4

»Da kommen sie wieder«, murmelte ein Mann neben Hawkwood. »Hurensöhne!«

»Was passiert jetzt?«, fragte Hawkwood.

Der Gefangene drehte sich um. Die Uniform schlotterte um seinen abgemagerten Körper. Sein Haar sah aus wie grau gepudert. Sein Kinn war unter einem säuberlichen Bart verborgen. Der Zustand seiner Kleider und die Farbe seines Haars ließ darauf schließen, dass er nicht mehr ganz jung war, doch in seinen Augen war ein Leuchten, das ganz und gar nicht zu der ansonsten ziemlich traurigen Erscheinung dieses Mannes passte. Sein Alter hätte überall zwischen vierzig und siebzig liegen können. Er war mit mehreren Büchern und Papieren beladen.

»Kontrolle.« Der Gefangene sah Hawkwood von oben bis unten an. »Gerade angekommen?«

Hawkwood nickte.

»Dachte ich mir. Man sieht es an Ihren Kleidern. Mein Name ist Fouchet.« Der Mann jonglierte mit den Büchern und streckte die Hand aus. »Sébastien Fouchet.«

»Hooper«, sagte Hawkwood. Er überlegte kurz, wie stark sein Händedruck ausfallen dürfe, da überraschte ihn aber schon die Kraft im Griff des anderen.

Fouchet nickte wissend. »Ah, ja, der Amerikaner. Ich hatte gehört, dass wir einen an Bord haben. Sie sprechen gut Französisch, Captain.«

Mein Gott, dachte Hawkwood. Er konnte sich nicht erinnern, Fouchet bei der Registrierung auf dem Oberdeck gesehen zu haben. Es hatte sich schnell herumgesprochen.

»Wie oft passiert das?«, fragte Hawkwood.

»Jeden Tag. Im Sommer um sechs, im Winter um drei Uhr.«

Die Wachen verteilten sich auf dem Deck. Es wurde keine Rücksicht auf die genommen, die auf dem Boden saßen, noch auf sonstige Gegenstände, mit denen die Männer sich beschäftigt hatten. Hawkwood sah, wie liegengebliebene Schachfiguren, Spielzeug und halbfertige Schiffsmodelle von Stiefelabsätzen zertreten wurden. Die Wachen ignorierten die Bitten der Männer, die noch versuchten, ihre Habseligkeiten zu retten, und fuhren fort, Wände und Fußböden mit den Eisenstangen abzuklopfen. Besonders den Metallgittern an den Geschützöffnungen widmeten sie größte Aufmerksamkeit. Der Klang von Metall auf Metall hallte über das Deck. Hawkwood überlegte, dass wahrscheinlich viel von diesem rüpelhaften Benehmen nichts weiter als Imponiergehabe war statt gründlicher Suche nach Beweisen für geplante Ausbruchsversuche. Die Methode war auch weiter nichts Neues. Es war eine alte, oft erprobte Art, Befehlsgewalt zu demonstrieren, den Gegner einzuschüchtern und ihn zu unterwerfen.

Zufrieden damit, dass keine erkennbaren Veränderungen am Schiffsrumpf zu entdecken waren, zogen die Wachen wieder ab. Auf dem Geschützdeck kehrte wieder Ruhe ein und die Unterhaltungen wurden fortgesetzt.

»Mistkerle«, fluchte Fouchet leise. Er nickte Lasseur zu, dann blinzelte er den Jungen an. »Und wen haben wir hier?«

Hawkwood machte sie miteinander bekannt.

»Hier gibt’s noch mehr Jungen an Bord«, sagte Fouchet. »Du solltest sie kennenlernen. Wir haben unter Deck eine ganz schöne Schule zuwege gebracht, mit Unterricht in vielen Fächern. Ich gebe Geografie und Geometrie.« Fouchet zeigte auf die Bücher, die er unterm Arm hatte. »Wenn du zu meinem Unterricht kommen möchtest, wirst du dich schnell mit den anderen anfreunden. Es ist nicht gut, wenn Kinder ihre Zeit unnütz vergeuden. Junge Köpfe sollten jede Gelegenheit zum Lernen nutzen. Was meinst du dazu?« Fouchet gab dem Jungen keine Zeit zur Antwort, sondern fuhr fort: »Ausgezeichnet, also abgemacht. Der Unterricht fängt morgen früh an, pünktlich um neun Uhr, die dritte Geschützöffnung auf Steuerbord. Erwachsene sind übrigens auch eingeladen. Für sie beträgt das Schulgeld pro Stunde einen Sou.« Er deutete in die bezeichnete Richtung und wandte sich zum Gehen.

Lasseur hielt ihn zurück, indem er ihm die Hand auf den Arm legte. »Haben Sie zufällig gesehen, was mit den Männern im Großboot geschehen ist?«

Der Lehrer runzelte die Stirn. »Welches Boot?«

»Das Boot vor uns, das man abtreiben ließ. Die Männer waren zu schwach, um auszusteigen.«

»Ah, ja.« Das Gesicht des Lehrers wurde freundlicher. »Ich habe gehört, sie wurden von der Sussex an Bord genommen.«

»Die Sussex?«

»Das Krankenschiff. Sie ist das erste Schiff in dieser Reihe.« Fouchet zeigte mit dem Finger in Richtung Bug.

Lasseur ließ den Arm des Lehrers los. »Vielen Dank, mein Freund.«

»War mir ein Vergnügen. Übrigens gibt es in einer Stunde noch mal einen Appell, bei dem wir gezählt werden, also würde ich mir’s gar nicht erst zu bequem machen. Ich werde beim Abendessen nach Ihnen Ausschau halten. Ich kann Ihnen ein bisschen helfen. Im Gegenzug können Sie mir von draußen erzählen. Es wird helfen, uns vom Essen abzulenken. Was ist heute, Freitag? Das heißt es gibt Dorsch. Ich warne Sie schon jetzt, er wird nicht genießbar sein. Aber eigentlich ist es egal, welcher Tag es ist, das Essen ist immer ungenießbar.« Der Lehrer lächelte und deutete eine kurze, förmliche Verbeugung an. »Mein Herren!«

Hawkwood und Lasseur sahen ihm nach. Sein rechtes Bein schien steif zu sein, und sein Gang war langsam und schwerfällig.

»Dorsch«, wiederholte Lasseur verzweifelt und schloss die Augen. »Heilige Muttergottes!«

Der nächste Trupp Wachen hatte keine Eisenstangen. Stattdessen benutzten sie Musketen mit aufgepflanzten Bajonetten, um die Gefangenen aufs Oberdeck zu treiben. Von dort mussten sie einzeln wieder hinabsteigen, wobei sie gezählt wurden. Der Leutnant, der bei der Aufnahme dabei gewesen war, führte hierbei die Aufsicht. Hawkwood erfuhr, dass er Thynne hieß.

Das Zählen war eine langwierige Sache. Bis es zur Zufriedenheit des Leutnants beendet war, waren die Schatten lang geworden. Im Dämmerlicht machten sich die Gefangenen auf zur Back, um sich in die Schlange fürs Abendessen einzureihen.

Das Essen war so unappetitlich, wie Fouchet es vorhergesagt hatte. Die Gefangenen wurden in Gruppen zu jeweils sechs Mann eingeteilt. Das Essen wurde in der hölzernen, rauchgeschwärzten Hütte auf der Back ausgegeben. Wachen passten auf, wie ein Abgesandter jeder Gruppe Brot, rohe Kartoffeln und Fisch von einem Helfer in Empfang nahm. Anschließend wurde das Essen zu großen Kesseln gebracht, wo es von dem Gruppenmitglied, das Küchendienst hatte, gekocht wurde. Dann bekam jede Gruppe ihre Zuteilung. Fouchet war zuständig für Hawkwoods Gruppe.

Lasseur starrte auf den Inhalt seines Blechnapfes. »Mit diesem Fraß können selbst Franzosen nichts anfangen.« Mit dem Holzlöffel schob er eine Kartoffel herum. »Hier werde ich verhungern.«

»Und ich glaube, Sie werden nicht allein sterben«, sagte Hawkwood.

»Es könnte schlimmer sein«, meinte Fouchet missmutig. »Zum Beispiel, wenn heute Mittwoch wäre.«

»Was passiert mittwochs?«, fragte Lasseur zögernd und sofort misstrauisch geworden.

»Sagen Sie’s ihm, Millet.« Fouchet gab dem Mann neben sich einen Schubs, einem Seemann mit traurigen Augen und eingefallener Brust, dessen sommersprossige Unterarme mit tätowierten Seeschlangen bedeckt waren.

Der Seemann nahm einen Löffel voll Fisch und betrachtete ihn misstrauisch. »Dann gibt’s Salzhering.« Millet schaufelte das Stück Fisch in den Mund und kaute geräuschvoll. Er hatte nicht mehr viele Zähne, wie Hawkwood bemerkte. Die wenigen, die er noch hatte, waren nur noch graue Stummel. Hawkwood vermutete, dass es sich hier um einen Mann mit fortgeschrittenem Skorbut handelte. Kein Wunder bei der Verpflegung, wie die Männer sie beschrieben.

Entsetzt sah Lasseur den Mann an.

»Normalerweise verkaufen wir ihn an den Händler zurück.« Der Sprecher saß neben Millet am Ende des Tisches. Er war ein mageres Geschöpf mit tiefliegenden braunen Augen, einer Hakennase und sehr blasser Haut, wie man durch die Löcher in seiner Gefangenenkluft sehen konnte. »Der gibt uns zwei Sous dafür. In der nächsten Woche bringt er uns die Heringe wieder, so dass wir sie erneut an ihn verkaufen können. Die meisten von uns kaufen sich dann mit dem Geld Extrarationen Käse oder Butter. Das hilft, den Geschmack vom Brot etwas zu maskieren.«

Lasseur hob eine trockene Kruste auf. »Das soll Brot sein? Das Zeug würde gute Munition für Kanonen abgeben. Wenn wir das vor Trafalgar gehabt hätten, wäre die Schlacht anders ausgegangen.«

»Was glauben Sie denn, was die Briten dort benutzt haben?«, sagte Fouchet. Er nahm sein Stück Brot und schlug damit auf die Tischplatte. Es klang wie Hammerschläge auf Holz. Er zwinkerte dem Jungen zu, der bis dahin vergeblich versucht hatte, mit seinem Holzlöffel eine Kartoffel zu zerkleinern. »Gib her«, sagte Fouchet und löste das Problem, indem er den widerspenstigen Gegenstand mit seinem eigenen Löffel zerdrückte. Er gab den Napf zurück, der Junge lächelte nervös und aß weiter. Er war der Einzige am Tisch, der sich über das Essen nicht geäußert hatte.

»Gibt es denn jemals Fleisch?«, wollte Hawkwood wissen.

»Jeden Tag außer Mittwoch und Freitag«, sagte Millet ohne große Begeisterung. »Fragen Sie aber nicht, was es ist. Die Händler sagen, es ist Rindfleisch, aber wer weiß? Es könnte alles sein, von Schwein bis Stachelschwein.«

Fouchet schüttelte den Kopf. »Stachelschwein ist es nicht. Das habe ich mal gegessen; hat ganz gut geschmeckt.«

Lasseur lachte. »Wie lange sind Sie schon hier, mein Freund?«

Fouchet runzelte die Stirn. »Welches Jahr haben wir jetzt?«

Lasseur blieb der Mund offen stehen.

»Ich mache nur Spaß«, sagte Fouchet. Er strich sich über den Bart und fügte hinzu: »Drei Jahre hier. Davor war ich auf der Suffolk, vor Portsmouth.« Er deutete mit dem Finger auf den großen Gefangenen mit der Hakennase. »Charbonneau ist am längsten hier. Wie lange ist es jetzt, Philippe?«

Charbonneau spitzte die Lippen. »Im nächsten September sieben Jahre.«

Sieben Jahre, dachte Hawkwood. Am Tisch wurde es still, als die Männer über die Länge von Charbonneaus Gefangenschaft nachdachten, samt allem, was das bedeutete.

»Ist hier jemals einer geflüchtet?«, fragte Hawkwood wie nebenbei. Dabei wechselte er einen Blick mit Lasseur.

»Geflüchtet?« Fouchet schien über die Frage nachzudenken, als habe sie noch nie jemand gestellt. Schließlich zuckte er die Schultern. »Ein paar. Die meisten kommen nicht sehr weit. Sie werden zurückgebracht und bestraft.«

»Wie werden sie bestraft?«, wollte Hawkwood wissen.

»Sie kommen ins Loch«, sagte Millet, wobei er eine Gräte zwischen seinen Zähnen herauszog und sie hinter sich warf.

Hawkwood schob ein Stück Dorsch in seinem Napf an die Seite. »Ins Loch?«

»Ins schwarze Loch.« Millets Ton gab zu verstehen, dass er damit nur ein Loch gemeint haben konnte und dass Hawkwood es eigentlich wissen müsste.

Fouchet legte den Löffel hin. »Es ist eine besondere Strafzelle, verglichen mir der ist das Geschützdeck ein Garten von Versailles.«

Lasseur, der auf der anderen Seite des Tisches saß, dachte über diese Beschreibung nach. Er sah Fouchet aufmerksam an und sagte: »Und was ist mit denen, die abgehauen sind, wie haben die es geschafft?«

Fouchet zuckte die Schultern. »Da müssen Sie sie schon suchen und selbst fragen.«

»Sie wissen es nicht?«, sagte Lasseur.

»Manchmal ist es besser, nicht zu viele Fragen zu stellen.«

»Haben Sie niemals daran gedacht?«

Der Lehrer schüttelte den Kopf. »Das ist etwas für junge Leute. Ich habe nicht mehr die Energie. Außerdem wird der Krieg nicht ewig dauern.«

»Der Herr liebt Optimisten«, murmelte Charbonneau, wobei er sich heftig im Schritt kratzte.

Lasseur schob seinen Napf beiseite. »Ich muss Sie das fragen, Sébastien: wie, im Namen aller Heiligen, landet jemand wie Sie an einem Ort wie diesem?«

Fouchets Lächeln war fast traurig. »Ah, wenn Sie wüssten, wie oft ich mich das schon selbst gefragt habe.«

»Essen sie das noch?«, schniefte Millet und deutete auf die Reste von Lasseurs Fisch.

Lasseur sah ihn an, als wollte er sagen, Was denkst du denn? Dann sah er fasziniert zu, wie der Seemann herüberlangte und sich mit dreckigen Fingern aus dem Napf bediente.

»Ich habe mich einer Indiskretion schuldig gemacht«, sagte Fouchet. »Ich war Professor für Mathematik an der Universität von Toulouse und hatte ein Verhältnis mit der Frau eines Kollegen. Leider wollte er sich mit der Rolle des Gehörnten nicht abfinden und forderte mich. Zu seinem Unglück war ich der bessere Schütze. Seine Freunde nahmen das ziemlich persönlich. Sie hatten Einfluss, ich nicht. Ich verlor meine Stellung, zusammen mit dem, was von meinem guten Ruf noch übrig war. Als ich mich um andere Lehraufträge bemühte, schlug man mir die Türen vor der Nase zu. Ich suchte Trost in der Weinrebe; ein Heilmittel, das beruflich nicht gerade hilfreich ist. Das wäre das Ende der Geschichte gewesen, wenn nicht ein Wunder geschehen wäre.«

»Was war das?«

Ein klägliches Lächeln erschien auf Fouchets Gesicht. »Ich wurde eingezogen.«

Das Grinsen breitete sich über alle Gesichter am Tisch aus, bis Millet zu lachen anfing und dabei vergaß, dass er immer noch mit Lasseurs übrig gelassenem Dorsch beschäftigt war. Er lief dunkelrot an. Charbonneau schlug ihm mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter, bis er wieder gerade saß und die anderen am Tisch sich beruhigt hatten und sich daran erinnerten, wo sie waren.

Hawkwood wusste, dass es sich bei Fouchets Schicksal nicht um einen Einzelfall handelte. Die Schule, die dieser hier auf dem Schiff gegründet hatte, aber auch das handwerkliche Geschick, das ihm bei vielen der Häftlinge auf dem Geschützdeck aufgefallen war, waren der beste Beweis dafür. Hier lag einer der Hauptunterschiede zwischen der britischen und der französischen Armee. Während die Truppen Großbritanniens aus Freiwilligen bestanden - unter denen viele Verbrecher oder Obdachlose waren, die sich meldeten, um kostenloses Essen und ein Dach über dem Kopf zu haben -, fand man in den Truppen von Bonaparte Männer aus allen Schichten der Bevölkerung. Es war durchaus möglich, dass es an Bord der Rapacious genauso viele Handwerker und Lehrer gab wie in jeder kleinen Stadt hier im Mündungsgebiet der Medway.

»Mir fällt auf, dass Sie Ihr rechtes Bein schonen«, sagte Lasseur. »Sind Sie verwundet worden?«

Fouchet lächelte. »Musketenkugel, knapp unter dem Knie.« Er klopfte leicht auf das Gelenk. »Bei Kälte tut es höllisch weh, und feuchtes Wetter ist auch nicht besonders gut.«

Der Lehrer wandte sich an Hawkwood. »Und Sie, Captain Hooper, was ist mit Ihnen passiert? Wie sind Sie in Gefangenschaft geraten?«

»Die anderen waren in der Überzahl«, sagte Hawkwood.

Fouchet lachte. »Wenn ich mich recht erinnere, sagte Murat, es sei bei Ciudad Rodrigo gewesen?«

Hawkwood nickte.

»Das war weit von der Heimat. Was macht ein Amerikaner nur dort?«

Es war die Frage, die Hawkwood erwartet hatte und die er mit größter Vorsicht beantworten musste.

»Hauptsächlich britische Soldaten umlegen, überwiegend Offiziere.«

»Warum?«

»Ihr Kaiser hat mich dafür bezahlt.«

Fouchet lächelte. »Ich meine, warum ausgerechnet Sie

»Ich bin Scharfschütze: Erstes Schützenregiment der Vereinigten Staaten. Ich dachte, man könnte meine Unterstützung gebrauchen.«

»Frecher Hund«, sagte Charbonneau. »Wie kommen Sie darauf, dass Frankreich Ihre Hilfe braucht?«

Millet verdrehte die Augen. »Dann sieh dich doch um, du Idiot.«

Erfinden Sie sich eine Biografie, die auf Ihren Fähigkeiten basiert, hatte James Read ihm geraten, also war es logisch gewesen, sich als Offizier des Schützenregiments auszugeben. Es war das amerikanische Äquivalent zu Hawkwoods früherem Regiment, dem Schützencorps, und arbeitete nach denselben Methoden wie sein britisches Gegenstück, indem es die Taktiken der leichten Infanterie und, im Falle der Amerikaner, auch die der indianischen Eingeborenen benutzte, um die Feinde zu stören und zu schikanieren. Sie waren überall als Erste da, und sie waren die Letzten, die wieder abzogen.

»Ich habe gehört, es soll ein schreckliches Gemetzel gewesen sein«, sagte Millet.

Fouchet runzelte die Stirn. »Ich meine gelesen zu haben, dass die Belagerung zwei Wochen dauerte.«

»Zwölf Tage«, sagte Hawkwood. »Wir hätten genauso gut versuchen können, Ebbe und Flut aufzuhalten. Wie meinen Sie das, Sie haben es gelesen?«

»Es stand in den Zeitungen. Sie sind hier zwar verboten, aber wir schmuggeln sie rein. Kostet ein Vermögen. Einige von uns können Englisch, aber meist übersetzt Murat für uns. Natürlich glauben wir nicht alles, was darin steht. Sie wurden auch verwundet?« Der Lehrer deutete auf Hawkwoods Narben.

»Einer der Scharfschützen erwischte mich mit dem Bajonett.«

»Sie hatten Glück. Das hätte ins Auge gehen können.«

»Er war etwas verärgert.« Hawkwood zuckte die Schultern. »Wir hatten viele seiner Kameraden umgebracht. Unsere Kanone hatte sie zerfetzt. Das hat die anderen aber nicht abgehalten, uns anzugreifen.«

»Und was ist mit dem Scharfschützen passiert?«

»Ich brachte ihn um«, sagte Hawkwood. »Er ist tot, ich blieb am Leben. Wir ergaben uns. Die Briten gewannen.«

Hawkwoods erdachte Geschichte wich gar nicht so stark von dem ab, was wirklich geschehen war. Er hatte die Depeschen gelesen. Die Schützen waren mitten im Geschehen gewesen und deckten mit ihrem Feuer die Truppen, die die Stadtmauern gestürmt hatten. Die Lücke war fast hundert Fuß breit gewesen, eine riesige Angriffsfläche für die französischen Kanoniere, die die Angreifenden mit einem Hagel von Splittermunition beschossen. Erst als die Kanonen vernichtet waren und ein französisches Munitionsdepot in die Luft geflogen war, konnten die Briten die Stadt schließlich einnehmen. So viel hatte in den Zeitungen gestanden. Das Nachspiel jedoch stand nur in den Depeschen, in denen geschildert wurde, wie die britischen Soldaten, fassungslos über das Gemetzel an so vielen ihrer Kameraden, sich betrunken hatten und Amok gelaufen waren. Die Offiziere hatten ihre eigenen Männer mit ihren Säbeln in Schach halten müssen, um ein Massaker zu verhindern. Um die Schmach noch größer zu machen, hatte Wellington zwei seiner besten Generäle verloren: Mackinnon von der dritten Division und Bob Crawford von der Leichten Brigade, unter dem Hawkwood bei einer Reihe von Einsätzen gedient hatte.

»Schweinehunde«, murmelte Millet. »Verdammte Arschlöcher!«

Die Männer am Tisch verfielen in düsteres Schweigen.

Charbonneau unterbrach die Stille. »Und Sie?«, fragte er Lasseur.

Lasseur begann mit einer humorvollen Schilderung seiner Gefangennahme und Haft. Es dauerte nicht lange, bis seine Zuhörer wieder lachten, und damit war die Essenszeit auch fast um. Die Gruppen lösten sich auf, und die Gefangenen holten sich ihre Hängematten vom Vordeck, um sie nach unten zu ihren Schlafplätzen zu bringen.

Der Junge hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und war am Tisch eingeschlafen.

»Und was ist mit ihm?«, fragte Fouchet, als Millet und Charbonneau gegangen waren, um ihr Bettzeug zu holen.

Lasseur schüttelte den Kopf. »Bisher hat er nicht viel gesagt. Ich vermute, er ist vom Rest seiner Mannschaft getrennt worden. Ich weiß nur seinen Namen.«

Fouchet nickte verständnisvoll. »Ich denke, er wird schon auftauen, wenn er mit Jungens in seinem Alter zusammen ist. Ich werde mit den anderen sprechen, vielleicht findet er da Anschluss. Inzwischen wäre es gut, wenn Sie ihn im Auge behalten würden.«

Im Ton des Lehrers hatte eine deutliche Warnung gelegen. Lasseur, der sich gerade vom Tisch erheben wollte, blieb auf halbem Weg stehen. »Das klingt nicht gut. Gibt es da etwas, was wir wissen sollten?«

»Der Junge ist klein für sein Alter, und meiner Ansicht nach sehr unschuldig und naiv. Er ist in der Fremde und deshalb doppelt gefährdet. Es dürfte Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass es hier an Bord Männer gibt, die das ausnützen könnten.«

Lasseur setzte sich wieder. »Für wie wahrscheinlich halten Sie das?«

Fouchet lächelte traurig. »Mein Freund, auf diesem Schiff befinden sich mehr als neunhundert Männer. Und mehr als achthundert davon fühlen sich durch ihre Untätigkeit genauso eingesperrt wie durch diese Holzwände. Ich nehme an, Sie wissen die Antwort selbst.« Der Lehrer nahm seine Bücher und erhob sich schwerfällig.

Hawkwood sah Lasseur an und wusste, dass dieser jetzt wieder an den Mann mit dem schütteren Haar dachte, mit dem er auf dem Geschützdeck gesprochen hatte. Lasseur sah den schlafenden Jungen an. Sein Gesicht war wie versteinert. »Ich werde daran denken«, sagte er.


Es war nicht das erste Mal, dass Hawkwood die Enge einer Hängematte erlebte. Es war eine regelrechte Kunst, in diese Schlinge zu klettern, aber es war wie mit vielen Künsten, wenn man sie erst beherrschte, verlernte man sie nie wieder. Als Soldat war er unbequeme Nachtlager gewohnt, sei es in der Scheune, im Gebüsch oder gar auf dem Schlachtfeld. Auf dem Marsch nahm man sich Schlaf und Nahrung, wann und wo es möglich war, denn man wusste nie, wann sich die nächste Gelegenheit dazu bieten würde. Verglichen mit vielen anderen Orten, wo er sein müdes Haupt schon hingelegt hatte, war eine Hängematte der Gipfel der Bequemlichkeit.

Er lag da und horchte auf die Schlafgeräusche der vierhundert Menschen, mit denen er das Deck teilte. Die Töne waren sehr verschieden, je nach Ursprung und Lautstärke, von den langgezogenen Klagen der Verzweifelten, dem Keuchen der Schwindsüchtigen und dem Stöhnen derer, die die Ruhr hatten, bis zum leisen Weinen der Einsamen und Heimwehkranken. Zusammen mit dem Durcheinander aus Flüchen, Räuspern, Spucken, dem Furzen, Husten und den sonstigen Geräuschen, die Männer so von sich geben, bildete es eine disharmonische Geräusch - kulisse für die körperlichen Qualen der Männer, die gegen ihren Willen in diesem engen Massenquartier eingepfercht waren.

Langsam senkte sich der Schlaf über die Insassen des Hulks, und die menschlichen Geräusche wurden leiser. Doch in der Dunkelheit drückte auch das Schiff selbst seine Unzufriedenheit aus. Der Schiffsrumpf hallte wider von einer ununterbrochenen Kakophonie, die vom Ächzen und Stöhnen der alten Schiffsbalken kam. Es schien, als wolle die Rapacious ihren Unmut über die Gefangenen kundtun, die man in ihrem Rumpf eingesperrt hatte. Der Gezeitenwechsel mit dem Geräusch der Wellen, die an ihre Seiten schwappten, schien tausendmal verstärkt, genau wie das hypnotische Klopfen der Taue und Leinen, die gegen ihre gekürzten Masten und Rahen schlugen.

Zum Glück hatte man die Geschützöffnungen offen gelassen, denn sie waren die einzige Belüftung. Doch selbst so war es noch unerträglich warm. Das Knirschen der Hängemattenringe an den Haken war eine ständige Begleitmusik zu dem ruhelosen Hin- und Herwälzen der Männer, die in der Hitze vergeblich nach einer bequemen Lage suchten.

Doch selbst wenn es im Schiffsrumpf still gewesen wäre, der rhythmische Schritt der Wachen auf dem Metallgitter draußen, zusammen mit ihren halbstündigen Rufen, dass alles in Ordnung sei, erinnerten ständig daran, dass der Wille des Einzelnen an Bord, sei es Häftling oder Wache, nichts mehr zählte.

Er hörte ein leises Schniefen neben sich. Es war der Junge. Er lag auf dem Rücken und hatte seine Decke auf die Waden hinuntergeschoben. Sein rechter Arm lag über seinem Gesicht, als wolle er einen Schlag abwehren. Während Hawkwood ihn ansah, drehte der Junge den Kopf, wodurch sein rechtes Auge und sein Kinn sichtbar wurden.

In diesem Augenblick gellte ein Schrei durch die Dunkelheit. Er dauerte zwei oder drei Sekunden, dann verstummte er abrupt. Hawkwood wusste, dass er nicht vom Geschützdeck kam, sondern von irgendwo tief im Inneren des Schiffes. Weder die Wachen draußen noch die Schlafenden in den umliegenden Hängematten reagierten, bis auf einen: der Junge erschrak. Das fahle Mondlicht, das durch die offene Schießscharte fiel, beleuchtete seine blasse Wange, auf der die Haut über dem Knochen spannte. Das Auge des Jungen wirkte in der Dunkelheit wie eine weiße Murmel. Einige Sekunden lang starrte er Hawkwood an, Entsetzen im Gesicht. Dann verkrampften sich seine Halsmuskeln, und er drehte sich weg. Er zog sich die Decke über den Kopf, und der Blickkontakt war verloren.

Der Schrei wiederholte sich nicht. Ein kleiner, rundlicher Schatten erschien am Gitter. Auf dem Rand der Fensteröffnung saß eine Ratte und putzte sich. Als merkte sie, dass sie beobachtet wurde, hielt sie plötzlich inne, hob den Kopf, und mit einer raschen Bewegung, die das Fell kurz im Mondlicht aufglänzen ließ, und einer blitzschnellen Bewegung des Schwanzes war sie weg.

Hawkwood schloss die Augen. Interessant, dachte er, dass die erschrockene Ratte es vorgezogen hatte, das Schiff zu verlassen, statt in seinem Inneren Schutz zu suchen.

Vielleicht war es ein weiteres Omen.

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