»Meine Brüder, die Inquisitoren, verlangen von mir, etwas über die Natur der Mutterhexe zu erfahren. Selbst die Magd zeigt sich überaus neugierig und fragt mich danach. Sobald ich ihnen allen antworte, Einzelheiten ließen sich nicht bei mir, sondern nur bei der Mutterhexe selbst in Erfahrung bringen, machen flugs Gerüchte die Runde, der alte Ol habe den Verstand verloren.
Was gelten meine Überlegungen denn schon? All meine Gedanken, Schlussfolgerungen und Ansichten? Bisweilen dünkt mich, es komme längst nicht nur eine Mutterhexe in die Welt, sondern ihrer unzählige würden zur gleichen Stunde geboren, auf dass in einem Duell auf Leben und Tod die stärkste unter ihnen ermittelt werde.
Es ist ein langer und warmer Herbst. Ich habe das Zimmermädchen angewiesen, in meinem Arbeitszimmer Blätter statt eines Teppichs auszulegen. Der Duft belebt mich, das Rascheln beruhigt mich. Freilich lässt mich der Staub husten, mithin vermag ich nach einem langen Arbeitstag nicht einzuschlafen, weshalb ich heute Morgen befahl, die Blätter wieder einzusammeln und hinauszutragen.
Auf drei großen Plätzen sind gestern neue Scheiterhaufen errichtet worden.
Die Natur meiner Herrinnen entzieht sich unserer Ratio. Gewiss, wir können uns an die Stelle des niedersten Käfers versetzen, der an Blattwerk nagt, um den Hunger zu stillen. Uns dergleichen vorzustellen sind wir imstande, da der Hunger uns nicht fremd ist. In unseren sündigen Träumen können wir uns gar an die Stelle des Hirschs setzen, welcher die Hirschkuh deckt, dieweil auch uns die Fleischeslust nicht fremd ist. Kein Einziger von uns vermag indes je zu verstehen, was die Mutterhexe antreibt. Sie bringt Junge hervor, die sie hernach zumeist tötet. Vergießt ein ehrgeiziger Herrscher das Blut seiner und fremder Untertanen, so verstehen wir selbst das, ist der Stolz doch auch uns nicht fremd. Erlaubt ein unersättlicher Arzt der Krankheit, um sich zu greifen, auf dass er den verzweifelten Kranken das Dreifache abverlangen kann, so vermerken wir eine Geldgier, die stärker als das Gewissen ist. Meine Herrinnen, die Hexen, sind weder ehrgeizig noch unersättlich. Sie trachten nicht nach Geld noch nach Macht, sie kennen keinen Hunger noch Fleischeslust. Sie wissen nicht, was gut ist und was wir schlecht nennen. Sie sind unschuldig. Sie richten uns einzig durch ihr Dasein zugrunde.«
»Frau, äh, Lys, der Herr Großinquisitor lässt Ihnen ausrichten, Ihre Dienste würden heute nicht benötigt. Man wird Sie jetzt nach Hause bringen.«
»Ich kann doch allein gehen«, antwortete sie sofort.
»So sind die Anordnungen des Herrn Inquisitors«, erklärte der Referent — nicht Myran, sondern ein anderer — traurig. »Er ist ungeheuer beschäftigt, ich kann an dem Befehl leider nichts ändern. Man wird Sie abholen.«
»Will mich der Herr Großinquisitor denn gar nicht sehen? Nicht einmal kurz?«
»Ich habe Ihnen genau wiedergegeben, was Herr Starsh angeordnet hat«, erklärte der Referent mit ausgebreiteten Armen. »Dem ist nichts hinzuzufügen. Nicht das Geringste.«
Sie kannte ihren Begleiter bereits, einen schmächtigen, älteren Mann, der sein ganzes Leben lang nur Hilfstätigkeiten ausgeübt, sich darüber jedoch nie beklagt hatte. Da Ywha wusste, wie lustig dieser ewige Assistent sonst gewesen war, irritierte sie seine plötzliche Einsilbigkeit umso mehr. Nachdem er Ywha begrüßt hatte, hatte er kaum noch ein Wort herausgebracht.
»Was ist los? Gibt es Schwierigkeiten?«
Ihr Begleiter antwortete nicht. Vielleicht hatte er die Frage auch nicht gehört, die sie ihm mehr oder weniger beiläufig gestellt hatte. Sie hielt kaum mit ihm Schritt, während er durch die verschlungenen Gänge und Treppenhäuser trabte, denn aus irgendeinem Grund verzichtete der ewige Assistent auf Fahrstühle. Kurz vorm Haupteingang — so weit kannte sich Ywha im Palastinnern inzwischen aus — blieb ihr Begleiter stehen. »Ich möchte Sie bitten, im Auto zu warten. Oder nein, folgen Sie mir. Wir müssen kurz noch etwas erledigen.«
Ywha folgte ihm gehorsam, hätte sie doch sonst rasch jede Orientierung verloren. Prachtvolle Gänge und Säle mit reglosen Wachtposten wechselten sich mit dunklen Fluren ab, wie man sie aus tristen staatlichen Einrichtungen kannte. Ywha hatte nicht die geringste Ahnung, in welchen Teil des Palasts sie besagte kurze Erledigung führte. Schließlich blieb ihr Begleiter stehen und öffnete vor Ywha eine Glastür, die mit weißer Krankenhausfarbe überstrichen war.
Hier gab es Publikum, Frauen, die auf einer langen Bank an der Wand saßen. Und einen Wachtposten, der an der gegenüberliegenden Wand in einem Sessel neben der schweren, gepanzerten Tür döste.
Ywhas Mund trocknete aus. Warum auch immer.
»Warten Sie hier!« Ihr Begleiter nickte in Richtung eines freien Stuhls und eilte zur Tür, wobei er irgendwelche Papiere aus irgendwelchen Aktenmappen kramte. Der aufwachende Posten erhaschte seinen Blick, und Ywha bemerkte, wie der ewige Assistent zu ihr hinüberschaute, als wollte er sagen: Passen Sie auf sie auf.
Sie setzte sich auf die Stuhlkante.
Mit ihr warteten — und sie warteten, das ließ sich ihrer linkischen, verkrampften Haltung klar entnehmen — vier Frauen. Sie alle starrten Ywha jetzt an. Nicht offen, sondern verschämt. Die vier, das waren: eine Alte, eine Frau in mittleren Jahren und zwei junge Frauen zusammen, eine dürre und eine pummelige. Obwohl sie sich weder in Kleidung, vom Gesicht oder Auftreten ähnelten, nahm Ywha klar eine gewisse Gemeinsamkeit wahr, die jene vier Frauen stärker miteinander verband als die Bank, auf der sie momentan saßen.
Kurz darauf ging ihr ein Licht auf. Genauer, sie glaubte dahintergekommen zu sein: Die Wartenden mussten Hexen sein. Nicht initiierte, wie sie selbst. Der Umgang mit Klawdi Starsh hatte ihr, von einigen anderen Vorteilen abgesehen, auch ein vages Verständnis von der Klassifizierung ihresgleichen vermittelt.
Die Tür öffnete sich einen Spaltweit. Ywha, aus ihren Überlegungen gerissen, rechnete mit ihrem Begleiter, doch stattdessen trat eine schwarzhaarige, bleiche Frau mit verweinten Augen heraus. Sie drehte sich um und ging an dem Wachtposten vorbei zum Ausgang. Die auf der Bank wartenden Frauen blickten ihr nach.
»Die Nächste«, sagte eine mechanische Stimme. Erst da bemerkte Ywha den Lautsprecher über der gepanzerten Tür.
Die pummelige junge Frau erhob sich unbeholfen, zog den Kopf ein und schlurfte mit hängenden Schultern zur Tür, durch die die verweinte Frau herausgekommen war. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, richteten sich erneut drei Augenpaare auf Ywha.
Nun verstand sie auch, was sie verband. Alle drei zeigten dieselben trüben Gesichter, denselben gehetzten Blick.
»Soll ich dir erzählen, wie die Registrierung aussieht?«
»Hexe, vergiss nie, dass dich die Gesellschaft nicht zurückweist. Erhebe dich über den Abschaum und lass dich registrieren, damit du eine gleichberechtigte und gesetzestreue Bürgerin wirst.«
Das waren sie also, die gleichberechtigten und gesetzestreuen Bürgerinnen. Hier saßen sie also — nebeneinander. Wie oft sie wohl herkamen, um sich zu melden? Einmal im Monat? Einmal in der Woche? Oder — in besonderen Fällen — täglich?
Verbitterte, verschüchterte und in die Ecke gestellte Figuren. So sahen Zirkusbären aus, die ihrer Kette nie entkamen. Das Fell der Waldherrscher verklumpte, die Augen eiterten, wenn sie sich unter Getrommel auf den Hinterbeinen drehten.
Ywha senkte den Kopf, wollte diesen immer bohrenderen Blicken entkommen. Mit einem Mal erdrückte sie das alles.
Nasar. Klawdi. Sah sie etwa gerade in die trüben Pupillen ihrer baldigen Zukunft?
»Da wird man dir gern helfen, dein Schicksal zu wählen. Eine Papierfabrik am Stadtrand und die väterliche Aufsicht der Inquisition dürften deinen Erwartungen vom Leben doch voll und ganz entsprechen, oder etwa nicht?«
Mit Nasar war alles aus. Da gab es keine Hoffnung mehr. Selbst der Großinquisitor hatte sie zu den Akten gelegt. Blieb ihr überhaupt eine Wahl?
Wir sind wie du, sagten wortlos die Gesichter der Frauen, die auf der Bank saßen. Wir haben uns auch geschworen, lieber zu sterben, als in Gefangenschaft … Aber uns blieb kein anderer Ausweg. Und so leben wir … Früher einmal waren wir wie du, mit funkelnden Augen, stur und böse. Und du wirst genau wie wir werden. Gehorsam. Das hat sogar gewisse Vorteile, du wirst es bald bemerken.
Ywha sog die Luft durch die zusammengepressten Lippen ein. Die gepanzerte Tür flog sperrangelweit auf, und ihr Begleiter, inzwischen noch mürrischer, schoss an ihr vorbei: »Gehen wir.«
Kaum schloss Ywha die weiße Glastür hinter sich, fühlte sie sich besser.
Um sieben Uhr abends heulte die Sirene los, die die Sondereinheit der Inquisition zu einem Notfall rief. Um 19.30 Uhr evakuierte man in kleinen Gruppen Kinder und Eltern aus dem abgesperrten Gebäude des Stadtzirkus. Eine exzellente Wahl der Objekte, dachte Klawdi, der mit dem Fingernagel an einem Pflaster auf der Stirn herumpolkte. Erst der Nachtclub, jetzt der Zirkus …
Die Wolken, die so lange über den Provinzen gehangen hatten, hatten Wyshna erreicht.
Gestern Abend hatte der Herzog einen Bericht für den Staatsrat verlangt, was Klawdi glücklicherweise hatte abschmettern können. Die Regierung versuchte ständig, die Inquisition unterzubuttern, manchmal aus Gier, manchmal aus Angst. Alle Großinquisitoren aller Zeiten hatten sich Vereinnahmungsversuchen mehr oder weniger erfolgreich widersetzt. Klawdi bildete da keine Ausnahme.
Die Morgenzeitungen hatten Bilder des Straßenbahnunglücks gebracht. Die Abendzeitungen kannten nur ein Thema: den Überfall der Hexen. Der langjährige Einsatzleiter Kosta, inzwischen wieder bei Bewusstsein, lag im städtischen Krankenhaus, die Ärzte hielten sich, was seinen Zustand betraf, bedeckt. Offenbar war eine Gehirnblutung diagnostiziert worden.
Klawdi machte sich jedoch nichts vor. Alles, was bislang in Wyshna passiert war, stellte im Unterschied zur Epidemie in Rjanka und dem versuchten Terroranschlag im Stadion von Odnyza nur eine psychologische Attacke dar. Eine effektvolle Einschüchterung zwar, ein Hochschrauben der Emotionen. Von Angst nährten sich Hexen. Es war ihr Mutterboden.
Eine effektvolle Einschüchterung. Doch das erste Blut war bereits geflossen.
Völlig offen zog man die Leichen — einen Löwen und drei Tiger — durch den Regen, die aufgelöste Polizisten erschossen hatten. Heulende Krankenwagen transportierten einen blutüberströmten Zuschauer nach dem anderen aus dem Zirkus ab. Unter der Androhung, Gummiknüppel einzusetzen, wurden alle Frauen, die sich an diesem Abend im Zirkus befanden, von den Männern getrennt und, von Plastikschilden abgeschirmt, durch einen schmalen Ausgang geleitet, einzeln, unter den gestrengen Blicken zweier eifriger Inquisitoren. Kinder weinten, an den Röcken ihrer Mütter hängend. Luftballons platzten, jemand verfluchte die Hexen, ein anderer schimpfte auf die Inquisition. Äußerlich unbeteiligt stand Klawdi dabei, presste nur hin und wieder die Hand gegen das zuckende Lid. Wiederum witterte er keine Hexe. Genau wie im Nachtclub. Da er fürchtete, einen Fehler zu machen, wartete er untätig ab.
Die Menge umflutete ihn, ohne ihn zu berühren. Nur ein etwa achtjähriges Mädchen mit einer in den Nacken gerutschten weißen Schleife rempelte ihn an und starrte ihn mit angstgeweiteten Augen an. Irgendwo in der erschrockenen Masse irrte ihre ebenso panische Mutter herum. Oder sie war bereits in den Ring aus Plastikschilden geraten und steckte jetzt in ihm fest. Alle rannten, alle hatten Kinder, alle …
»Keine Angst«, sagte Klawdi. Das Mädchen reagierte jedoch nicht auf seine Worte — sie verstand sie gar nicht –, sondern auf das fremde, strenge und schreckliche Gesicht, das sie aufjammern ließ und weitertrieb.
Einzelheiten über die Vorstellung erfuhr Klawdi erst später. Indem er sich die Videoaufzeichnungen der Zeugenaussagen anschaute, Berichte und Erklärungen las, machte er sich ein besseres Bild von den Ereignissen, als wenn er selbst dabei gewesen wäre und im Saal gesessen hätte, inmitten der herausgeputzten, mit Bonbonpapier knisternden minderjährigen Menge. Irgendwann sah er, in Wolken von Tabakqualm schwimmend, alles völlig real vor sich. Er fühlte sich wie ein Kind, das die Vorstellung besuchte, wie dieses kleine Mädchen mit der weißen Schleife zum Beispiel …
… Also, erst kam ein großer Vorraum, wo man Luftballons und Lutscher kaufen konnte. Da roch es nach Parfüm und Puder und ganz doll nach Tieren, aber es hat nicht gestunken, nur in der Nase gekitzelt. Die Stühle waren aus Holz und zum Hochklappen. Die Kinder haben alle gezappelt. Dreimal hat es geläutet, wie im Theater. Sobald das grelle Licht ausging, kribbelte es dem Mädchen mit der weißen Haarschleife in der Brust. Es war schon lange nicht mehr im Zirkus gewesen. Ganz lange nicht.
In die Vorstellung am Abend kamen meistens keine Schulklassen mit der Lehrerin, sondern Familien, angeführt von der Mama oder Oma. Als Zweites sollten dressierte Raubtiere auftreten. Zuerst führten Zauberer ihre Kunststücke vor. Das waren zwar Zwillingsbrüder, aber die sahen sich gar nicht ähnlich. Die hatten bloß genau dieselben schwarzen Overalls an und rote Baseballcaps auf, mit dem Schirm nach hinten. Jedes Kind aus dem Saal, das ihnen half, erhielt auch ein Cap, zur Erinnerung. Allerdings bloß aus Karton. Ganz viele wollten mitmachen, aber nicht alle durften, weil die Mama oder Oma es nicht erlaubten. Die hatten nämlich Angst, als sie sahen, wie die Kinder da in große schwarze Kästen krabbelten. Die Zauberer stießen dann Degen in die Kästen oder zersägten sie mit Kreissägen oder zündeten sie an. Den Kindern gefiel natürlich gerade das, und deshalb dauerte die erste Nummer auch elf Minuten länger.
Alle wollten in die Manege, weil dich da alle sehen und die Scheinwerfer so weiße Kreise machen. Die großen und mutigen Kinder sind auch wirklich alle dahin gelaufen. Aber manche hatten auch Angst. Denen wurden die Beine ganz kalt, und der Po tat ihnen auch weh, nachdem sie die ganze Zeit nur dagesessen hatten. Die Mamas fanden das nicht gut und guckten böse. Alle Kinder hielten den Atem an, als die runde Kreissäge den Kasten zersägte, wo drei Jungen drin waren. Und alle freuten sich, als die Jungen wieder gesund und munter heraushüpften. Allerdings nur zwei. Ob der dritte aus einem anderen Kasten kam? Oder ob er gleich zurück in den Saal zu seiner Mama gerannt war?
Das Orchester spielte ganz laut, und jemand trommelte wild auf den weißen Trommeln. Es war ein richtiges Orchester, und am allerwichtigsten waren die riesigen gelben Becken. Die Musiker trugen alle glitzernde Fracks. Damit das Mädchen sie angucken konnte, musste es sich aufrichten und den Hals ganz lang machen. Deshalb sah es auch nichts von dem, was in der Manege passierte.
Am Rand der Manege stand eine Frau mit einem ganz hässlichen blauen Kleid, die etwas sagte und die Lippen seltsam verzog.
Irgendwann sprang der Direktor in die Manege, ein langer Mann mit Schnauzbart und weißem Puder im Gesicht. Am Anfang der Vorstellung hatte er alles noch ganz normal erklärt. Aber jetzt hatte er Angst, das sah man. Richtig dolle Angst, und auch das Mädchen mit der weißen Schleife erschrak, und ihr Nachbar, ein kleiner Junge in kurzen Samthosen: Der fing sogar an zu weinen. Der Direktor rief etwas Lustiges. Das Mädchen verstand jedoch sofort, dass er eigentlich nicht zu Späßen aufgelegt war.
Die Frau in dem hässlichen Kleid kletterte so ungeschickt über die Absperrung, dass ihr Kleid hochrutschte. Sie guckte in die Kästen der Zauberer, packte die beiden Künstler bei den Schultern, und schließlich verstand das Mädchen auch, was sie sagte: »Wo ist mein Kind? Wo ist Pawlik? Hört mit diesem Unfug auf! Mein Kind ist nierenkrank! Es darf nicht … Gebt mir sofort mein Kind zurück!«
Am Eingang zur Manege drängten sich inzwischen mehrere Frauen und ein verzweifelter großer Junge, der ältere Bruder von einem kleinen Kind. Alle rannten zum Direktor, der jedoch nicht mit ihnen redete, sondern hinter einem Samtvorhang verschwand.
Dann ging das Licht aus.
Jemand lachte, jemand klatschte, jemand pfiff. Der erschrockene Sitznachbar des Mädchens schrie los, seine Mama nahm ihn auf den Arm und schimpfte ganz laut, weil die Vorstellung so blöd war. Der Papa eines anderen Kindes, der gleich hinter dem Mädchen saß, lachte seinen kleinen Sohn aus und sagte, er soll keine Angst haben, und das nächste Mal würde man den Feigling gar nicht in den Zirkus reinlassen.
Plötzlich schrie in der Manege jemand. Dann schrien auch die Leute im Publikum, alle ganz verschieden. Auch das Mädchen wollte schreien, aber ihre Mama hielt sie fest umschlungen.
Das Licht ging an. Dann wieder aus. Dann wieder an, wobei es flackerte, wie wenn im Fernsehen ein Raumschiffunglück gezeigt wird.
In der Manege stand ein Käfig. Seine Tür war auf. Ein gestreifter kleiner Tiger stand auf einem der beiden Zauberkünstler. Seine Schnauze war rot. Neben ihm rannte die Frau herum, die die ganze Zeit nach Pawlik rief.
Dann kamen noch zwei Tiger. Und ein bildschöner Löwe. Das Mädchen hatte überhaupt keine Angst, doch kaum hatte sie ihre Mama angesehen, spürte sie, wie der Sitz unter ihr feucht wurde.
Als Nächstes sprang ein Mann mit einem Schlauch in die Mange, wie um Blumen zu gießen. Stattdessen bespritzte er aber den Tiger, der auf dem Zauberer stand. Der andere Tiger sprang den Mann an. In dem Moment hob der Direktor den Arm, und es knallte, erst einmal, dann noch einmal. Das Mädchen sah, wie der Direktor mit einer Pistole schoss, aber niemanden traf.
Schließlich rannten alle schnell zum Ausgang; jemand wurde eingequetscht.
Der Dompteur im roten Frack und Sporthosen lief in die Manege. Auch er fing an zu schießen.
In der Manege entstand eine Pfütze von dem Wasser aus dem zerschossenen Schlauch.
Als alle Leute losrannten, wurde das Mädchen von seiner Mutter getrennt.
Während das Mädchen in wilder Panik zwischen den fremden Leuten, die wie Blinde herumirrten, nach seiner Mama suchte, rempelte es einen Mann an, der sich gar nicht bewegte und ein ganz böses Gesicht machte. »Mama!«, schrie es.
Genau in dem Augenblick, als das Mädchen, sich an Tränen verschluckend, in der Menge verschwand, schien der Schleier in seinem Gedächtnis zu zerreißen. Er witterte sie.
Jeden, der ihm in die Quere kam, anrempelnd, raste er zum Bühnenausgang, und zwar auf schnellstem Weg, quer durch die Manege, in der es entsetzlich stank, Wasser aus dem Schlauch spritzte und die Reste der Kisten von den Zauberern rumlagen. So musste ein Hund losschießen, der eine Spur aufgenommen hatte, die schon fast kalt war und die er zu verlieren drohte.
Der Krankenwagen fuhr weg. Klawdi schrie einem Polizisten zu, er solle ihn aufhalten, doch der war so konfus, dass er den Befehl nicht verstand. Daraufhin zog Klawdi seine sonst völlig überflüssige Dienstpistole aus dem Schulterhalfter und schoss auf die Wagenräder. »Die Inquisition!«
Er hielt dem Polizisten die funkelnde Dienstmarke unter die Nase, schubste einen Gaffer aus dem Weg und jagte dem Krankenwagen nach, der die Fahrt angeschlagen fortsetzte. Noch bevor er die Türen aufgerissen hatte, nahm er die gierige Kampfbereitschaft einer Hexe wahr.
Neben dem Fahrer saß ein junger Mann mit breitkrempigem Hut und einer geblümten Seidenkrawatte. Klawdi riss die aneinandergelegten Arme in Richtung seiner zu Schlitzen verengten Augen hoch. Der Fahrer hickste dumm, der Verwundete auf der Trage stöhnte.
Der Beifahrer fasste sich an die Kehle. Sich windend, versuchte er dem Zugriff der Inquisition zu entkommen. Die bleichen Wangen nahmen eine grünliche Farbe an. Er verfügte über eine gewaltige Angriffslust, bei nur schwacher Verteidigung.
Der Mann zirpte schwach und ging ins Hohlkreuz. Sein Jackett klaffte an der Brust auseinander, das Seidenhemd spannte und zeichnete deutlich die Konturen von zwei kleinen festen Brüsten nach. Klawdi schlug noch einmal zu. Und noch einmal, wobei dieser letzte Schlag von purer Grausamkeit geprägt war. Die Hexe tauchte in die Bewusstlosigkeit ab.
Der Fahrer staunte mit offenem Mund — und plötzlich sah sich Klawdi in seinen Augen, wie er, eine Bestie, grundlos auf einen Menschen einschlug. Noch dazu eine Frau — denn der Mann mit dem breitkrempigen Hut war eine Frau, was jedoch als verzeihliche Sünde gelten durfte, die es nicht rechtfertigte, auf einen Krankenwagen zu schießen, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen, eine Frau zu quälen und bewusstlos zu schlagen!
»Die Inquisition der Stadt Wyshna«, erklärte Klawdi angeekelt.
Von allen Seiten eilte man herbei.
»Verfolgt dieses Geschehen jemand, so wird er sich befremdet zeigen, verängstigt. Ein jeder Inquisitor bezwingt jedwede meiner Herrinnen, ohne sie auch nur zu berühren, allein durch einen lautlosen Befehl. Zeichen werden in Stein gemeißelt, in Eisen geprägt. Diese Zeichen dienen uns dazu, meine Herrinnen zu bändigen. Ein solches Zeichen ist ein Schild, bisweilen auch eine Spitze. Im offenen Kampf taugen sie indes nichts. Manchmal hinterlässt einer meiner Brüder, von Verzweiflung aufgerieben, ein Zeichen direkt in der Luft, wiewohl dies ein Akt ist, der seine Kräfte zumeist übersteigt, von Hoffnungslosigkeit zeugt und nur selten zum Sieg führt. Ein Zeichen, in die Luft gemalt, verlangt uns viel ab, doch es gibt uns wenig zurück.
Heute musste ich, nachdem ich die Treppe hochgestiegen war, erstmals innehalten, um zu verschnaufen. Die Jahre … Die Köchin hat für den Winter fünf Fässlein Milchlinge eingesalzen, des Weiteren fünf Fässlein mit allerlei Gemüse sowie ein Dutzend Räucherschinken aufgehängt.
Ich sträube mich gegen das Herbstende. Schreckliche Vorgefühle suchen mich heim …
Ich hätte die drei Hexen vor dem Scheiterhaufen retten sollen, und jene, die den Brunnen vergiftet hat, hätte in ihrer Gemeinde vor Gericht gestellt werden müssen.
Die Jahre beugen meine Schultern. Was werde ich meinem himmlischen Richter sagen, wenn ich vor seinen Thron trete? Dass ich mein Lebtag damit zugebracht habe, meine Herrinnen zu töten? Weil sie gleichfalls töten?
Warum habe ich mir diese Last aufgebürdet? Eine Vision quält mich: Ich stehe auf einem Scheiterhaufen, den ich selbst errichtet habe …
Die Schuld meiner Herrinnen — der Hexen — wiegt schwerer als die meine […]. Das werde ich meinem himmlischen Richter sagen, möge er sie wägen …«
Das Klingeln des Telefons erschien ihr unerträglich laut. Den ganzen Tag hatte niemand angerufen, den ganzen Abend hatte sie in Stille zugebracht, mit dem Tagebuch eines Mannes, der vor vierhundert Jahren gestorben war. Noch bevor sie den Hörer abnahm, wurde ihre Hand feucht.
Nasar? War er beleidigt? Verurteilte er sie? Wollte er sie sehen?
Der Hörer war schwer und kühl. Vermutlich würde Ywha bis ans Ende ihrer Tage Telefone hassen. Weil sich Anrufe nicht ankündigten und so verräterisch neutral daherklingelten.
»Ich brauch dich. Sofort.«
Klawdi.
So komisch das klingen mochte: Sie war erleichtert.
Sie wurde gebraucht.
Die Hexe trug weite Hosen und ein Seidenhemd unter einem streng geschnittenen Herrenjackett. Da ihr, bedingt durch Starshs Anwesenheit, Blut aus der Nase tropfte, hielt sie sich die ganze Zeit ein kariertes Taschentuch vors Gesicht, das inzwischen kaum noch zu gebrauchen war. Aus ihrem Versteck heraus verfolgte Ywha das gesamte Verhör, und mehr als einmal lief es ihr vor Ekel kalt über den Rücken. Nie zuvor hatte sie Klawdi so erlebt. Jetzt war er ein Inquisitor, und zwar bis ins Mark hinein. Als sei die schwarze Kapuze mit den Sehschlitzen seinem Gesicht angewachsen. Er war schrecklich anzuschauen. Doch was das Schlimmste war: Selbst Ywha, die doch an seine Nähe gewöhnt war, spürte nun seinen Druck und musste ständig Brechreiz und Kopfschmerz bezwingen.
»Darüber denk nach. Und auch darüber, was dir bevorsteht.«
»Ich spucke auf euch! Mir jagt ihr keine Angst ein!«
»Natürlich, ich sehe, wie du spuckst, Kampf hexe! Dein Schutz ist nicht stärker als eine Eierschale! Zwing mich also nicht, ein Omelett zuzubereiten.«
»Was wollen Sie denn?« Trotz ihrer Bösartigkeit kostete das Verhör die Hexe alle Kraft. Ywha presste die Finger zusammen und hoffte, es möge schnell vorbei sein.
»Namen.«
»Die kenne ich nicht.«
»Namen! Den Namen deiner ungeborenen Mutter! Oder ist sie inzwischen schon geboren?«
Die Hexe torkelte.
»Steh auf, Kampfhexe! Hat deine Mutter dich gerufen? Ruft sie dich vielleicht auch in diesem Augenblick?«
»Nein …«
»Hör mir zu, Julija! Sieh mich an! Denk jetzt verdammt noch mal an etwas Gutes! Ywha!«
Der Schrei ließ Ywha zusammenfahren. Sie wartete eine neue Kopfschmerzattacke ab und schob mit zwei Fingern den Vorhang zur Seite, der mit dem Zeichen versehen war. Als sie aus ihrer Nische heraustrat, befand sich die Hexe schon in Trance, während Klawdis Hände auf ihren Schultern lagen.
»Höre den Ruf, Ywha. Wir brauchen das Grundmotiv, das, was sie freut. Das, was sie wärmt, was sie liebt, verflucht noch mal!«
»Quälen Sie sie nicht!«, bat Ywha leise.
»Wie bitte?!«
»Sie behandeln Sie wie ein Tier.«
»Ach ja?! Und die fünf Kinder, die im Zirkus umgekommen sind? Und die neun Menschen, die im Hospital gestorben sind? Und die vier Jungen, die spurlos verschwunden sind, die unzähligen Schwerverletzten, die auf alle Krankenhäuser der Stadt verteilt sind? Was ist mit denen?«
Verblüfft registrierte Ywha, dass Klawdi nicht nur seine übliche Gelassenheit eingebüßt hatte — er tobte förmlich.
»Denkst du auch an die? Ist dir klar, dass wir jetzt alle Hexen einsperren müssen? Und die aktiven müssen wir … ich weiß nicht, was … vielleicht erschießen! Auch dich müssten wir ins Gefängnis stecken, denn die Mutterhexe könnte genauso gut in dir stecken! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Finde sie, Ywha! Finde die Mutterhexe!«
»Regen Sie sich nicht auf«, sagte Ywha zu ihrer eigenen Überraschung. Sie bemerkte, wie die Augen in den Sehschlitzen auffunkelten.
»Was?!«
»Beruhigen Sie sich. Hysterie hilft uns nicht weiter. Das stimmt doch, oder? Und Sie bereiten mir entsetzliche Kopfschmerzen. Und ihr …« Sie zeigte auf die Hexe. »… auch. Reißen Sie sich zusammen, Großinquisitor.«
Sie wusste nicht, ob die Wärter in den Nischen sie gehört hatten. Zumindest drang von dort kein Laut herüber. Eine ganze Weile lang durchbrach nur der abgehackte Atem der in Trance liegenden Hexe die Stille im Verhörraum.
»Danke«, sagte Klawdi tonlos. »Vielen Dank für den guten Rat. Ich werde ihn beherzigen, davon darfst du ausgehen. Und jetzt an die Arbeit!«
Er nahm der Hexe das zerknitterte karierte Taschentuch aus der Hand und tupfte ihr sanft und ohne jeden Ekel die blutigen Lippen ab.
Das Verhör endete gegen Morgen. Ywha fühlte sich, als habe sie in der Kanalisation gebadet.
Die junge Hexe war von Leidenschaften zerfressen. Die Motive der Menschen hielt sie für einen warmen Brei, ähnlich jener Brühe, die sich nach einem Regen am Grund aufgegebener Baugruben sammelt.
… In — warum auch immer — schwarz-weißen Bildern sah Ywha riesige Menschenmengen vor sich. Ein Geflecht aus Gerüchen und Geräuschen, ein zerrissenes Netz aus Stimmen. Sich in innerer Anspannung krümmend, legte Ywha unsichtbare Hände auf die Menge. Sofort spürte sie, wie die in Panik erstarrten Figuren ihre Haut reizten. Sie schloss die Finger ein wenig, um sie dann wieder zu spreizen. Kaum vermochte sie den Wunsch, die Faust zu ballen, zu unterdrücken. Aus diesem Balanceakt an der Grenze der Ekstase zog sie ein unfassbares Vergnügen.
Dann endete alles. Jetzt war sie ein Kind, genauer gesagt, gleichzeitig mehrere Kinder. Ein Mädchen im weißen Ballkleid, das mitten in einem leeren Saal stand; ein nackter Junge, ein Baby, in der undurchdringlichen Dunkelheit eines riesigen Zimmers und ein bis auf die Knochen durchgefrorener Teenager in klatschnasser Kleidung. Und anscheinend, o ja, anscheinend noch jemand … Das Mädchen ging, die Füße in den engen Schuhen vorsichtig setzend, und lauschte auf die Stille, wartete angespannt auf einen Ruf. Der Junge krabbelte stur über den kalten und glatten Fußboden, da er vor sich etwas Warmes spürte. Und der Jugendliche stapfte knietief durchs Wasser, voller Hoffnung, am Horizont endlich Licht zu sehen.
Ywha weinte sehnsüchtig. Das Warten zog sich quälend und überlang dahin.
Irgendwann brach sich Begeisterung in ihrem Innern Bahn, explosionsartig, wie eine Leuchtpatrone. Und Funken rieselten vor ihren Augen herab.
Das Mädchen im Ballsaal zitterte in Vorfreude. Gleich würde sie eine vertraute Stimme hören und, sich an ihrem Lachen verschluckend, dieser entgegenstürzen. Der kleine Junge schrie freudig auf, er würde gleich auf eine warme Brust voll wohlschmeckender Milch treffen. Der verzweifelte Teenager blinzelte; gleich würde er in der Ferne eine Fackel erblicken, die gelbe Lichter auf die ölige Oberfläche des Flusses warf.
Ywha riss sich frei, versuchte aus der Welt der verhörten Hexe herauszukriechen, doch die Vorfreude auf ein absolutes Glück, das in diesem Augenblick das Mädchen, den Jungen und den Teenager erfasste, raubte ihr jeden Willen. Absolutes Glück gibt es nicht, jedenfalls nicht außerhalb dieser Welt. Weshalb sollte sie also fortrennen, wenn sie doch bleiben konnte? Wenigstens einen Moment noch. Um abzuwarten.
So entspannte sie sich und war bereit, sich der Welt jener Hexe zu überlassen. Aber jemand, der die ganze Zeit außerhalb dieser Welt ausgeharrt hatte, riss sie abrupt in ihre eigene windgepeitschte Welt zurück.
»Ich habe versucht, mein Handwerk aufzugeben. Stets wusste ich, wie undankbar, grausam und schmutzig es ist. Indes, ich bin dafür geboren wie kein Zweiter. Letztlich muss jemand die Latrinen säubern, andernfalls ertrinkt die Welt in Unrat.
Seit einigen Tagen verfolgt mich der Geruch von Rauch, der Geruch eines Holzfeuers.
Ich brachte den Kauf eines Landguts zum Abschluss. Das wird mir Sorgen und Kosten eintragen, doch liegen dort eine Wiese und ein See, und, so Gott will, werde ich Karpfen züchten und Lilien pflanzen. Möglicherweise verlangt es mich schlicht nach Ruhe, ich möchte von Bienen umgeben sein, die über dem Blütenstand summen.
[…] Denn ich, und nur ich, habe mein Tun vor dem göttlichen Thron zu verantworten. Die Flüche meiner Herrinnen, der Hexen, setzen mir zu wie Grind, und mein Leid wird mir bald als Verdienst anerkannt, bald zur Last gelegt.«
Der Inquisitionspalast schien ausgestorben. Nur die Dämmerung gab es, die durch die hohen vergitterten Fenster sickerte, um fünf Uhr morgens. Der Fahrstuhl schlummerte in seinem Eisenkäfig, auf dem Geländer dieses ewig verrauchten Treppenhauses lag, sobald man einen Absatz erreichte, eine kleine weiße Schneewehe kalter Zigarettenasche.
Vermutlich kam Ywha sein Wunsch, zwischen zwei Etagen, im Halbdunkel der langen Wendeltreppe, innezuhalten, seltsam vor. Sie ließ sich ihre Verwunderung jedoch nicht anmerken. Und er wollte schlicht und ergreifend sein Büro nicht sehen. Weder das Vorzimmer noch den Referenten, weder seine Angestellten noch das Schild an der Tür.
»Geben Sie mir eine Zigarette«, flüsterte Ywha. Automatisch hielt er ihr die Schachtel hin, zog die Hand dann jedoch abrupt zurück. »Du rauchst doch gar nicht!«
»Jetzt schon«, sagte sie mit einem angedeuteten Grinsen. »Oder tut es Ihnen um Ihre Zigarette leid?«
»Ja.« Er steckte die Schachtel in die Tasche.
Ywha verzog das Gesicht. Die Grimasse verunstaltete sie. Es sah aus, als habe ein brutaler Fotograf vor die roten Haare ein fremdes, ziemlich unangenehmes Gesicht geklebt.
»Haben Sie Angst, das Rauchen schade meiner Gesundheit? Und ich wäre nicht mehr kräftig genug, um auf den Scheiterhaufen zu klettern?«
Er wartete auf eine Welle der Wut — die aber ausblieb. Nur Müdigkeit verspürte er. »Hör auf damit, Ywha«, bat er mit ungewöhnlich leiser Stimme. »Bring mich nicht auf die Palme. Wir sind doch … Kollegen.«
»Ach ja.« Der unangenehme Ausdruck wollte nicht aus ihrem Gesicht verschwinden. Sie sah nach unten, in den dunklen quadratischen Brunnen mit dem Fahrstuhlschacht in der Mitte.
Mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein. Er wunderte sich über seine eigene Verbohrtheit — und darüber, wie sehr sich die Umstände geändert hatten. Das, was noch vorgestern wichtig erschienen war, war seinem Gedächtnis heute einfach entfallen.
»Tut mir leid, ich habe vergessen, dich zu fragen, was jetzt aus Nasar und dir wird.«
Die Antwort hätte er sich im Grunde auch selbst geben können. Finster fegte er die Asche vom Geländer und beobachtete, wie die grauen Partikel nach unten segelten.
Nun glänzte das Treppengeländer aschefrei. Es vergingen etwa fünf Minuten, bevor Ywha den Kopf hob. »Wie viele haben Sie schon auf den Scheiterhaufen geschickt, Klawdi?«
»Es gibt keine Scheiterhaufen mehr«, presste Klawdi heraus. »In den letzten hundert Jahren wird die Strafe … auf andere Weise vollzogen. Scheiterhaufen, das ist doch nur so dahingesagt.«
»Und wie wird die Strafe vollzogen?«
»Warum interessiert dich das? Auf sehr humane Art! Verflucht, Ywha, was willst du von mir?«
»›Ich habe versucht, mein Handwerk aufzugeben. Stets wusste ich, wie undankbar, grausam und schmutzig es ist. Indes, ich bin dafür geboren wie kein Zweiter. Letztlich muss jemand die Latrinen säubern, andernfalls ertrinkt die Welt in Unrat.‹«
An ihm vorbeiblickend zitierte sie den Passus in monotoner und leidenschaftsloser Weise. Nur einmal zitterte ihre Stimme, bei dem Wort »ertrinkt«.
»Du brauchst mir nicht um den Bart zu gehen. Von Atryk Ol trennen mich Welten.«
»Warum das?«, fragte sie ehrlich erstaunt. »Weil er von seinen Herrinnen verbrannt wurde?«
»Nein, nicht deshalb. Der Preis für sein Leben war das Leben der Mutterhexe. Verbrennen können sie mich auch, dabei ist gar nichts weiter …«
Endlich verkroch sich der ekelhafte Ausdruck aus ihrem Gesicht. Zum ersten Mal seit geraumer Zeit blickte sie ihm direkt in die Augen. »Sie sollten das nicht sagen.«
Er zuckte die Achseln — wenn du meinst.
Unten, dort, wo die Treppe endete, quietschte laut eine Tür. Eine magere Frau mit Eimer und Wischlappen erschien. Als sie sich wie gewohnt an die Arbeit machte, zuckte sie plötzlich zusammen und richtete den Blick auf die beiden, die hoch oben auf einem Treppenabsatz standen. Ist das der Großinquisitor?, staunte sie. Sie wollte ihren Augen nicht trauen.
»Am liebsten würde ich den Kopf in den Sand stecken«, gestand Klawdi leise. »Aber ich muss der Mutterhexe gegenübertreten … genau wie Atryk Ol. Im Unterschied zu ihm bin ich mir jedoch überhaupt nicht sicher, ob ich kurzen Prozess mit ihr machen kann.«
Die Putzfrau arbeitete sich, Stufe um Stufe sorgfältig wischend, nach oben vor.
»Atryk Ol war sich auch nicht sicher«, erwiderte Ywha kaum hörbar.
Plötzlich empfand Klawdi Dankbarkeit. Vielleicht für diese Worte. Vielleicht erkannte er auch erst jetzt, im Nachhinein, welches Opfer sie ihm gebracht hatte; die Arbeit der vergangenen Nacht war gefährlich und schmerzvoll gewesen, und am Vorabend hatte seine Kollegin offenbar eine schwere persönliche Krise durchlebt.
»Willst du mir etwas … von Nasar erzählen, Ywha?«
Sie senkte den Kopf. Die herabfallenden roten Haare verbargen ihr Gesicht.
»Ich möchte mich waschen«, erklärte sie statt einer Antwort. »Von mir abwaschen, was …«
Er verstand sie, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte. Und er bemerkte, er selbst wolle das ebenfalls. Sich diese Nacht abwaschen. Sich die Ereignisse des letzten Monats von der Pelle schrubben. Das brennende Theater vergessen, das Straßenbahnunglück und das Blutbad im Zirkus — und sei es auch nur für ein paar Stunden. Nicht mehr an Fedoras Hundeaugen denken, die eisige Stimme des Herzogs und den Schatten der Mutterhexe, der langsam auf Wyshna und die Welt zukroch. Vielleicht war es Atryk Ol ähnlich ergangen, als er das Landgut gekauft hatte und sich wünschte, Lilien zu pflanzen.
»›… möchte ich umgeben von Bienen sein, die über dem Blütenstand summen‹«, sagte er laut. Dann nahm er Ywhas Arm und trat mit ihr zum Fahrstuhl.
Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Die ganze Zeit über schliefen sie auf dem Rücksitz. Klawdi war sofort und tief eingeschlafen, während Ywha vor sich hin döste, ab und zu mit dem Gesicht gegen die Scheibe sackte und dann nur schwer die Lider aufbekam. Gemüsegärten, Häuser, Landstraßen …
Der Taxifahrer bremste an einer Gabelung, überlegte kurz und bog dann nach rechts ab. Schlagartig endete die Straße, die nunmehr zwei überwachsene Spuren, gefurcht durch ungemähtes Gras, ersetzten. Der Fahrer hielt vor einem dunklen Tor, das sich ungeachtet seiner bereits abblätternden Farbe inmitten eines verfallenen Zauns stolz erhob. An ihm prangte ein recht neues Schild: Flussstr. 217.
Klawdi, dessen Augen einfach nicht offen bleiben wollten, sperrte das Tor wie in Zeitlupe mit einem Schlüssel auf, der an einem klirrenden Bund hing. Ywha wartete. Das Ganze wirkte wie ein altes und ebendeshalb gewichtiges und bedeutendes Ritual — gemächlich ein Tor aufzuschließen, das doch in freier Flur dastand. Am Fuße einer der verfaulten Holzsäulen wuchs ein rotköpfiger, vom Gras halb verdeckter Pilz.
Quietschend taten sich die Flügel auf. Der eine hing bereits nur noch an einer, der letzten intakten Angel, was Klawdi jedoch nicht daran hinderte, Ywha galant den Vortritt zu lassen.
Im Haus roch es muffig. Eine erschrockene Maus huschte vom Tisch. Zu dem Krachen des herunterfallenden Krugs gesellte sich ein melodischer Klingelton. Ywha fuhr zusammen. Klawdi holte sein Handy aus der Tasche.
»Hljur … Nein, ich will das jetzt nicht hören. Ich weiß … Ich brauche zwanzig Stunden … Nein. Geh davon aus, dass ich in dieser Zeit tot bin.«
Das auf kleinen Sandbänken wachsende Schilf ertränkend, versteckte sich der Fluss hinter niedrigen krummen Weiden. Am Ufer gab es einen kleinen Steg, der schon völlig morsch war, ganz so wie das Tor und das Haus selbst. Klawdi hämmerte mit einem Stein den gefährlich hervorstehenden Kopf eines verrosteten Nagels ein.
»Es ist kalt«, sagte Ywha mit nervösem Lachen. »Und das Wasser ist auch kalt.«
»Das Wasser ist warm«, widersprach Klawdi ernst.
Am gegenüberliegenden, nicht mit Schilf bewachsenen, dafür aber schlammigen und morastigen Ufer spazierten weiße Gänse.
»Ich habe keinen Badeanzug.«
»Und ich habe noch nie eine nackte Hexe gesehen!«
»Machen Sie sich nicht lustig!«
»Gut, ich drehe mich um. Vor den Gänsen schämst du dich aber nicht?«
Ywha warf ihre Kleidung auf den Steg. Ängstlich zu Klawdi hinüberschielend, der demonstrativ in die Ferne sah, tastete sie sich bis zum Rand vor und wäre sicher nicht gesprungen, wenn nicht der verfaulte Steg, durch ihre Zweifel beleidigt, durchgebrochen wäre. Aufkreischend landete Ywha im Fluss.
Das Wasser war sauber. Glasklar. Es hüllte einen sauberen Körper ein. Sauber bis hin zum Muttermal und den Haaren …
Ywha erkundete den Grund mit den Füßen. Obwohl sie zusammenzuckte, als die Algen sie berührten, stellte sie sich hin und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die Gänse formierten sich und rückten langsam übers Wasser vor.
»Pass auf, die schwimmen auf dich zu!«, warnte Klawdi sie nervös.
»Ja, und?«
»Ich habe Angst vor ihnen.« Sie hörte echte Nervosität aus der Stimme des Großinquisitors heraus.
»Vor Gänsen?«
»Die kommen immer näher, die Mistviecher!«
Ywha tauchte unter. Sie öffnete die Augen. Die Welt wirkte irreal und verschwommen. Es ekelte sie nicht mehr, wenn die Algen sie berührten; um Ywhas Schenkel kreiste eine Schar kleiner Fische, die ab und zu silbern auffunkelten.
Dann schoss sie in gestreckter Haltung nach oben und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Der Inquisitor — ein Anblick, wie er im Buche steht: der Großinquisitor in gestreifter Badehose — saß am Rand des Stegs. Die helle Haut stellte mit ihrem Weiß eine Beleidigung für alle dar, für den Sommer, die Sonne, die unzähligen Badeorte, die die Oberste Inquisition angeblich überall unterhielt. Die kleinen Büroangestellten sind vermutlich schon alle schön braun, dachte Ywha mit überraschender Empörung.
»Angeblich haben tapfere Männer alle eine behaarte Brust und behaarte Beine.«
»Und? Was schlussfolgerst du daraus? Bin ich nicht tapfer oder rasiere ich mir die Beine?«
»Ich schlussfolgere, dass es sich um ein Gerücht handelt.«
»Ist das ein Kompliment?«, fragte der Inquisitor verunsichert.
Seine rechte Brusthälfte zierte eine weiße, halbrunde Narbe. Ywha wusste, dass er eine ebensolche, wenn auch kleinere Narbe auf dem Rücken trug. Sie wollte ihn schon fragen, woher er sie hatte, biss sich jedoch im letzten Augenblick auf die Zunge. Ein wenig Taktlosigkeit schadet nichts — aber sie durfte es nicht übertreiben.
Am Himmel flog ein Flugzeug, eine graue Nadel, die einen schleifenartigen weißen Faden hinter sich herzog. Die Gänseschar kreuzte lautlos den Himmel, der sich im Fluss spiegelte, und auch den weißen Kondensstreifen. Wenigstens hier gibt es Gerechtigkeit, dachte Ywha und schloss die Augen. Es gibt im Leben Momente, da sind sich Gänse und ein Flugzeug ebenbürtig.
»Ich wäre gern eine Gans«, flüsterte Ywha. »Mit roten Füßen.
Dann könnte ich den ganzen Sommer über schwimmen. Und Gras fressen. Danach könnte man mich getrost abschlachten. Welchen Sinn hätte es schon, auf den Winter zu warten?«
»Du wärst eine fuchsrote Gans«, amüsierte sich Klawdi. »Schließlich bist du als Füchsin zur Welt gekommen.«
Nach einem Manöver hielt die Gänseschar entschlossen auf den Steg zu.
»Die haben es auf mich abgesehen«, brachte Klawdi mit brechender Stimme hervor. »Seit meiner Kindheit haben Gänse was gegen mich. Ganz zu schweigen von jener goldigen Gans, die sich Seine Durchlaucht, der Herzog nennt, die ist immer vorneweg.«
»Die scheren sich doch gar nicht um Sie«, erklärte Ywha gelassen — eine optimistische Prognose, die leider keine Bestätigung fand.
Die Gänse landeten in geschlossener Formation am Ufer. Klawdi fuchtelte mit einem Weidenzweig, was der Gänserich, ein formidabler Kerl, der jedoch schon auf den ersten Blick dümmer als die anderen Tiere wirkte, als Aufforderung zum Kampf auffasste. Dem gekrächzten Befehl ihres Leittiers Folge leistend, stellten sich die Gänse Flügel an Flügel auf und beugten synchron die langen weißen Hälse zum Boden.
»Mach doch was, Ywha!«, verlangte Klawdi hilflos. »Jag sie weg!«
»Das geht nicht, ich bin nackt.«
»Ich kneif die Augen fest zu! Komm raus, wirf einen Stein, irgendwas, aber jag diese Mistviecher weg! Sie … Verflucht!«
Die Gänse schlossen einen Ring um Klawdi. Jede Schlange hätte sie um ihr Zischen beneidet. Der Großinquisitor hüpfte auf seinen nackten Füßen, fuchtelte ununterbrochen mit dem Zweig, hatte aber aus unerfindlichen Gründen Angst zuzuschlagen.
»Verdammt noch mal, Ywha! Das ist nicht komisch! Ich habe nicht mal Hosen an!«
Ywha versuchte, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. Doch die Lippen gehorchten ihr nicht, sie grinste bis über beide Ohren und wäre beinahe an ihrem eigenen Lachen erstickt. »Kommen Sie! Was sollten die denn schon von Ihnen wollen?!«
»Das ist nicht komisch! Ich habe Angst vor diesen Viechern!«
»Wir müssen ihren Hirten finden. Vielleicht sagt der ja ›Pfui! ‹ zu ihnen.«
»Hör endlich auf zu lachen! Komm raus und schmeiß irgendwas nach ihnen, vielleicht einen Schuh …«
»Mit so einem edlen Schuh auf dumme Vögel losgehen!«
»Ywha, ich flehe dich an! Von Mensch zu Mensch!«
»Aber ich bin nackt.«
»Das ist doch scheißegal! Hier, guck, ich halt mir die Augen zu!«
Ihr Lachen unterdrückend, stakste Ywha ans Ufer, schnappte sich einen Stock und fuchtelte mit der Gleichmütigkeit eines Mädchens vom Lande. »Ksss, ksss, ksss!«
Die Gänse, die die Eröffnung einer zweiten Front voller Empörung zur Kenntnis nahmen, schnatterten erbost. Eine Zeit lang war Ywha voll und ganz damit beschäftigt, die Tiere auseinanderzutreiben, doch als sie nach einer Weile nach oben sah, fing sie Klawdis Blick auf.
»Sie haben mir Ihr Wort gegeben!« Sie wich zurück und bedeckte sich mit den Händen.
»Aber ich muss doch wissen, ob eines von diesen Mistviechern vorhat, mich zu beißen.«
Sie ließ sich, fontänenartig Wasser aufspritzend, rückwärts in den Fluss fallen. Die versprengten Gänse stürzten sich prompt erneut in den Kampf. Mit einem kurzen Aufschrei floh Klawdi zu Ywha ins Wasser. Die Gänse blieben noch ein Weilchen zeternd am Ufer stehen, bevor sie der Stimme der Vernunft oder dem Ruf ihres Leittiers folgten, sich umdrehten und geschlossen abzogen.
Da Ywha eine schlechte Schwimmerin war, versuchte sie ständig, eine Position zu wahren, in der ihre Füße den Grund berührten. Klawdi machte erst gar keine Anstalten zu schwimmen, sondern stand lediglich bis zur Taille im Wasser und tupfte mit der Hand versonnen nach den hüpfenden Sonnenreflexen.
»Könnten mich die Hexen dann nicht wenigstens in eine Füchsin verwandeln — wenn das mit der Gans schon unmöglich ist?«, fragte Ywha mit Flüsterstimme. »So richtig, meine ich, für immer.«
»Ywha«, gab er zurück, nachdem er sich mit feuchten Händen übers Gesicht gestrichen hatte, »können Hexen die Zeit zurückdrehen? Uns … nein, du brauchst das nicht, du warst ja damals noch nicht mal geboren … mich, Klawdi Starsh, dreißig Jahre zurückversetzen? Na gut, achtundzwanzig?«
»War Ihr Leben denn damals schöner?«
Voller Ernst blickte er ihr in die Augen. So ernst, dass ihre Beine watteweich wurden.
»Damals gab es … Ja, Ywha. Ich weiß nicht, ob es damals besser war. Es gab damals einfach Leben.«
»Und jetzt nicht?«, fragte sie, obwohl sie ihre Worte gleich darauf bereute.
Er antwortete nicht. Er setzte sich so hin, dass er bis zum Scheitel im Wasser versank. Als er wieder auftauchte, strich er sich die in der Stirn klebenden Haare aus dem Gesicht. »Geh ans Ufer, Ywha. Dir wird sonst noch kalt.«
»Damit Sie mich wieder begaffen können?!«
»Dummerchen«, lachte Klawdi, während er aus dem Wasser stampfte. »Ist dir eigentlich klar, was ich in meinem Leben schon alles gesehen habe? Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als mir deinen Popo anzugucken.«
»Wenn es Sie sowieso nicht interessiert, dann schauen Sie halt nicht hin«, blaffte Ywha, nun plötzlich beleidigt.
Mit diesen Worten hielt sie aufs Ufer zu, geschäftig und entschlossen, so wie ein Redner die Bühne betritt. Sich am Steg hochhangelnd und ohne Klawdi eines Blickes zu würdigen, schnappte sie sich ihre Sachen. Stur geradeaus blickend, zog sie sich an, wobei sie sich bemühte, auf gar keinen Fall gehetzt zu wirken. Akkurat zog sie den neuen Reißverschluss in der alten Jeans hoch, zupfte ihr Hemd zurecht — und erst danach sah sie Starsh an.
Selbstverständlich hatte dieser nicht im Entferntesten daran gedacht, woanders hinzusehen. Die ganze Zeit über hatte er sie stillschweigend beobachtet! Was für eine Unverfrorenheit!
Da sie jedoch keine Kraft fand, um zu explodieren, lächelte sie bloß. Ein mitleidiges Lächeln. »Und? Das war doch nichts Besonderes, oder? Das haben Sie doch schon oft genug gesehen, oder? Und …« Demonstrativ linste sie auf seine Badehose. »… Eindruck hat es wohl auch keinen gemacht?«
Als er schwieg, bedauerte sie ihre Worte. Wie damals, in der Kunstschule, wo die frechen Mädchen sie für eine Heilige oder einen Feigling hielten und sie, um ihnen das Gegenteil zu beweisen, ein Pornoheft mit in den Unterricht geschleppt hatte. Als Herr Chost, ihr Geschichtslehrer, sie dann mit dem Ding erwischt hatte, war sie sich sicher gewesen, die Haut ihrer Wangen würde gleich platzen, so unbarmherzig schoss das Blut in sie hinein. Aus irgendeinem Grund hatten sich all ihre Versuche, kokett zu sein, stets gegen sie verkehrt. Ihr ganzes Leben lang.
Es roch nach Wasser und Weiden. Über viele Jahre hatte er diesen Geruch gemieden.
Über dem Wasser kreisten Libellen. Zu lange hatte er dieses warme, grünliche Wasser mit den glänzenden, inselgleichen Seerosen gehasst. Das Haus am Flussufer, das sein Vater früher einmal sorgsam in Schuss gehalten hatte, verrottete jetzt. Während Klawdi auf dem morschen Steg saß, konnte er sich nicht genug über die seltsamen Beweggründe wundern, die ihn veranlasst hatten, Ywha an diesen Ort zu bringen.
Hier gab es keinen Sand, keine Kinder, keine Alten, keine braun gebrannten jungen Männer mit ihren Freundinnen. Aber der Geruch war absolut der gleiche. Der ihm für immer in die Nase gestiegene Geruch von Wasser und Weiden. Wenn er sich seiner Phantasie überließ, sah er die junge Frau im schlangenfarbenen Badeanzug vor sich, die lachend mit beiden Händen auf die sonnengefleckte Wasseroberfläche einschlug. Eine lang zurückliegende Erinnerung, die kaum noch schmerzte, die inzwischen kaum mehr als ein schönes Bild war …
Nur mit Mühe öffnete er die Augen wieder.
Ywha fror, und das T-Shirt, das sie über den feuchten Körper gestreift hatte, klebte an ihrer Brust. Sie brauchte nur kurz, um sich über den ärgerlichen Umstand klar zu werden, dann drehte sie sich um und zerrte den nassen Saum herunter. Klawdi bekam unterdessen ihre wirren roten Haare zur Ansicht geboten.
Der Geruch. Der Geruch nach Weiden und Tannennadeln. Diese helle Welt, die mit ihren leuchtenden Farben an eine Halluzination erinnerte. Das Bergmassiv, dieses erstarrte, blau befellte Tier.
Wie sehr es ihn damals erstaunt hatte, dass die Berge unterschiedliche Farben hatten. Dass sie fließend die Farbe wechselten und die Schatten der Schäfchenwolken einfingen.
Eine weiße Herde war den Hang hinuntergetrottet wie ein Fluss aus Milch. Rücken an Rücken, lauter lockige Schafsrücken und dann das Gebimmel von Glöckchen, jedes Tier hatte eins …
Djunka.
Auf den waldbewachsenen Hängen hatten die Schatten der Wolken gelegen.
Ein Schafsfluss.
Djunkas Lippen.
Wortlos hatten die Berge seine, Klawdis, Wahrheit bestätigt.
Sie hatten ihren Kuss als Teil der großen Welt anerkannt, sie den Spechten und Flüssen, den weißen Rücken der Schafe, den weißen Bäuchen der Wolken, den Seen, diesen Silbermünzen in grünen Feldern, und auch den Holzbalken gleichgestellt, die in den Boden gerammt und mit der Zeit nachgedunkelt waren.
Klawdi presste die Finger zusammen, bis es schmerzte.
Er bedauerte, nicht ein einziges Foto von Djunka aufgehoben zu haben. Nicht ein einziges von den Hunderten, den kleinen und großen, matten und hochglänzenden, farbigen und schwarzweißen, lustigen, traurigen, unscharfen und aussagelosen und offiziellen — wie das vom Schülerausweis. Alle waren weg. Ausnahmslos. Zehn Jahre nach ihrem Tod hatte er versucht, wenigstens eins aufzutreiben. Vergeblich. Djunka war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Selbst das Relief auf dem Grabstein hatte im Laufe der Jahre jede Ähnlichkeit mit dem Original eingebüßt, war stumpf geworden und von weißen Kalkstreifen überzogen. Das Gesicht konnte jeder x-beliebigen jungen Frau gehören — nur nicht jener Djunka, an die sich Klawdi Starsh erinnerte.
Aber wer sagte denn, dass seine Erinnerung zutraf?
Es hatte eine Zeit gegeben, da wollte er sich überhaupt nicht an sie erinnern. Ein paar Jahre hatte er ganz aus seinem Leben gestrichen, den Studienort gewechselt und Wyshna für eine Weile verlassen. Die Zeit mit Djunka hatte es nicht mehr gegeben, der Bildschirm seiner Erinnerung hatte in unerschütterlichem Grau geflackert. Sein Wunsch war derart dringend, sein Wille so unbezwingbar gewesen, dass er es fertiggebracht hatte, sich in eine Art Amnesie hineinzusteigern. Später, als er die Erinnerung an Djunkas Gesicht wieder zugelassen hatte, hatte er darunter gelitten, die ihm liebsten Details nicht mehr rekonstruieren zu können.
Bedauerlicherweise war auch nicht das allerkleinste Foto in den Spalt zwischen Wand und Sofa gerutscht. Bedauerlicherweise hatte ihre gesamte Verwandtschaft Wyshna verlassen; Klawdi hatte ihre Spur nie wieder aufnehmen können.
Vielleicht war all das kein Zufall gewesen. Er hatte sich zwei schwerer Verbrechen schuldig gemacht, indem er erst eine Njawka in die Welt der Lebenden gerufen und sie dann ihren Henkern ausgeliefert hatte. Vielleicht war ihm zur Strafe jede Erinnerung geraubt worden. Vielleicht hatte er deshalb um Verzeihung bitten und büßen müssen.
Er erschauderte. Ywha blickte ihn offen an, und tief in ihren stets wachsamen Augen stand eine diffuse Unruhe. Sie witterte seinen Stimmungswechsel und konnte nicht verstehen, in welchen Brunnen seine Seele da plötzlich gefallen war.
Ein Stimmungswechsel, der in Wahrheit ein Schicksalswechsel war.
Weit entfernt, hinter den Wänden dieser trägen sonnigen Stille, im unsagbar fernen Inquisitionspalast, tobte der von seinen Vollmachten erdrückte Hljur. Kuratoren schossen durch große und kleine Straßen, schickten verzweifelte Depeschen nach Wyshna, fielen der Hysterie zum Opfer und fluchten auf den Großinquisitor, der unterdessen auf einem durchgefaulten Steg saß und auf eine junge Frau mit Gänsehaut schaute.
»Ist dir immer noch kalt, Ywha?«
»Klawdi.« Sie lächelte beinah. »Ich habe eine Bitte an Sie. Wenn … falls es ganz schlimm wird … und das könnte ja passieren … dann sagen Sie doch bitte einfach ›Gänse‹ zu mir. Erinnern Sie mich an … Vielleicht hilft mir das.«
»Jetzt reicht’s aber«, blaffte Starsh gekränkt. »Schließlich könntest du das genauso gut zu mir sagen. Damit ich auch was zum Lachen habe.«
Die Maus, die erneut vom Tisch gejagt werden musste, huschte empört in eine Ecke, verschwand unter alten Büchern und allerlei Krimskrams. Der elektrische Kessel kochte erstaunlich schnell, aber vielleicht klammerte sich Ywhas Zeitgefühl auch nur einfach ans Jetzt, wollte sich ausdehnen, andauern — und auf gar keinen Fall ins Dann hinübergleiten.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie Klawdi Starsh wohl vor achtundzwanzig Jahren gewesen war — und scheiterte. Selbst in dem kleinen Jungen entdeckte sie ausschließlich den erwachsenen Mann.
So wie jetzt hatte sie ihn allerdings noch nie gesehen.
Da stand eine mächtige Eiche, unter deren Wurzeln mit Sicherheit eine Eisentruhe begraben war, die einen Ast nach dem nächsten austrocknen ließ. Ob sich in ihr Gold befand, Steine oder doch eher verweste Knochen, das wusste wohl nur die Eiche selbst.
Heute war Ywha zum ersten Mal einem Geheimnis auf die Spur gekommen, von dessen Existenz sie bislang nur etwas geahnt hatte. Um Klawdi Starshs Hals hing ein schwerer Stein.
Es geht um eine Frau, dachte Ywha fröstelnd, und das war keine Vermutung, sondern eine unumstößliche Gewissheit. Die Vergangenheit des zynischen Besitzers dieses Riesenbetts beherrschte das Gespenst einer Frau, die jene seltsamen Worte, damals habe es im Unterschied zu heute Leben gegeben, mit Sinn erfüllten.
»Für mich gibt es jetzt auch keins mehr«, entschlüpfte es ihr gegen ihren Willen.
Das durfte er nicht verstehen. Er musste jetzt erstaunt die Brauen hochziehen und »Wie bitte?« fragen.
Und schon krochen seine Augenbrauen nach oben, hielten jedoch auf halbem Weg an, um sich über der Nasenwurzel zusammenzuziehen. Entsetzt begriff Ywha, dass ihre Worte — willkürlich hingeworfen wie ein Ball, der nicht zum Spiel gedacht war, den man gar nicht fangen sollte und der mit Sicherheit aufschlagen würde — eben doch wie ein Ball aufgefangen wurden. Und dass sie jetzt damit rechnen musste, abgeworfen zu werden.
»Das geht vorbei, Ywha. Du darfst dir das nicht so zu Herzen nehmen. Wünsche Nasar Glück. Das ist keine Tragödie. Das ist einfach nur Freiheit.« Der unsichtbare Ball kam in ihr Feld zurückgeflogen. Wie ein Zapfen hing er in der Luft und wartete ihre Entscheidung ab.
»Wählen Sie denn seit achtundzwanzig Jahren immer und immer wieder diese Art der Freiheit für sich?«
Entschlossen machte der Ball kehrt — in Richtung Gegner. Klawdi schwieg. Der Dampf, der aus seiner Tasse aufstieg, löste sich mehr und mehr auf, wurde immer dünner.
Damals, im Zimmer des Wohnheims, hatten die quietschenden Betten von zehn Mädchen Seite an Seite gestanden. Jeden Abend hatten sie in dem großen und ungemütlichen Saal über die Männer und ihre Liebe gesprochen.
Die überwiegende Mehrheit der Vertreter des männlichen Geschlechts wurde zu unverbesserlichen Schürzenjägern erklärt. Doch der Glaube, es gebe unter all diesen Männern auch solche, die in der Lage seien, sich ihre Liebe bis zum Grab zu bewahren, war ihnen allen heilig gewesen. Wie die Schwäne — das hatte eine temperamentvolle, fünfzehneinhalbjährige Blondine mit großer Nase unablässig mit Schaum vorm Mund wiederholt. Wenn ein Schwan stirbt, verendet auch der andere.
Ywha war sich nie sicher gewesen, ob diese Gespräche sie wirklich interessierten. In jenen Jahren hatte das Problem der Treue seitens der Männer keinerlei Relevanz für sie besessen. Noch bis vor wenigen Jahren hatte sie, so unverständlich das heute auch anmutete, lieber dicke Reisebeschreibungen gelesen als Liebesromane.
Und jetzt saß Klawdi Starsh vor ihr, auf den ersten Blick weiß Gott kein Held aus einem Melodrama …
Über seinem ganzen Leben lag unverrückbar der Schatten jener Frau. Über seinem flughafengroßen Bett, über seinen Verliesen, in denen er die Hexen verhörte, über der verfallenen Hütte dieser Datscha. Selbst über seinem Grab würde noch der Schatten jener Frau liegen. Das Mädchen mit der großen Nase, das Ywha etwas von der Treue der Schwäne gepredigt hatte, hatte sich all das allerdings etwas anders vorgestellt. Vom Leben hatte sie wenig verstanden, diese blonde Bettnachbarin Ywhas im Wohnheim.
»Woran denkst du, Ywha?«
»An nichts Besonderes.«
»Komm, wir wollen ein Feuer machen.«
»Für wen?«
Die Worte rutschten einfach aus ihr heraus. Als sie sich auf die Lippen schlug, fing sie bereits seinen tadelnden Blick auf.
Feuer bedeutet nicht immer eine Strafe.
Feuer bedeutet auch den würzigen Geruch des Rauchs, Wärme und Schutz, sanfte Lichtreflexe in samtener Dunkelheit, gen Himmel aufstiebende Funken und herrliche Bilder, die einem vor Augen tanzen, wenn man nur lange und entspannt genug in die Flammen blickt.
»Darf ich Sie was fragen, Klawdi?«
»Sicher.«
»Was … ist mit ihr passiert? Mit dieser Frau?«
Eine Pause.
Das gefasste Gesicht, vom Feuer beleuchtet. Aus unerfindlichen Gründen war Ywha fest davon überzeugt, schon lange habe niemand mehr Klawdi Starsh diese Frage gestellt. Vielleicht sogar noch nie.
Oder doch? Hatten nicht unzählige Frauen, wenn sie sich, erschöpft von den Liebkosungen und Berührungen seiner Hände, in diesem Riesenbett rekelten, unversehens jenen Schatten gespürt? Den Schatten jener einzigen Frau aus grauer Vorzeit. Ob sie Verzweiflung und Eifersucht empfunden hatten? Ob vielleicht auch eine von ihnen gefragt hatte: Was ist mit ihr geschehen?
Obwohl Klawdi schwieg, wusste Ywha bereits, dass eine Antwort folgen würde.
Das Lagerfeuer formte in seinem Innern phantastische Paläste — um sie gleich darauf selbst zu zerstören, sie in eine Funkenwolke zu verwandeln, in Chaos und Asche.
»Sie ist gestorben, Ywha. Ertrunken.«
»Vor achtundzwanzig Jahren?«
»Sie kann … könnte deine Mutter sein. Aber so seid ihr Altersgenossinnen. Du bist sogar etwas älter.« Sein einer Mundwinkel zitterte kaum merklich.
»Und all die Jahre …«
»Das spielt keine Rolle.«
»Doch, das tut es. Ich glaube, Sie geben sich die Schuld an ihrem Tod. Aber sie ist doch nicht durch Ihre Schuld gestorben, oder?«
Auflodernd fiel ein weiteres Feuergebilde in sich zusammen.
Akkurat legte Klawdi weitere Zweige nach. Das Lagerfeuer sackte kurz in sich zusammen, züngelte dann aber erneut hoch. Der Lichtkreis wurde größer; in die seltsam wattige Stille quakte zart ein einzelner Frosch hinein.
»Wir haben vergessen, wie es ist … wenn alles still ist. In Wyshna gibt es diese Stille nicht, stimmt’s, Ywha?«
Sie seufzte mehrmals. Auf allen vieren krabbelte sie auf die andere Seite des Feuers, wobei sie die Decke hinter sich herzog.
Klawdi erhob keinen Einspruch.
Sie setzte sich neben ihn, so dicht, dass sie den Kopf auf seine Schultern legen konnte, falls sie es wollte. Sie konnte es, tat es aber nicht. Seufzend zog er sie an sich.
Eine Minute verging. Eine weitere. Der ewige Tanz der Flammen. Stille.
»Das Feuer … hat sich nicht verändert. Das stimmt doch, oder, Klawdi? Das muss man sich mal vor Augen halten: Jahrhunderte, Jahrtausende, alles verändert sich, nur das Feuer nicht. Schon die Alten haben da hineingeschaut, vor tausend Jahren, mit ernstem Blick, genau wie wir jetzt. Da wird einem ganz schön schwindlig, oder?«
»Ja.«
»Klawdi … ist es Ihnen schon mal passiert, dass Sie etwas sagen wollten und nicht konnten? Weil es die Worte … dafür einfach nicht gibt. Und für manche Dinge existieren tatsächlich keine Worte, oder?«
»Stimmt.«
»Ich will nicht schlafen. Ich möchte bis zum Morgengrauen … hier sitzen. Weil …«
»Ja, Ywha, ja, wir bleiben hier sitzen. Vor allem … da uns ohnehin nicht mehr viel Zeit bis dahin bleibt.«
Sie bettete den Kopf bequemer — und schloss selig die Augen.
Um sieben Uhr morgens stand der Dienstwagen bereits vor dem morschen Tor. Er hupte nicht, lenkte die Aufmerksamkeit nicht auf sich, sondern wartete schweigend. Ywha sank der Mut.
»Wir haben noch zwanzig Minuten«, erklärte Klawdi unerschütterlich. »Wir können noch unseren Tee trinken.«
Die Maus huschte geschäftig in eine Ecke. Wie gestern.
Klawdis Hände lagen an der Tischkante, links und rechts von der Tasse. Bleiche Hände, mit einer noch nicht verheilten Schnittwunde und hervortretendem Adergeäst.
Er schwieg — so lange, bis das Auto, das vorm Eingang stand, taktvoll hupte.
»Klawdi …«
»Ja?«
»Es ist immer so«, flüsterte Ywha. »Wenn man jemanden verliert, glaubt man immer, man selbst sei schuld daran. Bei uns im Dorf, in Tyschka, wo ich geboren bin, da gab es auf dem Friedhof einen richtig guten Lum …«
Sie verstummte. Das Auto hupte noch einmal.
»Ein komisches Gespräch«, bemerkte Klawdi mit blassem Lächeln. »Als ob wir in der offenen Tür stünden und gehen sollten, schließlich hatten wir doch genug Zeit. Jetzt hingegen ist unsere Zeit abgelaufen. Die Tür steht ja schon offen. Doch wir zögern den Abschied hinaus, denn etwas Wichtiges ist ungesagt geblieben. Nur dass eben die Tür schon offen steht und man darauf wartet, dass wir …«
Er erhob sich. Er kippte den nicht getrunkenen Tee zum Fenster hinaus und nahm sein elegantes, faltenloses Jackett vom Haken. »Gehen wir.«
»Es war ein guter Lum«, flüsterte Ywha. »Und er hat sich seinen Trost kaum etwas kosten lassen. Jedenfalls hat er gesagt, unsere Schuld existiere nur in unserer Einbildung und wir sollten uns nicht mit ihr belasten.«
»Gehen wir, Ywha.«
Die Gänse lauerten vor der Tür auf den Großinquisitor. Mit einem Stock fuchtelnd ging Ywha voran. Die weißen Vögel schlugen mit den Flügeln und brachten das Gras zum Zittern — wie Hubschrauberrotoren. Klawdi stapfte an ihnen vorbei, gar nicht mehr daran denkend, dass er sich eigentlich vor ihnen fürchtete. In gewisser Weise war Ywha sogar enttäuscht. Vom Wagen trennten sie noch zwanzig Schritte … achtzehn, siebzehn …
»Ich habe das noch nie erlebt«, flüsterte Ywha. »Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der sich an Ereignisse erinnert, die dreißig Jahre zurückliegen … sich in dieser Weise erinnert. Ich habe die Märchen über die ewige Liebe nie geglaubt.«
»Du bist sentimental, Ywha.«
»Nein.«
»Doch. Das ist kein Märchen. Und es ist nicht lustig. Und vermutlich handelt es sich auch nicht um Liebe.«
»Sie können ruhig lachen, aber ich …«
Sie verstummte.
Eine sperrangelweit offen stehende, vernickelte Tür.
»Nieder mit dem Abschaum, Patron.«
Der Geruch von Wasser und Gras wich dem des aufgeheizten Autos. Der Fahrer drehte sich beflissen um. Klawdis Hand griff nach dem Telefon, überlegte es sich unterwegs jedoch anders. Vielleicht wollte der Großinquisitor die Rückkehr zu seinen Pflichten ja noch um ein paar Minuten hinauszögern. Nahezu beiläufig legte sich seine Hand auf die seiner Gefährtin. »Was wolltest du sagen, Ywha? Warum könnte ich über dich lachen?«
Sie schwieg und biss die Zähne zusammen. Ihre Hand wurde immer feuchter. Und heißer und geradezu nass. Hauptsache, Klawdi bemerkte das nicht.
Jetzt würde sie nichts mehr sagen.
Sie würde nicht zugeben, was sein Vertrauen ihr bedeutete. Dass alle Geheimnisse der Inquisition nichts waren im Vergleich zu dem seltsamen Geheimnis seines Lebens. Und wie sehr sie dieses Geheimnis respektierte.