5

Hawkwood stand an der Reling des Vordecks und sah hinunter auf seine neue Umgebung. Die Aussicht war alles andere als erhebend.

Neben den beiden Wohndecks war das Vordeck der einzige weitere Teil des Schiffes, wo Gefangene sich aufhalten durften, der Teil, den der Dolmetscher Murat euphemistisch als den »Park« bezeichnet hatte. Lasseur hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Umfang des Parks abzuschreiten. Es dauerte nicht sehr lange. Die Fläche war etwas über fünfzig Fuß lang und vierzig Fuß breit. Es brauchte nicht viele Gefangene, die hier herauf zum Luft schnappen kamen, um das Deck überfüllt wirken zu lassen. Deshalb war auch klar, warum so viele Männer lieber unter Deck blieben. Der Raum hier war so eng, dass sie keine andere Wahl hatten.

Die Schlafquartiere der Häftlinge waren von denen der Besatzung durch Schotten vorn und achtern abgetrennt. Die Wachen der Miliz bewohnten den Bug. Der Commander des Schiffs und der Rest der Mannschaft waren im Heck untergebracht. Auf den ersten Blick schienen die Schotten aus Eisen zu sein, aber bei näherem Hinsehen stellte Hawkwood fest, dass sie aus dicken Planken bestanden, die dicht an dicht mit tausenden von Nägeln mit großen Köpfen beschlagen waren. In diese metallbewährten Wände hatte man in regelmäßigen Abständen Schießscharten gesägt, die es den Wachen auf der anderen Seite der Schotten ermöglichten, bei Aufständen oder sonstigen Störungen auf das Geschützdeck zu schießen. Mit den schmalen Schlitzen erinnerte das Ganze an die Mauer eines mittelalterlichen Wehrturms. Da das Geschützdeck wie ein langes Verlies wirkte, war es nicht schwer, sich im Schiffsrumpf wie in einer düsteren, uneinnehmbaren Festung zu fühlen.

Um sechs Uhr hatten die Wachen die Luken geöffnet, damit die Gefangenen ihr Bettzeug zum Lüften nach oben bringen konnten. Hawkwood war froh gewesen, als er das erste Morgenlicht sah, er hatte sich noch immer nicht an die Ausdünstungen gewöhnt, die von seinen Mitgefangenen ausgingen. Leutnant Murat hatte versichert, es würde nur ein paar Tage dauern, bis man sich daran gewöhnt habe, und was Hawkwood betraf, konnte dieser Moment gar nicht schnell genug kommen. Der Platz an der Geschützöffnung gewährte zwar frische Luft und den Blick aufs Wasser, aber das milderte den Geruch nicht im Geringsten ab. Der ekelerregende Gestank hing schon so viele Jahre in diesem Schiff, dass er in das Holz eingedrungen war wie Maden in einen verfaulenden Leichnam.

Das Frühstück hatte aus einem Becher Wasser und einem Stück trockenen Brot bestanden, das vom gestrigen Abendessen übrig war. Der faustgroße Kanten alten Brotes war durch Eintauchen in das Wasser etwas genießbarer geworden. Doch es war ein schwacher Trost für eine höchst unruhige Nacht, auch wenn Hawkwood den Trick, sich in die Hängematte zu schwingen, noch nicht verlernt hatte. Obwohl ein Soldat es gewohnt war, sich hinzulegen, wann und wo er konnte, bedeutete das noch lange nicht, dass es immer leicht war, einzuschlafen. Die Nacht war ihm endlos vorgekommen. Lasseur, der über das kabbelige braune Wasser blickte, sah ebenso unausgeschlafen aus. Auf Steuerbord lag im äußersten Nordwesten der Isle of Sheppey die Werft von Sheerness; eine lose aneinandergereihte Ansammlung von Lagerhäusern, Baracken und Werkstätten. Darüber erhob sich die Festung; über ihrem wuchtigen, viereckigen Grundriss erhob sich ein grau gedeckter Turm, von dem die königliche Standarte flatterte. Die Festung wachte über den Eingang zur Medway und dominierte die gesamte Umgebung, eine steinerne Warnung für alle, die töricht genug waren, anzugreifen.

Südlich davon, am Rande der Werft, lag die Blue Town. Die Siedlung war die Unterkunft für die Werftarbeiter und hatte ihren Namen von der Farbe ihrer Gebäude, die allesamt mit demselben Blau gestrichen waren, das die Navy benutzte. Die kleinen Häuschen waren fast ausschließlich aus Holzresten gebaut, die bei den Arbeiten auf der Werft abfielen. Sie waren nichts weiter als primitive Hütten, die sich in einem Gewirr enger Gassen aneinanderdrängten. Dennoch waren sie einige Klassen besser als die früheren Unterkünfte am Fluss. Denn ursprünglich hatten die Werftarbeiter in stillgelegten Schiffen gehaust, ähnlich der Rapacious, die man im Fluss liegen ließ, um die Strömung zu verlangsamen und damit zu verhindern, dass zu viel Kies vom Vorland weggeschwemmt wurde. Zwei von ihnen waren noch da, hilflos lagen sie im Schlamm wie angetriebene Wale nach einem Sturm.

Auf der anderen Seite des Flusses, eine Meile nach Backbord, war die Isle of Grain, ein dunkelgrüner Fleck im fahlen Morgenlicht, während hinter der Heckreling, weniger als zwei Meilen südlich, die westliche Mündung des Swale-Kanals lag, der Sheppey vom Festland trennte.

Das Wetter war sehr viel besser geworden. Doch obwohl die Sonne schien, wehte eine steife Brise, die nicht nur den Geruch des Meeres, sondern auch den widerlichen Fäulnisgeruch der Marsch herübertrug, die sich zu beiden Seiten der Flussmündung erstreckte.

Ein Warnruf kam vom Quarterdeck, wo Leutnant Thynne die Anlieferung der Verpflegung überwachte, von einer kleinen Flotte von Versorgungsbooten angeliefert, die neben dem Schiff festgemacht hatten. Fässer mit Frischwasser wurden an Bord gehievt und ersetzten die leeren, die aus den Ladeluken gehoben wurden. Eines der Fässer war aus der Schlaufe gerutscht. Es war die zweite Lieferung an diesem Tage. Die Brotration war vor weniger als einer Stunde angekommen und bereits zur Küche gebracht worden.

Interessiert sah Lasseur dem Vorgang zu. »Was glauben Sie?«, sagte er.

Hawkwood folgte seinem Blick dorthin, wo das abgerutschte Fass gerade wieder aufgefischt wurde. »Es wäre eng.«

Lasseur grinste.

Hawkwood machte ein skeptisches Gesicht. »Woher wollen Sie wissen, dass die Fässer an Land nicht kontrolliert werden?«

»Und woher wollen Sie wissen, dass man das tut?«

»Weil ich es täte«, sagte Hawkwood. »Es wäre das Erste, was ich mir ansehen würde.«

»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, murmelte Lasseur. »Aber immerhin wär’s einen Versuch wert.« Er griff in seine Jacke, zog eine Zigarre heraus und sah sie sehnsüchtig an.

»Die würde ich mir einteilen«, sagte Hawkwood. »Ich habe gehört, Tabak ist hier schwer zu kriegen. Und teuer.«

Lasseur steckte die unangezündete Zigarre zwischen seine Lippen und schloss die Augen. So blieb er ein paar Sekunden stehen, worauf er sie wieder einsteckte und seufzte. »Je eher ich von diesem verdammten Schiff runterkomme, desto besser.«

Es war eine gute Entscheidung gewesen, sich Lasseur anzuschließen. Seit dem Augenblick, wo sie im Gefängnis von Maidstone zusammen in die Zelle geworfen worden waren, hatte der Galgenvogel kein Geheimnis daraus gemacht, dass er fliehen wollte. Der erste Schritt war gewesen, das Vertrauen des Mannes zu gewinnen. James Read hatte Recht gehabt in der Annahme, dass Hawkwoods Geschichte und die Narben in seinem Gesicht ihm sehr helfen würden. Lasseur und die anderen hatten ihn als einen der ihren akzeptiert. Und wo immer Lasseur hingehen würde - Hawkwood beabsichtigte, ihm zu folgen.

Hawkwood musste lächeln. Merkwürdig, dachte er, wie sympathisch Lasseur ihm geworden war in der kurzen Zeit, die sie sich kannten. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen, denn er war schließlich ein Feind. Aber passierte das nicht immer, wenn Männer, egal was ihre Vorgeschichte war, in fremder Umgebung aufeinander angewiesen waren? Es erinnerte ihn an seine erste Zeit im Schützencorps.

Als die Colonels Coote Manningham und Stewart ihre Pläne für eine neue Einheit vorgestellt hatten, eine Einheit, die Feuer mit Feuer bekämpfte und den Krieg auf die Franzosen ausdehnen würde, waren die Männer für dieses neue Corps aus anderen Einheiten zusammengezogen worden. Und plötzlich spielte die Vergangenheit keine Rolle mehr, es war egal, ob sie Freiwillige oder Dienstpflichtige waren. Die Loyalität der Männer gehörte dem neuen Regiment, und der Kitt, der sie zusammenhielt, war der Wille, für ihr Land und gegen die Franzosen zu kämpfen.

Auf der Rapacious war es ganz ähnlich. Es spielte keine Rolle, ob man Seemann oder Soldat war, ob man Lehrer oder Kaufmann war oder ein Kaperschiff befehligt hatte. Wichtig war lediglich, dass man einen gemeinsamen Feind hatte. Und im Falle der Männer, die hier in diesem Schiffsrumpf eingesperrt waren - und dazu gehörte Hawkwood -, waren es die Offiziere und die Besatzung des Schiffes Rapacious Seiner Britischen Majestät, die den gemeinsamen Feind verkörperten.

Von Ludd wusste er, dass Rapacious nicht ihr einziger Name war. Während ihrer Jahre als Schlachtschiff hatte die Besatzung ihr als Zeichen ihres Respekts einen Spitznamen gegeben: Rapscallion, in Anerkennung ihrer Rolle gegenüber den Franzosen, denen sie nichts als Ärger gebracht hatte.

Es war zweifelhaft, überlegte Hawkwood, während er sich umsah, ob einer der Seeleute, die damals ihre Segel gesetzt, in ihrer Takelage herumgeklettert waren oder ihre Kanonen ausgefahren hatten, sie jetzt wieder erkennen würde. Was sie als großes, starkes Schiff einst an Schönheit und Stolz besessen haben mochte, war schon lange dahin. Selbst jetzt, wo die Morgensonne auf ihr Quarterdeck schien, wurde sie nicht schöner. Ihr einst so edles Profil war von einem Sammelsurium windschiefer Holzhütten verunstaltet, und sie war hässlich wie ein Londoner Slum.

Wieder riefen sich die Arbeiter auf Deck etwas zu. Die vollen Wasserfässer waren alle an Bord, und das letzte Versorgungsboot fuhr mit den leeren Fässern davon. Einige der vollen Fässer blieben an Deck. Der Inhalt wurde gebraucht, um mittags Suppe zu kochen und um die Trinkwassertanks wieder aufzufüllen. Die Winsch wurde für die nächsten Lieferungen in Position gebracht.

Lasseur wandte sich von der Reling ab. »Kommen Sie mit, mein Freund. Ich brauche etwas Bewegung.«

Durch die Anzahl der Gefangenen, die überall auf dem Deck lagen, war es mehr ein Hindernislauf als ein Spaziergang.

»Was meinen Sie, wie viele Soldaten hier an Bord sind?«, fragte Lasseur. Er sprach leise, während sie sich zwischen den Menschen hindurch ihren Weg bahnten.

»Schwer zu sagen«, antwortete Hawkwood. »Ich würde schätzen, mindestens vierzig.« Er sah nach achtern, wo zwei Mitglieder der Miliz Wache schoben. Ihre Musketen über der Schulter, liefen sie auf dem Quarterdeck auf und ab. Andere Milizionäre waren gleichmäßig über das Schiff verteilt, einschließlich einem auf dem Vordeck, wo sie gerade hergekommen waren. Hawkwood hatte drei auf der Brücke gesehen und einen auf dem Floß, bei jedem Niedergang stand ebenfalls einer. Er vermutete, dass noch weitere bereitstanden, um beim ersten Anzeichen von Unruhe einzuschreiten.

Die beiden Männer verließen die Back und begaben sich nach unten.

»Ich habe gestern Abend gezählt«, sagte Lasseur, als sie die Treppe hinuntergingen. »Auf den Schutzgittern draußen waren sechs, einer war auf dem Floß, und dann hörte ich noch andere bei den Niedergängen.«

»Sie haben nicht viel Zeit verschwendet«, sagte Hawkwood.

Lasseur zuckte die Schultern. »Es war so heiß, ich konnte nicht schlafen. Was sollte ich denn sonst machen? Außerdem habe ich bemerkt, dass Sie sich auch umgesehen haben.«

»Da ist aber auch noch die Mannschaft«, sagte Hawkwood.

»Die hatte ich nicht vergessen. Wie viele, würden Sie sagen?«

Hawkwood schüttelte den Kopf. »Auf einem Schiff von dieser Größe? Das wissen Sie bestimmt besser als ich. Dreißig?«

Lasseur dachte nach und spitzte die Lippen. »So viele nicht. Vielleicht zwanzig.«

»Die werden sich bestimmt auch bewaffnen können«, sagte Hawkwood.

Lasseur nickte. »Zweifellos. Hier gibt’s bestimmt eine Waffenkammer: Pistolen und Musketen, vielleicht auch Entermesser.« Der Privateer verfiel in Schweigen.

Auf dem Geschützdeck angekommen war Hawkwood überrascht von der Anzahl Gefangener, die hier mit ihren Mithäftlingen Geschäfte machen wollten. Bei ihrer Suche nach Käufern und Verkäufern konnten sie so hartnäckig sein wie die Händler, denen er unter den Laubengängen von Covent Garden oder dem Haymarket begegnet war. Nicht wenige Männer waren bereit, ihre persönlichen Besitztümer zu verkaufen, und ihr erbärmlicher Zustand ließ ahnen, warum sie das taten. Hawkwood, der diesen Handel beobachtete, wusste nicht, was deprimierender war: die Tatsache, dass diese Männer so bettelarm waren oder die mitleiderregende Dankbarkeit auf ihren Gesichtern, wenn der Handel abgeschlossen war. Einige der Gefangenen, die am Vortage angekommen waren, tauschten Kleidungsstücke gegen Münzen. Sie taten es verstohlen, als schämten sie sich dafür. Hawkwood vermutete, dass sie mit dem Geld Nahrungsmittel kaufen würden, eine Handelsware, die hier zur Währung geworden war.

Lasseur erriet seine Gedanken. »Ich sprach vorhin mit Ihrem Freund Sébastien. Er erzählte mir, als er in Portsmouth war, habe ein Mann auf der Vengeance eine Art Suppenküche aufgemacht und die Suppe napfweise verkauft. Er wurde reich damit. Sobald etwas knapp ist, kann man damit Geld verdienen.«

»Da würde Leutnant Murat Ihnen wahrscheinlich zustimmen«, erwiderte Hawkwood.

»Ah, ja, unser tüchtiger Dolmetscher. Tja, das ist ein Mann, den man sich warmhalten sollte.«

»Trauen Sie ihm?«

»Ungefähr so weit, wie ich spucken kann.«

»Immerhin so weit?«, sagte Hawkwood.

Lasseur lachte.

Hawkwoods Aufmerksamkeit wurde abgelenkt durch eine der kleinen Gruppen, die Teile der umlaufenden Bank an den Fensteröffnungen auf Steuerbord belegt hatten. Es war der Lehrer Fouchet mit seiner Vormittagsklasse. Seine Schüler - insgesamt ein halbes Dutzend - saßen ihm zu Füßen auf dem Boden. Der Junge Lucien war auch darunter. Es sah aus, als sei er der Jüngste. Der Älteste war ungefähr vierzehn. Fouchet begegnete Hawkwoods Blick und grüßte mit einem Lächeln zu ihm hinüber. Seine Schüler sahen nicht auf.

Auf der Rapacious befanden sich etwa vierzig Jungen, hatte Fouchet ihm gesagt, ihr Alter lag zwischen zehn und sechzehn. Das war nichts Außergewöhnliches. Auf Fouchets letztem Schiff, der Suffolk, waren mehr als fünfzig Jugendliche gefangen gewesen, während ein weiteres schwimmendes Gefängnis vor Portsmouth, die Prothée, mehr als hundert hatte, manche nicht älter als neun Jahre. Hawkwood ging es durch den Kopf, ob es klug von der Transportbehörde war, diese Kinder zusammen mit Männern einzusperren. Aber schließlich beschäftigte die Königliche Navy ebenfalls Jungen, die nicht älter waren als diese Schüler von Fouchet und als Midshipmen oder Laufburschen für die Kanoniere fungierten, also sah man vermutlich auch nichts Außergewöhnliches darin, wenn man ein unschuldiges Kind wie Lucien Ballard dazu verurteilte, die Schrecken eines Hulks zu ertragen. Hawkwood überschlug flüchtig, dass Nelson ungefähr im selben Alter wie Lucien gewesen sein musste, als er zur See gegangen war. Er dachte auch an einige der Straßenkinder, die als Informanten für ihn arbeiteten. Auch bei ihnen war das Alter nie ein Thema gewesen. Die einzige Bedingung, die er bei ihrer Rekrutierung stellte, war, dass sie rennen konnten, sich in den Straßen auskannten und Augen und Ohren offen hielten.

»Mein Sohn ist zwölf«, sagte Lasseur leise. Der Privateer sah ebenfalls zu der Gruppe bei der Luke hinüber.

»Wo ist er?«, fragte Hawkwood.

Lasseur wandte den Blick nicht von den Schülern ab. »Bei seinen Großeltern in Gévezé. In der Nähe von Rennes. Sie haben einen Bauernhof.«

»Ihre Eltern?«

Lasseur antwortete nicht gleich. »Ich habe keine Eltern mehr. Es sind die Eltern meiner Frau. Sie ist tot.«

Hawkwood erwiderte nichts.

»Sie ist vom Pferd gestürzt. Sie war eine begeisterte Reiterin, besonders gern ritt sie ganz früh am Morgen.« Der Franzose schluckte und zum zweiten Mal sah man sein wahres Gesicht. »Ich habe meinen Sohn drei Monate nicht mehr gesehen, aber sie schreiben mir. Dass er zur Schule geht und gut lernt, und dass er sehr tierlieb ist.« Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. »Er heißt François.« Lasseur sah ihn an. »Haben Sie Familie?«

»Nein«, sagte Hawkwood.

»Eine Freundin? Jemand, der auf Sie wartet?«

Hawkwood dachte an Maddie Teague und überlegte, ob sie sich wohl jemals in dieser Rolle gesehen hatte: die einsame Frau, die voller Sehnsucht auf ihn wartete. Irgendwie konnte er sich das schlecht vorstellen. Dazu war Maddie viel zu unabhängig. Plötzlich sah er sie neben sich liegen, ihre kastanienbraune Haarpracht auf dem Kopfkissen, die blitzenden smaragdgrünen Augen, das schelmische Lächeln um ihren Mund.

»Aha!«, sagte Lasseur verständnisvoll. »Ihr Gesicht gibt mir die Antwort. Ist sie hübsch?«

»Ja«, sagte Hawkwood. »Ja, das ist sie.«

Lasseur sah plötzlich ernst aus. »Dann würde ich sagen, wir haben beide einen Grund, hier abzuhauen, nicht wahr?«

»Solange es nicht in einem verdammten Wasserfass sein muss.«

»Es wird auch andere Wege geben«, sagte Lasseur mit Bestimmtheit. »Wir müssen sie nur finden. Fouchet sagte, einige hätten es geschafft. Vielleicht sollten wir ihn fragen, wie sie das gemacht haben.«

»Vielleicht sollten wir jemanden fragen, der weniger Skrupel hat«, sagte Hawkwood.

Lasseur grinste. »Sie meinen Leutnant Murat?«

»Genau den«, sagte Hawkwood.


Der Dolmetscher runzelte die Stirn. »Entschuldigen Sie, Captain Hooper, aber wie Sie sich vielleicht erinnern, war ich bei Ihrer Registrierung dabei. Ich hörte, Sie warten darauf, dass Ihr Hafturlaub genehmigt wird. Warum sollten Sie sich noch immer mit Fluchtgedanken tragen?«

»Der Captain will eben alle Optionen ausloten.« Lasseur verzog keine Miene. »Dagegen gibt es doch nichts einzuwenden, oder?«

Die Stirn des Dolmetschers blieb gefurcht. »Natürlich nicht, aber Sie sind doch erst einen Tag hier.«

»Na und?«, sagte Hawkwood. »Was zum Teufel hat das damit zu tun?«

»Vielleicht sollten Sie etwas mehr Geduld haben.«

»Geduld?«, sagte Lasseur. »Ich bin geduldig gewesen.«

Nur mit Mühe unterdrückte Hawkwood das Verlangen, dem Dolmetscher das überlegene Lächeln vom Gesicht zu wischen. »Aber meine Geduld geht langsam zu Ende.«

»Hingegen haben Sie sich ja tatsächlich Zeit gelassen, Leutnant«, sagte Lasseur kühl. »Wie lange sind Sie schon hier? Sind es nicht zwei Jahre?« Der Privateer sah ihn mit Verachtung an. »Vielleicht war das keine so gute Idee.«

Hawkwood sah Murat an und wiegte den Kopf. »Wir dachten, Sie seien der richtige Mann, den man um Rat fragen könne. Sieht aus, als ob wir da falschlagen.« Er sah Lasseur kurz an und zuckte die Schultern. »Schade.«

»Wollen Sie wissen, was ich denke?«, murmelte Lasseur. »Ich glaube, der Leutnant ist etwas gleichgültig geworden, er hat es ein bisschen zu bequem hier. Wahrscheinlich hat er noch nie daran gedacht, zu fliehen. Es geht ihm doch hier viel zu gut.« Lasseur sah den Dolmetscher herausfordernd an. »So ist es doch, oder? Ich würde sogar wetten, dass Sie hier durch Ihre Dolmetscherdienste und Ihre Tauschgeschäfte eine ganze Menge mehr verdienen als damals als Navyoffizier. Sie haben sich hier ein hübsches, kleines Geschäft aufgebaut, nicht wahr? Sie wollen gar nicht weg. Habe ich Recht?«

Die Wange des Dolmetschers zuckte nervös. »Ich sagte ja nur, dass solche Sachen lange dauern können - Wochen, manchmal sogar Monate.«

»Und was ist, wenn wir nicht so lange warten wollen?«, sagte Hawkwood.

»Wir konnten nicht anders, als die Wasserlieferung vorhin zu beobachten«, sagte Lasseur. »Wir dachten, das könnte eine Möglichkeit sein.«

Nach einer Pause schüttelte der Dolmetscher kurz den Kopf. »Die Wasserfässer können Sie vergessen. Das hat mal funktioniert, aber jetzt nicht mehr. Die werden jetzt als Erstes kontrolliert.«

»Tatsächlich?«, sagte Lasseur. Er sah Hawkwood an. »Das wär’s also, was diese Idee anbelangt.«

»Ich sagte ja, es wäre zu verdammt einfach gewesen«, sagte Hawkwood. »Okay, und was ist mit den anderen Liefertransporten?«

Lasseur hatte seine Rolle wunderbar gespielt. Murat hing wie ein Fisch am Angelhaken. Seine Eitelkeit war herausgefordert worden, und er hatte nicht widerstehen können. Jetzt konnte er die Rolle des Allwissenden spielen. Wieder schüttelte er den Kopf. »Das ist auch schon versucht worden. Ich sagte Ihnen ja, die Arschlöcher kontrollieren alles. Auf diese Art kommen Sie nie weg.«

Murats Blick schweifte umher, abgelenkt von der allgemeinen Geschäftigkeit hier unten. Die drei Männer saßen an einer der Geschützöffnungen auf Backbord. Hawkwood vermutete, dass es Murats Schlafplatz war, denn der Dolmetscher hatte ihn und Lasseur hier empfangen, als gewährte er ihnen Zutritt zu seinem persönlichen Hoheitsgebiet. Überall auf dem Deck gingen die fleißigeren unter den Häftlingen ihren verschiedenen Beschäftigungen nach. Korbflechter, Briefschreiber und Stricker hockten neben Knochenschnitzern und Barbieren. Manche arbeiteten, ohne zu sprechen. Andere unterhielten sich leise. In den Pausen, die dazwischen immer wieder entstanden, konnte man das Kratzen der Federn, das Klappern der Scheren und das Schaben der Klingen auf den Knochen hören. Hawkwood fragte sich, ob es wohl Zeiten gab, wo es auf dem Schiff vollkommen ruhig war. Aber er bezweifelte es.

»Wir könnten die Dunkelheit ausnutzen«, sagte Lasseur. »Dann könnte man ein Boot stehlen.«

Wieder schüttelte Murat den Kopf. »Die Boote werden Abends hochgewinscht. Die hängen mindestens zehn Fuß überm Wasser. Eines bleibt unten, aber das ist mit einer Kette am Floß festgemacht und immer bewacht.«

»Verdammt.« Lasseur biss sich auf die Lippe.

Hawkwood wandte sich an Murat. »Wie sind die anderen fortgekommen?«

»Die anderen?« Es klang argwöhnisch.

»Es hat doch andere gegeben, oder?« Lasseur ließ nicht locker.

Man sah deutlich, dass Murat zögerte. Das Gesicht des Dolmetschers nahm einen listigen Ausdruck an. »Wie ich schon sagte, Captain, Sie sind erst eine kurze Zeit hier. Sie erwarten doch nicht, dass Sie so schnell hinter unsere kleinen Geheimnisse kommen.«

Also gibt es Geheimnisse, dachte Hawkwood.

Lasseurs Augenbrauen schossen in die Höhe. »Aber Leutnant, man könnte ja fast denken, Sie vertrauen uns nicht.«

Der Dolmetscher spreizte die Hände. »Also, zunächst ist da mal die Sache mit dem Topf. Da haben Sie noch nichts hineingetan.«

»Topf?« Lasseur sah Hawkwood an, als erwartete er die Erklärung von ihm. »Was für ein Topf? Wovon zum Teufel redet er?«

»Hat Ihr Freund Fouchet Ihnen das nicht erzählt?«, sagte Murat mit einem angedeuteten Lächeln.

»Was soll er uns erzählt haben?« Hawkwood lehnte sich zurück.

»Von unseren Essensrationen wird ein Beitrag einbehalten. Das ist für die Gefangenen, die im Strafvollzug sind. Wenn jemand gegen die Regeln verstößt oder am Schiff etwas beschädigt, wird ihre Ration auf zwei Drittel gekürzt. Das Essen, das wir uns absparen, hilft denen dann.«

»Sehr großzügig«, sage Lasseur. »Und vielleicht wird ein wenig davon auch für Flüchtende auf die Seite geschafft? Hab ich Recht?«

Wieder zögerte Murat.

»Aber, aber, Leutnant, Sie sind ja ein ganz Gerissener!« Lasseur grinste.

Der Dolmetscher wurde rot.

»Also gut«, sagte Hawkwood. »Jetzt hören wir mal auf, um den heißen Brei herumzureden. Was würde es kosten?«

Murat zwinkerte nervös. »Wie meinen Sie das?«

»Versuchen Sie nicht, uns für dumm zu verkaufen, Leutnant.«

»Denken Sie lieber an Ihre Kommission.« Lasseur zog suggestiv eine Augenbraue hoch.

»Und daran, wie großzügig wir vielleicht sein könnten«, fügte Hawkwood hinzu.

Die Augen des Dolmetschers fingen an zu leuchten.

»Nun?«, sagte Hawkwood ermunternd, als er den gierigen Blick bemerkt hatte.

Murat sah sie lange an. Endlich seufzte er. »Wenn man das organisieren könnte - und damit sage ich noch nicht, dass man es könnte -, dann wäre es nicht billig. Es entstehen Kosten, wie Sie sich vorstellen können.«

Lasseur tätschelte das Knie des Dolmetschers. »Guter Junge.« Er wandte sich an Hawkwood und kniff ein Auge zu. »Hab ich’s nicht gesagt, dass Leutnant Murat unser Mann ist?«

Murat schien unter der Berührung zusammenzuzucken, fing sich jedoch schnell wieder.

Hawkwood beugte sich vor. »In Ordnung, also wie viel?«

Der Dolmetscher zögerte abermals. Hawkwood war überzeugt, er tat es nur, um einen besseren Effekt zu erzielen.

»Nur so als Beispiel«, sagte Hawkwood.

»Als Beispiel?«

»Na ja, wir drei unterhalten uns ja nur, mehr ist es doch nicht.«

Murat sah um sich. Dann sagte er leise: »Ich gehe davon aus, dass Sie keine Schiffspassage bis Amerika brauchen?«

»Bringen Sie mich bis Frankreich, alles andere können Sie mir überlassen.«

Murat lehnte sich zurück. »Also gut; viertausend Francs oder zweihundert englische Pfund, wenn Ihnen das lieber ist.«

Hawkwood atmete tief durch.

»Für jeden«, schloss Murat.

»Um Gottes willen!« Hawkwood setzte sich auf. »Wir wollen doch nicht das ganze verdammte Schiff kaufen! Wir wollen bloß von ihm runter. Das Höchstangebot für meine Stiefel war nur zwanzig Francs. Ehe wir so viel verdient haben, sind wir ja an Altersschwäche oder am Schlagfluss gestorben. Sind Sie verrückt?«

»Im Preis enthalten sind Transport, Unterkunft und die sichere Überfahrt nach Frankreich.«

»Für den Preis«, sagte Hawkwood, »erwarte ich, dass mich der Kaiser in einem goldenen Vergnügungsboot abholt und mich persönlich an Land trägt, wenn wir angekommen sind!«

Lasseur lachte leise. Dann wurde sein Gesicht ernst.

»Wie zum Teufel erwarten Sie, dass wir an so viel Geld kommen?«, fragte Hawkwood.

Der Dolmetscher schüttelte den Kopf. »Ein Mittelsmann nimmt Kontakt mit Ihren Familien auf. Die leiten die Bezahlung in die Wege. Wenn der volle Preis gezahlt ist, werden die Vorbereitungen für Ihre Abreise getroffen.«

»Und wie kommen wir vom Schiff runter?«

Murat lächelte. »Also kommen Sie, meine Herren; ich denke, Sie verstehen, dass wir das mit äußerster Diskretion behandeln müssen. Je weniger Sie zum jetzigen Zeitpunkt wissen, desto sicherer ist es für uns alle. Ich würde auch dringend darum bitten, dass dieses Gespräch unter uns bleibt.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass die Wände hier Ohren haben?«, fragte Lasseur.

Murat verzog das Gesicht. »Es wäre nichts Ungewöhnliches, dass die Briten uns Spione schickten; aber nein, leider hat es auch Fälle gegeben, bei denen der Verrat aus den eigenen Reihen kam.«

»Es gibt Verräter unter uns?«

»Nicht unbedingt. Sie vergessen, wir sind hier nicht die einzige Nationalität. Captain Hooper ist ja ein Beweis dafür. Wir haben hier Dänen, Italiener, Schweden, Norweger … was Sie wollen. Frankreich hat viele Verbündete. Und es gibt immer welche, die jede Chance nutzen, um Mitgefangene zu verraten, wenn damit ihr eigenes Schicksal erträglicher wird.«

Und ich habe wenigstens eine Tatsache erfahren, dachte Hawkwood. Wenn es eine organisierte Fluchtroute gibt, dann steht sie nur den Wohlhabenden offen. Er fragte sich, wie gut gefüllt die Truhen von Bow Street waren und wie die Reaktion von James Read sein würde, wenn Ludd ihm die geforderte Summe nannte: vier Jahresgehälter für einen Runner.

Hawkwood spürte Lasseurs Hand auf seinem Arm.

Er merkte, dass der Privateer sein Nachdenken für Zweifel gehalten hatte, denn Lasseur sagte: »Sie fragen sich, wie Sie das Geld aufbringen würden?«

»Es ist nicht das Geld«, sagte Hawkwood, der langsam wieder zu sich kam. »Es ist die Zahlungsmodalität.«

Das könnte interessant werden, dachte Hawkwood, es sei denn, Ludd fiele bei ihrer Zusammenkunft eine praktische Lösung ein.

Doch Lasseur klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und überraschte ihn, indem er sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, mein Freund.« Der Privateer wandte sich an Murat. »Ich werde die Gebühren für Captain Hooper übernehmen.«

Einen Augenblick wirkte Murat verblüfft, dann zuckte er fast nachlässig die Schultern. »In Ordnung.«

»Wie lange wird es dauern, bis wir etwas hören?«, fragte Lasseur.

»Das kann ich nicht sagen. Ich brauche den Namen der Person, an die sich der Mittelsmann wenden soll, und ein Schreiben, aus dem hervorgeht, dass er in Ihrem Auftrag handelt. Sie werden informiert, sobald wir Nachricht haben, dass die Summe bezahlt ist.« Murat sah sie an. »Akzeptieren Sie diese Bedingungen?«

Lasseur und Hawkwood sahen sich an.

»Nur so als Beispiel?«, sagte Lasseur. »Aber ja, vollkommen.«


»Und?«, fragte Lasseur. »Was ist Ihre Meinung?«

»Meiner Meinung nach ist Leutnant Murat ein doppelzüngiger Schweinehund«, sagte Hawkwood.

Sie waren wieder auf dem Vordeck. Die stickige Luft unter Deck war schwer zu ertragen gewesen. Sie waren oben angekommen, wo es immer noch eine Brise gab, auch wenn sie wesentlich abgeflaut war.

»Ich dachte, das hätten wir vorher schon festgestellt«, sagte Lasseur trocken. Dann runzelte er die Stirn. »Sie machen sich immer noch Gedanken wegen des Geldes, nicht wahr? Wie ich schon sagte, das brauchen Sie nicht. Sie können es mir zurückgeben, wenn wir wieder zu Hause sind.«

»Sie kennen mich doch kaum«, sagte Hawkwood.

»Stimmt«, erwiderte Lasseur. »Aber ich bin ein guter Menschenkenner. Sie werden Ihre Verbindlichkeit begleichen, das weiß ich.« Der Privateer grinste ihn entwaffnend an. »Und wenn ich mich geirrt haben sollte, dann werde ich Ihnen das Herz rausschneiden und an die Schweine verfüttern.«

»Ihre Schwiegereltern können so viel Geld aufbringen?«, fragte Hawkwood. Er hatte keine Vorstellung, aber er hielt es nicht für möglich, dass ein französischer Bauer ein derartiges Vermögen hatte.

»Nein.« Lasseur schüttelte den Kopf, dann sagte er mit Nachdruck: »Aber meine Männer können es. Der Mann, den ich dem Leutnant nannte, ist einer meiner Agenten.«

»Sie haben Agenten in England?«, sagte Hawkwood.

»Natürlich.« Lasseur schien überrascht, dass Hawkwood überhaupt gefragt hatte. »Ich beschäftige eine ganze Reihe von ihnen. Die halten mich über die Schiffsbewegungen der Britischen Navy auf dem Laufenden.«

Hawkwood ahnte, dass man ihm seine Unsicherheit bezüglich der Bezahlung noch immer ansah, denn Lasseur unterbrach sich und sagte: »Was ist? Erzählen Sie mir nicht, Sie wollten warten, bis Ihr Urlaub auf Ehrenwort genehmigt wäre? Entschuldigen Sie, aber ich halte Sie nicht für einen Mann, der zufrieden in einem englischen Kaffeehaus sitzt und darauf wartet, dass der Krieg zu Ende geht. Sie sagten zwar, ich kenne Sie nicht. Aber ich weiß, dass Sie Soldat sind, und Sie wissen, dass unsere beiden Länder Männer wie uns brauchen, um weiterzukämpfen. Und deshalb werden wir von hier abhauen. Ich werde zu meinem Sohn und zu meinem Schiff zurückkehren. Sie werden zu Ihrer Freundin und zu Ihrem Schützenregiment zurückkehren, und gemeinsam werden wir die Briten besiegen. Sie werden es für Ihren jungen Staat und für Ihren Präsidenten Madison tun, und ich für meinen Kaiser und die Ehre Frankreichs. Patriotismus hat keinen Preis, mein Freund, und viertausend Francs sind ein niedriger Preis für den Sieg. Was sagen Sie?«

Hawkwood sah Lasseurs ernstes, begeistertes Gesicht und zwang sich zu einem Grinsen. »Also gut, wann geht’s los?«

Lasseur schlug ihm auf die Schulter.


Es war ein schöner Sommertag geworden. Die Sonne war warm, und die schrillen Schreie der Möwen, die in der Luft kreisten und immer wieder aufs Wasser hinunterstießen waren, auch wenn sie eher schwermütig klangen, eine willkommene Abwechselung nach der Düsternis auf dem Geschützdeck. Von den Wäscheleinen zwischen den Rahen flatterten Hemden und Hosen. Von der Werft hallten schwache Arbeitsgeräusche herüber: der Klang von Hämmern auf Metall, das Rasseln einer Kette, das Ratschen der Sägen. Draußen auf dem Fluss veranstalteten zwei Fregatten, deren volle Segel sich wie graue Wolken blähten, ein Wettrennen zur Mündung hin.

Nur der Blick aufs Deck und über den eigenen Bug hinweg auf die geschwärzten Hecks der anderen Hulks zerstörte dieses Bild. Sie lagen im Wasser wie klobige, aus Kohle gehauene Skulpturen. Aus den Schornsteinen der Hütten an Deck stieg schwarzer Rauch in den blauen Sommerhimmel zum Beweis, dass selbst der hellste Tag verdunkelt werden konnte.

Wie um das zu bestätigen, ertönte in der Ruhe plötzlich ein Aufheulen, das einem das Blut in den Adern erstarren ließ, und im Nu war aus den Gefangenen auf dem ohnehin schon überfüllten Deck ein wild brodelnder Knäuel von Menschen geworden.

Von seiner Position auf dem Vordeck aus sah Hawkwood, wie die Gruppen der Gefangenen auseinanderstoben. Man hörte laute, panikartige Schreie. Er merkte, wie Lasseur heftig durchatmete. Zunächst hatte er keine Ahnung, was da passierte. Was er sah, erinnerte ihn an Käfer, die über den Kadaver eines toten Tieres herfallen, nur dass die Lebewesen, die hier aus den Luken quollen und über den Park rannten, keine Käfer waren, sondern Menschen, viele von ihnen nackt. Sie hatten lange, verfilzte Haare, und ihre Körper waren unbeschreiblich schmutzig. Diejenigen, die nicht nackt waren, hätten es genauso gut sein können, denn die Lumpen, die sie auf dem Körper trugen, waren nichts weiter als Fetzen. Hawkwood bemerkte, dass einige von ihnen in Decken gehüllt waren, die sie wie Togen um ihre Körper geschlungen hatten. Zischend, kreischend und die Zähne fletschend drängten sie sich um die anderen Gefangenen und bearbeiteten sie mit Fäusten und Füßen, wobei sie mit ihren Sprüngen und Verrenkungen an ein Rudel bösartiger Paviane erinnerten. Andere begnügten sich damit, auf ihre blechernen Essnäpfe zu schlagen. Es war ein ohrenbetäubender Lärm.

Vom Quarterdeck ertönten Alarmrufe. Als die Milizionäre sich endlich besonnen hatten und eilig ihre Musketen von der Schulter nahmen, erschien hinter ihnen ein großer, hagerer Offizier in Uniform. Seine Größe wurde durch den dunklen Dreispitz noch unterstrichen. Es war der Commander des Gefängnisschiffes, Leutnant Hellard. Von Wachen flankiert, trat er rasch an die Reling und starrte auf das Chaos. Er verzog angewidert das Gesicht und gab einen Befehl. Ein halbes Dutzend weiterer Wachen, angeführt von einem Korporal, kam mit lautem Getrampel aus dem Schuppen am Heck angerannt. Ihre Gefährten, die bereits an der Reling standen und nun sicher sein konnten, dass sie Verstärkung hatten, legten die Finger an die Abzüge ihrer Musketen. Innerhalb von Sekunden zielte eine Reihe von Gewehrläufen auf die gesamte Breite des Quarterdecks.

Das Chaos im Park hielt unverändert an, und der Leutnant hob den Arm. Der Korporal bellte einen Befehl, die Milizionäre zielten immer noch.

Um Gottes willen!, dachte Hawkwood. Er macht Ernst!

Doch der Leutnant gab den Befehl nicht. Stattdessen fuhr er fort, das Drama, das sich auf Deck abspielte, zu beobachten. Die Wachen fingerten nervös an den Abzugshähnen ihrer Musketen herum.

Der Aufruhr setzte sich noch zwei bis drei Minuten fort. Dann veränderte sich die Situation so plötzlich, als habe jemand einen entsprechenden Befehl erteilt. Die nackten und togaumhüllten Männer zogen sich zurück. Die anderen Gefangenen gruppierten sich neu. Einige von ihnen, durch den Rückzug der Eindringlinge ermutigt, stürzten sich auf ihre Peiniger und trieben sie mit Fausthieben zu den offenen Luken. Ein paar von ihnen schwangen Stöcke, ihre Arme unermüdlich im Einsatz. Das wütende Schmerzgebrüll bewies, dass ihre Schläge saßen. Die zurückgedrängten Angreifer verschwanden wieder in den Luken, aus denen sie hervorgekrochen waren, wie Kakerlaken, die vor dem Licht flüchten.

Es schien nur Sekunden, bis sich die Eindringlinge wieder verzogen hatten. Sofort reckten sich mehrere Hände in die Luft, die Handflächen geöffnet zum Zeichen, dass die anderen Gefangenen auf Deck die Situation wieder unter Kontrolle hatten. Der Leutnant jedoch bewegte sich nicht, er machte auch keinerlei Andeutung, ob er die hochgereckten Hände überhaupt wahrgenommen hatte. Er blieb weiterhin reglos stehen und beobachtete das Deck. Die Häftlinge, immer noch keuchend, starrten zurück. Manche von ihnen bluteten oder hatten blaue Flecken. Eine angespannte Stille senkte sich über den Park. Hoch in der Luft schrie eine Möwe. Keiner rührte sich. Nach weiteren zehn Sekunden senkte der Leutnant den Arm und trat zurück. Sofort war die Anspannung auf Deck wie weggeblasen. Die Milizionäre sicherten ihre Musketen und hängten sie wieder über die Schulter. Die Verstärkung machte kehrt. Die Wachen gingen auf ihre Posten zurück. Die Atmosphäre an Deck nahm wieder die gewohnte Dumpfheit an. Die verletzten Gefangenen zogen sich zurück, um ihre Wunden zu lecken.

Hawkwood merkte, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Jetzt atmete er tief durch.

»Was war denn das?«, sagte Lasseur, ebenfalls aufatmend. »Wer um Himmels willen waren denn die?«

»Römer«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Miststücke!«

Hawkwood und Lasseur drehten sich um. Es war Charbonneau.

»Römer?«, sagte Hawkwood, der glaubte, sich verhört zu haben.

»Abschaum«, sagte Charbonneau mit wütendem Gesicht. »Die hausen auf dem untersten Deck. Man sieht sie nicht sehr oft. Sie bleiben gern im Dunkeln. Manche von ihnen sind noch länger hier als ich. Wir nennen sie Römer, weil sie ihre Decken wie Togen tragen. Sie haben auch noch andere Namen, aber eigentlich sind es wilde Tiere. Früher waren sie in Gefängnissen an Land. Ich habe gehört, dass sie zur Bestrafung hier auf die Schiffe verlegt wurden. Und seitdem leiden wir anderen doppelt.«

»Einige von ihnen waren nackt!«, stellte Lasseur überflüssigerweise fest.

Charbonneau nickte. »Das sind die Verkommensten von allen. Sie haben alles, was sie besaßen, verspielt. Das Spielen hält sie am Leben, es ist ihnen zur Sucht geworden. Ihr Leben wird nur noch von Karten und Würfeln bestimmt. Zuerst spielen sie um Geld. Wenn das weg ist, verspielen sie ihre Kleidung und ihr Bettzeug, sogar ihre Essensrationen. Manche von ihnen hungern und sparen ihre Rationen auf, um sie zu verkaufen und dann wieder spielen zu können. Wenn sie gar nichts mehr haben, klauen sie von anderen oder lungern an Deck herum und suchen Gemüseabfälle oder Fischköpfe. Sogar Ratten sind vor ihnen nicht sicher. Ab und zu schicken sie eine Gruppe auf Raubzüge, so wie die, die Sie eben gesehen haben.«

»Rafalés«, murmelte Hawkwood.

»Ja, so werden sie auch genannt«, sagte Charbonneau, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Sie haben davon gehört?«

Hawkwood nickte.

»Warum bestrafen die Wachen sie nicht?«, fragte Lasseur.

Charbonneau lachte trocken. »Wie denn? Sehen Sie sich doch um. Ist das hier nicht schon Strafe genug? Und außerdem sind dem Commander die Hände gebunden. Sie dürfen nicht ausgepeitscht werden. Körperliche Züchtigung ist verboten, es sei denn, ein britischer Soldat oder ein Mitglied der Besatzung ist verletzt worden.«

»Also hätte er den Befehl zum Schießen auch nicht gegeben?«, fragte Lasseur.

»Nein, es sei denn, es wäre zu einem richtigen Aufstand gekommen, in dem die Sicherheit seiner Leute bedroht gewesen wäre. Was unseren Commander anbetrifft, so lässt er jede Meinungsverschiedenheit unter Gefangenen auch vor deren eigenem Gericht austragen.« Charbonneau schnaufte verächtlich. »Was unter Deck vor sich geht, bleibt auch unter Deck. Wir sind ja schon so weit, dass die Wachen sich auf dem Orlopdeck gar nicht mehr sehen lassen, die da unten überlassen sie sich selbst. Und wir anderen gehen dort auch nie hin. Es ist einfach zu gefährlich. Sie haben ja gesehen, was das für Kerle sind.«

Hawkwood dachte an den Schrei, den er in der ersten Nacht gehört hatte und auf den niemand reagiert hatte. Er sah über den Park zum Quarterdeck und beobachtete, wie der Commander seinen Dreispitz abnahm, sein Gesicht der Sonne zuwandte und die Augen schloss. Der Leutnant stand ganz still und genoss die Wärme auf seiner Haut. Sein dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen.

Nach etwa einer halben Minute öffnete er die Augen und senkte den Kopf. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, setzte den Dreispitz wieder auf und wollte gehen, doch dann blieb er abrupt stehen, als hätte er gemerkt, dass er in diesem privaten Moment beobachtet worden war. Er sah über seine Schulter nach hinten. Hawkwood machte keinen Versuch, wegzusehen, als der grübelnde Blick des Leutnants langsam über die Gefangenen schweifte. Als Hellards Augen den seinen begegneten, schien die Aufmerksamkeit des Commanders einen Augenblick bei ihm zu verweilen, aber dann wanderte der Blick weiter, der Moment war vorüber. Hawkwood schloss, dass er es sich nur eingebildet hatte, was auch gut war. Er wusste, dass es auffälliger war, wenn man in den Kleidern eines Zivilisten mit dem Leutnant Blickkontakt aufnahm, als in der allgemein üblichen gelben Kluft. Das war nicht klug gewesen.

»Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Lasseur leise beim Anblick des Leutnants, der gerade von Deck ging, »haben wir es hier mit einem Mann zu tun, der viel Zeit zum Nachdenken hat.«

Das Leben an Deck nahm wieder seinen gewohnten Lauf. Charbonneau war weitergegangen. Auf dem Deck unterhalb von Hawkwood und Lasseur wurde gerade Fechtunterricht erteilt. Da sie keine Klingen hatten, mussten die Schüler sich mit den Stöcken begnügen, mit denen sie soeben den Aufruhr niedergeschlagen hatten - dennoch ein riskantes Unternehmen in Anbetracht der herrschenden Enge - und der Park hallte wider vom Aneinanderschlagen der hölzernen Degen.

»Ich halte nicht sehr viel von diesem Lehrer«, sagte Lasseur verächtlich, indem er auf die Szene hinuntersah. »Der Mann hat einen hundsmiserablen Stil. Fechten Sie auch?«

»Je nach Lust und Laune«, sagte Hawkwood.

Diese unverbindliche Antwort quittierte Lasseur nur mit einem kurzen Brummen, dann sagte er: »Ein wunderbarer Sport, eine Beschäftigung für Gentlemen. Vielleicht sollten wir auch Unterricht geben? Wir könnten uns ein paar Extrarationen verdienen.«

Der trockne Ton verriet, dass Lasseur es sarkastisch gemeint hatte, deshalb antwortete Hawkwood nicht. Er sah übers Wasser. Lasseur ebenfalls. Die beiden Fregatten näherten sich der Mündung. Dicht am Wind, die Rahe gebrasst, ließ ihre Nähe auf eine freundschaftliche Rivalität der Mannschaften schließen. Beide Schiffe versuchten, dem Gegenspieler den Wind zu nehmen, damit der Verlierer sich dann mit schlaffen Segeln dahinquälen musste - eine für alle sichtbare Peinlichkeit.

Lasseur sah in die Ferne. Seine Hände umklammerten die Reling so fest, dass seine Knöchel weiß wurden, und Hawkwood wusste, dass er an sein eigenes Schiff dachte. Hawkwood versuchte sich vorzustellen, was dem Privateer durch den Kopf gehen mochte, aber er wusste, dass er dessen Gedanken nicht erraten konnte. Seine eigene Welt war so verschieden von der Welt Lasseurs, dass jeder Versuch, sich in ihn hineinzudenken, zwecklos war.

Zwar hatten sie beide Berufe, die nicht ganz ungefährlich waren, doch damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Hawkwoods Welt bestand aus düsteren Straßen, Slums und Bordellen, aus Diebsküchen voller Hehler und Strolche. In völligem Gegensatz dazu bestand Lasseurs Welt aus dem offenen Deck eines Segelschiffs in voller Fahrt. Hawkwoods Welt war eine eng begrenzte, dazu fast so dunkel und menschenunwürdig wie das Geschützdeck auf diesem Schiff, Lasseurs dagegen war eine Welt der Freiheit, des offenen Meeres und des weiten, endlosen Himmels. Lasseur musste sich auf diesem Hulk vorkommen wie ein Vogel, dessen Flügel man gestutzt hatte. Kein Wunder, dass er so fest entschlossen war, zu fliehen.

»Was meinen Sie, wie lange es tatsächlich dauern wird?«, fragte Lasseur. Er hatte Hawkwood nicht angesehen, sondern beobachtete weiter die beiden Schiffe, die sich dem offenen Meer näherten.

»Murat?«

Lasseur nickte.

»Er ist im Vorteil«, sagte Hawkwood. »Er wird uns wahrscheinlich warten lassen, selbst wenn es ihm nur darum geht, uns zu zeigen, dass wir auf ihn angewiesen sind. Es könnte schon etwas dauern.«

Lasseur sah ihn an. Sein Gesicht wirkte niedergeschlagen. »Wenn ich noch länger hier sein muss, dann drehe ich durch, das schwöre ich.«

»Wir müssen einen Tag nach dem anderen nehmen«, sagte Hawkwood. »Wir müssen es einfach so sehen. Ich sage es zwar nicht gern, aber in einer Beziehung hatte dieser Bastard Recht.«

»In welcher?«

»Dass wir geduldig sein müssen.«

Lasseur verzog das Gesicht. »Das ist nicht gerade eine meiner Stärken.«

»Meine auch nicht«, gab Hawkwood zu, »allerdings haben wir keine Wahl. Im Moment glaube ich nicht, dass wir weiter viel tun können.«

Lasseur nickte müde. »Natürlich haben Sie Recht. Aber das heißt noch nicht, dass ich es gut finden muss, oder?«

Hawkwood antwortete nicht. Er dachte wieder an die Meute Halbnackter, die aus den Luken gekommen war, und an den Aufruhr, den sie verursacht hatte. Lasseur hatte das Gefängnisschiff als die Hölle bezeichnet. Bisher hatte dieser Vergleich auf schreckliche Art und Weise gestimmt. Während seiner Dienstzeit als Runner hatte Hawkwood viele Londoner Gefängnisse besucht, darunter Newgate, Bridewell und Fleet. Ohne Ausnahme waren alle schrecklich. Aber dieser schwarze, herzlose Schiffsrumpf war noch etwas anderes. Hawkwood spürte es, hier war das wirkliche Grauen am Werk. Er wusste noch nicht, von welcher Art es war und ob er jemals damit konfrontiert werden würde, aber instinktiv wusste er, es würde mit nichts zu vergleichen sein, was er bisher erlebt hatte.

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