»Name?«
Die dünne, näselnde Stimme kam von einem schmalbrüstigen Mann mit mürrischem Gesicht. Er saß hinter einer langen Tischplatte, die man auf dem Oberdeck aufgebockt hatte. Der Schreiber sah nicht auf, sondern wartete mit zusammengekniffenem Mund und gezückter Feder auf Hawkwoods Antwort. Ein großes Journal lag aufgeschlagen vor ihm. Der Mann zu seiner Rechten, ein hochnäsig aussehender Kerl mit rötlich-blondem Haar, dünnen Koteletten und bis aufs Blut abgekauten Fingernägeln, trug die Uniform eines Leutnants. Auf seiner linken Seite stand ein jüngerer, schmächtiger Mann mit dunklem Haar, der eine gelbe Drillichjacke und eine ebensolche Hose trug. Die Ärmel der Jacke sowie die Hosenbeine waren jeweils mit einem breiten schwarzen Pfeil und den Buchstaben T.O. bedruckt, die Abkürzung für Transport Office. Seine Augen schweiften ununterbrochen über die Reihe der wartenden Männer.
Hawkwood sah auf den Schreiber hinunter und antwortete nicht. Er war noch immer durchgefroren von dem kalten Bad, das er eben genommen hatte.
Die Wachen hatten ihnen die Fesseln abgenommen, darauf mussten sich alle Neuankömmlinge auf Deck nackt ausziehen und bekamen ein Stück braune Kernseife, mit dem sie in große, mit Wasser gefüllte Fässer steigen mussten. Das Wasser war eiskalt, und als jeder der Männer sich die Haut fast wundgeschrubbt hatte, herausgestiegen war, die Seife dem nächsten Mann übergeben und sich mit dem Lumpen, der als Handtuch diente, abgetrocknet hatte, hatte das Wasser in jedem der Fässer eine dünne, schmutzige Fettschicht.
Dann waren orangefarbene Jacken, Hosen und Hemden ausgegeben worden. Davon schien es nur eine Größe zu geben, nämlich »klein«, und die Empfänger versuchten vergeblich, die Kleidungsstücke zuzuknöpfen, auch reichten den meisten die Hosenbeine nur bis zur halben Wade. Der Einzige, der nach der Kleiderausgabe halbwegs passabel aussah, war der Junge. Die Jacke war ihm zwar zu groß und die Ärmel zu lang, aber die Hose passte ihm ganz gut, allerdings erst, nachdem er sie mit einem Stück Schnur um seine magere Taille zusammengebunden hatte.
Nicht alle erhielten diese Kluft. Einige von ihnen, darunter Hawkwood und Lasseur, durften ihre eigenen Kleider anbehalten, angeblich weil sie Offiziere waren, aber Hawkwood ahnte, dass das eher mit der Knappheit an Hosen und Jacken zu tun hatte als mit der Anerkennung ihres Ranges. Es sah tatsächlich so aus, als wäre die Gefängniskleidung hauptsächlich denen zugeteilt worden, deren eigene Kleider nicht mehr zu retten waren. Alle schmutzigen Kleidungsstücke wurden auf Deck auf einen Haufen geworfen, der immer höher wurde. Hawkwood nahm an, man würde die Sachen vom Schiff bringen und verbrennen.
Als Nächstes wurden Drillichpantoffeln ausgegeben. Weder Hawkwood noch Lasseur wurden als genügend notleidend angesehen, um solches Schuhwerk zu empfangen. Hawkwood bemerkte, dass einige der Gefangenen seine und Lasseurs Stiefel verstohlen musterten, und er war entschlossen, die seinen nicht aus den Augen zu lassen.
Das spitze Gesicht des Schreibers wurde ungeduldig, weil Hawkwood noch immer nicht geantwortet hatte. Der Leutnant sah nach wie vor gelangweilt aus. Der Schreiber hob gebieterisch den Finger, und der Mann, der auf seiner anderen Seite stand, wiederholte die Frage auf Französisch.
»Hooper«, sagte Hawkwood. »Matthew.«
Als Hawkwood seinen Namen nannte, stutzte der Schreiber und runzelte die Stirn, während der Leutnant neben ihm abrupt den Kopf drehte und ihn ansah. Seine Augen verdunkelten sich.
Der Schreiber hatte seine Fassung wiedergewonnen und sah auf den grauen Papierbogen, der vor ihm lag. Mit der Federspitze fuhr er die Liste entlang und schnalzte mit der Zunge, als er gefunden hatte, was er suchte. Hawkwood nahm an, dass es die Liste der Gefangenen aus Maidstone war, auf der der Schreiber seinen Namen gesucht hatte.
Der Leutnant sah ihn über die Schulter des Schreibers hinweg an.
Spöttisch sagte der Schreiber: »Unser erster Amerikaner. Jetzt sind wir wohl nicht mehr ganz so unabhängig, was?« Er kicherte über seinen Witz.
Der Leutnant sah Hawkwood mit unverhohlener Feindseligkeit an, während der Schreiber anfing, die persönlichen Angaben in sein Journal einzutragen, wobei er alles leise wiederholte. »Rang: Captain; Datum der Gefangennahme: 20. Januar; Ort: Ciudad Rodrigo; Ankunft: 27. Mai; Strafurlaub beantragt; körperliche Merkmale …« Der Schreiber sah wieder auf und murmelte: »Größe: etwa sechs Fuß; Narben auf der linken Gesichtsseite … mürrisch aussehender Kerl. Dem Geschützdeck zugeteilt. Der Nächste!«
Nachdem er dieser Beschreibung und dem Kommentar zugehört hatte, bedachte der Leutnant Hawkwood mit einem letzten angewiderten Blick, ehe er sich abwandte.
»Verdammter Überläufer«, hörte Hawkwood ihn murmeln.
Der Dolmetscher bedeutete Hawkwood weiterzugehen. Hinter sich hörte er, wie Lasseur seinen Namen nannte und die Litanei des Schreibers aufs Neue begann.
Am nächsten Tisch wurde den Gefangenen eine zusammengerollte Hängematte, eine fadenscheinige Decke und eine dünne, mit Wolle gefüllte Matratze ausgehändigt.
Hawkwood betrachtete aufmerksam die bewaffneten Wachen, die rings um das Deck standen. Sie waren von Navysoldaten hierher begleitet worden, die zum Dienst an Land abgestellt waren, aber weder die Armee noch die Navy schickte gern Berufssoldaten auf die Hulks. Männer, die zum Kämpfen taugten, wurden auf den Schlachtfeldern gebraucht. Diese Leute hier gehörten zu einer lokalen Miliz, die speziell dafür rekrutiert wurden, das wusste er von Ludd. Er hatte gesehen, wie zwei der Wachen bei dem erzwungenen Bad des Jungen verständnisinnige Blicke tauschten, als sie seine zarten, runden Pobacken sahen. Der eine hatte den anderen angestoßen und gekichert: »Warte mal, bis seine Majestät das sieht!«
Die Aufnahmeformalitäten erstreckten sich über zwei Stunden. Dabei waren es gar nicht so viele Neuankömmlinge - insgesamt drei Bootsladungen, vielleicht nicht mehr als vierzig Mann -, aber der schlecht gelaunte Verwaltungsbeamte schien entschlossen, allen zu zeigen, wie pedantisch er sein konnte. Langsam jedoch wurde die Schlange der Männer kürzer. Zu gern hätte Hawkwood gewusst, warum sie alle auf einer Hälfte des Quarterdecks versammelt worden waren, statt nach unten geschickt zu werden. Den Grund erfuhr er, nachdem der letzte Häftling sein Bettzeug empfangen hatte. An der Reling des Decks über ihnen erschien eine Gestalt. Der Mann war groß und grobknochig, sein Gesicht hager und bleich. Die weiße Einfassung seiner Revers wies ihn als einen weiteren Leutnant aus, obwohl er für diesen Rang zu alt schien. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, sah er unbewegt auf die Männer, die unter ihm versammelt waren. Seine Augen erschienen sehr dunkel. Allmählich merkten die Männer, dass sie beobachtet wurden, und es trat eine angespannte Stille ein. Der Leutnant sah unter seinem Dreispitz hervor, sein intensiver Blick wanderte über die Gesichter, die zu ihm hinaufsahen. Der Schreiber und der Leutnant am Tisch erhoben sich.
Der hagere Leutnant stand völlig reglos an der Reling und starrte immer noch nach unten. Niemand sprach. Nur die Schreie der Möwen, die ständig über dem Schiff kreisten, unterbrachen die Stille. Dann, plötzlich, es schien Minuten später, obwohl es nicht länger als zwanzig bis dreißig Sekunden gedauert haben konnte, trat der Leutnant von der Reling zurück, drehte sich abrupt um, und immer noch ohne ein Wort verschwand er nach dort, wo er hergekommen war.
»Unser tapferer Commander«, flüsterte Lasseur. »Es heißt, er habe mal eine Fregatte befehligt, mit der er vor Finisterre ein Gefecht mit einer unserer Achtziger hatte, in der er das Schiff aufgab. Als sie ihn gegen andere Gefangene ausgetauscht hatten, kam er vors Militärgericht.« Lasseur zog die Wangen ein. »Seitdem säuft er, sagt man.«
Hawkwood fragte sich, woher Lasseur diese Information wohl hatte. Manche Leute hatten ein wahres Talent dafür, alle möglichen Gerüchte aufzuschnappen. Obwohl Lasseur diesmal nur zur Hälfte Recht hatte. Der Commander des Hulks, wenn es sich bei dem Leutnant tatsächlich um diesen handeln sollte, hieß Hellard und war tatsächlich vom Rang eines Captain degradiert worden. Aber es war in Funchal, nicht in Finisterre, wo sein Schicksal besiegelt worden war, und er hatte schon vor der Schlacht zur Flasche gegriffen, nicht erst hinterher. Ludd hatte Hawkwood während seines Briefings die Geschichte genau geschildert; obwohl es nichts an der Tatsache änderte, dass Hellard als Strafe auf die Rapacious versetzt worden war. Außerdem hatte Ludd ihm erzählt, dass Hellard aus bescheidenen Verhältnissen stammte, so dass er auf keinen reichen Fürsprecher zählen konnte, der ihn aus dem Exil holen und ihm wieder auf die Karriereleiter verhelfen konnte. Das Kommando auf diesem schwimmenden Totenschiff war das Höchste, was Mortimer Hellard noch zu erwarten hatte. Und er wusste es. Das war auch der Grund für sein versteinertes Gesicht, vermutete Hawkwood. Hier war ein Mann, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hatte, ihm aber grollte und darunter litt.
»Bringen Sie sie nach unten, Sergeant Hook.« Der Befehl kam von dem Leutnant mit den abgekauten Fingernägeln. »Und machen Sie etwas mit denen da. Das sieht unordentlich aus.«
Der Leutnant sah missbilligend zu zwei Gefangenen hinüber, die zusammengebrochen waren. Hawkwood nahm an, es waren die beiden, denen ihre Mitgefangenen schon auf der Treppe geholfen hatten. Er fragte sich, was mit den Männern passiert war, die in dem Großboot geblieben waren, und ob jemand sich die Mühe gemacht hatte, sie zu holen. Aber niemand auf der Rapacious schien Lust zu haben, sich darum zu kümmern. Es war sehr wahrscheinlich, dass das Boot immer noch am Ende der Leine dahindümpelte.
»Aye, Sir.« Der Sergeant der Wache salutierte lässig und wandte sich an die Gefangenen. Er nickte in Richtung der Treppe. »Los, ihr Arschlöcher, auf geht’s. Simmons, nimm dein Bajonett und treib den da hinten mal’n bisschen an! Setz die Mistkerle in Bewegung! Verdammt, wir können nicht den ganzen Tag hier vertrödeln! Allez!«
Lasseur begegnete Hawkwoods Blick. Dem Franzosen war das Lächeln vergangen. Es schien, als ob die Situation ihm endlich klargeworden war. Hawkwood nahm sein Bettzeug auf die Schulter, wobei er sich an Lasseurs Kommentar erinnerte, den dieser ihm zugeflüstert hatte. Als er die Treppe zum Unterdeck hinabstieg, brauchte er nicht lange, um zu merken, dass Lasseur sich geirrt hatte. Verglichen mit diesem Schiff wäre die Hölle eine deutliche Verbesserung gewesen.
Hawkwood war Armut gewohnt. Er kannte sie, sie war überall in Londons engen, dreckigen Straßen gegenwärtig. In den Slums wie denen von St. Giles oder Field Lane gehörte Elend zum täglichen Leben. Man erkannte es an der Kleidung der Menschen, an ihren Gesichtern, an ihrer Körperhaltung. Hawkwood hatte es auch in den Augen der Soldaten gesehen, am deutlichsten nach einer Niederlage, und dieselbe Verzweiflung sah er jetzt in den Gesichtern der Männer, die hier auf dem Deck des Hulks versammelt waren. Es waren die grauen, leblosen Gesichter von Menschen, die keine Hoffnung mehr hatten.
Ihr Alter reichte vom abgebrühten alten Mann bis zum blauäugigen, unerfahrenen Jungen, und bis auf wenige Ausnahmen, so kam es Hawkwood vor, sahen sie alle aus wie wandelnde Leichname. Die meisten von ihnen trugen die gelbe Gefangenenkluft, oder was davon übrig war, denn in vielen Fällen sah diese inzwischen genauso aus wie die Fetzen, die sie bei der Ankunft ausgezogen hatten. Viele der älteren Männer hatten die wettergegerbten Gesichter von Seeleuten, aber ohne den rötlichen Teint. Ihre Gesichter waren bleich, fast farblos.
Einige der Gefangenen standen zusammengedrängt in kleinen Gruppen, andere standen allein da, soweit das bei der Menge der abgemagerten Körper überhaupt möglich war, die jeden Zoll der vorhandenen Fläche einnahmen. Einige der Männer lagen ausgestreckt auf dem Deck; es war schwer zu sagen, ob sie schliefen oder krank waren. Die wenigen, die standen, sahen die Neuankömmlinge teilnahmslos an, wie sie zur Luke mit der Treppe geführt wurden, die in den Bauch des Schiffs führte. Manche der Männer sahen aus, als hätten sie tagelang nichts mehr gegessen.
»Mein Gott!« Lasseur würgte. »Dieser Gestank.«
»Warten Sie, bis Sie erst unten sind.«
Die Bemerkung kam von jemandem, der hinter ihnen ging. Hawkwood sah sich um und erkannte den dunkelhaarigen Dolmetscher vom Oberdeck.
»Machen Sie sich nichts draus; in ein, zwei Tagen merken Sie es nicht mehr, da stinken Sie genauso. Übrigens, mein Name ist Murat. Und das hier oben nennen wir den Park. Unser kleiner Scherz.« Der Dolmetscher nickte in Richtung der offenen Luke und der Leiter, die nach unten führte. »Sie sollten sich jetzt beeilen. Arbeiten Sie sich da durch und suchen Sie sich alle einen Platz.«
»Murat?« Lasseur machte ein neugieriges Gesicht. »Verwandtschaft?«
Der Dolmetscher zuckte die Schultern und grinste bescheiden. »Ein entfernter Verwandter auf Seiten meiner Mutter. Tut mir leid, aber unser einziger Berührungspunkt ist wohl, dass wir mal denselben Schneider beschäftigt haben. Ich …«
»Wie viel willst du für deine Stiefel?«
Hawkwood merkte, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Einer der Gefangenen in gelber Kluft hatte seinen Arm ergriffen. Hawkwood prallte zurück von dem ranzigen Gestank, der von dem Mann ausging. »Sie sind nicht zu verkaufen.«
Die Jacke des Mannes hatte ausgefranste Löcher in den Ellbogen und die Knie seiner Hose glänzten wie frisch gebohnert. Seine Füße steckten in Drillichpantoffeln, aber diese waren viel zu klein für ihn, denn seine Fersen ragten mindestens einen Zoll über die Sohlen hinaus. Auf seinem Nacken hatte er mehrere Furunkel, und sein Hemdkragen hatte die Farbe von getrocknetem Schlamm.
»Zehn Franken.« Der Griff um Hawkwoods Arm wurde fester.
Hawkwood sah auf die Finger des Mannes. »Lass los, oder ich brech dir den Arm.«
»Zwanzig.«
»Lass ihn in Ruhe, Chavasse! Du hast doch gehört, er will sie nicht verkaufen.« Murat hob die Hand. »Und außerdem sind sie zehnmal so viel wert. Hau ab und geh jemand anderem auf die Nerven.«
Hawkwood zog seinen Arm weg. Der Gefangene ging davon.
Der Dolmetscher wandte sich an Hawkwood. »Passen Sie auf Ihre Sachen auf, bis Sie sich hier besser auskennen, sonst sehen Sie sie nie wieder. Kommen Sie jetzt, ich zeige Ihnen, wo es hingeht.«
Murat schob sich an ihnen vorbei und stieg die fast senkrechte Treppe hinab. Hawkwood und Lasseur folgten ihm. Es kam ihnen vor, als stiegen sie in ein schlecht beleuchtetes Bergwerk. Als sie drei Viertel der Treppe hinter sich gebracht hatten, musste Hawkwood den Kopf einziehen, um nicht gegen den Balken über sich zu stoßen. In seinem Rücken knackte es. Er hörte, wie Lasseur leise lachte, was in dieser Situation grotesk wirkte.
»Daran werden Sie sich auch gewöhnen«, sagte Murat trocken.
Hawkwood konnte nichts sehen. Der plötzliche Übergang vom Tageslicht in diese Grabesfinsternis war abrupt und beängstigend. Wenn Murat nicht seine gelbe Jacke getragen hätte, wäre es in dieser Dunkelheit unmöglich gewesen, ihm zu folgen. Es war, als hätte jemand die Sonne ausgelöscht. Hawkwood blieb stehen und wartete, bis seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten.
»Weitergehen!« Der Befehl kam von hinten.
»Hier lang«, sagte Murat und zeigte die Richtung an. »Und ziehen Sie den Kopf ein.«
Die Warnung war unnötig. Hawkwood hatte bereits einen steifen Hals. Die Höhe vom Deck bis zu den Balken über ihnen konnte nicht mehr als fünfeinhalb Fuß betragen.
Murat sagte: »Man merkt sofort, dass Sie Soldat sind und kein Seemann, Captain. Sie gehen ganz anders. Aber wie ich schon sagte, daran werden Sie sich gewöhnen.«
Jetzt nahm Hawkwood undeutlich ein paar gebückte Gestalten wahr, die sich vor ihm bewegten. Sie erinnerten eher an Höhlenbewohner als an zivilisierte Menschen. Und der Gestank hier unten war noch viel schlimmer; eine Mischung aus Schweiß und Pisse. Hawkwood versuchte, durch den Mund zu atmen, aber er stellte fest, dass das auch nicht viel half. Vorsichtig ging er weiter. Die undeutlichen Umrisse nahmen langsam Gestalt an. Jetzt konnte er auch auf beiden Seiten helle Vierecke erkennen, wo das Tageslicht durch die offenen, vergitterten Geschützöffnungen fiel.
»Das wär’s«, sagte Murat. »Das Geschützdeck.«
Allmächtiger, dachte Hawkwood.
Im grauen, wässrigen Dämmerlicht konnte er sehen, dass das Deck ungefähr vierzig Fuß breit war. Wie lang es war, konnte er nur grob schätzen, denn er konnte die Enden kaum sehen, sie verschwanden vorn und achtern in der Dunkelheit. Man kam sich eher wie in einem Keller vor als in einem Schiffsrumpf. Hier, wo sie standen, waren sie zu weit von den Geschützöffnungen entfernt, als dass das Tageslicht sie erreicht hätte, aber mit etwas Mühe konnte er erkennen, dass auch in der Mitte, genauso wie an den Seiten, Bänke entlangliefen. Und es schien, dass sie alle belegt waren. Der größte Teil des Fußbodens war ebenfalls von Menschenkörpern bedeckt. Trotz des schwachen Lichtes schienen viele der Männer mit irgendetwas beschäftigt zu sein. Einige strickten, andere flochten Hüte aus etwas, das wie Stroh aussah. Mehrere von ihnen schnitzten kleine Figuren aus Knochen, Hawkwood vermutete, dass es sich vielleicht um Schachfiguren handelte. Er fragte sich nur, wie hier überhaupt jemand sehen konnte, was er tat. Das Gefühl von Klaustrophobie war fast überwältigend.
Er sah, dass entlang der Schotten mehrere Laternen hingen, die aber nicht angezündet waren.
»Wir versuchen, Kerzen zu sparen«, erklärte Murat. »Außerdem brennen sie hier unten nicht besonders gut; zu viele Menschen, nicht genügend Sauerstoff.«
Einen Moment dachte Hawkwood, der Dolmetscher mache einen Witz, aber dann sah er, dass es Murat ernst war.
Das Licht reichte gerade aus, dass Hawkwood die Haken und Klampen an den Balken erkennen konnte, an denen die Hängematten befestigt wurden. An vielen der Haken hingen Gegenstände; keine Hängematten, sondern Säcke und Kleidungsstücke, die an riesige Samenkapseln erinnerten.
Murat folgte seinem Blick. »Die Langzeitgefangenen gewöhnen sich an einen bestimmten Platz. Sie markieren ihr Territorium. Sie können jeden freien Haken nehmen. Es werden oben und unten Hängematten aufgehängt, also wird für Sie beide Platz sein. Am besten ist es, Sie hängen sie jetzt schon auf. Die anderen Hängematten sind noch auf dem Vorderdeck, dort werden sie jeden Morgen hingebracht und verstaut. Wenn die abends zurückkommen, können Sie sich hier nicht mehr bewegen. Jeder hat etwa sechs Fuß Platz. Nachts sind vierhundert von uns hier eingepfercht. Sie sind neu, deshalb können Sie nicht groß wählen. Wenn Sie eine Weile hier sind, bekommen Sie vielleicht einen Dauerplatz an einem Fenster.
»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte Hawkwood.
»Zwei Jahre.«
»Und wie dicht sind Sie an den Fenstern?«
Murat lächelte.
»Was ist, wenn wir schon jetzt einen Platz dort haben wollen?«, sagte Lasseur. Es war klar, was er meinte.
Vierhundert Mann?, dachte Hawkwood.
»Das dürfte etwas kosten«, sagte Murat ohne zu zögern. Er wusste, was Hawkwood dachte. »Schätzen Sie sich glücklich. Sie hätten auf dem Orlopdeck landen können. Dort unten sind vierhundertfünfzig, und es ist längst nicht so geräumig wie hier.«
»Wie viel?«, fragte Lasseur.
»Für zwei Louis kann ich Ihnen einen Platz bei einer Geschützöffnung besorgen. Für zehn, eine Koje in der Kabine des Commanders.«
»Die Geschützöffnung reicht«, sagte Lasseur. »Vielleicht unterhalte ich mich später mal mit dem Commander.«
Mit zusammengekniffenen Augen sah Murat Hawkwood an. »Und Sie?«
»Wie viel in englischem Geld?«
»Es kostet zwei Pfund.« Der Dolmetscher musterte sie beide. »Bar. Kredit gibt’s nicht.«
Hawkwood nickte.
»Warten Sie hier«, sagte Murat und verschwand.
Lasseur sah sich um. »Ich war mal auf einem Sklavenschiff, vor Mauritius. Das konnte einem auch den Magen umdrehen. Aber das hier ist fast noch schlimmer.«
Hawkwood glaubte ihm ohne weiteres.
Lasseur war Privateer gewesen, Kapitän auf einem Kaperschiff. Diese Schiffe hatten die Franzosen über Hunderte von Jahren benutzt. Sie wurden durch private Gelder finanziert, und es war eine der Maßnahmen gewesen, mit der Bonaparte den Beschränkungen durch die britische Blockade begegnen konnte. Im Laufe der letzten Jahre war ihre Anzahl rückläufig, ein Ergebnis der britischen Dominanz auf den Meeren nach der Schlacht von Trafalgar.
Die enge Beziehung zu Lasseur war Ludds Vorschlag gewesen, obwohl die einleitende Strategie Hawkwoods Idee war.
»Ich brauche jemanden, der von meiner Person ablenkt«, hatte er zu James Read und Ludd gesagt. »Wenn ich dort aufkreuze und gleich anfange, verfängliche Fragen zu stellen, geht es mir wie Ihrem Mann Masterson. Das kann ich nur vermeiden, wenn ich mich im Schatten eines anderen verstecke. Ich muss mich mit einem echten Gefangenen verbünden, jemand, der für mich arbeitet, so dass ich unter seinen Rockschößen mit hineinschlüpfen kann. Sie sagten, Sie würden mich nach Maidstone schicken. Suchen Sie mir dort jemanden aus, der sich dafür eignet.«
Einen Tag vor seiner Ankunft im Gefängnis hatte Ludd sich mit Hawkwood getroffen.
»Ich glaube, ich habe Ihren Mann«, sagte Ludd. »Ein Privateer namens Lasseur. Wurde nach einem Gefecht mit einer britischen Patrouille vor Kap Gris-Nez festgenommen. Der freche Kerl hat danach zweimal versucht, vom Schiff zu türmen; er hatte sogar den Nerv, noch während seines Transfers nach Ramsgate einen Ausbruchsversuch zu machen. Wenn jemand eine Fluchtmöglichkeit sucht, dann er, darauf können Sie sich verlassen. Er hat geprahlt, dass kein englisches Gefängnis ihn halten kann. Halten Sie sich an den, und das Problem dürfte schon halb gelöst sein.«
Die Bekanntschaft war im Gefängnishof zustande gekommen.
Lasseur hatte allein dagestanden, den Rücken zur Wand, er ließ sich von der Morgensonne bescheinen und hielt eine unangezündete Zigarre zwischen den Zähnen, als die beiden Wärter zuschlugen. Ihr Plan hätte nie einen Preis für besondere Raffinesse gewonnen. Der eine schnappte sich die Zigarre, die Lasseur zwischen den Lippen hielt. Als der Franzose protestierte, rammte der andere ihm seinen Gummiknüppel in den Bauch und gleichzeitig das Knie zwischen die Beine. Als Lasseur zu Boden ging und mit den Händen seinen Kopf schützte, legten die Wachen mit ihren Stiefeln nach.
Von den anderen Gefangenen kam lauter Protest, aber Hawkwood war zuerst da. Er ergriff den ersten Wärter beim Kragen und am Gürtel und zerrte ihn von Lasseur fort. Während sein Kumpel zurückgerissen wurde, drehte sich der zweite Wärter mit erhobenem Gummiknüppel um, und Hawkwood trat mit dem Stiefelabsatz gegen sein vorgestrecktes Knie. Zwar trat er nicht so fest zu, wie er es hätte tun können, aber es war noch immer fest genug, dass der Wärter aufheulte und sich vor Schmerz krümmte.
Inzwischen hatte der erste Wärter sein Gleichgewicht wieder gefunden. Mit wütendem Aufschrei schwang er den Knüppel in Richtung Hawkwoods Kopf. Aber er hatte nicht an Lasseur gedacht. Der war wieder auf den Füßen, und als der Knüppel durch die Luft sauste, packte Lasseur den Wärter am Handgelenk, entwand ihm den Gummiknüppel und rammte ihm den Ellbogen in die Magengrube.
Völlig überrascht von der Geschwindigkeit, mit der Hawkwood angegriffen hatte, kamen endlich weitere Wärter mit lautem Geschrei zu Hilfe. Vier von ihnen schafften es schließlich, Hawkwood und Lasseur zu überwältigen und sie in eine Zelle zu bugsieren.
Das Zuschlagen der Tür und das knirschende Geräusch des Schlüssels hatte so endgültig geklungen wie das Schließen eines Sargdeckels.
Nachdem die Tür zugeschlagen war, nahm Lasseur als Erstes eine neue Zigarre aus der Jackentasche, steckte sie zwischen die Lippen und fragte Hawkwood, ob er ein Feuerzeug besäße. Hawkwood konnte nicht helfen. Daraufhin hatte Lasseur philosophisch mit den Schultern gezuckt, die Zigarre wieder in der Jacke verstaut und Hawkwood die Hand hingestreckt: »Captain Paul Lasseur zu Ihren Diensten.« Dann hatte er gegrinst und vorsichtig seine Rippen befühlt. »Tja, das war eine Möglichkeit, eine Zelle für uns allein zu bekommen.«
Hawkwood hätte nicht geglaubt, dass es so einfach sein würde.
Lasseur hatte seine unbekümmerte Fassade bis zu dem Moment aufrechthalten können, als er mit ansehen musste, wie das Boot mit den hilflosen Männern vom Schiffsrumpf weggestoßen wurde.
Überall waren Neuankömmlinge damit beschäftigt, sich Schlafplätze zu suchen. Angesichts dieser Invasion ihres Wohnbereichs hatten die meisten der etablierten Häftlinge ihre Arbeit unterbrochen, um die Neuen kritisch zu mustern. Die Stimmung schien jedoch merkwürdig gedrückt. Hawkwood vermutete, die Gefangenen würden es wahrscheinlich übelnehmen, dass ihr ohnehin knapper Raum zum Leben durch sie noch weiter verkleinert wurde.
Zu der Gruppe der neu Angekommenen gehörte auch der Junge. Er stand allein da, beladen mit Hängematte, Matratze und Decke und völlig verwirrt von dem, was um ihn vorging; dennoch war er einer der wenigen, die noch Glück hatten, denn er war klein genug, um hier aufrecht stehen zu können. Er wirkte wie ein winziges Boot, das von den Wellen hin und her geworfen wurde, als er von den Männern, die sich, ohne auf ihn zu achten, an ihm vorbeidrängten, bald dahin, bald dorthin geschubst wurde.
Der Junge drehte sich um. Einer der Gefangenen, ein schmächtiger, weichlicher Mann mit schütterem Haar und spitzem Haaransatz - ein altgedienter Insasse hier, wie man aus dem Zustand seiner gelben Kluft schließen konnte -, hatte sich zu ihm heruntergebeugt und ihm die rechte Hand auf die Schulter gelegt.
Hawkwood beobachtete die beiden und sah eine Spur von Unsicherheit auf dem Gesicht des Jungen. Der Junge schüttelte den Kopf. Der Mann sagte wieder etwas, es sah aus, als kümmere er sich fürsorglich um ihn. Der Junge versuchte jetzt, sich der Berührung des Mannes zu entwinden, aber dieser hielt ihn am Jackenärmel fest. Die Hand auf der Schulter wanderte nach unten und fing an, den Rücken des Jungen mit zärtlich kreisenden Bewegungen zu streicheln. Der Junge wirkte wie erstarrt. Hawkwood näherte sich ihnen.
»Nein«, sagte Lasseur leise, »das mache ich.«
Hawkwood sah zu, wie Lasseur sich geduckt zwischen den hängenden Seesäcken seinen Weg bahnte. Er sah, wie Lasseur dem Mann die Hand auf die Schulter legte, sich vorbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Der Mann antwortete etwas. Lasseur sprach wieder, und das Lächeln auf dem Gesicht des anderen erstarb. Dann hob er die Hände und trat den Rückzug an. Lasseur fasste den Jungen nicht an, aber er hockte sich hin und sprach mit ihm.
Neben Hawkwoods Ohr sagte jemand leise: »Okay, es ist alles geklärt; ein Zimmer mit Aussicht für Sie beide.« Murat sah sich suchend um. »Wo ist Ihr Freund?«
»Hier«, sagte Lasseur hinter ihnen. Der Junge stand neben ihm und umklammerte immer noch sein Bettzeug. »Das ist Lucien. Lucien, sag Captain Hooper Guten Tag, und auch unserem Dolmetscher, Leutnant … Entschuldigung, ich weiß Ihren Vornamen nicht.«
»Auguste«, sagte Murat.
»Leutnant Auguste Murat«, beendete Lasseur seine Aufforderung. Er sah Murat unmissverständlich an. »Ich möchte auch für diesen Jungen einen Platz.«
Murat zog die Brauen hoch. Er schüttelte den Kopf. »Ich bedaure, aber das wird nicht möglich sein.«
»Dann machen Sie es möglich«, sagte Lasseur.
»Es ist kein Platz da, Captain«, protestierte Murat.
»Es gibt immer Platz«, sagte Lasseur.
Einen Moment schien Murat von Lasseurs aggressivem Ton eingeschüchtert. Er starrte hinunter auf den Jungen mit dem kleinen, blassen Gesicht, dann sah er Lasseur berechnend an. »Das könnte teuer werden.«
»Sie überraschen mich«, sagte Lasseur.
Murats Brauen zogen sich zusammen, als wisse er nicht, wie er auf diese Bissigkeit Lasseurs reagieren sollte. Dann entschied er, es sei wohl das Beste, ihnen zu sagen, sie sollten warten. Er würde wiederkommen.
Hawkwood und Lasseur sahen ihm nach.
»Ich habe einen Sohn«, sagte Lasseur. Er wurde nicht ausführlicher, sondern sah den Jungen an. »Wie alt bist du, mein Junge?«
Der Junge umklammerte sein Bettenbündel noch fester. Mit unsicherer Stimme sagte er: »Zehn, Sir.«
»Aha, zehn also. Nun, bleib immer hübsch in unserer Nähe, dann schaffst du es vielleicht auch, elf zu werden.«
Murat tauchte wieder auf, er sah ernst aus und winkte mit gebogenem Finger. »Kommen Sie mit.«
Die Köpfe gesenkt, stiegen die Männer und der Junge über und um die Menschen herum, die überall lagen, und folgten dem Dolmetscher nach Steuerbord.
»Sie haben Glück«, sagte Murat über seine Schulter hinweg nach hinten, »hier ist ein weiterer Platz frei geworden. Der letzte Besitzer braucht ihn nicht mehr.«
»Das ist wirklich ein Glücksfall«, sagte Lasseur. Er tauschte einen Blick mit Hawkwood und kniff ein Auge zu. »Und wie kommt das?«
»Er ist tot.«
Lasseur blieb abrupt stehen.
Murat hielt beschwörend die Hände hoch. »Natürliche Ursache, Captain, das schwöre ich Ihnen beim Leben meiner Mutter.«
Lasseur war immer noch skeptisch.
»Es war das Fieber. Man sagt, es ist die Luft, die vom Marschland kommt.« Mit dem Daumen deutete Murat auf die vergitterten Geschützöffnungen. »Es kommt von beiden Seiten des Ufers. Davon sterben die meisten, und von der Schwindsucht. So ist das hier auf den Schiffen. Man verfault von innen nach außen.«
Hawkwood sah, dass die Gefangenen in der Nähe der Geschützöffnungen das Licht nutzten, um zu lesen und zu schreiben, wobei sie die Bank als Tisch benutzten. Manche sprachen beim Schreiben mit ihren Gefährten. Im Vorbeigehen stellte er fest, dass hier ein Unterricht stattfand. Er sah über eine der gebeugten Gestalten hinweg, aus den Zeichnungen und der schwer zu entziffernden Schrift schloss er, dass es sich hier wahrscheinlich um Mathematik handelte.
»Es ist das Beste, sich zu beschäftigen«, unterbrach Murat Hawkwoods Gedanken. »Sonst dreht man durch. Viele sind hier schon verrückt geworden.« Der Leutnant deutete mit dem Finger. »Bitte schön, meine Herren. Willkommen im neuen Heim.«
Verglichen mit dem Platz, den sie gerade verlassen hatten, war dies der Gipfel des Luxus. Hawkwood fragte sich, wie Murat es wohl fertiggebracht hatte, die früheren Besitzer zu veranlassen, diese Plätze aufzugeben. Es schien unmöglich, dass dies jemand freiwillig tun würde. Vielleicht waren die anderen auch tot.
Sie waren es nicht, wie Murat ihnen versicherte. »Es ist nur so, dass ihnen etwas zu essen wichtiger ist als die Aussicht. Es würde Ihnen genauso gehen, wenn Sie eine Woche nichts Vernünftiges zu essen gehabt hätten«, sagte Murat, indem er das Geld einsteckte. »Das werden Sie noch früh genug lernen. An Ihrer Stelle würde ich gut auf meinen Geldbeutel aufpassen. Geben Sie nichts für Firlefanz aus. Der Preis, den sie gerade für Ihren Schlafplatz bezahlt haben, reicht für drei Wochen Verpflegung. Nicht dass man hier etwas bekäme, das man essen wollte. Hier gibt es Leute, die halten den Tod durch das Fieber für eine barmherzige Erlösung. Übrigens, wenn Sie sich etwas verdienen wollen, dann können Sie auch Ihren Platz auf der Bank vermieten.«
»Wusste ich doch, dass man sich auf Sie verlassen kann«, sagte Lasseur. »Ich hatte gleich dieses Gefühl im Bauch.«
Der Dolmetscher erlaubte sich ein kleines Lächeln. Er hatte ebenmäßige Zähne, aber in der Dunkelheit hatten sie die Farbe von feuchtem Pergament. »Vielen Dank, Captain. Und gestatten Sie mir die Bemerkung, dass mir das Geschäft mit Ihnen ein Vergnügen war.«
Murat drehte sich um. »Und mit Ihnen ebenso, Captain Hooper. Es ist mir eine Freude, hier auf einen Amerikaner zu treffen. Ich habe Ihr Land schon immer bewundert. Also, wenn Sie sonst noch etwas brauchen, zögern Sie nicht. Sie werden bald merken, ich bin Ihr Geschäftspartner. Wenn Sie etwas kaufen möchten, kommen Sie zu Murat. Haben Sie etwas zu verkaufen, kommen Sie ebenfalls zu Murat. Sie werden sehen, meine Geschäftsbedingungen sind günstig.«
»Sie machen der freien Marktwirtschaft alle Ehre, Leutnant«, sagte Lasseur.
Murat grinste verschwörerisch. »Sie werden gut hier reinpassen, Captain.« Der Dolmetscher salutierte scherzhaft. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, meine Herren.« Damit machte er kehrt und verschwand. Um Geld auszuzahlen, dachte Hawkwood, abzüglich seiner Provision natürlich.
»Ich bin überzeugt, er hat uns gerade das Fell über die Ohren gezogen«, sagte Lasseur aufgeräumt, dann zuckte er die Schultern. »Aber er hat es gut gemacht. Ich sehe, wir werden Leutnant Murat im Auge behalten müssen. Hatten Sie jemals etwas mit seinem Vetter zu tun?«
Hawkwood schüttelte den Kopf und sagte trocken: »Werde ich wahrscheinlich auch nicht, denn ich bin Amerikaner und er der König von Neapel.«
»Ach, das vergesse ich immer, Ihr Französisch ist so gut. Aber Murats Vetter hat doch in Spanien gekämpft.«
»Ich weiß«, sagte Hawkwood. »Und Ihre Truppen sind seitdem damit beschäftigt, den verdammten Schlamassel wieder in Ordnung zu bringen.«
Lasseur schien diese Antwort zu überraschen. Dann nickte er verständnisvoll. »Ah, ja, der Aufstand.«
Das hatte sich’08 ereignet. Als Antwort auf Bonapartes Entführung der spanischen Königsfamilie, mit der er Spanien erpressen wollte, ein Satellit Frankreichs zu werden, hatten die Spanier die französische Garnison in Madrid überfallen. Die Rache der Truppen unter dem Kommando des schillernden Joachim Murat war schnell und brutal gewesen und hatte landesweit zu Aufständen gegen die Besatzer geführt, die mit Unterstützung der Briten immer noch andauerten.
Lasseur seufzte. »Könige und Generäle haben viel zu verantworten.«
»Kaiser und Präsidenten ebenfalls«, sagte Hawkwood.
Lasseur lachte leise.
Der Junge ging zur Geschützöffnung und sah durch das Gitter, Hawkwood trat hinter ihn. Über die Schulter des Jungen hinweg sah er Schiffe, die vor Anker lagen, dahinter die flache, konturlose Küstenlinie und in der Entfernung einige unbekannte Gebäude mit graublauen Dächern. Er hörte den gleichmäßigen Tritt von Stiefeln auf Metall. Den Steg draußen hatte er völlig vergessen. Er führte direkt vor der Geschützöffnung vorbei. Er wartete, bis der Schatten der Wache sich entfernt hatte, dann packte er das Gitter und versuchte daran zu rütteln. Es bewegte sich nicht. Die Stäbe waren zwei Zoll breit und saßen bombenfest.
»Also, ich glaube nicht, dass wir uns den Weg in die Freiheit sägen können«, sagte Lasseur und fuhr prüfend mit der Hand über die Stäbe.
»Sie wollen flüchten?«, fragte Hawkwood.
»Was meinen Sie denn, warum ich niemals Urlaub auf Ehrenwort beantrage?«, erwiderte Lasseur. »Sie nehmen doch nicht an, dass ich wortbrüchig werden wollte, oder?« Der Franzose grinste, und einen Augenblick lang sah man wieder den Mann, der in der Gefängniszelle von Maidstone nach einer Möglichkeit gesucht hatte, seine Zigarre anzuzünden. Prüfend sah er Hawkwood an.
»Ich denke noch immer über meine Optionen nach«, sagte Hawkwood.
Lasseur lachte leise.
Die Ironie war, dass Lasseur für einen Hafturlaub ohnehin nicht berücksichtigt worden wäre, selbst wenn er wegen seiner früheren Ausbruchsversuche nicht bereits als potenzieller Flüchtling bekannt gewesen wäre.
Es waren äußerst strenge Gesetze, nach denen Urlaub auf Ehrenwort erteilt wurde, der einen Offizier berechtigte, außerhalb des Gefängnisses zu wohnen, zu dem er gehörte. Dazu gehörte, dass man über eine Unterkunft in der betreffenden Stadt verfügte, was ein Zimmer bei einer einheimischen Familie sein konnte, oder, wenn man über die entsprechenden Mittel verfügte, in einem Gasthof oder einer Pension. Im Gegenzug gab der Offizier sein Ehrenwort, dass er seine Ausgangssperre beachten, innerhalb der Stadtgrenzen bleiben und keinen Fluchtversuch unternehmen würde. Die Strafe für eine Übertretung war die sofortige Rückkehr in eine Gefängniszelle.
Für Leute wie Lasseur waren die Auflagen noch strenger. Für den Offizier eines Kaperschiffes hing der Hafturlaub von der Größe des Schiffes ab, auf dem er gefangen genommen wurde. Wenn das Schiff weniger als 80 Tonnen und weniger als vierzehn Kanonen mit einem Kaliber von mindestens vier Pfund an Bord hatte, wäre er kein Kandidat für Urlaub auf Ehrenwort. Das Schiff, das Lasseur kommandierte, hatte 125 Tonnen und war mit Kanonen vom Kaliber sechs Pfund bestückt, aber leider war er nicht auf seinem eigenen Schiff gefangen genommen worden.
Lasseurs eigenes Schiff, die Scorpion, war ein Segelschoner mit zehn Geschützen, und seine Augen leuchteten, wenn er von ihr sprach.
»Sie ist vielleicht nicht das größte Schiff auf See, aber sie ist schnell wie der Wind, ihr Stachel ist tödlich und sie gehört mir allein.« Lasseur lächelte wehmütig. »Und wenn ich sie jetzt unter mir hätte, würden wir uns hier nicht unterhalten.«
Die Scorpion lag im Dock von Dünkirchen zur Reparatur, nachdem sie mit einem fünftklassigen britischen Schiff, das auf Blockadekontrolle war, eine Meinungsverschiedenheit gehabt hatte. Dieses eine Mal war die Scorpion als Ziel der britischen Kanoniere nicht schnell genug gewesen, aber mithilfe einer günstigen Nebelbank war es ihr gelungen, den Verfolgern zu entkommen und den Heimathafen zu erreichen. Während er auf die Reparatur wartete, hatte Lasseur sich überreden lassen, entlang der nordfranzösischen Küste Depeschen zu transportieren. Sein Transportmittel war eine zweimastige Caique gewesen, oder - wie Lasseur sich ausdrückte - ein schwimmendes Stück Exkrement, und war der britischen Schlupp, die aus dem Nichts aufgetaucht war, nicht gewachsen gewesen. Mit einer Salve aus ihren Zwölfpfündern hatten sie den Großmast und das Ruder der Caique zu Kleinholz zerlegt und die Besatzung samt ihrem temporären Captain gefangen genommen. Lasseur hatte gesagt, er wisse nicht, was ihm peinlicher sei: seine Gefangennahme oder der Spott, den er von der Besatzung der Scorpion zu erwarten hatte, wenn er wieder mit ihr vereint sein würde: »Sie werden mir das Leben zur Hölle machen.«
Als Hawkwood andeutete, dass dieses Wiedersehen doch wahrscheinlich in ziemlich weiter Ferne liege, hatte Lasseur ihn mit entschlossenem Gesicht angesehen. »Meine Leute wissen, dass ich hier gefangen bin. Wenn ich abgehauen bin, brauche ich sie nur zu benachrichtigen und sie werden mich holen.«
Während Lasseur die Stärke der Metallstäbe prüfte, musste Hawkwood an diese Worte denken. Er konnte nicht umhin, die Zuversicht dieses Mannes zu bewundern, und dennoch hielt er den Privateer für eine Spur zu optimistisch. Zu gern hätte er gewusst, ob Lasseur, jetzt, wo er die Realität seiner Gefangenschaft kennen gelernt hatte, insgeheim nicht derselben Ansicht war. Wenn das der Fall war, ließ er sich diese allerdings nicht anmerken.
Hawkwoods Überlegungen wurden von einem gebrüllten Kommando unterbrochen, gefolgt von lautem Stiefelpoltern auf der Treppe. Die Gefangenen, die ringsum an den Wänden saßen, ließen eilig Papier und Schreibzeug verschwinden. Sie erhoben sich und versammelten sich in der Mitte des Decks. Obwohl sie nicht wussten, was das zu bedeuten hatte, folgten Hawkwood, Lasseur und der Junge ihrem Beispiel, als auch schon ein Dutzend Aufseher mit Laternen und Eisenstangen, angeführt von einem stiernackigen Korporal, aufs Deck gepoltert kamen.