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Das Telefon heulte mit langen Tönen. Das Telefon flehte mit jämmerlichen Seufzern: Komm zu mir, komm! Nimm den Hörer ab, das ist wichtig, davon hängt das Leben eines Menschen ab!

Nasar hörte die Bitte nicht. Er zog einfach die Schnur aus der Buchse, damit stellte er in seiner Welt wieder Ruhe und Stille her. Vielleicht schlief er aber auch nur.

Ywha ließ sich erschöpft auf die vom Dunst beschlagene Sitzbank in Priws Flur fallen.

Natürlich gab es auch hier ein Telefon, und zwar stand es auf einem kleinen Tischchen. Mit letzter Kraft stellte Ywha es wieder in seine ursprüngliche Position zurück, eine Seite zur Badezimmertür, eine Seite an der gegenüberliegenden Wand. Priws Wohnung war klein, der Flur nur schmal.

Hier in der Diele zog sie außerdem rasch ihre noch nassen Sachen an. Die Tränen hinunterschluckend schlüpfte sie in Jeans und Pullover. Ohne die Turnschuhe zuzubinden, entschwand sie zur Tür, sobald das Rauschen des Wassers im Bad aufhörte. Angst packte Ywha, fast so stark wie vorhin, in der nächtlichen Ödnis, zwischen den reglosen schwarzen Waggons.

Sie rannte los. Die Tasche klatschte gegen ihren Hintern, als triebe sie sie an. Auf der Straße vor dem Haus stob eine Schar Kinder vor ihr auseinander. Ein alter Mann mit einer Einkaufstasche wäre beinahe hingefallen. Sie schlüpfte durch eine sich schließende Tür in einen Bus. Selbst als sie nach fünf Stationen wieder ausstieg, fürchtete sie noch, Priw würde sie einholen.

Weshalb hatte sie sich ihm gegenüber so verhalten? Was hatte er ihr getan? War er nicht wirklich nett zu ihr gewesen?

Und was würde geschehen, wenn er sie fände? Wenn er sich daranmachte, sie zu suchen?

Und das würde er tun. Solche wie er verziehen dergleichen nicht. Und Priw schon gar nicht.

Wenn Nasar wenigstens ans Telefon gegangen wäre. Diesmal hätte Ywha nicht geschwiegen. Inzwischen war sie so weit zu reden. Und sie war so weit, ihn demütig um etwas zu bitten. Nämlich darum, dass ihr Schwiegervater — Mist, ihr ehemaliger Schwiegervater –, sie als Haushaltshilfe einstellte. Eine Hochzeit konnte sie sich natürlich abschminken. Aber von nun an würde Ywha nicht mehr stolz und hochtrabend auftreten, denn sie war jetzt ein Niemand. Wenn Nasar keine Hexe lieben wollte, konnte er sie doch immerhin beschützen. Sich ihr — der Hexe — gegenüber mitleidig zeigen.

Der schiefe Blick einer Frau, die an ihr vorbeiging, traf sie wie eine Ohrfeige. Ein mitleidig-angeekelter Blick, der einer jungen Herumtreiberin mit verheulten Augen und geröteter Nase galt. Ywha fühlte sich wie Spucke an der Bank, auf der sie saß. Widerwärtig anzusehen und aus hygienischer Sicht untragbar. Ob die Polizeipatrouille, die da gelangweilt die Straße entlangmarschierte, das verdächtige Mädchen wohl nach seinen Papieren fragen würde?

Klar und deutlich hatte Ywha vor Augen, wie sie auf dem Revier landete. Eine obdachlose, arbeitslose Hexe, die sich der obligatorischen Registrierung entzog und mit der Faust auf den verstaubten Tisch des Polizeihauptmanns schlug. »Ich werde jetzt den Großinquisitor von Wyshna anrufen! Privat! Auf der Stelle! Dann dürfen Sie ihm Rede und Antwort stehen!«

Die Polizeipatrouille kam näher. Ywha unterdrückte den panischen Wunsch wegzurennen. In ihrer Tasche grabschte sie nach einem Notizbuch, das sie auf der erstbesten Seite aufschlug, um sich in die Entzifferung ihrer miserablen Handschrift zu versenken. Ich bin ein beschäftigter Mensch, ein Mensch, der sich nur kurz auf eine Parkbank gesetzt hat, ein Mädchen aus der Provinz, das zum Studium hierhergekommen ist und, zugegeben, nicht gerade wie aus dem Ei gepellt aussieht, dafür aber enorm eifrig.

Sie schielte auf die Schatten, die bis auf einen Zentimeter an ihre Turnschuhe herankrochen — aber nicht auf sie fielen. Ein gutes Zeichen …

»Keine Angst, du Idiotin. Die können dir nichts anhaben.«

Am anderen Ende der Bank hatte das Mädchen in dem Kleid Platz genommen, das nach einer Schuluniform aussah. Aus ihrem Wägelchen stieg der Appetit anregende Dampf heißer Sandwiches auf.

»Du solltest mal dein Image wechseln«, blaffte Ywha.

»Was?« Das Mädchen zog die Brauen hoch.

»Dein Image.« Ywha verzog verächtlich den Mund. »Kauf dir eine Perücke und einen Schirm … Oder schmeiß dich in eine Lederjacke mit lauter Aufnähern und leg dir ein Motorrad zu. Deine Sandwiches kotzen mich nämlich langsam an!«

Das Mädchen grinste. »Ich fürchte, wenn eine von uns das Image wechseln sollte, dann du«, sagte sie völlig ungerührt. »Am besten lässt du dich gleich heute noch registrieren. Da wird man dir gern helfen, dein Schicksal zu wählen. Eine Papierfabrik am Stadtrand und die väterliche Aufsicht der Inquisition dürften deinen Erwartungen vom Leben doch voll und ganz entsprechen, oder etwa nicht?«

Ywha sagte kein Wort. Aus den schmalen Augen des Mädchens blickte sie ein erfahrenes, raubtierhaftes, weises Wesen an.

»Was willst du?«, fragte Ywha hilflos.

»Soll ich dir erzählen, wie die Registrierung aussieht?« Sie rümpfte die Nase. »Zuerst befehlen sie dir, dich nackt auszuziehen. Dann entkleiden sie deine Seele. Du wirst losplappern wie ein braves Mädchen, die Worte werden dir sogar aus den Ohren kriechen … Eine ganze Kassette wirst du vollquatschen … mit Sicherheit sogar mehr als eine. Dann kommt ein Kerl …« Das Mädchen krümmte sich wie unter heftigen Schmerzen. »… einer von denen, die … der für dich zuständige Inquisitor. Der steckt seine ungewaschenen Finger in dich hinein …«

»Haben die dich schon registriert?«, frage Ywha leise.

Das Mädchen grinste. Sie hatte ihre Selbstbeherrschung zurückgewonnen — die sie eigentlich nie verloren hatte. Sie hatte sich lediglich ein paar Gefühle gestattet, um Ywha …

»Geh weg, ja?«, flüsterte Ywha. »Bitte.«

Das Mädchen schwieg. Sie reckte sich vor, holte ein Sandwich aus ihrem Wagen und biss hinein, woraufhin ein grünes Blatt Petersilie an ihrer Unterlippe hängen blieb.

»Ich frage mich, wie lange du glaubst …« Das Blatt verschwand, von einer langen Zunge geangelt. »… so sturköpfig durch diese Scheiße waten zu können.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging sie die Straße hinunter. Der Saum ihres kurzen braunen Kleides flatterte und verschwand immer wieder unter der ausgelassenen, sackartigen grauen Jacke.


Am Abend hefteten sich zwei schräge Typen mit trüben Augen an Ywhas Fersen.

Gerade ging sie die Straße hinunter, die sich rasch leerte, als sie im Rücken ihre aufdringlichen, gemeinen Blicke spürte. Um ihnen zu entkommen, schlüpfte sie in ein grell leuchtendes Geschäft. Doch dort, zwischen den hohen Regalen und den lässig umherschlendernden Kunden, fanden die beiden Kerle sie schon wieder und bauten sich ohne viel Federlesens am Eingang auf, wo sie amüsiert den Ständer mit den nicht gerade jugendfreien Zeitschriften inspizierten. Abwechselnd taxierten sie Ywha immer mal wieder mit einem Blick, als verglichen sie ihre Vorzüge mit dem nackten Fleisch auf den Hochglanzcovern. Nachdem Ywha erst zu kochen begann, packte sie schließlich eine eiskalte Wut.

Mit zusammengebissenen Zähnen stapfte sie an den beiden vorbei in Richtung Ausgang. Die Männer verströmten einen Geruch, einen ganz leichten nur, einen süßlichen und widerwärtigen Geruch. Ywha fragte sich nicht einmal, ob es wirklich Tabak war, was die beiden rauchten. Die seltsamen trüben Augen ihrer Verfolger machten ihr momentan nicht das Geringste aus. Sollten die sich ruhig mit ihrem Kraut vergnügen …

»Hey, Füchslein!«

Unwillkürlich fuhr Ywha zusammen. So hatte Nasar sie manchmal genannt. Jetzt war der Kosename für immer durch einen fremden, stinkenden Mund in den Dreck gezogen.

Sie beschleunigte den Schritt.

»Füchslein, renn doch nicht so! Willst du einen Kognak?«

»Haut ab!«, zischte Ywha. Ihr Herz hämmerte wie wild, in ihrem Mund breitete sich ein galliger Geschmack aus: vor Angst. Den kannte sie nur zu gut.

Eine gewaltige Pranke riss sie schmerzhaft an der Schulter zurück. »Dass sich heutzutage aber auch jedes Weibsbild für was Besseres hält!«

Ywha wurde schwarz vor Augen.

Schande, Erniedrigung und Flucht — das machte jetzt ihre Tage und Nächte aus. Gegenüber der Inquisition war sie machtlos und vor den Tschugeistern hatte sie panische Angst. Aber warum um alles in der Welt musste sie sich auch noch mit diesem Pack herumschlagen?

An das, was danach geschah, erinnerte sie sich kaum noch. Die Nacht zwinkerte ihr mit dem trüben Licht einer Flasche zu, die unter einer Bank lag und deren Hals sich ihr ganz von selbst in die Hand legte. Scherben flogen hoch durch die Luft.

»Haut ab!« Sie wollte noch etwas hinzufügen, diesen beiden Typen ein würdiges Etikett verpassen, doch daran scheiterte sie. Selbst der dreckigste Ausdruck erschien ihr noch harmlos und fad, weshalb sie einfach auf die beiden Kerle zuging, fest entschlossen, ihnen den Bauch aufzuschlitzen.

»Hau du doch ab, du glubschäugige Hexe!«

Je weiter sie zurückwichen, desto leiser wurde ihr Gezeter. Das Wort »Hexe« galt nicht ihrem Wesen, sondern war lediglich ein weiteres Glied in der Kette der Beschimpfungen. Die wenigen Fußgänger, die die Szene aus sicherem Abstand verfolgten, machten, dass sie weiterkamen. Von weit her vernahm Ywha den Pfiff eines Polizisten. Sie blickte auf die zerschlagene Flasche in ihrer Hand. Der glatte Hals fletschte seine schiefen Zähne. Ywha suchte nach einem Mülleimer. Aus unerfindlichen Gründen erschien es ihr besonders wichtig, die Flasche nicht einfach auf die Straße zu schmeißen. Zum Glück entdeckte sie in der Nähe eine Tonne. Sie hob den Metalldeckel an, und der halb leere Eimer nahm Ywhas Geschenk bereitwillig auf.

»Wie lange glaubst du eigentlich noch, so sturköpfig durch diese Scheiße waten zu können?«

Über ihre Finger rannen schwarze Bluttropfen. Hatte sie sich also doch geschnitten.

Die Eingangstür war verschlossen. Ywha stand lange in einem Tordurchgang zwischen den Häusern und lauschte, wie das träge Regenwasser durch die Rinne plätscherte.

Wohin die Fenster von Wohnung 4 wohl zeigten? Auf den Platz des Siegreichen. Sturms oder in den Hof, wo im Regen eine Kinderschaukel durchweichte?

Ihre Entschlossenheit schmolz dahin. Diese verfluchte Nacht und diese verfluchten Wolken! Vor allem aber dieses verfluchte Schloss in der Haustür! Womöglich hockte hinter der nachts verschlossenen Tür sogar noch ein Security-Typ. Vielleicht schlummerte er ja gerade, schaute in einem kleinen Fernseher etwas an, wärmte sich die Füße an einem elektrischen Heizer und linste immer wieder zu Wohnung 4 hinüber.

Aus dem Tordurchgang rannte sie in eine Telefonzelle. Eine Weile betrachtete sie wie gebannt den Tanz der Regentropfen auf der Glasscheibe. Dann riss sie jäh den schwer gewordenen Arm hoch, wählte die Nummer, die sie sich nicht einmal hatte aufzuschreiben brauchen. Sie hatte sich ihrem Gedächtnis doch sofort eingebrannt.

Niemand nahm ab. Mit dem Rücken gegen die Scheibe gelehnt, sackte Ywha nach unten. Sie umklammerte ihre Knie und zwang sich, an nichts zu denken.


Am frühen Morgen wurde die Haustür von innen geöffnet. Eine ältere Frau mit einem Hund kam zum üblichen Morgenspaziergang heraus. Dame und Hund ähnelten einander in einer Weise, die sich kaum beschreiben ließ. Beide wirkten adlig, gepflegt und ernst.

Ywha wartete ab, bis die Dame die Hundeexkremente peinlich genau mit einer Schaufel aufgenommen und sie quer über den Hof getragen hatte, um die Masse triumphierend in einen speziellen Abfalleimer zu versenken. Dann geduldete sich Ywha, bis beide nach einigen gemütlich auf dem Hof gedrehten Runden die Treppe vor dem Haus erklommen. Den Hund vorschickend, schloss die Dame die Tür nicht mehr hinter sich ab. Ein neuer Tag hatte begonnen.

Im Treppenflur roch es nach Regen. Einen Security-Menschen gab es nicht. Dafür stand in einer Ecke ein prachtvoller Ficus, der seinen Kübel zu sprengen drohte. Vermutlich hatte er die Dame schon als Mädchen, den Hund bereits als Welpen gekannt.

Ywhas Turnschuhe hinterließen feuchte Abdrücke auf den hellen Stufen. Die Decken in dem Haus waren so hoch, dass in den Ecken unter der Treppe das Halbdunkel noch behaglich nistete. Mit der Hand über das lackierte Geländer gleitend, machte sich Ywha auf den Weg nach oben. Es galt, überraschend viele Stufen zu nehmen, obwohl sie doch bloß in den ersten Stock hinauf musste — zu jener hohen, schwarzen Panzertür.

Die Klingel hallte lange nach. Ywha riss den Finger vom Knopf, der grün wie die Knöpfe an ihrem alten Mantel war.

Schweigen. Stille. Plötzlich drehte sich im zweiten Stock beherzt der Schlüssel in der Tür, der Hund bellte aufgeregt los.

Ywha wich von der Tür zurück, wie in Zeitlupe steckte sie die Hände in die Tasche und hob den Kopf.

Die Dame erschien auf dem Treppenabsatz. In ihrem Gesicht spiegelten sich weder Furcht noch das Misstrauen wider, wie es in vergleichbaren Situationen üblich war, sondern lediglich maßlose Neugier.

»Herr Starsh ist nicht da. Er ist vorgestern weggefahren. Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein.« Ywha drehte sich um.

»Aber Sie wollten doch zu Klaw, oder?« Das Erstaunen der Dame schien noch zuzunehmen. »Ich meine, zu Herrn Starsh.«

Sie sollte jetzt wohl besser etwas sagen. Eine Minute lang versuchte Ywha, sich ein Wort abzuringen. Dann wandte sie sich einfach um und ging nach unten. Hilflos glitt ihre schmutzige Hand über den gelben Lack des Geländers.


Klawdi schlief und träumte, ein Fisch zu sein. Ein kugelrunder und vollkommen grauer Fisch. Das gefiel ihm, doch als das Flugzeug zur Landung ansetzte, brach der Traum mit einer unangenehmen Kälte in der Brust ab.

Zwei Hexen hatte er umsonst gefoltert, sie wussten nicht das Geringste. Die dritte wusste zwar etwas, doch selbst er schaffte es nicht, ihr dieses Wissen zu entreißen. Die vierte hatte ebenfalls beharrlich geschwiegen, war am Ende aber doch eingeknickt und hatte ausgesagt.

Selbst wenn es kaum alles gewesen sein dürfte. Mawyn war ein Profi, der hart würde arbeiten müssen. Aber eben darum ging es nun einmal, um Arbeit, nicht um das nervöse Löschen eines Feuers. Immerhin schienen sie dieses Feuer gerade noch rechtzeitig ausgetreten zu haben.

»Du verstehst das doch, nicht wahr? Das, was hier vor sich geht? Du kannst dem doch Einhalt gebieten, oder?«

Als ob das nicht noch in den Sternen stand!

Plötzlich sackte das Flugzeug in ein Luftloch. Klawdis Magen hüpfte ihm hoch bis in den Hals. Zum Glück hatte er fast vierundzwanzig Stunden lang nichts gegessen. Andererseits brauchte er sich nichts vorzumachen: Selbst wenn er jetzt festen Boden unter den Füßen hätte, wäre ihm schlecht. Dieser Brechreiz würde ihn noch sehr, sehr lange quälen. Sein ganzes Leben lang …

Er hätte Mawyn zwingen sollen, die Verhöre selbst durchzuführen, sinnierte er böse. Schließlich war Mawyn der Kurator, da hätte er sich die Hexen ebenso gut vornehmen können. Und es hätte ihm bestimmt nicht geschadet, auch mal ein bisschen zu schwitzen. Sollte er doch an seiner eigenen Wohlanständigkeit ersticken. Oder an etwas anderem — das nun bei Klawdi blaue Flecken hinterlassen hatte. Striemen. Er hätte auch Fedora zwingen können, schließlich war sie eine harte Frau.

Mit einem Mal lächelte er schief. Mawyn hätte dieses Geständnis nicht aus der Hexe herausgeholt. Es tat ihm gut, sich die eigene professionelle Überlegenheit gegenüber seinen Untergegeben bewusst zu machen. Wie in diesem Witz von den Latrinenräumern: »Lerne, mein Söhnchen, du willst ja wohl nicht dein Lebtag bloß die Schlüssel besorgen.«

Das Flugzeug setzte auf der Landebahn auf. Bedauernd nahm Klawdi wahr, wie das Gefühl des Fluges dem irren Dahinrasen über den Betonstreifen wich. Jetzt würde er nach Hause fahren, das Telefon ausstöpseln und wieder zum Fisch werden. Im Traum. Wo es ebenso wenig dieses schmerzliche Vorgefühl gab wie Hexen oder auch ein Stadion, diese riesige Betonschale voller Menschenbrei, voller Menschenmatsch.

Es schüttelte ihn. Genau mit diesem Gefühl hatte er sich gestern in die Katakomben begeben. Heute gab es noch ein weiteres Bild: Tausende von Menschen stürzten panisch zu den Ausgängen. Frauen, Kinder, Jugendliche, eine Blutsuppe in einer Betonschale …

Das Flugzeug kam zum Stehen. Das reicht, ermahnte sich Klawdi. Diesen Gedankengang schalten wir mal lieber ab!

Daraufhin atmete er tief ein und rief sich das Szenario bis ins letzte Detail in Erinnerung. In allen Einzelheiten und Farben, bis hin zu der zerquetschten Brille unter einem der Sitze. Dann malte er sich aus, wie über das grelle Bild seiner Phantasie Risse krochen, als berste Glas. Und wie die Scherben klirrend auseinanderflogen. Erleichtert atmete er aus. Das war’s.

Es regnete.

»Wie war es in Odnyza, Patron?«, erkundigte sich sein Bodyguard höflich.

»Ein Ferienort während der Hochsaison.« Klawdi lächelte. »Überall duftet es nach Magnolien. Nimm dir Urlaub, Saly, pack deine Frau ein und ab geht’s …«

Der Bodyguard lachte. »Ich bin geschieden, Patron«, erklärte er, während er Klawdi den Wagenschlag aufhielt.

»Tatsächlich?« Klawdi zeigte sich erstaunt. »Hm … Irgendwie bereiten einem die Frauen doch nur Probleme. Und quasi jede zweite ist eine Hexe …«

Jetzt lachten beide.

Vor zwei Stunden hatte Fedora Klawdi zum Flughafen begleitet, ihn bis zur Gangway gebracht. Ohne ein einziges Wort zu sagen. Natürlich musste sie ihn laut Etikette begleiten. Denn Mawyn, der Kurator, kam dafür nicht in Frage, da Klawdis Besuch nicht offiziell, sondern lediglich ein Arbeitstreffen war. Genauer gesagt, ein Treffen, bei dem eine verdammt hässliche Arbeit erledigt werden musste.

Fedora hatte geschwiegen, und er war mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen. Er hatte sich danach gesehnt, allein zu sein, sich im Sitz zurückzulehnen und seine Wunden zu lecken. Damit es wenigstens so aussah, als habe er sein Gleichgewicht zurückerlangt.

»Halt die Ohren steif, Fedora. Arbeite. Richte den Kindern einen Gruß aus«, hatte er gesagt.

»Mach ich.«

»Gefällt es ihnen in Odnyza? Immerhin leben sie jetzt am Meer …«

»Ich glaube, es gefällt ihnen.«

»Auf Wiedersehen. Ich muss los.«

»Gute Reise … Klaw.«

Selbst als er später darüber nachdachte und alles zu analysieren versuchte, fand er keine Erklärung für den Ausdruck, mit dem sie ihn betrachtet hatte. Sah sie in ihm einen Henker? Vermutlich nicht, vermutlich machte sich da nur sein Argwohn bemerkbar. Einen Helden?

Einen ähnlichen Ausdruck hatte er einmal in den Augen ihrer Tochter bemerkt. Damals war das Mädchen fünf Jahre alt gewesen und ihre Mutter auf eine lange Geschäftsreise gegangen. Die Kleine hatte sie mit müdem und hoffnungslosem Blick angesehen, mit einem ganz und gar nicht altersgerechten Blick, als quäle sie sich unablässig mit der Frage: Was kann ich schon gegen das Schicksal ausrichten?

Ihre Mutter war auf eine Geschäftsreise gegangen, die auch als »ein Monat Urlaub mit Onkel Klaw an einem menschenleeren Ferienort« hätte umschrieben werden können. Darüber hinaus blieb die Frage, ob überhaupt jemand etwas gegen das Schicksal ausrichten konnte.

Das Auto erreichte den Platz des Siegreichen Sturms. Voller Genugtuung registrierte Klawdi, dass er sich tatsächlich von den verbotenen Gedanken hatte losreißen können. Noch ein paar Stunden Schlaf — und er war imstande weiterzugraben. Denn er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass nicht bloß Rjanka und Odnyza von Hexen mit derart tiefen Brunnen heimgesucht werden würden. Vorerst musste all dies jedoch noch warten. Damit würde er sich später befassen.

Der Bodyguard schaute ins Haus, kam zurück und stellte sich respektvoll hinter den Großinquisitor, abwartend, bis dieser es aufgab, das Irisbeet zu betrachten, und hinaufgehen würde. Klaw winkte ihm träge zu. »Geh nur … Saly … Tschüs.«

Im Treppenhaus war es kalt und feucht. Klawdi musste den gesamten ersten Absatz hinter sich bringen, um endlich die Anwesenheit einer Hexe zu wittern.


(Djunka. April)

Er brachte ihr Brot, Kefir und abgepacktes Essen aus der Mensa. Anscheinend aß sie nichts. Sie brach ein Brötchen in Stücke und verteilte den Kefir auf mehrere Gläser, allerdings nur, um die Illusion einer Mahlzeit zu schaffen. Widerspruchslos wusch Klaw das Geschirr ab und brachte ihr weiteres Essen. Er akzeptierte die Spielregeln, ja, mehr noch: Er versuchte, an sie zu glauben.

Er hatte die Schule fast ganz aufgegeben, sah jetzt dürr und abgezehrt aus. Juljok Mytez wollte schon die zweite Woche nicht mit ihm sprechen, weil Klaw ihn auf eine harmlose Frage heftig angefahren und grundlos beleidigt hatte. Noch stärker verübelte ihm Juljok die Tatsache, dass er allem Anschein nach als Einziger unter dem »Boykott« litt. Klaw selbst pfiff auf derartige psychologische Feinsinnigkeiten.

Klaw lebte sein Leben, von der übrigen Welt durch einen undurchdringlichen Schleier getrennt. In der winzigen Wohnung im vierzehnten Stock jenes Ameisenhauses wartete tagein, tagaus die geliebte Frau auf ihn, die eigentlich tot war. Permanent von seiner Umwelt isoliert, versuchte Klaw die entscheidende Frage seines Lebens zu beantworten: War er glücklich oder litt er?

Wenn er sie berührte, musste er sich jedes Mal überwinden. Da er den Geruch nach Wasser, der von ihr ausging, nicht einatmen wollte, hielt er die Luft an, zwang sich, den Mund zu öffnen und den Kuss zu erwidern. Doch währte der qualvolle Kampf nur eine Minute, danach folgte sein Körper den Instinkten und nahm in ihren Berührungen das reale gierige Fleisch wahr. Sobald er dann auf sie reagierte, glomm es in seinem Körper auf, während Djunkas Körper die Kälte verlor, die Zurückhaltung aufgab. Ihre Haut färbte sich rosa, ihre Lippen röteten sich, und bei jeder Liebkosung des schlanken Halses fühlte er den Puls, den Strom ihres Blutes.

In solchen Augenblicken kehrte sein Gedächtnis nahezu mühelos zu jenem warmen Sommer zurück, und er flüsterte verzweifelt: »Verzeih mir, Djunotschka«, und umarmte sie, als wolle er sie erdrücken.

So lebten sie bereits einen Monat wie Mann und Frau zusammen.

Er verkaufte einem Antiquar ein Dutzend seiner Lieblingsbücher, um ihr ein Kleid und Unterwäsche zu besorgen, Schuhe und Pantoffeln, ja, sogar Kosmetik. Er hoffte, die Dinge des menschlichen Alltags würden, in zwangloser Ordnung in der bescheidenen Wohnung verteilt, ihnen beiden helfen, den zarten Schatten des Wahns zu vertreiben, der sich nun einmal über ihr seltsames Spiel gelegt hatte. Eines Tages schlug er ihr sogar vor: »Wollen wir nicht mal deine Eltern anrufen?«

Djunka sah ihn lange mit unverwandtem Blick an. Schließlich schüttelte sie bedächtig den Kopf, worauf Klaw seine dumme Frage bereute.

Ihre Haare wollten allerdings nie trocknen. Sobald Klaw sie in den Arm nahm, legten sich die feuchten Strähnen wie kalte Schlangen auf seine Schulter. So zählte er denn das Geld, das noch vom letzten Besuch bei dem Buchhändler übrig war, und kaufte ihr einen starken, fünfstufigen Föhn.

Sie schien sich darüber zu freuen. Gedankenversunken saß er in dem renovierungsbedürftigen, engen Zimmer und lauschte dem Dröhnen, das aus dem Bad herüberdrang. Nach einer Weile drang das Plätschern von Wasser an sein Ohr.

Er klopfte an und schaute zur Tür hinein. Lächelnd pustete ihm Djunka warme Luft ins Gesicht. Wie ein Beduine kam sich Klaw vor, einer, der den Wind der glühenden Wüste spürt.

Djunka hatte ihm ein Bad eingelassen. Eine weiße, an Reisbrei in einem Topf erinnernde Schaummütze schickte sich an, über den Rand zu kriechen.

»Was für ein Riesenbier«, bemerkte er und freute sich, als Djunka lachte. »Willst du baden?«

Djunka schüttelte den Kopf. Sie brauchte nicht zu baden, sie wollte bloß ihre Haare trocknen.

»Also ist das für mich?«

Sie nickte. Irgendwie seltsam zufrieden. Als bereite ihr der Gedanke an einen frisch gewaschenen Klaw unglaubliche Freude. Ob er jetzt beleidigt sein sollte? Weil sie ihn für einen Dreckspatz hielt?

Bei diesem dummen Gedanken musste er selbst grinsen. Er berührte Djunkas Wangen, die sich zum allerersten Mal warm anfühlten: »Gut«, sagte er. »Ich bin gleich wieder bei dir.«

Sie ging hinaus und schloss hinter sich die Tür.

Klaw zog sich aus und warf die Sachen achtlos über ein schief stehendes Regal. Unter dem matten Schaum war es warm und angenehm, angenehmer sogar, als er es sich ausgemalt hatte. Glücklich sank er in seine eigene kleine Welt, streckte sich aus, bettete den Hinterkopf auf den Rand der alten Wanne und schloss die Augen.

Alles würde werden, wie es einst gewesen war. Djunka war ja schon zu ihm zurückgekehrt. Wie viele Menschen in dieser Stadt wohl jahrelang mit … mit ihnen lebten? Mit den geliebten Wesen, die auf ihren Ruf hin jene Grenze überschritten hatten? Jahrelang oder jahrzehntelang? Und wer hatte das Recht, sie daran zu hindern? Die Tschugeister vielleicht. Doch an die wollte er lieber nicht denken. Ob die Tschugeister Djunka hier fänden? Nein, niemals!

Die Mündung des Wasserhahns starrte Klaw in die Augen. Ein runder und schwarzer Abgrund, fast wie ein Brunnen. Seit einer Minute quoll nun schon ein Tropfen daran. Er wuchs, schimmerte und fing das trübe Licht der Deckenlampe ein. Schließlich riss er sich schmatzend los und fiel in den Schaum. Platsch.

In der Stille nahm sich das Aufklatschen wie eine kleine Katastrophe aus. Eine ferne Explosion. Obwohl — es war ja gar nicht still. Die Seifenblasen knisterten trocken, in den Labyrinthen der Rohre rauschte das Wasser, ein leises Brummen ließ sich vernehmen, vermutlich Djunka, die sich nebenan immer noch die Haare föhnte.

Klaw kniff die Augen zusammen.

Nein, der Föhn lag ja hier, auf dem Brett für das Shampoo. Auf jenem Brett, das, wundersamerweise von zwei rostigen Schrauben gehalten, Schlagseite zeigte und über dem Badewannenrand lauerte. Jetzt lag darauf das Geschenk, das Klaw Djunka gemacht hatte, der Föhn, der, eingestellt auf die niedrigste Stufe, leise vor sich hin brummte. Seinen Augen nicht trauend, verfolgte Klaw das gezwirbelte schwarze Kabel, das fest in der Steckdose saß.

Wie hatte sie ihn dort hinlegen können? Und wie hatte er so dumm sein und nicht bemerken können, dass der Föhn noch lief? Schließlich hatte er nicht die Absicht, kurzen Prozess mit sich zu machen. Oder hatte er den Verstand verloren — und es war, als er in den Schaum geglitten war, überhaupt kein Föhn da gewesen?

Vor langer Zeit hatte er mal einen Film gesehen. Einen komischen und zugleich schrecklichen Film. Djunka und er waren zusammen im Freiluftkino gewesen, die Mücken hatten sie unbarmherzig gebissen, die Nachtfalter in den Lichtstrahlen getanzt. In diesem Film gab es eine junge Frau, die einem Killer entkommen musste. Sie stieß den Kerl kurzerhand in die Wanne und warf ein eingeschaltetes Elektrogerät hinterher. Genauer gesagt, einen Föhn. Wer hatte denn auch schon einen Fernseher oder eine Nachttischlampe im Bad? Was für ein Idiot er doch war!

Vorsichtig und darauf bedacht, dass die Spitze der Schaumwehe nicht das Brett für das Shampoo berührte, tastete er nach dem glitschigen Wannenrand. Genau in diesem Augenblick erzitterte das Brett, denn die beiden Schrauben gaben nach …

Klaw erstarrte. In seinem Bauch ballte sich eine trockene, peinigende Leere zusammen.

Der Föhn, der noch immer eifrig pustete, kroch näher an den Rand des Bretts. Der weiße Plastikaufsatz neigte sich wie das Maul eines verdurstenden Tiers dem Wasser zu. Er spürte einen schwachen warmen Luftzug, der Schaum zitterte und bildete eine Kuhle. Ein Fleck blanken Wassers trat zutage, eine kleine Lache. Langsam, aber unaufhaltsam rutschte der Föhn weiter nach vorn, sein Weg endete, der freie Fall begann, und dieser Bruchteil einer Sekunde dehnte sich für Klaw zu endlos quälenden Minuten aus.

Keine einzige Geschichte aus seinem Leben wollte ihm einfallen, er erinnerte sich weder an seine Mutter noch an den ersten Kuss. Der alte Lum schoss ihm durch den Kopf, der sich schwer auf die Friedhofsmauer stützte. Mit den entzündeten Augen in dem klugen, wenn auch absolut durchschnittlichen, alten Gesicht. Und auch an die dunklen Zweige der uralten Tanne erinnerte er sich. An mehr aber nicht.

Nein!

Niemand hatte ihm diese Geste beigebracht. Er riss beide Hände nach vorn, um das Gespenst des über ihn herfallenden Todes wegzustoßen. Das Wasser in der Wanne wogte hoch auf, als wolle es den fallenden Föhn belecken — oder einfach fortspülen.

Er verstand nicht gleich, warum das elektrische Spielzeug einen Moment in seinem Fall innehielt. Vermutlich hing der dicke gerippte Griff irgendwo fest. Klaw war bereits aus der Wanne gesprungen, eine Schärpe aus Wasser und Schaumflocken hinter sich herziehend. Schon spürte er unter seinen Füßen den rauen Wannenvorleger aus Gummi, schon packte seine feuchte Hand das Kabel …

Aus unerfindlichen Gründen war er felsenfest davon überzeugt, das Kabel würde sich ihm widersetzen. Doch der Stecker glitt leicht und lautlos aus der Dose und flog, von dem allzu heftigen Ruck getragen, quer durchs Bad, schlug gegen die Wand, prallte ab und landete im Wasser, dem Föhn hinterher, der inzwischen zwar nicht mehr surrte, aber am Ende doch ins Wasser gefallen war.

Klaw stand in einer rasch erkaltenden Pfütze. Von dem nun mit extremer Schlagseite herabhängenden Brett purzelten nacheinander das Shampoo, ein Rasierpinsel und eine leere Seifendose in die Wanne, auf deren weißem Boden reglos der Föhn ruhte, dieses ertrunkene Monster.

Plötzlich rieselte ihm kalte Luft den Rücken hinunter. Die Tür, die er nicht abgeschlossen hatte, war aufgegangen.

Djunka stand auf der Schwelle und schwieg. Ihr verständnisloser Blick schweifte von dem nackt zitternden Klaw zur Wanne mit den sich immer stärker lichtenden Seifenblasen und wieder zurück.

»Puh«, kicherte Klaw leise und seltsam. »Ich wäre beinahe verschmurgelt.«

Djunka schwieg. In ihren angespannten Augen lag ein Ausdruck, den Klaw nicht zu deuten vermochte.


Ywha schreckte aus dem Halbschlaf auf, als sie unten die ersten Schritte hörte. Mit angehaltenem Atem lauschte sie auf die fremde, geräuschlose Anwesenheit. Der Ankömmling blieb neben dem Ficus stehen, drehte sich wieder um und verließ das Haus. Sie hatte noch nicht wieder Luft geholt, als schon wieder jemand hereinkam. Die vertraute Übelkeit stieg in Ywha auf.

Sie presste die Tasche an sich und wollte weiter nach oben stürzen, erst in den zweiten Stock, dann in den dritten und schließlich auf den Dachboden, doch schon nach dem ersten Treppenabsatz verrenkte sie sich den Fuß, weshalb ihr nichts anderes übrig blieb, als sich in eine dunkle Ecke zu kauern, die immerhin von der schwarzen Panzertür aus nicht einzusehen war.

Die Anwesenheit des Inquisitors setzte ihr immer mehr zu, trat immer deutlicher und schärfer hervor. Durch das Blut, das in ihren Ohren rauschte, hörte Ywha die Schritte. Zunächst entschlossen, dann zögernd und schließlich, nach einer kurzen Pause, so langsam, als gelte es, irgendwelche Gedanken zu ordnen.

»Ist hier jemand?«

Ein Schlag. Ywha krümmte sich und presste die Hand vor den Mund. Der Schmerz spülte über sie hinweg und verebbte wieder. Durch die tränenfeuchten Wimpern beobachtete sie die Stufen, die nach unten führten. Auf ihnen erschienen Füße in schwarzen Schuhen, die trotz des Regens absolut trocken waren.

»Du brauchst dich nicht zu verstecken, Ywha.«

So tief sie konnte, atmete sie durch. Der mysteriöse Druck lastete jetzt nicht mehr auf ihr, lediglich eine leichte Übelkeit und Schüttelfrost machten ihr noch zu schaffen.

»Du brauchst dich da nicht in der Ecke herumzudrücken. Das ist gefährlich. Komm runter.«

»Ich will mich nicht registrieren lassen«, sagte sie, den Rücken an die kalte Wand gepresst. »Ich will nicht ins Gefängnis. Ich will da nicht hin, ich will nicht …«

»Ach, Ywha.« Aus der müden Stimme glaubte sie Verärgerung herauszuhören. »Deine Sorgen möchte ich haben.«


Als Allererstes öffnete Klawdi den Kühlschrank und stierte in sein reiches, mit Kochtöpfen bestücktes Inneres. Er hatte zwar überhaupt keinen Hunger, doch das Betrachten der Speisen half ihm, sich zu konzentrieren und sich in der Illusion zu wiegen, er tue etwas. Außerdem konnte ein Mann, der in den Kühlschrank sah, ja wohl kaum beängstigend wirken. Zumindest hoffte Klawdi das.

Mytez junior hatte unrecht. Seine Freundin hatte sich nicht zu einer ihrer Freundinnen geflüchtet, die sie nach Nasars Ansicht in großer Zahl besaß. Eine Frau, die drei Tage hintereinander bei einer Freundin geschlafen hat, sieht anders aus, die hat nicht diesen Ausdruck in den Augen.

»Diese Zeiten …«, sagte er beinah zu sich selbst. »Diese Zeiten … sie sind einfach nicht danach, dass sich eine unregistrierte Hexe herumtreibt und auf Bahnhöfen schläft.«

Obwohl er Ywha nicht ansah, entging ihm nicht, wie sie hochschoss, da sie glaubte, er habe ihre Gedanken gelesen. Oder ein Heer von Spionen in der Stadt stationiert.

Vorgestern hatte er aus irgendeinem Grund an sie gedacht. Ach ja, sie hatte ihn angerufen. Woraufhin er Nasar angerufen hatte. Doch der …

»Hast du lange auf mich gewartet?«

Sie atmete tief ein. »Ich weiß nicht, meine Uhr ist stehen geblieben …«

Klawdi seufzte.

Still steht die Uhr, stumm,

Schon stirbt mein Name, verlischt.

Golden schimmert eine Blume in der Welt aus Stahl,

Tönern schlägt die Stunde und stumm steht die Uhr.

Nachdenklich bewegte er ein Päckchen Schinken in den Händen hin und her. Was sollte er jetzt machen? Mit Ywha, nicht mit dem Schinken. Was sollte er mit ihr machen — vor allem in Anbetracht des Befehls, den er gestern erlassen hatte?

Er ging ins Wohnzimmer zurück. Das Mädchen stand an der Tür, an einer teppichfreien Stelle, noch immer in ihrer nassen Jacke und mit ihrer alten Sporttasche in der Hand.

»Seit gestern«, Klawdi knallte sich das Päckchen Schinken auf den Handteller, »genauer, seit gestern Abend hat sich die Situation für ausnahmslos alle Hexen extrem verkompliziert, und zwar in allen Provinzen. Im Grunde hat sie sich schon vorher zugespitzt … als die Lynchjustiz begann. Allein in Rjanka … aber lassen wir das, das sind interne Informationen. Wyshna ist eine beschauliche Stadt, die bisher mit Demonstrationen davongekommen ist.« Eingehend betrachtete er den Aufdruck auf der Verpackung. »Warum malt man auf ein Päckchen Schinken ein lachendes Schwein? Freut es sich etwa darauf, geräuchert zu werden?«

»Nicht mehr … als die Hexen«, zwang sich Ywha zu einer Antwort. »Schon bald wird man in Supermärkten Bastelsets anbieten, damit sich Kinder ihren eigenen Hexengrill zusammenbauen können. Dazu gibt’s ein Bündel Brennholz … mit einem hübschen Aufdruck. Mit einer lachenden …« Ihr versagte die Stimme.

»Zieh dich aus«, sagte er sachlich.

Ihre wachsamen Augen verengten sich noch weiter. Klawdi setzte ein schiefes Lächeln auf. »Ich meinte: Zieh deine Jacke aus. Und die Turnschuhe auch.«

Er warf den Schinken aufs Sofa und ging zum Fernseher, um wahllos ein Programm einzuschalten.

Im Nachrichtensender gab ein hagerer, südländischer Mann, der an einen Vogel erinnerte, seinen Kommentar ab. Hexen erwähnte er mit keinem Wort, wofür Klawdi ihm im tiefsten Innern dankbar war. Die Welt bestand eben nicht nur aus ihnen. Selbst wenn die Hexen gerade überhandnahmen.

»Hast du Nasar angerufen?«, fragte er, den Blick auf den vogelgesichtigen Mann gerichtet, der seinen Platz jetzt einer Frau mit sportlicher Frisur überließ.

»Ich lasse mich nicht registrieren«, erklärte Ywha tapfer. »Diese … Ich gehe da nicht hin!«

Klawdi hob den Telefonhörer ab.


Ywha biss sich die Lippe blutig und beobachtete, wie die kräftige, mit einem Aderkranz geschmückte Hand eine kurze Nummer wählte. Ein herunterrasselndes Gitter, Ketten und der Gestank der Fackeln: Hier bei mir hockt eine Hexe. Schickt doch mal einen Wagen vorbei!

Sie hatte sich so verhalten, wie es von ihr erwartet wurde. Sie hatte auf die Gnade des Siegers gehofft. Wie verächtlich das Mädchen in der ausgelassenen grauen Jacke jetzt lächeln würde! Na, hab ich’s dir nicht gleich gesagt? Hast du es nicht selbst so gewollt? Weshalb bist du sonst zu ihm gegangen? Freiwillig?

»Nieder mit dem Abschaum«, brummte der Mann, der mit dem Rücken zu ihr stand, in den Hörer. Ywha fuhr zusammen, als wünsche er ihr persönlich den Tod. Dieser Abschaum, dachte sie, das bin ich.

Der Inquisitor schwieg lange, lauschte der Stimme am anderen Ende. Hilflos wie ein Wurm am Haken eines Anglers wartete Ywha ab. Schickt einen Wagen für die Hexe! In den nächsten zehn Minuten!

»Ja«, blaffte der Inquisitor. »Darüber können wir nachher noch diskutieren, Hljur. Oder wir vergessen das Ganze am besten gleich! … In drei Stunden brauche ich die Liste mit allen Namen. Bis dahin halte mich für tot.«

Der Hörer lag wieder auf der Gabel.

»Ich lasse mich nicht registrieren …«, sagte Ywha tonlos.

»Du hast eine gute innere Abwehr«, urteilte der Inquisitor, während er zum Fenster hinausblickte. »Wie geht es dir?«

Verblüfft stellte Ywha fest, dass ihr kaum noch schlecht war. Ihre Übelkeit hatte sich verflüchtigt, war ganz und gar verschwunden.

»Eine gute Abwehr«, wiederholte der Inquisitor zerstreut. »Willst du vielleicht schlafen, Ywha? Ich schon. Sehr sogar, Ywha. Falls ich jetzt nicht wenigstens zwei Stunden Schlaf bekomme, dürfen die Hexen sämtlicher Provinzen vermutlich mein baldiges Ableben feiern.«

Er rieb sich die Augen. Zunächst lässig, dann so kräftig und angestrengt, dass sich die Lider im Nu röteten.

»Ich lege mich jetzt hin, Ywha. Geh in die Küche, nimm dir aus dem Kühlschrank, was dir gefällt, und iss etwas … Wenn du willst, schlaf auf dem Sofa. Es gibt nur zwei Sachen, die du nicht machen solltest.« Er seufzte. »Lass die Finger von der Wohnungstür und setz keinen Fuß in mein Arbeitszimmer. In beiden Fällen würde ich sofort aufwachen, und das würde, wie es in Romanen so schön heißt, meine Nerven erschüttern. Geh auch nicht ans Telefon …«

Ywha brachte kein Wort heraus.

Die Ereignisse wirkten erstaunlich irreal. Inzwischen hatte sie sich auf den piekenden Läufer vorgewagt. Ihre Socken waren durchnässt, es schien ihr jedoch allzu leger, sie vor dem Großinquisitor auszuziehen. Dergleichen wäre unangebracht, zu intim.

Die schwere Tür des Arbeitszimmers schloss sich. Die eigenwillig geschwungene Klinke klackte. Ohne viel Federlesens ließ sich Ywha einfach auf den Boden herab.

Draußen regnete es noch immer. Im Fernseher, den Klawdi auszuschalten vergessen hatte, flimmerte ein Reklamespot.

Im Schneidersitz lauschte Ywha auf das Wehklagen ihrer Muskeln. Die Jeans waren völlig durchgeweicht. Ein Feuerchen wäre jetzt schön, ein Kamin …

Ein Lagerfeuer.

Ywha erschauderte. Im Fernsehen loderte ein Scheiterhaufen, doch die Kamera, offenbar von einem Amateur geführt, zuckte heftig, weshalb das Metallgerüst nicht zu erkennen war, an dem die Flamme hochzüngelte. Ach nein, jetzt erkannte sie den Basketballkorb. Und offenbar war an die Metallstange ein Mensch gefesselt. Das am Ring baumelnde Netz war bereits verbrannt. Schreiende Menschen, die an Fans erinnerten. Ihre Schreie blieben stumm, denn der Ton war abgestellt. Ein Feuerwehrauto sauste ins Bild, weitere Menschen eilten herbei, diesmal in Uniform. Wie in Zeitlupe gingen Knüppel nieder. Dann brach der Film ab.

Der sprechende Kopf des Kommentators. Immer noch dieser südländische, vogelartige Typ mit dem scheuen Mitleid in dem hageren Gesicht. Ywha hielt nach der Fernbedienung Ausschau. Da sie sie nicht fand, ging sie zum Fernseher und suchte den Knopf, der den Ton zuschalten würde.

»… hat darüber hinaus bestätigt, dass nie zuvor in den letzten zwanzig Jahren derart strenge Maßnahmen ergriffen worden sind. Ihre Wirksamkeit hätten sie bereits unter Beweis gestellt, denn zwei Stunden nach Einleitung der prophylaktischen Vorkehrungen im Kreis Odnyza konnten fünf extrem gefährliche Individuen vernichtet und neunzehn Durchschnittshexen verhaftet werden. Der Großinquisitor hält es zudem für seine Pflicht zu betonen, dass er in engem Kontakt mit den Einrichtungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung stehe und kein weiteres Umgreifen der Lynchjustiz zulassen werde, da diese nicht nur der Inquisition selbst Schaden zufüge, sondern auch als inhuman und blasphemisch einzustufen sei …«

Mit untergeschlagenen Füßen saß Ywha da, und der allzu nahe Bildschirm brannte ihr in den Augen.

»… größte Kräfte wende man nach wie vor auf, um unregistrierte Hexen aufzuspüren. Von heute an würden alle Todesurteile der Inquisition innerhalb von vierundzwanzig Stunden vollstreckt, zudem sei die Liste der Straftaten, die eine Verhaftung oder den Tod einer Hexe nach sich ziehen, erheblich erweitert worden …«

Noch während Ywha den Apparat ausschaltete, spürte sie genussvoll die eigene Macht. Ein perfides Vergnügen, als der vogelgesichtige Sprecher verblasste und erlosch, sich zusammenzog — und alles, was von ihm noch blieb, der graugrüne Spiegel des Bildschirms war.

So, so. Da hockte sie also in der Wohnung des Großinquisitors, auf seinem Fußboden, vor seiner stummen Glotze. Bleib jetzt ganz ruhig, du Hexe, verlier bloß nicht die Nerven. Draußen im Regen wäre es weitaus ekliger. Für Hexen ist im Augenblick alles etwas komplizierter, ihr ohnehin nicht gerade einfaches Leben eben auch.

Feuchte Spuren auf dem Boden hinterlassend, ging sie in die Küche. Mit zusammengepressten Lippen sah sie sich um und öffnete den Kühlschrank. In ihrem Mund wurde es sofort warm. Spucke sammelte sich. Zum Glück war ihr gesunder Appetit noch immer stärker als jedes Unglück. Sie würde sich gar nicht erst etwas warm machen, sondern gleich alles kalt essen. Nur einen Tee wollte sie sich kochen.

Sie wandte sich dem Herd zu. Der Kessel funkelte ihr mit einer spiegelblanken Seite zu, in der sich ein Mensch abzeichnete, der im Türrahmen stand.

Ywhas Arme wurden schwer. Selbst der Kessel wurde unsagbar schwer, obwohl doch nur Wasser für zwei Tassen darin war.

»Ich kann nicht einschlafen«, erklärte der Inquisitor fast entschuldigend. »Das ist zwar ärgerlich, erstaunt mich aber auch nicht besonders.«

Er trug einen schwarzen Hausmantel, dessen bodenlanger Schnitt sie an ein mittelalterliches Gewand erinnerte.

»Dafür haben die Menschen jede Menge Wunderpillen ersonnen«, sagte Ywha mit gesenktem Blick.

»Die wirken bei mir nicht«, gestand der Inquisitor. »Ich habe einen besonderen Organismus, ist dir das noch nicht aufgefallen?«

Indem Ywha schluckte, vertrieb sie das Gespenst der Übelkeit.

»Um deine Abwehr könnte dich wirklich jede Kampfhexe beneiden«, bemerkte der Inquisitor mit einem seltsamen Lächeln. »Lass uns was essen.«

Doch wie Ywha feststellte, war ihr der Appetit schlagartig vergangen. Sie beobachtete, wie die Wassertropfen auf dem spiegelblanken Kessel zitterten, zischten und verdampften. »Was werden Sie jetzt mit mir machen?«

»Gute Frage …«, erwiderte der Inquisitor mit hochgezogener Braue.

Zum ersten Mal traute sich Ywha, ihm ins Gesicht zu blicken. Ein müdes Gesicht, das musste sie zugeben. Beleuchtet von dem weißen Laternenlicht, obwohl es bereits heller Tag war.

»Eine gute Frage, Ywha.« Gedankenverloren holte der Inquisitor ein krosses, helles Brötchen aus dem Brotkasten. »Hast du Nasar angerufen?«

Sie wandte sich ab.

»Weißt du …« Der Inquisitor schnitt das Brötchen so akkurat in Scheiben, dass es jedem Restaurant Ehre gemacht hätte. »… schon in meiner Kindheit hat man mir beigebracht, dass die persönlichen Probleme eines Menschen nur diesen selbst etwas angehen.«

»Warum haben Sie es ihnen dann gesagt?«, zischte Ywha kaum hörbar. »Sie wollen mich doch … bei lebendigem Leibe … Warum? Was habe ich Ihnen getan?«

»Es ist Nasar, der dir deinen Verrat krummnimmt«, erklärte der Inquisitor kalt. »Früher oder später wäre sowieso alles herausgekommen, nur wäre es dann noch schmerzlicher gewesen.«

»Das geht gar nicht.«

»Das glaubst du.« Die Stimme des Inquisitors knisterte wie Asche, die der Wind durch einen Schornstein fegte, und ließ Ywha frösteln.

Das Wasser kochte, der Kessel pfiff. In seinem Hals muss auch eine Pfeife stecken, dachte Ywha. Damit er anschlagen kann wie ein fröhlicher Hund.

»Die persönlichen Probleme …«, knurrte Ywha aufgebracht. »Man sollte das nicht verwechseln … die persönlichen Probleme und … die beruflichen Pflichten … Aber Sie wollten ja offenbar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen …«

»Du solltest dich hinsetzen, Ywha«, sagte der Inquisitor müde.

»Ich stehe lieber.«

»Setz dich.«

Indem sie sich am Rand des Tisches festkrallte, versuchte sie stehen zu bleiben, während der hingeschleuderte Befehl mit ihrem Willen kämpfte. So machen sie es!, schoss es Ywha durch den Kopf. Genau so. Da hat mich das Mädchen in der Schuluniform nicht angelogen.

Der Boden kam immer näher. Ein sauberer Boden, gewischt von den Händen einer rechtschaffenen Putzfrau. Mit einem lustig gewürfelten PVC …

Der Kampf endete ergebnislos, riss einfach ab. Der Befehl löste sich in Luft auf, und Ywhas angespannter Wille, damit seines Gegners beraubt, strauchelte auf der Suche nach einem Ausweg. In ihren Ohren hallte der Aufprall wider, als sie schmerzhaft mit der Hand auf dem Boden aufschlug.

»Tut mir leid, das wollte ich nicht.«

Sie biss sich auf die Lippen und rappelte sich hoch. Auf gar keinen Fall durfte sie vor ihm auf dem Boden liegen — denn nur die Besiegten krümmen sich zu Füßen ihres Gegners.

»Tut mir leid, das wollte ich nicht … Aber deine Freiheitsliebe ist schon richtig pathologisch. Du fühlst dich ja selbst dann noch unter Druck gesetzt, wenn nicht mal jemand welchen ausübt.«

Ywha betrachtete ihre Hand, die sich im Nu rötete.

Schon wollte sie ihm erwidern, er als Großinquisitor brächte es einfach nicht fertig, keinen Druck auf sein Ge­gen­über auszuüben, da er bereits so mit seiner Rolle ver­wachsen sei, dass er das selbst bei Kleinigkeiten tue. Dass er ohne jeden Grund und Anlass, ohne es selbst zu mer­ken, Druck ausübe. Da sie sich in ihrer Situation dergleichen jedoch besser verkniff, hörte sie bloß darauf, wie ein grauer Spatz auf der anderen Seite des Fensters tschilpte.

Inzwischen hatte der Inquisitor mit dem Essen begonnen. Er aß ohne jede Hast, aber dennoch sehr schnell, aus Gewohnheit schnell, wie ein Soldat oder ein Akkordarbeiter. »Du hast doch in der Schule Prüfungen ablegen müssen, oder?«

Ywha erschauderte.

»Dann lös doch spaßeshalber mal folgende Aufgabe. Du hast eine Stadt voller Menschen. In dieser Stadt ist eine Bombe versteckt. In einer Stunde wird sie explodieren, vielleicht in der Metro, in einem Krankenhaus oder einem Kindergarten. Der einzige Mensch, der weiß, wo sie hochgehen wird, ist eine zu allem entschlossene Frau, die allerdings jede Aussage verweigert. Du ermittelst in der Sache. Du bist ein Mann in mittleren Jahren. Was unternimmst du?«

Begriffsstutzig schwieg Ywha. Was sollte das? Was hatte sie damit zu tun? Schließlich verstand sie nicht das Geringste von Bomben!

Der Inquisitor schob seinen Teller zur Seite. Er holte eine Zigarettenschachtel von länglicher Form aus der Tasche und fing gierig und sogar ein wenig hingebungsvoll an zu rauchen. »Komm ja nicht auf die Idee, die Geschichte auf dich zu beziehen«, warnte er sie, mit zusammengekniffenen Augen in den Rauch spähend. »Die habe ich mir ausgedacht. Sie dient nur als Beispiel. Wie ein Rätsel. Also, was würdest du tun?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Ywha tonlos.

»Meinst du …«, der Inquisitor zog schon wieder die Augenbraue hoch, »… diesen Menschen, den Erwachsenen und den Kindern, die in einer Stunde sterben, wäre durch deine Unwissenheit geholfen?«

Alarmiert fuhr Ywha zusammen. Zu sehr glaubte sie an die Macht des Wortes über die Realität. Selbst eine fiktive Geschichte könnte sich bewahrheiten — in einer fiktiven Welt. Und die ausgedachten Menschen in ausgedachten sechzig Minuten in die Luft jagen …

»Ich müsste herausbekommen, wo sich die Bombe befindet«, brachte sie mühevoll hervor.

»Wie?« In der Stimme des Inquisitors lag Hoffnungslosigkeit, als drifte das Spiel mit beängstigender Rasanz in die Realität ab. »Wie willst du es herausbekommen — wenn diese Hündin schweigt?«

»Warum tut sie das?«, fragte Ywha hilflos.

»Ich weiß es nicht«, gestand der Inquisitor. »Ich habe keine Ahnung. Übrigens läuft die Zeit, fünf Minuten grübeln wir jetzt schon …«

»Weiß es denn sonst niemand?« Ywha presste die Hände gegeneinander.

»Nein, niemand«, erklärte der Inquisitor nach einem weiteren Zug an der Zigarette. »Entschuldige, ich habe mir einfach eine angezündet, ohne dich vorher zu fragen. Du rauchst doch nicht, oder?«

»Es kann nicht sein, dass es sonst niemand weiß!«

»Doch. Sie hat die Bombe zusammen mit einem Komplizen gebastelt, der inzwischen tot ist. Jetzt ist sie die Einzige …«

Schließlich setzte sich Ywha, auf den Rand des Hockers, die Knie nervös aneinandergequetscht. »Ich … weiß es nicht. Man müsste sie foltern, damit sie etwas sagt …«

Die Finger des Inquisitors drückten die brennende Zigarette aus. Asche fiel auf den Tisch, Funken stoben auf, dann erlosch die Kippe. Verängstigt sah Ywha ihn an. Hatte sie etwas falsch gemacht?

»Genau davon bin ich nicht überzeugt«, sagte der Inquisitor mit tonloser Stimme. »Ich bin nicht davon überzeugt, dass dies der richtige Weg ist. Gestern habe ich den ganzen Tag nichts anderes getan, als Frauen zu foltern, Ywha. Und die öffentliche Meinung, momentan vertreten durch dich, billigt das offenbar.« Er lächelte schief, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Und was wollten Sie von ihnen?«, fragte sie, bemüht, ihrer Stimme einen möglichst gleichgültigen Klang zu geben.

»Ich wollte …« Ungeduldig fischte er die nächste Zigarette aus dem Päckchen. »Eigentlich spielt das keine Rolle. Was ich wollte, habe ich auch bekommen.«

Einen Augenblick lang hörten beide zu, wie das Wasser aus dem Hahn tropfte. Platsch, platsch schlug es im vernickelten Waschbecken auf. Plötzlich erschien vor Ywhas innerem Auge ein riesiger Saal mit vernickelten Waschbecken und Metalltischen — aus Zink? –, auf denen …

»Wenn sie dich initiieren …«, der Inquisitor beobachtete die Veränderungen in ihrer Miene genau, »… wenn das passiert, könnte dir unter Umständen eine glänzende Karriere bevorstehen. Falls dieses Wort in ihrer Hierarchie angemessen ist. Mit deinen Anlagen dürftest du vermutlich eine Schildhexe abgeben … oder eine Bannerhexe, denn du verfügst über ein außerordentliches Gespür. Vielleicht kommt es aber auch anders. Trotz allem bitte ich dich, Ywha, dich nicht initiieren zu lassen. Bereite mir nicht noch mehr Kopfschmerzen, als ich ohnehin schon habe.« Er lachte traurig.

»Was wollen die Hexen?« Ihre Gesprächspartnerin fiel ihr ein, die Verkäuferin der heißen Sandwiches.

»Ich würde viel dafür geben«, sagte der Inquisitor nach einem neuerlichen Zug, »um das zu verstehen. Manchmal meine ich, ja, jetzt bin ich dahintergekommen. Aber … letztlich muss man dafür eine Hexe sein. Wenn du eine wirst … lass es mich doch aus alter Freundschaft wissen. Was die Hexen wollen …«

»Aber Sie fragen sie unter Folter«, konnte Ywha sich nicht verkneifen zu bemerken. Der Inquisitor verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und wollte schon etwas sagen, doch in diesem Moment blökte im Zimmer das Telefon los, dem mit etwas leiserer Stimme ein zweiter Apparat in der Küche antwortete.

Angst erfasste Ywha. Panische und hoffnungslose, jedoch absolut grundlose Angst. Vermutlich ließen sie einfach ihre Nerven im Stich, die durch das schrille Geräusch gereizt waren. Der Inquisitor legte seine Zigarette am Rand des Aschenbechers ab und griff mit einer kraftlosen Geste nach dem Hörer. »Hallo …«

Obwohl sich sein Gesichtsausdruck nicht veränderte, wusste Ywha, wer da anrief. Sie wusste es, und am ganzen Körper brach ihr der Schweiß aus.

»Ja, ich war nicht da. Ich bin erst heute Morgen zurückgekommen, aus einem Ferienort sozusagen, aus Odnyza … Ja, eine wirklich interessante Arbeit … Hör auf damit. Weshalb sollte ich dir das übel nehmen, schließlich sind wir beide erwachsene, kluge Männer … Nein, das kann ich unter keinen Umständen einrichten … Ja, das entspricht so in etwa den Tatsachen … Wie?«

Ywha nahm sich eine kleine Scheibe Brot vom Tisch. Wie betäubt biss sie ein Stück ab, nagte daran und versuchte, mit dem frischen Brot nicht den Hunger, sondern ein anderes Gefühl zu vertreiben, ein vages zwar, aber dennoch nicht weniger drängendes. Sie musste kauen, einfach nur kauen.

Ohne Ywha anzusehen, hörte der Inquisitor zu. Er beobachtete, wie die auf dem Aschenbecher deponierte Zigarette ungeraucht vor sich hin qualmte. Versteinert wartete Ywha ab.

»Du musst wissen«, fuhr der Inquisitor einen Ton tiefer fort, »dass ich mich in meiner Stellung nicht mit diesen Dingen beschäftige … Tut mir leid, aber im Moment kann ich dir dazu rein gar nichts sagen.«

Er schaute zu Ywha hinüber. Schnell und flüchtig, aber doch so, dass sie zusammenzuckte.

Im Hörer polterte aufgeregt eine metallische, durch die Entfernung verzerrte Stimme. Eine erhobene und angespannte Stimme, die offenbar begierig darauf war, sich durchzusetzen.

»Gut«, lenkte der Inquisitor widerwillig ein. »Aber warum rufst du an und nicht er? Immerhin ist er ja wohl auch schon geschlechtsreif, oder?«

Ywha wurde unbehaglich zumute. Als hätte man Nasar in ihrer Anwesenheit beleidigt.

»Gut«, wiederholte der Inquisitor, diesmal jedoch müde und bedrückt. »Soll er mich anrufen … Oder ich rufe an, wenn ich etwas Neues weiß. Einverstanden?«

Ywha erhob sich. Lautlos ging sie ins Wohnzimmer zurück. Stehend sah sie sich im Raum um, ohne ihn jedoch wirklich wahrzunehmen. Sie setzte sich in einer Ecke auf den Fußboden und zog die Füße unter sich. Es gehörte sich nicht, fremde Telefonate zu belauschen.


Nachdem er aufgelegt hatte, blieb er einige Minuten sitzen und beobachtete, wie die abgelegte Zigarette verglomm.

Dieser Herr Papa! Nasar hatte er quasi ganz allein großziehen müssen. Das hatte Spuren hinterlassen, in seiner Persönlichkeit. Vermutlich wäre das nicht bei jedem der Fall gewesen, aber bei Juljok ganz bestimmt, denn der war doch die geborene Glucke.

Die Frau hockte im Wohnzimmer auf dem Boden. Eine Rothaarige, eine Füchsin in der Falle. Fragend sah sie ihn an — nur um den Blick prompt wieder zu senken. Ihre Augen waren zwar gerötet, aber es lag doch kein gejagter Ausdruck darin. Klawdi seufzte kurz. Es gibt doch nichts Schlimmeres als eine unregistrierte Hexe.

»Also, Ywha … Mein Freund und dein … wenn du so willst, dein Schwiegervater ist dabei, eine Riesendummheit zu begehen. Natürlich interessiert ihn das Schicksal seines Sohnes mehr … als unsere Belange. In gewisser Weise hat er damit sogar recht. Wir warten jetzt noch eine halbe Stunde, du denkst gründlich über alles nach … und dann rufst du Professor Mytez an.«

»Nein«, antwortete sie sofort. »Ich werde ihn nicht … nein. Ich weiß nicht, was … ich sagen soll.«

»In Ordnung.« Theatralisch zuckte Klawdi die Achseln. »Und was dann? Was soll ich mit dir machen?«

Wieder verkrampfte sich Ywha. Wutentbrannt rammte sie die Schulterblätter in eine Ecke des Sofas, womit Klawdi eine weitere Kostprobe ihrer potenziellen Möglichkeiten erhielt. Obwohl: Aus jeder von ihnen konnte die Initiation ebenso gut eine herausragende Kampfhexe als auch eine graue Arbeitshexe machen.

»Ruf ihn an«, sagte er sanft. »Er verliert die Nerven. Er sucht dich … Versuch, ihn zu verstehen. Ruf ihn an … Wenn du willst, gehe ich inzwischen raus.«

Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, verließ er das Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich.

Lange Zeit blieb es im Zimmer still. Irgendwann klackerten leise die Tasten des Telefons. Klaw nickte zufrieden, als er die Nummer am Klang erkannte. Er schloss die Augen und legte den Fuß über die Armlehne des weichen Sessels.

»Ich bin’s.«

Die Stimme des Mädchens klang stumpf, aber fest. Entschlossen, ohne zu schwanken und zu stottern. Klawdi fand in der Schublade des Tisches einen Bonbon, mit dem er erst eine Weile spielte, bevor er ihn sich in die Wangentasche steckte.

»Ich bin’s … Ja.«

Schweigen. Worüber der gute alte Professor, der am anderen Ende der Leitung schwitzte, sich jetzt wohl ausließ?

»Ich weiß, dass es nicht richtig war.« Die Stimme der jungen Hexe wurde lauter, fraglos klang Stolz darin mit. »Aber, so leid es mir tut, ich hatte keine andere Wahl.«

Klaw zerbiss den Bonbon. Zu spät fiel ihm ein, dass er Menthol nicht ausstehen konnte. Er hatte gemeint, seine Haushälterin gebeten zu haben, andere zu kaufen, die besser schmeckten, irgendwelche, selbst Berberitze wäre nicht so scheußlich.

»Das verstehe ich ja.« In Ywhas Stimme schlich sich ein metallener Unterton. »Ich glaube, das müssen Sie entscheiden. Und Nasar muss sich darüber klar werden … Nein, keine Sorge, mir geht es gut.«

Eine stolze Frau vom Land, dachte Klawdi schwermütig. Selbst nach drei Nächten auf dem Bahnhof hielt sie an ihrem Lügenmärchen von der guten Freundin noch fest, bei der sie sicher sei, es bequem habe, gern ein, gern aber auch zehn Jahre bleiben könne.

Mit einem Mal packte ihn die Wut. Er ärgerte sich über Mytez junior wie senior, die bereit waren, dieses für sie so bequeme Märchen zu glauben. Und auch die Hexe konnte ihm gestohlen bleiben, mit diesem krankhaften Stolz der Jugend.

»Ich?« Die Stimme der Frau verkrampfte sich. Offenbar wollte sie die Antwort herauszögern, denn sie fragte noch einmal: »Ich?«

Eine Pause. Ein Stocken. Klawdi wusste genau, dass am anderen Ende ebenfalls jemand schwieg — in Erwartung einer Antwort.

»Ich …« Das Mädchen stotterte. »Ich bin bei … Herrn Starsh. Ja …«

Interessant. Da hatte Ywha also etwas von einer Telefonzelle erzählen wollen, aus der sie gerade anrief. Oder von der guten Freundin. Doch offenbar befürchtete sie, Klawdi würde die Lüge aufklären.

»Ja«, wiederholte Ywha, und ihre Stimme klang überraschend schwach. »Natürlich.«

Ohne ein Geräusch zu machen, erhob sich Klawdi. Die Tür seines Arbeitszimmers quietschte nie.

Ywha stand am Fenster, mit dem Rücken zu ihm. Die Telefonschnur ringelte sich wie ein riesiger toter Blutegel über den Läufer. Ywha stand da, den Kopf in die zitternden Schultern gezogen. Der Hörer in ihrer herunterhängenden Hand sprach ununterbrochen, mit einer leicht nervösen, insgesamt jedoch angenehmen Stimme.

Als er den Hörer aus ihren verkrampften Fingern zog, gaben ihn diese widerstandslos frei. Er hielt ihn sich ans Ohr. Das Plastik war noch warm und roch schwach nach Deo, einem teuren, wie der verwöhnte Klawdi meinte.

»… muss es nicht sofort dazu kommen. Das verstehst du doch, oder, Ywha? Schließlich wolltest du Nasar doch nicht verletzen? Natürlich geht mich das nichts an. Aber solche Probleme löst man nicht von heute auf morgen. Er schmollt jetzt …« In der Stimme schwang ein Tadel mit. »Aber ich glaube, wenn er erst mal über alles nachgedacht hat … Dann wird er auch selbst in der Lage sein, dir zu sagen … äh … Ywha? Hörst du mir noch zu?«

Klawdi hielt der Frau den Hörer hin. Ywha wandte sich ab, um stur ihr Gesicht zu verbergen. Ihre Stimme klang jetzt allerdings wieder fest. »Ja«, sagte sie, nachdem sie tief Luft geholt hatte. »Natürlich, Sie haben recht.«

Bevor ihre Hand die Gabel erreichte, fing Klawdi sie ab. Das Gelenk war schmal und hart wie ein Ast.

»Ja, Jul«, ergriff er sorglos das Wort, nachdem er sich den Hörer zurückerobert hatte. »Du siehst, ich habe mein Versprechen gehalten. Darf ich wissen, worauf ihr euch geeinigt habt?«

Eine Pause. Offenbar hatte Professor Mytez nicht mit einem derart abrupten Wechsel der Gesprächspartner gerechnet.

»Also, Klaw, ich wusste ja nicht, dass sie bei dir … Also kurz und gut, wir haben vereinbart, Nasar Zeit zum Nachdenken zu geben. Und dann, wenn er sich wieder gefangen hat …«

»Und wann wird das sein?«, fragte Klawdi scheinheilig.

»Also …« Mytez rückte nicht gleich mit einer Antwort heraus. »In einer Woche … vielleicht in zwei …«

»Jul!« Klawdi bemerkte selbst, wie sich seine gelassene Stimme veränderte, wie sich eisenharte Untertöne hineinmischten. »Das Mädchen sitzt bis über beide Ohren in der Tinte. Sie hat kein Dach überm Kopf und ist nicht registriert. Hexen, die sich nach Erlass meines letzten Befehls nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden registrieren lassen …«, er warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr, »… werden in Beugehaft genommen. Jetzt sag mir bitte klipp und klar, ob ihr, du und Nasar, die Verantwortung für Ywha übernehmt! Und zwar von dieser Sekunde an! Oder soll ich eine Streife rufen, die sie aufs Revier bringt?«

Ywha zitterte am ganzen Leib. Ohne sie anzusehen, fasste er nach ihrer Schulter.

»Jul, lass mich kurz mit Nasar sprechen«, bat er in den verzweifelt schweigenden Hörer.

»Er schläft«, antwortete der Professor tonlos. »Der Junge nimmt seit drei Tagen Schlaftabletten. Wenn du glaubst, er leide nicht … ihm mache das nichts aus … Schließlich warst du derjenige, der …«

Mytez kam in Fahrt. Klawdi schloss die Augen. »Das verstehe ich doch, Jul«, sagte er mit einer um Ruhe und Sanftmut bemühten Stimme. »Aber wir leben leider in einer Welt, in der es außer Hexen noch eine Menge anderer hässlicher Sachen gibt. Ich mache niemandem einen Vorwurf. Daher sag mir als deinem Freund einfach ganz ruhig: Nehmt ihr das Mädchen jetzt auf? Bürgt ihr für sie? Oder nicht?«

»Klaw!« Mytez’ Stimme klang erschöpft und bittend. »Könntest du … dir nicht etwas einfallen lassen? Ich bitte dich, Klaw! Als Freund. Lass dir etwas einfallen!«

Schweigend hörte Klaw, wie Professor Julian Mytez am anderen Ende schwer und ungleichmäßig atmete.

Jul ist nicht gut beieinander, dachte er. Das Alter macht sich früh bemerkbar, Sport treibt er nicht, spazieren geht er auch nicht, dabei hat er das Haus auf dem Land. Oder nahm ihn das Ganze wirklich so mit? Verlor er die Nerven?

»In Ordnung, Jul«, sagte Klawdi fast aufgeräumt. »Aber ihr solltet auch zusehen, zu einer Entscheidung zu kommen, ja?«

Vermutlich nickte Mytez am anderen Ende, völlig vergessend, dass er nicht zu sehen war. »Ja, Klaw, natürlich … Danke. Das ist eine verzwickte Angelegenheit … Danke … Also dann … Lass dir was einfallen …«

»Hm.« Klawdi konnte nichts dagegen tun: Er nickte ebenfalls. »Mach’s gut.«

»Mach’s auch gut, mein Freund.«

Er stellte das Telefon an seinen Platz und stupste die Schnur mit dem Fuß unter den Tisch.

»Stecken Sie mich jetzt ins Gefängnis?«, fragte Ywha tonlos.

»Ich weiß es nicht«, gab Klawdi ehrlich zu. »Ich glaube, es würde dir dort nicht gefallen.«

Die Lippen der jungen Frau verzogen sich trotzig. »So werde ich nicht leben. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt zu Ihnen gekommen bin. Und worauf …«

Worauf ich gehofft habe, hatte sie sagen wollen, aber sie wollte den Satz nicht mit weinender Stimme beenden — daher blieb er unvollendet.

»Noch vor einer Woche«, sagte Klawdi, »hätte ich dich guten Gewissens irgendwo untergebracht … bei Freunden, bei Bekannten, bei Freunden von Bekannten, bei Bekannten von Freunden, als Schreibkraft in irgendeiner kleinen Firma, als Putzfrau in einem sauberen Büro … Das wäre gar kein Problem gewesen. In dieser Stadt gibt es mehr als genug Leute, die mir mit Vergnügen einen Gefallen erweisen. Aber jetzt geht das nicht mehr. Jetzt kann ich dich nicht einfach laufen lassen … Du weißt doch, was da los ist, was die Hexen machen, was gegen sie unternommen wird. Oder?«

»Ja«, flüsterte Ywha.

»Ich bin froh, dass du das einsiehst«, sagte Klawdi mit einem zufriedenen Nicken.

Ywha hob den Blick und sah ihn an.

Jetzt lag ein gehetzter Ausdruck in ihren Augen. Ihn sahen die verzweifelten Augen einer gejagten Füchsin an, der keine Fluchtmöglichkeit mehr blieb.


(Djunka. April)

Das Schicksal ereilte ihn auf dem Rückweg.

Er hatte den letzten Bus verpasst, aber glücklicherweise gelang es ihm, ein Auto anzuhalten, das ihn mitnahm. Der redselige Fahrer lebte in der Nähe der Studentenstadt, zu der auch Klawdis Schule gehörte, die der Universität angegliedert war, und erklärte sich damit einverstanden, den müden Jungen umsonst nach Hause zu bringen. »Ich hab dafür ja Verständnis, war doch selbst mal jung … Aber sich mitten in der Nacht hier draußen rumzutreiben, also ich muss schon sagen, das ist schon ein Ding, und gefährlich ist es obendrein …«

»Ich bin schon siebzehn.«

»Ja und? Damit bist und bleibst du ein Junge!«

Klaw nickte zustimmend. Bis zum Wohnheim brauchte der Bus vierzig Minuten. Der gute und weltweise Herr schaffte es in einer Viertelstunde. Nur gut, dass Mytez noch schmollte und er ihm nicht Rede und Antwort stehen musste.

Damit endete sein Glück jedoch auch schon.

Eine Polizeistreife, die die Zufahrt zur Hauptstraße kontrollierte, hielt das Auto an. Der redselige Fahrer ließ sich dadurch in keiner Weise irritieren, sondern fing gleich mit dem Polizisten ein weitschweifiges Gespräch über das Wetter und die Qualität der Straßen in den Vororten an. Der Polizist nickte und studierte im Licht einer Taschenlampe die vorgelegten Papiere. Etwas abseits standen zwei weitere Männer: Klaw erschauderte, als er die kurzen Fellwesten über den Lederjacken erkannte.

»Seien Sie so gut und öffnen Sie den Kofferraum.«

»Suchen Sie wen?«, fragte der Fahrer sorglos.

»Eine Routinekontrolle«, mischte sich einer der Tschugeister ein. Klaw blieb das Herz stehen.

Die Tschugeister hatten sich zu beiden Seiten des Fahrers aufgebaut. Dieser schenkte ihnen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Nachdem beide den Inhalt des Kofferraums gleichmütig betrachtet hatten, schauten sie dem Fahrer gleichzeitig ins Gesicht. Der wurde nun doch nervös.

»Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten«, bat der größere der beiden Tschugeister. »Gute Weiterfahrt.«

Der Kleinere linste zu dem neben ihm stehenden Klaw hinüber. Der hatte den Eindruck, sein Kinn streife flüchtig eine eisige Hand — eine Geste, die ein Erwachsener für ein Kind reserviert oder ein Lehrer für einen Schüler: Er fasst ihn am Kinn und verlangt, ihm in die Augen zu schauen.

»Der Junge hatte Kontakt«, sagte der Kleinere leise zu seinem Kollegen. Über Klaws Rücken rieselte ein eisiger Schauer.

Der Fahrer, der die Wagentür bereits öffnen wollte, horchte auf. Der zweite Tschugeist trat langsam an Klaw heran, um ihm ebenfalls in die Augen zu sehen. Eine behandschuhte Hand legte sich Klaw unangenehm, irgendwie gierig und zugleich scheinheilig auf die Schulter. »Wen hast du heute Abend getroffen?«, fragte er.

»Das ist doch meine Sache«, antwortete Klaw mit brüchiger Stimme. »Ich bin euch ja wohl keine Rechenschaft schuldig, oder?«

»Es ist natürlich deine Sache«, pflichtete ihm der Größere bei. »Aber du hast Kontakt zu einer Njawka gehabt. Ich will dir keine Angst einjagen …«

Und ich bin kein Angsthase, wollte Klaw schon einwerfen, hüllte sich dann aber doch in Schweigen. Er biss die Zähne aufeinander. Sie würden ihn doch nicht foltern?! Konnten sie wissen, wo er Djunka versteckte?

»Ich will dir keine Angst einjagen«, fuhr der Größere fort, »aber Njawken verkehren in der Regel mit Menschen, um diese umzubringen. Gewissermaßen um die Chancengleichheit wiederherzustellen. Hast du diese Frau zum ersten Mal gesehen? Oder nicht?«

»Was für eine Frau?«, fragte Klaw, stur den Unwissenden spielend. Er lebte in einem freien Land, dieser Typ in der dämlichen Weste konnte ihm gar nichts anhaben.

»Die Frau, mit der du vor wenigen Stunden intim geworden bist«, erklärte der Größere gelassen. »Mit der du, um es ganz klar zu sagen, geschlafen hast. Oder hattest du gleich mehrere Frauen am Stück?«

Klaw spürte, wie er errötete. Dabei hatte er immer — und mit gutem Grund! — gedacht, er habe Nerven wie Drahtseile! Und dann sollte alles so einfach sein? Ein paar hingeworfene Worte — und schon stand er nackt inmitten einer Menschenmenge …

»Mein Junge, dein Leben hat heute auf Messers Schneide gestanden. Sei nicht böse auf mich, denn ich will dir nur helfen. Nächstes Mal hast du vielleicht nicht so viel Glück. Gestern haben wir einen fünfzehnjährigen Jungen aus der Badewanne gezogen. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.«

Die Wanne. Das Badezimmer. Was für ein ekelhaftes Wort!

In diesem Augenblick schoss Klaw ein unglaublicher, ein widerwärtiger Gedanke durch den Kopf. Er spiegelte sich in seinem Gesicht mit derart unverfälschter Panik wider, dass die Hand, die auf seiner Schulter lag, spürbar fester zupackte. »Ganz ruhig … Es ist ja vorbei … Dir ist nichts passiert …«

Der eingeschaltete Föhn am Rand des abschüssigen Brettes. Wie war er dorthin gekommen?!

Djunka hatte so geweint …

»Dein Leben hat heute auf Messers Schneide gestanden.«

»Fällt’s dir wieder ein?«

Klaw schluckte dicken, bitteren Speichel hinunter. Das konnte nicht sein. Das war bloß ein dummer Zufall. Und die Kerle hier wollen mich ins offene Messer laufen lassen.

Klar, jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich lebe mit einer Njawka zusammen, wir haben eine Wohnung in …

»Nun komm schon, Junge, mach den Mund auf. Niemand wird je erfahren, dass du uns das gesagt hast. Das behalten wir für uns.«

Und der Fahrer?! Er steht hier neben uns, kriegt den Mund nicht zu, in seinen Augen schimmern Verwunderung und eine gehörige Portion Ekel.

»Vielen Dank …« Klaw nickte ihm unbeholfen zu. »Ich … komme schon alleine nach Hause. Fahren Sie ruhig weiter.«

Ein Schnalzen mit der Zunge. Die Wagentür schlug zu. Klaw wartete, bis das Auto losfuhr. »Ich …« Wie widerwärtig das alles war, wie beschämend. »Ich … war … mit einer Frau zusammen. Ich … von der Straße … ich habe ihr Geld gegeben. Vermutlich ist es eine Nutte gewesen.«

Seine Lippen bewegten sich kaum. In diesem Moment glaubte er selbst, was er da sagte, er glaubte es um der Sache willen — doch blieb ein Gefühl, als durchschwimme er ein Abflussrohr.

»Ich … also, bei uns in der Schule, da gibt es ein Mädchen, Blocha … wir beide haben … also, das war nicht besonders schön. Deshalb wollte ich … dann hat sich das zufällig so ergeben. Die Frau hat mich angesprochen, Ehrenwort … auf der Straße … jetzt fällt’s mir wieder ein … das war an der Ecke Prorywna-Straße, bei der Straßenunterführung …«

Vor seinem inneren Auge entstand der Stadtplan. Den Ort, an dem es zu besagtem Treffen gekommen sein sollte, sah er klar vor sich. Je mehr Details er lieferte, desto glaubwürdiger wurde seine Geschichte.

Die Tschugeister hörten ihm schweigend zu, bis zum Ende.

»Die Adresse?«, fragte der Größere leise, sobald Klaw mit hängenden Schultern verstummte.

»Straße des Ewigen Morgens. Da gibt’s ein Hotel … genauer gesagt, mehrere. Sie hat ein Zimmer für eine Stunde gemietet …«

»Und die eine Stunde hat euch gereicht?«

Der kleinere der beiden Tschugeister konnte sich offenbar keinen Witz verkneifen.

»Wie viel?«, wollte der Größere wissen.

»Hä?«

»Wie viel hat das Zimmer gekostet?«

»Ich weiß es nicht.« Klaw klapperte mit den Augen. »Sie hat das bezahlt …«

Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Entweder luden sie ihn jetzt ins Auto und suchten das Hotel, in dem er angeblich gewesen war; sofern sie nur eine gewisse Hartnäckigkeit an den Tag legten, würden sie ihn dann recht schnell der Lüge überführen. Oder sie winkten ab, weil die Straße des Ewigen Morgens mit zweifelhaften Absteigen nur so gespickt war, die ein Zimmer für ein, zwei Stunden vermieteten, ohne von ihren Gästen Papiere zu verlangen, und wo du, sobald du das Geld hingeblättert hast, nach oben gehen kannst.

Die Tschugeister wechselten einen Blick. Sie trafen eine Entscheidung. Sie konnten sich kaum vorstellen, dass ein Teenager imstande war, so zu lügen. Sie kannten Klaw eben nicht.

»War das alles?«

»Das schwöre ich bei allem, was euch heilig ist. Schließt mich ruhig an einen Lügendetektor an …«

Beide Tschugeister deuteten ein Lächeln an.

»Hast du deine Papiere dabei?«

Er zog seinen in Plastik eingeschweißten Schülerausweis aus der Innentasche.

»Aha, Klawdi Starsh, Wyshnaer Schule Nr. 3. Wir werden deinen Lehrern selbstverständlich nichts von deinen fragwürdigen Ausflügen berichten. Aber das nächste Mal … Hast du wirklich nicht gemerkt, dass sie eine Njawka war? Eine Untote?«

Ein Wort wie ein achtlos geschleudertes Messer. Wie ein niedersausendes Beil.

»Nein, sie war ein Mensch«, sagte er mit Flüsterstimme. Als die Tschugeister daraufhin grinsten, glichen sie einander wie Brüder.

»Das ist der verbreitetste Fehler«, sagte der Größere bedächtig. »Die Menschen sehen häufig Menschen in ihnen. Sie haben sogar Angst, sie uns zu übergeben. Als würden wir sie quälen … Dabei sind sie Untote, mein Junge. Sie sind Njawken. Leere Hüllen von Menschen, angefüllt mit … äh … dickem Nebel. Wenn wir den Nebel töten, fällt die Hülle in sich zusammen. Das sind keine Menschen. Wie soll ich dir das erklären? Es ist, als ob dein Mörder in der Maske einer schönen Frau zu dir käme. Oder, noch schlimmer, in der Maske deiner Mutter …«

Klaw wollte sich hinsetzen. Gleich hier, auf den feuchten Asphalt.

Klaw wollte schreien: Das ist gelogen! Was soll das heißen?! Mörder?! Wenn hier einer ein Mörder ist, dann ihr!

Aber er sagte kein Wort, sondern verschloss mit einer billigen, stinkenden Zigarette seinen Mund.

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