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Verdammt, ich hätte es wissen müssen, dachte Hawkwood.

Ezra Twiggs Gesicht hätte es ihm verraten müssen, und Hawkwood fragte sich, warum er es nicht gemerkt hatte. Der kleine Büroangestellte hielt den Kopf gesenkt, als Hawkwood das Vorzimmer des Obersten Richters betrat, der ihn hierher beordert hatte. Nochmalerweise hätte Twigg von seinem Schreibkram hochgesehen und eine trockene Bemerkung losgelassen über die Kratzer, die Hawkwoods Stiefelabsätze auf dem Fußboden hinterließen, aber diesmal hatte Twigg die Ankunft des Runners kaum zur Kenntnis genommen. Er hatte lediglich kurz aufgesehen und gemurmelt: »Sie werden erwartet«, und sich wieder seinen Papieren zugewandt. Es waren keine guten Vorzeichen. Hawkwood machte sich Vorwürfe, dass er nicht aufmerksamer gewesen war. Er war allerdings gewarnt worden, dass der Oberste Richter nicht allein war.

Als Hawkwood das Büro betrat, verließ James Read seinen Platz an dem hohen Fenster, wo er gestanden hatte. Es war Vormittag, und die Sonne schien herein. Hawkwood war überrascht, dass der Oberste Richter, der aus seiner Abneigung gegen kaltes Wetter kein Geheimnis machte, so ernst aussah. Normalerweise untröstlich über schlechtes Wetter, hätte er doch heute bei bester Laune sein müssen.

Der zweite Mann sah sich um. Er war untersetzt, hatte kurzes, aschblondes Haar und ein breites Gesicht, auf dem sich ein Netz roter Äderchen über die Wangen zog. Er trug die Uniform eines Navyoffiziers und hatte die charakteristische gebückte Haltung vieler Seeleute. Hawkwood wusste, es war kein angeborener Fehler, nur ein Beweis für die niedrige Deckenhöhe auf bewaffneten Segelschiffen.

Der Offizier musterte Hawkwood von oben bis unten: das narbige Gesicht, das altmodisch lange Haar, das im Nacken zusammengebunden war, die dunkle, gutsitzende Kleidung. Der Oberste Richter trat an seinen Schreibtisch. Wie immer war jede seiner Bewegungen gemessen und kontrolliert. Er setzte sich. »Officer Hawkwood, dies ist Captain Elias Ludd. An seiner Uniform sehen Sie, dass er zur Admiralität gehört.«

Hawkwood und der Captain nickten sich kurz zu.

»Genauer gesagt, zur Transportbehörde«, sagte James Read.

Hawkwood schwieg. Die Transportbehörde war ursprünglich gegründet worden, um im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Schiffe, Truppen und Lieferungen zu befördern. Aber in den Kriegen gegen Bonaparte hatte sich das Tätigkeitsfeld der Behörde weit über den Atlantik hinaus ausgedehnt. Inzwischen waren die Aufgaben von Großbritanniens Militär und Navy ins Unermessliche angewachsen und die Versorgungsschiffe der Behörde fuhren auf allen Weltmeeren.

»Die Admiralität hat uns um Hilfe gebeten.« Read nickte in Richtung seines Besuchers. »Captain, Sie haben das Wort.«

»Danke, Sir.« Ludd sah kurz zu Boden, dann hob er den Kopf. »Bei uns ist ein Offizier verschwunden; sein Name ist Sark. Leutnant Andrew Sark.«

Es entstand eine kurze Pause.

Fragend sah Hawkwood zum Obersten Richter hinüber, dann wandte er sich wieder an den Offizier. »Ja und, wollen Sie, dass wir ihn finden? Ist das nicht Aufgabe der Navy?«

Ludd wirkte bestürzt über diese wenig hilfreiche Bemerkung. James Read sagte: »Es gibt noch andere Dinge, die hier zu berücksichtigen sind. Wie Sie wissen, reicht die Zuständigkeit der Transportbehörde wesentlich weiter als das, was man gemeinhin als ihre Aufgabe ansieht.«

Was zum Teufel sollte das heißen?, fragte sich Hawkwood.

»Der Behörde obliegt auch die Verwaltung ausländischer Kriegsgefangener«, sagte James Read. »Wie Sie sich vielleicht erinnern, übernahm sie das Ressort von der Sanitätsbehörde.«

Hawkwood überlegte, ob der Oberste Richter eine Antwort erwartete. Er entschied, dass es besser wäre, nichts zu sagen, gemäß dem Motto: Es ist besser, den Mund zu halten und für dämlich gehalten zu werden, als ihn aufzumachen und alle Zweifel zu beseitigen. Er beschloss, dass ein unverbindliches Nicken vielleicht genügen würde.

»Ich bitte um Entschuldigung, Captain«, sagte Read. »Bitte fahren Sie fort.«

Ludd räusperte sich. »Im Laufe der letzten Wochen hat die Anzahl der geflohenen Gefangenen plötzlich zugenommen. Wir beauftragten Leutnant Sark, zu untersuchen, ob es sich hierbei um einen Zufall handelte oder ob wir es mit einem organisierten Vorgang zu tun haben.«

»Und er hat sich nicht zurück gemeldet?«, fragte Hawkwood.

Ludd nickte, sein Gesicht war ernst.

»Wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?«

Ludd hob das Kinn. »Das ist es ja gerade - wir haben überhaupt nichts von ihm gehört. Es sind jetzt schon sechs Tage.«

»Nicht lange«, sagte Hawkwood.

»Normalerweise würde ich Ihnen zustimmen.« Ludd kaute an seiner Unterlippe.

»Captain?« Hawkwood hatte nicht verstanden.

Ludd hörte auf zu kauen. »Er war nicht der Erste«, sagte er endlich widerstrebend.

Hawkwood merkte, wie James Read auf seinem Stuhl herumrutschte. Ludd sah höchst unglücklich aus. »Der erste Offizier, den wir schickten, Leutnant Masterson, kam ums Leben.«

»Er kam ums Leben? Wie?«

»Vermutlich ertrank er. Seine Leiche wurde vor zwei Wochen auf einer Sandbank in der Nähe von Fowley Island gefunden.«

»Wo ist das?«, fragte Hawkwood.

»Bei der Swale.«

»In Kent also.«

Ludd nickte. »Zu dem Zeitpunkt gab es keinen Grund zur Annahme, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Wir betrauerten ihn und begruben ihn, und dann schickten wir Leutnant Sark, um die Untersuchungen aufzunehmen.«

»Aber jetzt, wo Sark sich noch nicht gemeldet hat, vermuten Sie, dass der Tod durch Ertrinken vielleicht doch kein Unfall war.«

»Das ist möglich, ja.«

»Entschuldigen Sie, Captain, aber ich sehe immer noch nicht, was das mit Bow Street zu tun hat«, sagte Hawkwood. »Das ist doch bestimmt eine Sache für die Navy?«

Ehe Ludd antworten konnte, mischte James Read sich ein: »Captain Ludd ist hier auf Veranlassung von Richter Aaron Graham. Richter Graham ist der Regierungs inspektor, der für die Verwaltung aller Kriegsgefangenen verantwortlich ist. Er untersteht direkt dem Innenminister. Es war die Empfehlung des Innenministers Ryder, dass die Behörde unsere Hilfe in Anspruch nehmen sollte.«

Hawkwood hatte die Bekanntschaft des Innenministers Ryder gemacht, der ihn nicht übermäßig beeindruckt hatte, aber er hielt generell nicht viel von Politikern, egal welchen Ranges. Er traute keinem von ihnen. Er hatte Ryder reichlich hochnäsig gefunden, erfüllt von seiner eigenen Wichtigkeit. Er fragte sich, ob Ryder sich direkt an James Read gewandt hatte. Die Art, wie der Oberste Richter mit Ludd sprach, ließ nicht darauf schließen, dass er ihn nur widerwillig duldete, aber Read beherrschte es meisterhaft, neutral zu bleiben. Was nicht bedeutete, dass es hinter dem gelassenen Gesichtsausdruck in seinem Kopf nicht gleichzeitig fieberhaft arbeiten konnte.

Read stand auf. Er ging zum Kamin und nahm seine gewohnte Stellung vor der Feuerstelle ein. Zwar brannte kein Feuer, aber Read stand da, als wärme er sich. Hawkwood vermutete, dass ihm diese Stellung, ob mit oder ohne Feuer, beim Denken half. Und tatsächlich schien alles, was er sagte, dadurch ein gewisses Gewicht zu bekommen und Hawkwood fragte sich, ob der Oberste Richter dies nicht beabsichtigte.

Read spitzte die Lippen. »Es ist ja kein Geheimnis, dass die Behörde in den letzten zwölf Monaten ziemlich viel kritisiert worden ist. Sie war Gegenstand zweier Sonderausschüsse. Man kam zu dem Ergebnis, dass die Behörde nicht so effizient gearbeitet hat, wie man es von ihr erwartet hatte. Weitere negative Nachrichten würden … na, sagen wir, nicht sehr helfen. Bisher konnten diese Fluchten vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Es besteht jedoch Grund zur Sorge, dass, wenn diese Unfähigkeit, feindliche Gefangene unter Verschluss zu halten, an die Öffentlichkeit dringt, die Regierung an Glaubwürdigkeit verlieren könnte. Bei allem Respekt für Captain Ludd, aber wenn der Verlust eines Offiziers, der diese Gefängnisausbrüche untersuchen sollte, noch als Unglücksfall abgetan werden kann, so grenzt der Verlust zweier Offiziere doch schon fast an Leichtsinn. Dies ist alles Wasser auf die Mühlen der Kritiker, und für ein Land, das sich im Krieg befindet, könnte jeder Vertrauensverlust ernste Konsequenzen haben.«

Hawkwood sah verstohlen den Captain an und empfand Mitleid. Er wusste, wie es war, Männer im Kampf zu verlieren; er selbst hatte mehr Männer eingebüßt, als er sagen konnte, und es war schmerzhaft, damit zu leben.

»Welche Hilfe also?«, fragte Hawkwood.

Read zog fragend die Brauen zusammen.

»Sie sagten, der Innenminister möchte, dass die Behörde unsere Hilfe in Anspruch nimmt. Wie soll diese Hilfe aussehen?«

James Read sah Ludd an, der mühsam lächelte. »Meine Vorgesetzten weigern sich, die Untersuchung weiter zu unterstützen.«

»Sie meinen, dass kein weiteres Personal dafür bewilligt wird«, sagte Hawkwood.

Ludd wurde rot. »Wie der Richter Read schon sagte, haben wir bereits zwei Männer bei der Untersuchung verloren. Ich habe keine Lust, einen dritten Mann loszuschicken, um den Tod und das Verschwinden der beiden ersten aufzuklären.«

Jetzt war alles klar. Hawkwood starrte James Read an. »Sie möchten, dass Bow Street die Untersuchung weiterführt?«

»Ja, das ist der Wunsch des Innenministers.«

»Und warum glaubt er, dass wir Erfolg haben werden, wo die Navy gescheitert ist?«

Read legte die Hände auf den Rücken. »Der Innenminister meint, auch wenn die Navy ihre Offiziere dafür einsetzen kann, es doch gewisse Vorteile haben könnte, wenn man Personal damit beauftragt, das nicht zur Navy gehört, besonders wo es sich quasi um Untersuchungen in geheimer Mission handelt.«

»Geheimer?«

»Wir haben Möglichkeiten, die andere - wie soll ich sagen? - konventionellere, weniger flexible Regierungsbehörden nicht haben. Würden Sie mir nicht zustimmen, Captain Ludd?«

»Ich denke, das können Sie besser beurteilen, Sir«, sagte Ludd taktvoll.

»In der Tat.« Read sah Hawkwood prüfend an.

Dessen Nacken fing plötzlich an zu kribbeln. Es war kein angenehmes Gefühl.

»Ich meine damit die Künste der Listenreichen, Hawkwood; die Fähigkeit, im Hintergrund zu verschwinden - äußerst nützlich, wenn man es mit Kriminellen zu tun hat, wie Sie uns schon so oft bewiesen haben.«

Hawkwood wartete auf das Fallbeil.

»Captain Ludd und ich haben die Sache besprochen und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Sie der Ermittler sind, der für diese Aufgabe am besten geeignet ist.«

»Und um welche Aufgabe handelt es sich da, Sir … ganz genau?«

James Read lächelte grimmig. »Wir schicken Sie auf einen Hulk, ein Gefängnisschiff.«


Das Gesicht des Obersten Richters war ernst. »Wir haben im ganzen Land Kriegsgefangene, von Somerset bis Edinburgh. Zum Glück ist das neue Gefängnis in Maidstone ideal für unseren Zweck. Es wird als Zwischenlager benutzt, von dem die Gefangenen zu den Schiffen auf der Medway und auf der Themse gebracht werden. Sie werden Ihre Gefangenschaft dort antreten. Von Maidstone werden Sie zu dem Gefängnisschiff Rapacious gebracht werden. Es liegt vor Sheerness. Es ist besser, dass Sie mit einem Gefangenentransport dort ankommen statt ganz allein. Es gibt keinen Grund, warum Sie jemand nach Papieren fragen sollte, aber Sie werden Gelegenheit haben, vor dem Transport mit anderen Gefangenen Bekanntschaften zu knüpfen.«

Es war interessant, dachte Hawkwood, dass der Oberste Richter das Wort Gefangenschaft gebraucht hatte statt Auftrag. Vielleicht war es ein Versprecher gewesen. Aber vielleicht auch nicht.

»Ihre Aufgabe hat mehrere Aspekte«, sagte Read. »Erstens sollen Sie herausfinden, wie diese Ausbrüche zustande gekommen sind …«

»Wollen Sie damit sagen, das wissen Sie nicht?«, unterbrach Hawkwood und starrte Ludd an.

Ludd trat von einem Bein aufs andere. »Wir wissen, dass die Rapacious in den letzten sechs Wochen vier Gefangene verloren hat. Das Dumme ist, dass wir nicht genau wissen, wann es passierte. Wir können davon ausgehen, dass die anderen Gefangenen die Flucht vor der Besatzung geheim gehalten haben, möglicherweise durch Schummeln beim Appell. Wenn wir jedoch die genauen Fluchtzeiten nicht wissen, können wir auch nicht herausfinden, wie es zustande gekommen ist, ob sich durch Nachlässigkeit eine plötzliche Gelegenheit dazu ergab, oder ob die Ausbrüche von langer Hand vorbereitet waren. Wir wissen nur, dass wir vier Mann vermissen. Was die Sache noch interessanter macht, ist, dass die anderen Schiffe auf der Medway ähnliche Verluste hatten. Wir vermissen auch eine Handvoll Leute, die nach ihrem Freigang nicht wiedergekommen sind.«

»Wie viele insgesamt?«, fragte Hawkwood.

»Es werden zehn vermisst.«

»Über welchen Zeitraum?«

»Zwei Monate«, sagte Ludd.

»Wie ich schon sagte …« James Read unterbrach die bedeutungsvolle Pause, die nach Ludds Geständnis eingetreten war. »Sie sollen auch herausfinden, ob die Ausgebrochenen Hilfe von außen hatten. Captain Ludd glaubt, dass das der Fall sein muss.«

»Mit welcher Begründung?«, fragte Hawkwood.

»Nun, weil wir bisher nicht einen von diesen Mistkerlen gefasst haben«, erklärte Ludd.

»Können Sie das näher erklären?«

Ludd seufzte. »Nun ja, Ausbrüche sind nichts Neues. Manche passieren spontan, wenn sich plötzlich eine Möglichkeit bietet: eine unverschlossene Tür, ein unaufmerksamer Wachsoldat, der beim Bewachen eines Arbeitstrupps in die falsche Richtung schaut, solche Sachen. Da handelt meist ein Gefangener allein. Und in neun von zehn Fällen wird er schnell wieder aufgegriffen, meist weil er durchgefroren und nass ist, nichts zu essen hat und keine trockenen Klamotten findet, oder weil er nicht weiß, wo er ist und nicht wagt, jemanden zu fragen, weil er die Sprache nicht spricht. Die kommen nicht weit. Viele kommen sogar freiwillig wieder zurück - und nicht nur zum Militär. Die ergeben sich sogar gewöhnlichen Menschen auf der Straße. Aber wenn es mehr als einer ist, wenn zwei oder drei ausgebrochen sind, dann muss man davon ausgehen, dass es geplant war, dass sie Nahrungsmittel und Kleidung beiseitegeschafft haben, vielleicht haben sie sogar einen Bewacher erpresst, ihnen eine Landkarte zu verkaufen, damit sie sehen, wie weit es zur Küste ist, wo man ein Boot stehlen kann. Selbst dann schaffen es nicht viele. Es genügt ein unvorsichtiges Wort, jemand hört sie Französisch sprechen, oder Englisch mit einem Akzent, und schon ist es vorbei. Aber mit diesen Geflüchteten ist es anders.«

»Inwiefern?«

»Wie ich schon sagte, wir haben keine Spur von ihnen gefunden.«

»Und das heißt?«

»Für mich heißt es, dass es jemanden geben muss, der ihnen hilft.«

»Wer zum Beispiel?«

»Gerade das sollten Masterson und Sark ja herausfinden.«

»Und was vermuten Sie?«

»Meine Theorie? Am wahrscheinlichsten wohl Schmuggler.«

»Schmuggler?«

»Ich vermute, sie bringen die Flüchtlinge runter zur Küste. Die haben ihre Schleichwege, außerdem genügend Leute und Boote.«

»Und das, Hawkwood, wäre Ihre dritte Aufgabe«, sagte Read. »Wenn es einen organisierten Fluchtweg gibt, möchte ich, dass er unterbrochen und wenn möglich ganz zerschlagen wird.«

»Das könnte erklären, warum Ihr Mann Masterson in der Swale gefunden wurde«, sagte Hawkwood. »Vielleicht wurde er von einem Schiff geworfen.«

»Möglich«, gab Ludd zu. »Ich würde es als persönlichen Gefallen betrachten, wenn Sie nebenbei noch herausbringen würden, was mit meinen Männern passiert ist. Wenn sie ermordet wurden, dann würde ich es gern wissen.«

»Wenn Schmuggler involviert sind, wird es nicht einfach sein«, gab Hawkwood zu bedenken. »Die haben ihre eigenen Gesetze. Sobald da einer auftaucht und Fragen stellt, spitzen sie die Ohren. Höchstwahrscheinlich werden die mich schon von weitem erkennen.«

Ludd und Read sahen sich an.

»Genau so ist es«, sagte Read leise, »aber in diesem Falle werden sie in die verkehrte Richtung schauen.«

»Späte Einsicht ist etwas Wunderbares«, sagte Ludd. »Wir haben den Fehler gemacht, Masterson und Sark zum Haupteingang zu schicken. Beide waren kompetente Männer, aber sie waren eben in erster Linie Navyoffiziere und erst in zweiter Linie Landbewohner. In dieser Situation waren sie überfordert. Wir hätten sie genauso gut mit einer Blaskapelle losschicken können. Masterson hatte den Auftrag, die Schmugglerbanden zu infiltrieren. Wir hielten es für das Beste, wenn er sich als ehemaliger Seemann ausgibt, der Arbeit sucht und den es nicht weiter interessiert, ob sie legal oder illegal ist. Aber leider bilden die Schmuggler ein solidarisches, engmaschiges Netzwerk. Ich fürchte, er hat den falschen Leuten die falschen Fragen gestellt - und dass Sark den gleichen Fehler gemacht hat.

»Man kann einen Mann aus der Navy nehmen, aber man kann diesem Mann die Navy nicht aus dem System austreiben«, sagte Hawkwood.

»So sieht’s aus«, sagte Ludd düster.

»Andererseits werden Sie nicht so leicht auffallen«, sagte James Read. »Hoffentlich.«

»Sie meinen, ich werde den Hintereingang nehmen«, sagte Hawkwood.

Um Reads Mundwinkel zuckte es. »Vorausgesetzt, wir können eine geeignete Geschichte für Sie erfinden.« Der Oberste Richter unterbrach sich. »Mein erster Gedanke war, Sie könnten sich als französischer Offizier ausgeben, aber ich weiß nicht, ob das praktisch machbar wäre. Zwar haben Sie ausgezeichnete französische Sprachkenntnisse, aber könnten Sie das über einen längeren Zeitraum durchhalten? Captain Ludd und ich haben darüber gesprochen, und wir denken, dass die augenblickliche Krise in Amerika uns die perfekte Lösung bietet. Sie werden sich als amerikanischer Freiwilliger ausgeben.«

»Als Amerikaner?«

»Wie Sie von Ihrem letzten Zusammentreffen mit William Lee nur zu gut wissen, sind unsere amerikanischen Vettern im Moment nicht besonders gut auf uns zu sprechen. Schon vor der Kriegserklärung sind viele amerikanische Freiwillige zu Bonapartes Fahnen geeilt; ein Vermächtnis des amerikanisch-französischen Bündnisses während der Revolution. Darum dachten wir, dass Sie am besten unter dem Deckmantel eines amerikanischen Offiziers auftreten, der zu einer von Bonapartes Truppen gehörte und gefangen genommen wurde. Die Tatsache, dass Sie fließend Französisch sprechen, ist da von großem Vorteil.«

»Bleibt nur noch Ihre Identität. Etwas Glaubwürdiges, das näherem Hinsehen standhält, am besten etwas, das mit Ihren Fähigkeiten übereinstimmt und idealerweise mit einer Sache, von der Sie persönliche Kenntnis haben. Das einzige Problem dabei wäre die Frage, wo Sie sich in den letzten zwei Jahren aufgehalten haben. Deshalb ist es am besten, wenn wir uns etwas aussuchen, das nicht zu lange zurückliegt und wo die Fakten noch nicht so bekannt sind. Captain Ludd und ich haben Meldungen durchge sehen und meinen, dass der Sieg von Ciudad Rodrigo am besten geeignet wäre. Über diese Schlacht wird noch immer berichtet. Sind Ihnen Einzelheiten darüber bekannt?«

»Nur das, was ich in den Zeitungen darüber gelesen habe«, sagte Hawkwood.

Die Times hatte allgemeine Berichte über die Schlacht gebracht, ebenso der Chronicle und die Gazette. Ciudad Rodrigo war eine malerische spanische Stadt am Fluss Agueda. Es lag nur wenige Meilen von der Grenze und wachte über die nördliche Hauptroute zwischen Spanien und Portugal. Anfang Januar hatte Wellington die Stadt belagert. Der Angriff war heftig gewesen und es hatte viele Verwundete gegeben, aber Wellington hatte gesiegt. Man hatte viele Gefangene gemacht.

Read nickte. »Sehr gut; ein freiwilliger Hauptmann, der dem 34. Régiment d’Infanterie Légère angehörte, das wird für Ihre Zwecke am besten sein, denke ich. Das Regiment gibt’s erst seit letztem Jahr und wurde mit Männern aus anderen Einheiten gebildet, also ist es durchaus möglich, dass man auch ausländische Experten zu Hilfe genommen hat. Ich überlasse es Ihnen, sich eine passende Biografie zurechtzustricken.«

Der Oberste Richter langte über den Schreibtisch und hob eine kleine Leinentasche auf. »Hier sind einige Berichte über die Belagerung. Bedienen Sie sich. Sie enthalten Details, die nicht an die Öffentlichkeit gelangt sind, warum, das werden Sie bald merken. Unsere Soldaten mögen wohl siegreich gewesen sein, aber mit Ruhm haben sie sich nicht bekleckert. Solche Einzelheiten könnten helfen, unbequeme Fragen abzublocken. Setzen Sie sie klug ein, falls Sie unter Druck geraten sollten, Angriff ist die beste Form der Verteidigung. Und wenn Sie Ihre ehemaligen Kameraden schlechtmachen, wird das die Aufmerksamkeit von Ihrer eigenen Identität ablenken. Also, lesen Sie die Depeschen. Sie werden bald sehen, was ich meine.«

Read reichte ihm die Tasche. »Als Offizier dürfen Sie ein paar persönliche Sachen bei sich haben. Mr. Twigg wird Ihnen Geld dafür geben. Auf den Hulks ist englisches und französisches Geld in Umlauf. Ich würde Ihnen jedoch raten, mit Ihren Ausgaben zurückhaltend zu sein. Die Schatztruhen des öffentlichen Dienstes sind auch nicht unerschöpflich.

»Die Narben, die Sie in der Sache mit Hyde davongetragen haben, werden Ihnen gute Dienste leisten. Sie sind frisch genug, um aus der Zeit Ihrer Niederlage und Gefangennahme zu stammen. Das wird zu Ihrer Glaubwürdigkeit beitragen.«

Die Wunden von seinem Zusammentreffen mit Titus Hyde, dem Entlaufenen aus der Irrenanstalt, waren gut verheilt. Aber dennoch wachte Hawkwood manchmal in den frühen Morgenstunden auf und fragte sich, was passiert wäre, wenn die Klinge von Hydes Rapier einen Zoll länger gewesen wäre. Die rasiermesserfeine Narbe auf seiner linken Wange war eine dauernde Erinnerung daran, dass die Trennlinie zwischen Leben und Tod so fein sein kann wie ein einziges Haar oder so kurz wie ein Herzschlag.

»Wer weiß sonst noch, dass ich Sonderermittler bin?«

Read zögerte, ehe er antwortete. »Niemand. Außer mir, Ludd und Mr. Twigg wird keiner Ihre wahre Identität kennen.«

»Auch nicht der Commander auf dem Hulk?«

»Niemand«, wiederholte Read.

»Und wie benachrichtige ich Sie, wenn ich etwas entdecke?«

»Deshalb werden Sie im Schiffsregister als Offizier geführt. Damit haben Sie Anspruch auf Freigang. Captain Ludd empfiehlt, dass wir den Anschein erwecken, Ihr Antrag müsse erst genehmigt werden. Damit werden Sie vor einem Gutachterausschuss erscheinen. Ihr erstes Verhör wird eine Woche nach Ihrer Ankunft stattfinden. Captain Ludd wird den Vorsitz haben. Sie werden ihm berichten, welche Erkenntnisse Sie gesammelt haben.«

Hawkwood starrte auf die Tasche mit den Depeschen, dann sah er auf. »Wenn das so ist, dann hoffe ich, dass Sie alle bei guter Gesundheit bleiben. Ich fände es nicht sehr lustig, auf dem verfluchten Schiff festzusitzen, bloß weil Sie alle in Ihren Betten der Schlag getroffen hat.«

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