtete Sols Pistole. »Dann hoffen wir mal, dass die geladen ist.«

Oben an der Treppe blieben sie stehen. Der Hof war leer. Die Stalltür war nur angelehnt, es war verführerisch und Hawkwood hatte leise Zweifel.

»Fertig?«, murmelte Lasseur.

Er sprach zu sich selbst. Hawkwood war schon weg.


»Was machen Croker und Sol bloß so lange, um Himmelswillen?« Morgan schüttelte den Kopf halb ärgerlich, halb ratlos. »Es wäre ja fast schneller gegangen, wenn ich Del geschickt hätte.«

»Wir hätten selber gehen sollen«, sagte Pepper. »Wenn es ein Gemetzel gibt, dann ist der Keller leichter sauberzukriegen als der Teppich.«

Sie waren im Hauptgebäude. Morgan saß an seinem Schreibtisch, Pepper lehnte am Kamin.

Morgan dachte nach. Er starrte auf den Teppich. Was Pepper gesagt hatte, machte Sinn. Er nickte. »Du hast Recht.« Er nahm seinen Schwarzdornstock. »Gehen wir.«

Pepper nahm eine Pistole vom Tisch und folgte Morgan aus dem Zimmer.

Sie gingen auf den Wirtschaftshof, wo die Ställe waren.

Auch unterwegs war nirgendwo ein Zeichen von Croker und Sol. Morgan versuchte, die Zweifel zu verdrängen, die in ihm aufkamen. Er fragte sich, ob Pepper sich wohl auch Sorgen machte. Wenn ja, dann ließ er sich nichts anmerken. Aber so war Pepper: Er zeigte selten seine Gefühle. Egal, ob die Nachricht gut oder schlecht war, Peppers Gesichtsausdruck veränderte sich fast nie.

Die beiden Männer gingen über den Hof und stiegen die Kellertreppe hinunter. Es war Pepper, der es zuerst merkte.

»Was ist?«, fragte Morgan.

Pepper zog die Pistole und näherte sich der Kellertür. Vorsichtig zog Morgan den Riegel zurück und öffnete die Tür.

»Himmelherrgottnochmal!« Morgans Gesicht verzog sich in ohnmächtiger Wut, als er auf das Schlachtfeld starrte. Die Knöchel an der Hand, die den Stock hielt, waren weiß. »Diese verfluchten, unbrauchbaren Idioten!«

Croker lag auf dem Rücken. Seine Kleidung war versengt, seine Augen waren offen, aber sie sahen nichts mehr. Es war viel Blut geflossen. Sol lag mit angezogenen Beinen auf der Seite, umklammerte mit verbrannten Händen sein Gemächte und wimmerte. Eines seiner Augen war zugeschwollen. Aus seiner gebrochenen Nase tropften Blut und Rotz auf den Boden. Im Keller herrschte ein furchtbarer Gestank. Pepper sah das geöffnete Brandyfass, die Scherben der zertrümmerten Flasche, die weggeworfene Laterne und den Kerzenstummel.

Sehr klug, dachte er. Er warf einen Blick auf die anderen Fässer an der Rückwand des Kellers. Es war ein Glück, dass Hawkwood und Lasseur ihre Tätigkeit auf diesen Teil des Kellers beschränkt hatten und dass das Feuer ausgegangen war, ehe es sich auf die anderen Fässer ausgebreitet hatte.

»Läute die Glocke«, sagte Morgan. »Sie können noch nicht weit sein.« Pepper rannte bereits zur Treppe.


Hawkwood und Lasseur konnten die Außenmauer schon sehen, als sie den Lärm hörten. Sie hatten Glück gehabt. Mit den Ruinen als Deckung waren sie bis zu dem fensterlosen Gebäude gekommen, in dem Hawkwood Morgans Hunden begegnet war.

Vorsichtig hob Hawkwood den Kopf und sah durch eine der leeren Fensterhöhlen zum Hauptgebäude hinüber, wo mehrere Männer dem Läuten folgten, das mit jedem Schlag dringender klang.

»Wir müssen wohl davon ausgehen, dass sie Croker und Sol gefunden haben«, sagte Lasseur trocken.

»Und sie werden hinter uns herkommen, sobald das verdammte Gebimmel aufgehört hat«, sagte Hawkwood. Er drehte sich um und musterte die Mauer, wobei er sich zu erinnern versuchte, wo er die Lücke gesehen hatte.

Er entdeckte sie und zeigte darauf. »Dort, dicht bei den Bäumen. Dort ist das Mauerwerk kaputt. Morgan hat die Lücke zwar geschlossen, aber dort liegt Werkzeug, damit können wir sie durchbrechen.«

Geduckt und im Schutz der Ruine rannten sie darauf zu. Als sie etwa zwanzig Schritt von der Mauer entfernt waren, hörte das Läuten auf. Nach weiteren zehn Schritten fiel der erste Pistolenschuss. Er war nicht hinter ihnen gefallen, sondern kam von einem der beiden Männer, die ungefähr hundert Schritte rechts von Hawkwood zwischen den Bäumen hervortraten.

Als er sah, wie die Männer aus der Deckung kamen und er ihren Ruf hörte, merkte Hawkwood, dass er und Lasseur die Disziplin von Morgans Wachen an der Mauer unterschätzt hatten. Morgan musste seine Wachen angewiesen haben, auch bei Alarm auf ihren Posten zu bleiben, falls es sich um einen Durchbruch der Verteidigungsmauer handelte. Während alle anderen von Morgans Getreuen dem Läuten der Glocke gefolgt waren, hatten die Wachen draußen ihre Positionen eingenommen. Ihre Bereitschaft, sofort zu schießen, war ein Beweis, dass Morgan sie darüber aufgeklärt hatte, dass Hawkwood und Lasseur ein Risiko waren.

Hawkwood taumelte zur Seite, doch er wusste, dass der Wachmann in seinem Eifer zu früh und aus zu großer Entfernung geschossen hatte. Es hatte keine Gefahr bestanden, dass die Kugel ihr Ziel erreichen würde.

Er rannte weiter.

Ein weiterer Schrei ertönte, diesmal aus der Richtung der Hauptgebäude. Dort hatte man den Pistolenschuss gehört, das Zeichen für Morgans Leute, dass man die Flüchtenden gesehen hatte. Jetzt gab es keinen Grund zur Vorsicht mehr. Hawkwood riskierte einen Blick nach hinten. Von der anderen Seite der Ruine sah er ein Dutzend Männer, die auf sie zu rannten. Manche trugen Schlagstöcke, andere waren mit Pistolen bewaffnet. Zwei hatten Musketen dabei. Es war beruhigend, dass sie noch in einiger Entfernung waren.

Er drehte sich um und sah, wie Lasseur Fuß fasste, mit Sols Pistole zielte und schoss. Der Wachmann, der in fünfzig Schritt Entfernung gestanden hatte, schrie auf, taumelte zurück und umklammerte seine Schulter. Lasseur warf die Waffe weg.

Zwanzig Yards von den Palisaden entfernt sah Hawkwood, dass er sich vielleicht verrechnet hatte. Das hölzerne Flickwerk in der Mauer war solider, als er gedacht hatte.

Hawkwood gab Lasseur die Pistole, die er Croker abgenommen hatte. »Mach guten Gebrauch von ihr. Es ist alles, was wir noch haben, um sie aufzuhalten.«

Er merkte selbst, wie jämmerlich dieser Rat klang. Doch Lasseur nickte nur. Er nahm die Waffe und sah der Bedrohung entgegen.

Hawkwood rannte zu den Werkzeugen und suchte verzweifelt nach etwas, womit man die Palisadenpfähle auseinanderhebeln konnte. Es gab zwei Schaufeln, zwei Spitzhacken, mehrere Hämmer und eine Brechstange. Er nahm die Brechstange, aber er wusste bereits, dass sie eigentlich in der Falle saßen.

Wir hätten es doch mit den verdammten Pferden versuchen sollen, dachte er.

Und dann sah er etwas. Am Fuße der Mauer, teilweise verborgen unter Kalk und Sandsäcken.

Eine Leiter.

Er rannte darauf zu, während Lasseur ihm verzweifelt zurief: »Sie kommen immer näher!«

Blitzschnell stellte Hawkwood die Leiter an die Mauer. Im selben Augenblick hörte er in der Ferne einen Schuss - er kam aus einer Muskete - und duckte sich instinktiv, obwohl er wusste, auch dieser Schütze war noch zu weit entfernt. Erst wenn die Entfernung weniger als hundert Yards betrug, würde er anfangen, sich Sorgen zu machen. Er wusste jedoch auch, dass das in wenigen Sekunden der Fall sein würde.

Er hielt die Leiter fest und schrie Lasseur an: »Komm schon, verdammt nochmal!« Er sah, dass auch der erste Wachmann, der zunächst stehen geblieben war, um seinem verwundeten Kollegen die Pistole abzunehmen, schnell näher kam.

Lasseur drehte sich um und rannte. Ein unsichtbarer Finger zupfte an seinem Jackenärmel. Hawkwood hörte, wie der Privateer verzweifelt stöhnte, während er sich nach vorn warf und anfing zu klettern. Mit wütendem Gebrüll, weil sein Schuss das Ziel verfehlt hatte, ergriff der Wachmann seinen Schlagstock und kam auf sie zu.

Lasseur drehte sich auf seiner Leitersprosse um und zielte auf ihn. »Stehenbleiben!«

Der Wachmann blieb wie angewurzelt stehen.

»Eine Bewegung, und ich schieße«, sagte Lasseur.

Der Wachmann starrte ihn an.

»Zwing mich nicht dazu«, sagte Lasseur.

Hawkwood sah zurück und stellte fest, dass Morgans Leute schnell näher gekommen waren. Sie waren schon um die Ruine herum und jetzt nur noch etwas über hundert Yards entfernt. Einer der Männer kniete. Ein Musketenschuss fiel. Die Kugel traf die Sprosse neben Hawkwoods rechter Hand. Er spürte, wie ein Splitter in sein Handgelenk eindrang.

Lasseur saß rittlings auf der Mauer. Noch immer hatte er die Pistole auf den Wachmann gerichtet, der in weniger als dreißig Yards Entfernung stand und sich nicht rührte. Er hatte gesehen, wie Lasseurs erster Schuss seinen Kameraden niedergestreckt hatte, und wollte nicht das gleiche Schicksal erleiden.

»Nein!«, schrie Hawkwood. »Warte nicht! Lauf!«

Doch Lasseur ignorierte ihn, steckte die Pistole in den Gürtel und streckte die Hand aus.

Der Wachmann nutzte die Gelegenheit und rannte auf sie zu. Hawkwood ergriff Lasseurs Hand, schwang sich nach oben und warf sich auf die Mauer. Als er nach unten griff, um die Leiter zu erreichen, fiel ein weiterer Schuss. Er zog die Schultern hoch und spürte den Luftzug, als die Kugel an seinem Ohr vorbeipfiff und in die Mauer drang.

Der Wachmann war nur noch wenige Schritte entfernt.

»Keine Zeit«, keuchte Lasseur, als er sah, was Hawkwood vorhatte.

Doch als Hawkwood sich hinabbeugte und die oberste Sprosse der Leiter ergriff, tat Lasseur es ebenfalls.

Mit ausgestrecktem Arm machte der Wachmann einen Sprung und griff in die Luft. Gemeinsam zogen Hawkwood und Lasseur die Leiter hoch und warfen sie über die Mauer.

Als sie fiel, erklangen weitere Schüsse. Steinsplitter spritzten auf, als die Männer losließen. Jetzt war keine Zeit, um zu überlegen, wie ein Sprung aus neun Fuß Höhe ausgehen könnte. Hawkwood sprang, verfehlte um ein Haar die umgestürzte Leiter und rollte über den Boden. Doch im nächsten Moment war er schon wieder auf den Beinen. Zusammen mit Lasseur sprintete er auf die Bäume zu.


Der Wald umschloss sie, dicht und von allen Seiten. Es gab keinen erkennbaren Weg, nur ab und zu eine lichte Stelle im Unterholz. Sie rannten, unter ihren Füßen knackten Äste, Brombeerranken zerrten an ihren Kleidern. Sie erreichten eine kleine Lichtung, überquerten sie und standen vor einer kleinen Schlucht, die von überhängenden Ästen fast verdeckt war. Ein Wildwechsel, nahm Hawkwood an, als er die Fährten sah, die von noch kleineren Spuren durchzogen waren, was auf Fuchs oder Dachs hinwies.

Sie sprangen in die Schlucht und rannten, so schnell der unebene Boden es gestattete, vorsichtig, um den Halt nicht zu verlieren, und kamen schließlich am Fuße einer Böschung in ein noch unwegsameres Dickicht. Sie blieben stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Ihre Lungen fühlten sich an, als müssten sie bersten. Hawkwood versuchte, den Hang hinaufzuschauen, wo sie gerade hergekommen waren, aber der Wald war so dicht, dass man nichts sehen konnte.

Als sie in den Wald gekommen waren, war ihre Ankunft von einer Schar laut schreiender Vögel kommentiert worden, doch jetzt war alles Leben um sie herum verstummt. Die Tiere überlegten offenbar noch, was sie von dieser Invasion zu halten hatten.

Sie gingen weiter. Ihr einziges Ziel war es jetzt, den Abstand zwischen sich und ihren Verfolgern so weit wie möglich zu vergrößern. Sie wussten, dass Morgan die Verfolgung nicht aufgeben, sondern im Gegenteil alle Kräfte aufbieten würde, und deshalb war es klug, so lange wie möglich auf dem Wildwechsel zu bleiben. Das war besser, als durch die weniger zugänglichen Strecken des Waldes zu stolpern, wo ihre Verfolger sie leichter einholen konnten. Hawkwood schätzte, dass sie vielleicht etwas über eine Meile weit gelaufen waren, seit sie die Mauer bezwungen hatten. Es war noch nicht weit genug. Doch solange sie sich versteckt hielten und einigermaßen schnell vorankamen, hatten sie eine Chance.

Es war warm, selbst im Schatten der Bäume. Sie waren beide in Schweiß gebadet, als Hawkwood abermals haltmachte. Mit laut pochendem Herzen stand er still und lauschte. Die Sonne schien durch das dichte Blätterdach und warf Schatten auf das Pflanzendickicht. Das Einzige, was zu hören war, waren Vogelrufe.

»Ich glaube, ich habe Masson und Leberte gesehen«, sagte Lasseur nach Luft ringend.

Hawkwood runzelte die Stirn und versuchte ebenfalls, zu Atem zu kommen. »Wo?«

»An der Mauer. Sie waren unter denen, die hinter uns herkamen. Leberte hatte eine Muskete.«

»Dann war das wahrscheinlich der Grund, warum ich nicht getroffen wurde. Ich habe noch nie viel von französischen Schützen gehalten.« Hawkwood lachte.

»Vielleicht hat er absichtlich danebengeschossen«, sagte Lasseur immer noch keuchend.

Hawkwood dachte über diese Möglichkeit nach und fragte sich, ob Lasseur sich nicht vielleicht an einen Strohhalm klammerte.

»Das werden wir wahrscheinlich niemals erfahren«, sagte Hawkwood.

Dann hörte er es. Der Lärm kam von irgendwo in den Bäumen jenseits der Schlucht, aus der Richtung des Haunt.

Es war Hundegebell.

Er sah, wie Lasseur bleich wurde, als ein zweiter Hund einstimmte und ein Heulen ertönte wie von armen Seelen, die Höllenqualen litten.

Im Geiste sah Hawkwood Thor und Odin mit hochgezogenen Lefzen. Bei dem Gedanken lief es ihm kalt über den Rücken. Er sah Lasseur an, dessen Hemd nass vom Schweiß war.

»Wir müssen weiter«, sagte Hawkwood.

Lasseur nickte matt. Er sah hoch, blinzelte durch das Blätterdach und deutete in eine Richtung. »Dort entlang.«

»Was ist in der Richtung?«

»Der Fluss.«

»Bist du sicher?«

»Ja.«

»Dann sollten wir schneller laufen«, sagte Hawkwood.

Der Wildwechsel hörte nach etwa zweihundert Yards auf. Der Wald wurde lichter, und Hawkwood sah Weideland durch die Bäume, grüne, ebene Wiesen, auf denen Schafe weideten. Er sah Hecken und einen Zaunübertritt und in der Ferne ein Haus.

Und immer noch hörte er die Hunde. Er hörte auch laute Rufe. Sie waren schon wesentlich näher als beim ersten Mal. Ihre Verfolger waren ihnen noch immer auf der Spur. Es kam Hawkwood vor, als seien es mehr als zwei Hunde, aber er hatte keinen Wunsch, stehen zu bleiben, um nachzuzählen.

Lasseur schloss die Augen, als wollte er damit den Lärm ausschließen oder sich vor den Konsequenzen schützen, falls sie gefasst werden sollten.

Sie liefen auf eine Lichtung zu, die hinter den Bäumen lag. Beim Näherkommen erkannte Hawkwood, dass es keine Lichtung war, sondern eine Straße. Stolpernd blieben sie stehen und verkrochen sich in einem kleinen Erlengebüsch.

Hawkwood überlegte, ob es wohl dieselbe Straße war, auf der sie in jener Nacht zum Haunt gekommen waren. Im Mondlicht hatten alle Straßen gleich ausgesehen. Er reckte den Hals. Der Weg zeigte tiefe Radspuren, also musste es eine stark befahrene Strecke sein. Er sah auch Spuren von Rindern, die hier entlanggetrieben worden waren.

Vorsichtig schob er sich vor. Fünfzig Yards vor ihnen verschwand die Straße hinter einer Biegung, aber sie schien in beiden Richtungen leer zu sein. Hinter ihnen ertönte Hundegebell.

»Sie holen uns ein!« Lasseur zog Hawkwood am Ärmel. »Komm schon!«

Er wollte gerade auf die Straße hinaustreten, als Hawkwood ihn wieder nach unten zog. Lasseur wollte gerade protestieren, doch dann fühlten seine Hände, wie der Boden vibrierte. Er duckte sich. Drei Sekunden später tauchten in der Biegung rechts von ihnen zwei Reiter auf, die sich schnell näherten. Tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, galoppierten sie an ihnen vorbei.

Als das Hufgetrappel verhallte, hob Lasseur den Kopf. »Wie hast du das gewusst?«, flüsterte er.

»Erfahrung«, sagte Hawkwood.

»Morgans Leute?«, fragte Lasseur.

»Wir müssen davon ausgehen.«

Sie überquerten die Straße und versteckten sich schnell im Wald auf der anderen Seite. Hinter ihnen konnten sie die Rufe der Hundeführer hören. Es klang, als klopften sie das Unterholz nach Wild ab, sie schienen zu wissen, dass sie ihrer Jagdbeute immer näher kamen.

Wieder lichtete sich der Wald. Hawkwood und Lasseur gingen vorsichtig wie auf Eierschalen. Am Waldrand blieben sie stehen. Keinen Steinwurf entfernt sah Hawkwood den Fluss hinter einer kleinen Wiese. Er war mindestens dreißig Yards breit, beide Ufer waren von Bäumen gesäumt. Er sah nach links. In etwa zweihundert Yards Entfernung war eine alte Steinbrücke. Er sah das Geländer und darunter den Brückenbogen mit dem Schlussstein darin. Er sah auch Schilf und hörte Wasser über ein Wehr rauschen.

Langgezogenes Hundegeheul, immer näher und immer lauter, erinnerte ihn daran, warum sie zum Wasser gerannt waren. Wenn sie es bis zum Fluss schafften, wäre es für die Hunde schwer, wenn nicht unmöglich, ihrer Spur zu folgen.

Sie traten aus dem Schutz der Bäume.

Hinter ihnen knackte ein Zweig.

Hawkwood und Lasseur erstarrten. Zu seiner Rechten sah Hawkwood einen Schatten, im gleichen Moment nahm seine Nase einen bekannten Geruch wahr.

»Hab ich euch endlich«, sagte Del. Er trat hervor und grinste, wobei sein Mund in dem mageren Gesicht wie ein grotesker Schlitz wirkte. Er trug kein Mönchsgewand und auch keine geisterhafte Kapuze, er hatte lediglich eine Pistole in der Hand.

Wieder kam das Geheul aus dem Wald hinter ihnen und Hawkwood wurde fast übel bei dem Gedanken, dass Morgans Leute sie eingeholt hatten.

Del grinste wieder. »Hab euch kommen sehn. Ihr habt ja auch ziemlich Krach gemacht. Aber jetzt geht der Spaß erst so richtig los«, sagte er. Seine Stimme schien sich zu verändern, sie wurde dunkler, drohender. Plötzlich schien Del gar nicht mehr so einfältig.

»Nein«, sagte Lasseur. »Das glaube ich nicht. Heute nicht.«

Etwas in Lasseurs Stimme ließ Del ahnen, dass er sich in Gefahr befand. Er reagierte sofort und panikartig.

Hawkwood stand rechts von Lasseur und nahm Del einen Teil der Sicht, als Lasseur die Pistole aus dem Gürtel zog. Mit einer Geschwindigkeit, die so gar nicht zu seinem tölpelhaften Äußeren passte, hob Del seine Waffe und schoss. Hawkwood spürte den Stoß an seinem Kopf. Während er in einem schmerzhaften Nebel zu Boden ging, hörte er, wie Lasseur das Feuer erwiderte. Das Letzte, was er wahrnahm, war eine große rote Blume, die auf Dels Brust aufblühte.

Dann war alles zu Ende.

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