21

»Rasier dir bloß den Bart ab«, sagte Jago. »Der macht dich zehn Jahre älter.«

Sie standen draußen und sahen, dass die Abenddämmerung begonnen hatte. Sie waren mehr als drei Stunden in dem Keller gewesen. Alle vier mussten irgendwann eingeschlafen sein. Der Rauch war nicht in den Kellerraum gedrungen, denn die Außenwand der Vorratskammer war eingestürzt, so dass der Rauch sich verflüchtigen konnte.

Der Rest des Hauses war ebenfalls eine Ruine; eine Hülle aus geschwärzten Ziegeln und verkohlten Balken. Von den Möbeln war nichts übrig geblieben, das meiste war zu Holzkohle und Asche verbrannt. Der Rauchgestank war überwältigend.

Jess Flynn kniete auf dem Boden und stützte Tom Gadd, der aus einer Feldflasche trank, die Jago im Bach gefüllt hatte. Der alte Mann war sehr durstig. Seine Augen waren offen und er blickte umher. Jetzt, wo er an der frischen Luft war, wirkte er munterer. Lasseur saß neben ihr, er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und betrachtete die Verwüstung. Neben ihnen lag der Hund, den Kopf auf den Pfoten. Er sah aus, als schliefe er.

Jago wandte sich an die beiden Männer hinter ihm.

Hawkwood sah einen Mann von ähnlichem Körperbau wie Jago; untersetzt und stämmig, mit breitem Gesicht und den Händen eines Bauern. Der zweite Mann war jünger. Schlank, aber muskulös, mit kräftigen, klaren Gesichtszügen und dunklen Augen. Er betrachtete Hawkwood kühl und abschätzend.

»Erinnerst du dich an Micah?«, fragte Jago.

»Natürlich«, sagte Hawkwood.

Micah nickte. »Captain.«

»Und das hier ist Jethro Garvey.« Jago deutete mit dem Kopf auf den ersten Mann.

»Tag, Jethro«, sagte Hawkwood.

»Seht euch mal ein bisschen um«, sagte Jago zu den beiden.

Die beiden Männer entfernten sich.

»Wer ist Garvey?«, fragte Hawkwood.

Jago dachte einen Augenblick nach. »Der ist sozusagen mein Vertreter in dieser Gegend.«

»Wie zum Teufel hast du mich gefunden?« Hawkwood konnte es noch immer nicht glauben, dass es wirklich Jago war, der vor ihm stand, und kein Phantom oder weiteres Traumgespinst, wie er sie im Keller gesehen hatte.

»Dein Boss machte sich Sorgen, als er nichts mehr von dir hörte. Er ließ mich kommen. Er denkt offenbar, dass du allein nicht klarkommst.«

»Er tat was?«

»Erzählte mir von deinem Auftrag. Euer Mann Ludd schickte einen Bericht nach Bow Street, dass man dich und den Captain möglicherweise sah, wie ihr in Warden in ein Boot gestiegen seid. Ich dachte, das könnte ein ebenso guter Anfang sein wie jeder andere. Ich hatte ein ruhiges Gespräch mit dem Wirt dort, Abraham heißt er. Sehr hilfsbereiter Mann. Ist anscheinend eine häufig benutzte Route für geflohene Gefangene - und nicht nur Ausländer. Jedenfalls bestätigte er, dass ein Amerikaner und ein französischer Offizier in der bewussten Nacht in einem Boot nach Seasalter gefahren sind.«

Hawkwood überlegte, welcher Art dieses »ruhige Gespräch« wohl gewesen sein mochte, das Jago mit dem Wirt geführt hatte.

»Aber wie hast du denn hierhergefunden?«, fragte Hawkwood.

»Kennst du einen Mann namens Higgs?«

Jess Flynn sah hoch.

»Der Totengräber«, sagte Hawkwood.

Jago nickte. »Genau der. Abraham sagte, das sei der nächste in der Reihe. Ich stöberte ihn in seinem Pub auf; dem Blind Hog - eine ziemlich miese Spelunke. Zuerst wollte er nicht so recht raus mit der Sprache, aber es ist schon beachtlich, wie ein paar Gläser Grog die Zunge lösen, wenn er erstmal in der richtigen Stimmung ist.«

Hawkwood entnahm Jagos Gesichtsausdruck, dass sich die »richtige Stimmung« vielleicht erst eingestellt hatte, nachdem Jago Higgs’ Kronjuwelen etwas fester gedrückt hatte, oder dass die Drohung geholfen hatte, ihm seine restlichen Finger auch noch abzuschneiden.

»Unser Asa«, sagte Jago, »erzählte uns allen möglichen Klatsch, wie er den Yankee und den Franzosen erst hierhergebracht hatte und anschließend zu Ezekiel Morgans Anwesen. Und, was noch viel interessanter war, dass Morgan jetzt sogar eine Belohnung ausgesetzt hatte für den Yankee und seinen Kumpel, weil er eigentlich gar kein Yankee war, sondern’n verdammter Runner!

Dann erzählte er mir von’nem Trinkgelage, das er mit’nem Arschkriecher namens Tyler hatte. Anscheinend war Tyler ganz Ohr, als er hörte, dass Morgan dem Runner und dem Franzosen ans Leder wollte. Faselte davon, dass es dem Froschfresser ganz recht geschieht, weil er sich an unsere Frauen ranmacht.«

Lasseur und Jess Flynn sahen sich an.

»Higgs dachte, Tyler könnte eine bestimmte Frau gemeint haben, weil es doch die Farm seiner Schwägerin war, auf der die beiden untergebracht waren. Er sagte, als er euch beide abholte, hatte er den Eindruck, dass sich die Witwe und der Captain inzwischen ein bisschen nähergekommen waren, als es zwischen Wirtin und Untermieter üblich war, wenn du verstehst, was ich meine. Und das brachte mich auf einen Gedanken: Wenn ich auf der Flucht wäre und mich irgendwo verstecken wollte, wohin würde ich gehen? Dahin, wo ich ein freundliches Gesicht antreffen würde, genau. Also dachte ich, dass ich Mrs. Flynns Farm vielleicht mal einen Besuch abstatten sollte, auch wenn’s nicht mehr bringen würde als nur zusätzliche Information. Wie sich’s herausstellte, war es’ne gute Idee. Aber wenn wir den Hund nicht gehört hätten, hätten wir euch vielleicht nicht gefunden. Wir wollten gerade wieder gehen.«

Also hatte Higgs auch gesehen, wie Lasseur and Jess Flynn sich beim Abschied berührt hatten, dachte Hawkwood. Eine so unbedeutende Geste, die zu unvorstellbaren Konsequenzen geführt hatte.

»Nathaniel …«

Jago drehte sich um. Es war Garvey. Er war allein, sein Gesicht war düster. »Komm mal mit, ich glaube, du solltest dir das ansehen.«

Jago, Hawkwood und Lasseur ließen Jess bei Tom Gadd und gingen mit Garvey zur Scheune.

Micah hatte eine Laterne gefunden. Er hielt sie hoch, so dass alle sehen konnten.

Die Leichen waren mit Stroh bedeckt. Es waren sechs; drei lagen mit dem Gesicht nach oben, die anderen lagen auf dem Bauch.

»Das ist Tyler«, sagte Hawkwood und deutete auf eine der Leichen.

Tylers Mund war noch immer weit offen, genau wie seine Augen; ein Mann, der vom Tod überrascht worden war. Beim Licht der Laterne hatte sein Gesicht die Farbe von ranzigem Käse.

»Kennst du die, Jethro?«, fragte Jago.

Garvey sah hinunter auf die Leichen und nickte grimmig.

Hawkwood fragte sich, was Jago mit »mein Vertreter in dieser Gegend« gemeint hatte.

»Ich nehme an, das geht alles auf euer Konto«, sagte Jago. »Willst du mir etwas darüber erzählen?«

»Später«, sagte Hawkwood.

»Sie haben die Pferde auch dagelassen«, sagte Lasseur. Er stand vor dem Scheunentor und sah hinüber zur Koppel.

»Warum haben sie das wohl gemacht?«, fragte Jago.

»Weil sie es eilig hatten«, sagte Hawkwood. »Wahrscheinlich wollten sie später zurückkommen und sie holen.«

»Wer ist ›sie‹?«, fragte Jago.

»Ein Mann namens Pepper und drei Überlebende seiner Bande.«

Garvey sah ihn an.

Im Wald schrie eine Eule.

Jago sagte: »Meinst du Cephus Pepper?«

»Du kennst ihn?«

»Ich habe von ihm gehört. Warum sollten die es so eilig haben?«

»Sie hatten einen Termin.«

»Mit wem?«

»Mit Morgan«, sagte Hawkwood.

»Gibt’s da noch was, was du mir noch nicht erzählt hast?«, fragte Jago.

»Sehr viel, aber jetzt ist keine Zeit dazu.«

»Warum nicht?«

»Ich habe auch einen Termin.«

»Lass mich raten«, sagte Jago. »Am selben Ort?«

»Ja.«

»Und wo ist das?«

»In Deal.«

»Und ich vermute, das kann nicht warten?«

»Nein.«

»Brauchst du Hilfe?«

»Kann schon sein«, sagte Hawkwood.

»Mein Gott«, Jago schüttelte den Kopf. »Die können mich wirklich bald mit auf ihre Gehaltsliste setzen. Micah, bring die Pferde her.«

»Jemand muss Tom Gadd zum Arzt bringen«, sagte Hawkwood.

»Das macht Jethro. Hast du gehört, Jethro? Ich habe auf der anderen Seite einen Wagen gesehen. Nimm die Laterne und spann an. Dann hol Mrs. Flynn und den alten Mann und fahre sie, wohin sie möchte.«

Garvey nickte. Er nahm die Laterne und ging.

»Er ist’n guter Kerl.« Jago sah Hawkwood an. »Es war mir ernst, als ich sagte, du siehst aus wie’ne aufgewärmte Leiche. Hältst du das auch durch? Es ist ein ziemlicher Weg.«

»Kennst du die Straße?«

»Natürlich kenn ich die verdammte Straße!«

Jago war in einem kleinen Dorf im Marschland von Kent aufgewachsen. Als junger Mann hatte er sich im ganzen Land in verschiedenen Berufen versucht - manche legal, andere von eher zweifelhafter Art -, ehe er schließlich auf dem Jahrmarkt von Maidstone für eine Prämie von zwei Guineen bei einem Rekrutierungsoffizier unterschrieben hatte.

»Wie lange?«

Jago dachte nach. »Kommt drauf an, wie schnell du die Pferde laufen lässt. Der Himmel ist klar, und wir haben Mondlicht. Am besten nehmen wir die Straße nach Dover bis Green Street. Dann über Land durch Eythorne. Ein Spaziergang wird das nicht. Ich schätze, es wird’ne gute Weile dauern.«

»Die Pferde, die Peppers Männer hiergelassen haben, dürften ausgeruht sein.«

»Das ist richtig. Aber wir werden trotzdem einen Teil des Weges im Schritt reiten müssen.«

»Ich gehe und suche die besten aus«, sagte Lasseur.

Jago sah Hawkwood an und zog eine Augenbraue hoch.

»Es ist besser, wenn wir ihn auf unserer Seite haben«, sagte Hawkwood.

»Wie du meinst«, sagte Jago. Er sah hinter Lasseur her, der das Tor zur Koppel öffnete.

»Er ist ein guter Kerl«, sagte Hawkwood.

»Du meinst, für einen Franzosen?«

Zum ersten Mal seit langer Zeit musste Hawkwood lächeln.

Micah kam mit seinem und Jagos Pferd zurück. Es gab keine Diskussion darüber, ob Micah mit ihnen reiten würde. Hawkwood hatte schon früher mit Jagos Leutnant zu tun gehabt und war von der Besonnenheit und Effizienz des Mannes beeindruckt gewesen.

Jago und Micah behielten ihre Pferde. Lasseur hatte die besten von Peppers Tieren ausgesucht: eine Fuchsstute und einen schwarzen Wallach.

Inzwischen hatte Garvey Jess Flynns kleineres Pferd aus dem Stall geholt und vor den Wagen gespannt, sein eigenes Pferd band er hinten an. Er saß auf dem Bock und hielt die Zügel. Gadd lag hinten im Wagen, bis zum Kinn mit einer Pferdedecke zugedeckt. Der Hund lag neben ihm, den Kopf auf seinen Oberschenkeln.

Hawkwood ging zum Wagen und nahm Gadds Hand. »Das hast du gut gemacht, Tom. Du hast uns sehr geholfen, das werde ich dir nie vergessen.«

»Ich werd Sie auch nicht so schnell vergessen, Capt’n.« Gadd lächelte schwach, aber in seinen Augen war schon wieder etwas von dem alten Funkeln.

»Zahlen Sie’s ihnen jetzt heim?«

»Darauf können Sie sich verlassen«, sagte Hawkwood.

»Besonders Pepper.«

»Dem besonders.« Hawkwood beugte sich dicht über ihn. »Ich habe noch eine Frage, Tom: Morgan erwähnte ein Schiff, das vor Deal auf ihn warten würde. Haben Sie’ne Ahnung, welches Schiff das sein könnte?«

»Das wird die Sea Witch sein. Die nimmt er für ganz besondere Transporte. Sie ist’n früherer Navykutter, sehr schnell, getakelt wie’n Schoner und pechschwarz gestrichen. Die können Sie nicht übersehen.«

Bei Nacht wahrscheinlich doch, dachte Hawkwood. Er sah zum Himmel.

»Klingt, als ob’s das sein könnte. Danke, Tom. Und passen Sie gut auf Jess auf, ja?«

»Mach ich, Cap’n. Und viel Glück auch.«

Hawkwood schwang sich auf die Stute. Die anderen saßen bereits im Sattel. Lasseur stand bei Jess Flynn.

»Übrigens«, sagte Jago, »Ich dachte, vielleicht kannst du das gebrauchen …« Er griff in seine Satteltasche und zog Hawkwoods Schlagstock heraus, den Kommandostab, in dem sich seine Ermächtigung als Runner befand.

»Wo zum Teufel hast du den her?«

»Frag lieber nicht«, sagte Jago und kniff ein Auge zu.

Hawkwood nahm den Stab, es war ein gutes Gefühl, ihn in der Hand zu spüren, fast als begrüßte man einen alten Freund. Er sah zu Lasseur hinüber. »Wir müssen gehen, Captain.«

Er sah, wie Lasseur und die Frau sich umarmten. Lasseur flüsterte ihr etwas ins Ohr und wartete, bis sie neben Gadd auf den Wagen gestiegen war. Sie fuhren los, und sie hob die Hand zu einem stummen Lebewohl. Lasseur sah ihr einen Augenblick nach, dann saß er auf.

Während der Wagen langsam die Straße entlangrumpelte, wendeten Hawkwood, Jago, Micah und Lasseur ihre Pferde und ritten in Richtung Deal.


Es war nach Mitternacht, als sie endlich ankamen.

Es war ein anstrengender Ritt gewesen. Sie hatten in Blean südlich der Kirche die Straße nach Dover genommen und waren die zehn Meilen bis Dean Hill gut vorangekommen. Die Straße war gut, und es war eine gerade Strecke, obwohl sie ihre Geschwindigkeit in Canterbury drosseln mussten und teilweise im Schritt durch die Stadt ritten. Jago hatte die Gelegenheit benutzt, um Hawkwood zu fragen, was eigentlich los sei, und Hawkwood hatte ihn informiert.

»Man kann dich auch nicht eine verdammte Minute aus den Augen lassen, stimmt’s?«, war Jagos Kommentar gewesen.

Sie waren weiter nach Süden und durch die Barham Downs geritten. Es war zu dunkel und zu spät, um ein Signal mit der Klappenanlage zu schicken, doch Hawkwood hatte beim Vorbeireiten die Signalstation gesehen, die sich oben auf dem Berg gegen den Nachthimmel abhob.

Bis Wooten lagen sie gut in der Zeit, aber dann ging es wesentlich langsamer voran. Die Straße war nicht viel mehr als ein schmaler, gewundener Weg, kaum breit genug für einen Wagen, und sie mussten einzeln hintereinanderreiten. Ab und zu ging der Weg auch querfeldein über mondbeschienene Felder und Wiesen. Hawkwood meinte, dass es schneller wäre, bis Dover auf der Straße zu bleiben und dann die Hauptstraße nach Norden zu nehmen, aber Jago bestand darauf, dass der Weg, den er gewählt hatte, fünf Meilen kürzer sei.

Es war weit nach Mitternacht, als sie durch das westliche Zolltor von Deal in die Stadt ritten, und sowohl die Männer als auch ihre Pferde waren in Schweiß gebadet. Die Stadt war hell erleuchtet. Die fieberhafte Unruhe überall deutete darauf hin, dass sie zu spät kamen, doch eigentlich hatte Hawkwood auch mit nichts anderem gerechnet, seit sie die ausgebrannte Ruine des Farmhauses verlassen hatten.

Morgan hatte Rache genommen, genau wie er es angekündigt hatte. Und dabei hatte er eine Spur von Tod und Zerstörung hinterlassen.

Der Überfall war nicht gerade still und heimlich erfolgt. Wenn es Morgans Absicht gewesen war, größtmögliche Panik und Verwirrung zu stiften, dann war es ihm auf bemerkenswerte Weise gelungen. Der Angriff auf die Admiralität war von mehr als zwei Dutzend Männern ausgeführt worden, die mit sechs Wagen kamen. Das elegante zweistöckige Gebäude mit den großen Fenstern, die auf beiden Seiten eines von Säulen getragenen Eingangs lagen, sah nicht aus wie ein Haus, in dem man Goldbarren aufbewahren würde. Rechts unter dem Säulenvorbau stand ein Schilderhäuschen mit einem Wachtposten. Zur Straße hin war das Haus mit zwei schweren Türen verschlossen. Oder besser gesagt, es war verschlossen gewesen. Nach Morgans Angriff hingen sie nur noch in den Angeln, nachdem sie von einer Zwölfpfünder aus der kleinen Kanone getroffen worden waren, die auf den niedrigen Pferdewagen montiert war, der jetzt schräg über die Straße stand.

Diese kleine Kanone war eine wirksame Waffe: ein kurzes, gedrungenes Rohr, das sich für verschiedene Kaliber eignete - von denen die Zwölfpfünder das kleinste war -, aber sie hatte auch ihre Nachteile. Ein Nachteil war, dass sie einen gewaltigen Rückstoß hatte. Das Geschützrohr, das jetzt neben dem Wagen lag, sagte genug.

Die Kanone sowie der Wagen mit den Pferden, die geduldig und immer noch angeschirrt dastanden, wurden jetzt von vier Soldaten bewacht.

»Nathaniel, du und Micah, ihr solltet euch mal mit den Wachen unterhalten«, sagte Hawkwood. »Schaut mal, was ihr in Erfahrung bringen könnt. Captain Lasseur und ich werden dem Admiral unsere Aufwartung machen.«

Jago sah Hawkwood und Lasseur von oben bis unten an. »Wenn er euch nicht schon vorher als Landstreicher festnehmen lässt.«

Nach einem Spießrutenlaufen, bei dem sie neugierig angestarrt wurden, gelang es ihnen mithilfe von Hawkwoods Ermächtigungsurkunde schließlich, in einen großen, kalten Kuppelsaal mit Marmorfußboden vorzudringen, wo ein erschöpfter Leutnant der Armee namens Burden sich als der Offizier vorstellte, dem der Transport des Goldes unterstellt worden war. Er und seine Truppen waren auf der Festung in ihrem Quartier gewesen, als Morgan zuschlug. Konteradmiral Foley war gerade nicht anwesend gewesen, erklärte Burden. Ein Meldereiter war nach Dover geschickt worden, wo Foley an einer Sitzung der Hafenadmiräle teilnahm, um ihn über die Vorkommnisse dieser Nacht zu informieren.

»Wer war dann in der Residenz anwesend?«, fragte Hawkwood.

Er merkte, dass Burden sich noch immer nicht sicher war, wer er eigentlich sei. Die Ermächtigungsurkunde gab ihm das Recht, Fragen zu stellen, was Burden wusste, auch wenn Hawkwood aussehen mochte wie ein Bastard aus der Verbindung einer Bordellmutter mit einem obdachlosen Säufer.

Es waren sechs Personen im Haus gewesen: der Sekretär des Admirals, die Köchin, die Haushälterin und drei bewaffnete Wachen, die sich im Schilderhaus am Eingang abwechselten. Es war Schütze Hobley gewesen, der das Unglück hatte, gerade dort zu stehen, als die Kanonenkugel die Eingangstür traf. Man hatte seine Leiche zwanzig Fuß von der Tür entfernt gefunden, das Gesicht nach unten und schwer verstümmelt. Sie lag noch immer dort und wartete darauf, in die Leichenkammer neben dem Krankenrevier auf der Burg gebracht zu werden, wo die anderen Toten bereits lagen.

Während er erzählte, warf Burden immer wieder verstohlene Blicke in Lasseurs Richtung. Der Franzose hatte bisher nichts gesagt, aber Burdens Neugier war geweckt; vermutlich lag es an dem Spitzbart, mit dem er nicht gerade wie ein Engländer ausah. Und genau wie Hawkwood hatte er blaue Flecken, seine Kleidung war mit Blut verschmiert und er roch stark nach Rauch.

Um Burdens Neugier zu befriedigen, stellte Hawkwood Lasseur mit Namen vor, beschrieb ihn aber als einen Offizier der Bourbonischen Loyalisten mit Sonderauftrag für das Innenministerium. Er sah, dass Burden mit dieser Erklärung nicht ganz zufrieden war, aber damit musste der Leutnant leben.

Burden wandte sich an Lasseur. »Verzeihen Sie, Captain, aber nach allem, was wir heute Nacht erlebt haben, sind meine Leute und ich nicht gerade gut auf Ihre Landsleute zu sprechen.«

»Wovon reden Sie?«, fragte Hawkwood.

Burden sah ihn verwundert an. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie es nicht wissen?«

»Was soll ich wissen?«

»Es war eine französische Bande, die uns überfallen hat.«

Hawkwood war es, als ob ihm kalte Finger über den Rücken fuhren.

Burden erklärte mit einem Seitenblick auf Lasseur, dass die zwei Dutzend Männer, die in die Residenz eingedrungen waren, allesamt französische Infanterieuniformen angehabt hatten.

»Sie haben zwei meiner Männer umgebracht, die mörderischen Hunde«, sagte Burden, der den Schmerz in seiner Stimme nicht mehr unterdrücken konnte.

Außer dem Wachsoldaten war Korporal Jefford getötet worden, der in der Halle postiert gewesen war. Jetzt lag er unter derselben Decke wie Hobley.

Der französische Leutnant hatte Englisch gesprochen und verlangt, alle Anwesenden im Hause sollten sich vor ihm versammeln. Dann hatte er den Schlüssel zum Tresorraum verlangt. Der Sekretär des Admirals, dem während der Abwesenheit seines Chefs der Schlüssel anvertraut war, hatte sich zwar tapfer, aber schließlich doch vergeblich geweigert, ihn herauszugeben. Denn im selben Augenblick hatte einer der Männer des Leutnants, ein kleiner, breitschultriger Sergeant, der etwas älter als seine Kameraden war, den Korporal Jefford erschossen.

Innerhalb von Minuten war der Schlüssel da.

Und dann hatte die Bande angefangen, den Tresorraum auszuräumen.

Es hatte etwas gedauert, bis die Kisten mit den Goldbarren hinausgetragen waren, aber die Franzosen hatten ruhig, schnell und effizient gearbeitet. Der überlebende Wachmann, Schütze Butcher, meinte, es habe so ausgesehen, als machten sie das jeden Tag.

Als die letzte Kiste weg war, hatte der Leutnant die Angestellten des Hauses im Tresorraum eingeschlossen. Dann waren er und seine Leute mit der Beute abgezogen.

»Wo war das Militär?«, fragte Hawkwood. »Was zum Teufel haben Sie gemacht, während all das passiert ist?«

Das Militär, so berichtete Burden verzweifelt, war ausgetrickst worden.

Nach einem Hinweis, dass es an diesem Abend zwei große Schmuggellandungen geben sollte, die Hunderte von Männern und Ponys erforderte - eine im Norden bei den Sandwich Flats, die andere im Süden in der Bucht von Margate -, hatte der Zoll das normale Truppenkontingent der Stadt, das ohnehin nicht sehr groß ist, um Hilfe gebeten. Nur eine Handvoll Soldaten waren in Deal geblieben.

Nun erkannte Hawkwood, wie gut Morgan die Sache eingefädelt hatte. Er hatte offenbar selbst dieses Gerücht in die Welt gesetzt und seine Botschafter angewiesen, es weiterzuverbreiten. Als das Militär dann aus dem Wege war, hatten seine Leute die drei Zugangsstraßen nach Deal abgeriegelt: im Süden die Straße nach Dover, im Westen die Five Bell Lane und im Norden die Mautstraße.

Burden lief rot an. »Und wir waren auf der verdammten Festung gefangen. Wir konnten zwar das Feuer erwidern, aber ich weiß immer noch nicht, ob wir jemanden getroffen haben.«

Die Festung von Deal lag am südlichen Rand der Stadt, in der Nähe der Zollschranke auf der Straße nach Dover. Sie war schon einmal belagert worden, doch das war im Bürgerkrieg gewesen. Seitdem galt sie als uneinnehmbar, und ihre wuchtigen runden Bastionen hatten über der Stadt gewacht, ein Denkmal an die Baukunst der Tudorzeit.

Doch genau wie die kleine Kanone hatte auch die Festung ihre Schwachstellen. Sie war in erster Linie als Verteidigung zum Meer hin gebaut worden, an die Landseite hatte man weniger gedacht. Auch ihre Kanonen waren aufs Meer gerichtet. Die zweite Schwachstelle war, dass sie nur einen Eingang hatte: das Torgebäude.

Man erreichte es über einen schmalen erhöhten Damm, und Morgans Leute hatten diesen Damm in ein Schlachtfeld verwandelt, indem sie ihn gegenüber dem Eingang mit einem weiteren ihrer schweren Wagen blockiert hatten, auf den zwei drehbare Kanonen montiert waren.

Als die Kanone den Schuss auf die Tür der Admiralität abgegeben hatte, war sofort eine Patrouille aus der Festung aufgebrochen, um festzustellen, was dort los war. Die Soldaten waren nur bis zum Damm gekommen, dann hatten Morgans Leute, als französische Infanteriesoldaten verkleidet, das Feuer eröffnet, mit tödlicher Wirkung. Vier Soldaten waren getötet worden, sechs verwundet, und die Truppe war ohnehin nicht sehr groß gewesen.

»Wir kamen nicht ran an die Schweine«, sagte Burden. »Und sie brauchten nichts weiter zu tun, als uns gefangen zu halten. Und durch den Burggraben kamen wir auch nicht raus. Den Hintereingang bewachten sie ebenfalls.«

»Und der Materialhof der Navy, ist dort kein Militär?«

Burden schüttelte den Kopf. Der Hof lag neben der Festung. Für eine Admiralität war er klein, und seine Hauptaufgabe bestand darin, die Schiffe mit Nahrungsmitteln und Bier und Ballast zu versorgen. Er war von hohen Mauern umgeben und hatte nur drei Eingänge, also war es ein Leichtes gewesen, ihn abzuriegeln. Und es war ohnehin kein Militär dort, bis auf zwei Wachen an den Toren.

Als seine Wagenbesatzungen die Stadt praktisch unter Kontrolle hatten, hatten Morgan und seine Leute das Gold direkt hinunter zum Strand gefahren, wo sein Schiff wartete. Mit einer Flotte kleiner Boote hatten sie die Kisten mit den Goldbarren vom Strand hinaus zum Schiff befördert.

»Es hatte die Flagge gehisst«, sagte Burden bedrückt. »In der Dunkelheit dachten wir, es sei eins von uns.«

Mit dem Gold an Bord hatte das Schiff den Anker gelichtet. Morgans Mannschaft war in der Nacht verschwunden. Sie ließen einen leeren Tresorraum und eine Stadt im Schockzustand zurück.

Burden berichtete, dass das alles vor rund zwei Stunden passiert sei.

Morgan hatte das Militär blamiert. Und er hatte es mit einer Präzision gemacht, auf die das Militär stolz gewesen wäre. Selbst bis hin zu der Tatsache, dass sie den Überfall nachts ausgeführt hatten, damit die Telegrafenstation in Deal die nächste Station nicht darüber benachrichtigen konnte, dass die Admiralität angegriffen worden war.

Nun war für Hawkwood der Moment gekommen, wo er die Verzweiflung des Leutnant Burden noch verschlimmern musste.

Es waren keine Franzosen, eröffnete er ihm, und der Mann schien vor ihren Augen um hundert Jahre zu altern.

Hawkwood und Lasseur ließen den völlig geknickten Leutnant in seinem leeren Tresorraum zurück, wo er darüber nachdenken konnte, was von seiner Karriere noch übrig war, und gingen zurück, um sich mit Jago und Micah zu treffen.

»Vielleicht erschießt er sich«, sagte Lasseur. »Es wäre der ehrenhafteste Ausweg.«

»Ich glaube, dass jemand anderes es vielleicht für ihn macht«, sagte Hawkwood.

Draußen wurden die Leichen auf einen Wagen geladen.

Jago deutete mit dem Kopf auf die Soldaten, die die umgestürzte Kanone bewachten. »Am Strand liegen auch Leichen, und der Korporal sagte, dass oben bei der Festung noch mehr liegen«, sagte er, dann sah er Lasseur an. »Es sind Franzosen.« Jago wandte sich wieder an Hawkwood: »Ich dachte, du sagtest, dass Morgan und seine Leute hinter der Sache stecken?«

»Die Uniformen sind zwar französisch«, sagte Hawkwood, »aber es waren Morgans Leute.«

Jago schüttelte den Kopf. »Die Toten, die ich sah, waren bestimmt Franzosen. Sie waren tätowiert. Diesen Adler erkenne ich immer.«

»Du hast sie gesehen?«

»Zum Strand geht’s da lang -« Jago zeigte die Richtung. »Und du wirst dir nicht einmal die Füße nass machen.«

»Zeig sie mir«, sagte Hawkwood.

Die Leichen lagen Seite an Seite, das Gesicht nach oben, auf dem Kiesstrand, bereit zum Abtransport. Im Mondlicht, mit ihren dunklen Uniformjacken, den Tschakos und den schmutzigen Hosen, die Gesichter schon grau und im Tode verzerrt, sahen sie aus wie blutige Stoffpuppen, die die Flut hier angespült hatte.

Le Jeune sah aus, als sei er hundert Jahre alt. Die Tätowierung war etwas unter der Ellenbeuge sichtbar. Die Jacke war zu kurz für ihn gewesen. Der Ärmel hatte sich hochgeschoben. Louis Beaudouin, der neben ihm lag, sah dagegen aus wie zwölf. Souville sah bereits aus wie ein Skelett, und Rousseau war auch nicht ansehnlicher.

Jago hatte von weiteren Leichen gesprochen, die vor der Festung lagen. Hawkwood hätte wetten mögen, um wen es sich dort handelte.

»Er hat sie umgebracht«, keuchte Lasseur. »Er hat sie alle umgebracht.« Der Wind fuhr ihm durchs Haar, während er fassungslos auf die Leichen starrte.

»Sie hatten ihren Zweck erfüllt«, sagte Hawkwood und im selben Moment wünschte er, er hätte es nicht gesagt, obwohl er wusste, dass es die Wahrheit war. Morgan hatte Franzosen in französischen Uniformen benutzt; und wer sie gehört hatte, wie sie sich Befehle zuriefen und sich gegenseitig in ihrer Sprache anfeuerten, für den hätte es keinen Zweifel gegeben, dass eine französische Bande das Gold geraubt hatte.

Und die Toten in französischen Infanterieuniformen verliehen dieser Lüge noch mehr Glaubwürdigkeit. In dem allgemeinen Durcheinander würde man keine Zweifel daran haben, dass Burdens belagerte Truppen es geschafft hatten, einige von ihnen zu töten.

Und so war Morgan imstande, sich unbehelligt davonzumachen.

Früher oder später wäre die Wahrheit ans Licht gekommen. Morgan hielt seine Leute an einer kurzen Leine. Die altgedienten Mitglieder seiner Mannschaft konnten den Mund halten, aber dies hier war eine zu große Sache. Irgendwann würde einer die Geschichte über einem Glas Grog und einer Pfeife Tabak zum Besten geben. Aber dann würde es zu spät sein.

Müde ließ Hawkwood sich auf den Kies fallen und legte die Hände auf die Knie.

Was hatte es alles genützt?

Jago setzte sich neben ihn und seufzte tief. »Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich werde langsam zu alt für diese Hetzerei. Für einen Mann in meinem Alter ist das nicht mehr gesund.«

Hawkwood hörte Rufe hinter sich und das Trampeln von schweren Stiefeln. In Kürze würde das Militär erfahren, dass ihr Gold nicht von Franzosen, sondern von jemandem ganz aus der Nähe gestohlen worden war, und sie würden anfangen, an die Türen zu klopfen.

Inwieweit waren die Bewohner der Stadt in die Sache verwickelt gewesen? Morgan hätte seine Mannschaft und die Waffen - besonders die Kanone - nicht aufstellen können, ohne dass jemand Schmiere stand und ihn unterstützte. Man musste auch die Wagen und die Pferde in Betracht ziehen. Morgan hatte damit geprahlt, dass es keinen Mangel an Leuten gab, die willens waren, ihm zu helfen. Hieß das, dass er sogar eine ganze Stadt für sich gewinnen konnte? Die Bewohner von Deal waren eine eingeschworene Gesellschaft, und sie hatten es mehr als einmal erlebt, dass ihr Lebensunterhalt von der Obrigkeit zunichtegemacht worden war. Sie liebten weder die Regierung noch das Militär, und eine Beteiligung an Morgans Profit würde so manche Familie auf lange Zeit ernähren und ihnen ein Dach über dem Kopf garantieren, und er konnte sich ihrer Loyalität sicher sein. Er hatte doch sogar die verdammten Richter in der Tasche, und mit einer halben Million konnte man sich viel Schutz erkaufen. Die Obrigkeit - und dazu gehörte auch das Militär - würde ganz schön zu tun bekommen.

»Und was jetzt?«, fragte Jago.

Hawkwood sah zurück zur Stadt. Überall wurden Lichter angezündet. Er hörte Rufe und immer wieder das Rennen von schweren Stiefeln.

»Lass uns versuchen, ein Bett zu finden für das, was von der Nacht noch übrig ist. Soll doch jemand anderes sich um diese verdammte Schweinerei hier kümmern.«

»Ich könnte einen Drink gebrauchen«, sagte Jago und stand auf. »Meine Kehle ist so trocken wie die Sahara. Komm, suchen wir uns einen Pub.«

Lasseur stand etwas abseits und sah auf das Meer hinaus. Sein Gesicht war so finster wie das Wasser.

Hawkwood stand auf. »Sieht aus, als ob du bekommen hast, was du wolltest.«

Lasseur sah auf die Reihe der Toten. »So nicht.«

»Aber dein Kaiser bekommt sein Gold.«

Lasseur schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts. Er sah sehr nachdenklich aus. Dann sagte er: »Sie könnten immer noch gefasst werden.«

»Was?«, sagte Hawkwood, der nicht richtig zugehört hatte.

»Ich sagte, man könnte sie immer noch fassen.«

Hawkwood lachte. Er konnte nicht anders. »Ich glaube nicht, Captain. Jetzt ist es Sache der Navy, und die braucht ja schon die halbe Nacht, nur um ihre verdammte Hose anzuziehen. Der Bastard ist schon lange weg. Außerdem weiß man nicht, welchen Hafen sie ansteuern.«

»Ich schon«, sagte Lasseur. »Ich weiß genau, wo die hinfahren. Wir könnten sie immer noch einholen.«

»Es ist zu spät, verdammt nochmal. Die sind über den Kanal, ehe hier jemand Segel setzen kann.«

»Nicht unbedingt«, sagte Lasseur. »Nicht, wenn der Wind so bleibt wie jetzt.«

Hawkwood sah ihn fest an. »Wen meinst du mit ›wir‹?

Langsam drehte Lasseur den Kopf und sah ihn an. »Ich meine mein Schiff, die Scorpion

»Dein Schiff?«, sagte Hawkwood. »Was zum Teufel hat dein Schiff damit zu tun?«

Lasseur lächelte nur.

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