Der junge Mann kam nicht aus Wyshna. Von dem Wohnheim aus, in dem er seit drei Tagen das harte Bett für Abiturienten bezogen hatte, bis zur Universität, wo ihm eine strenge Kommission die obligatorische Aufnahmeprüfung abnahm, brauchte er bei gemächlichem Tempo zwanzig Minuten zu Fuß. Da er in seiner Tasche jedoch eine Münze ertastete, ging er die Treppe zur Metro hinunter. Weder hatte er Geld zum Verprassen, noch musste er sich sonderlich beeilen — er konnte sich dieses Vergnügen einfach nicht verkneifen. Das unterirdische Königreich hatte in seinen Dorfalltag noch keinen Einzug gehalten, weshalb es ihn lockte und verführte: eine Attraktion darstellte.
Während er die breite, feuchte Treppe nahm, wusste er noch nicht, dass er durch die Prüfungen fallen würde. Und, was noch unglaublicher schien, dass er nie wieder in seinem Leben den Mut finden würde, eine Metro zu besteigen. Dass er in eine entlegene Kleinstadt ziehen würde, in der es selbst in Jahrzehnten niemandem in den Sinn käme, unter der Erde Schienen zu verlegen. Dort würde er geruhsam als Buchhalter arbeiten und schließlich glücklich und zufrieden leben — sah man einmal von jenen Nächten ab, in denen ihn Albträume heimsuchten und er im fernen Gebrumm der Eisenbahn das Rattern unterirdischer Räder zu erkennen glaubte.
Der junge Mann wusste noch nicht, dass die heutige Fahrt mit der Metro sein Schicksal ändern würde. Sorglos kaufte er sich ein quadratisches Ticket, das er in den Spalt des Entwerters führte.
Auf dem Bahnhof wimmelte es von Menschen. Nach zehn Sekunden fuhr die graue Metro ein, die geschäftige Menge strömte durch die offenen Türen; der junge Mann hielt gar nicht erst nach einem Sitzplatz Ausschau — es waren ohnehin sämtliche Plätze besetzt –, sondern drückte sich sofort gegen die geschlossene Glastür, die zur Fahrerkabine führte. Er hatte Glück. In die beige Farbe, mit der die Scheibe getüncht war, hatten irgendwelche Rowdys einen Spalt eingeritzt, durch den er gleich sehen würde, wie die Schienen im Licht kräftiger Scheinwerfer auf sie zusausten.
Eine sanfte Stimme aus dem Lautsprecher kündigte die nächste Station an. Der Zug fuhr los, dem jungen Mann stockte der Atem. Kurz schoss ihm ein wahrhaft rebellischer Gedanke durch den Kopf: Was, wenn er nicht Wirtschaft studierte, sondern sich zum Metrofahrer ausbilden ließ?
Nachdem sie knapp die Hälfte der Strecke bis zur nächsten Station hinter sich gebracht hatten, steigerte der Zug das Tempo auf eine Weise, die aus Sicht des jungen Mannes unglaublich war. Vor den Fenstern sangen zart die schwarzen Leitungen. Zumindest kam es dem Mann so vor, dass sie es waren, die da sangen. Mit zarten Kinderstimmen.
Dann knallte er mir nichts, dir nichts gegen die Glastür, noch dazu in einer Weise, die ihm die Tränen in die Augen trieb und seine Nase mit heißem Blut füllte. Der Zug bremste so scharf, wie ein Zug, der etwas auf sich hielt, nie bremsen würde.
Jemand fiel hin. Gegen den jungen Mann stolperte ein kräftiger Polizist, der von der Nachtschicht nach Hause kam, und auf diesen eine schlanke Frau in Jeans. Eine Tasche kippte um, Äpfel kullerten über den Boden, Lippenstifte und Tablettenschachteln. Von alldem sah der junge Mann nichts, denn der ganze Waggon schien genau auf ihn gestürzt zu sein, ihn nun gegen die Glastür zu quetschen und platt zu drücken.
Die Kinder fingen an zu weinen, eins lauter als das andere. Der Polizist fluchte, was das Zeug hielt. Alle Männer im Waggon stießen — wenn auch in verschiedenen Abstufungen — nicht gerade stubenreine Ausdrücke aus.
»Diese Scheißmetro!«
»Idioten! Glauben die etwa, die liefern Brennholz aus?!«
»Aber was will man von diesen Schwachsinnigen schon andres erwarten?«
»Du bist mir auf den Fuß gelatscht, du Idiot! Der bricht mir die Zehen, und ich soll einfach zugucken? Dem werd ich gleich noch was ganz andres brechen!«
»Ganz ruhig, mein Kleiner, gleich geht’s weiter. Dann steigen wir aus und nehmen den Bus. Du brauchst keine Angst zu haben.«
In diesem Augenblick hörte der junge Mann, der noch immer an der Glastür klebte, das Gespräch in der Fahrerkabine. Der Fahrer sprach mit tiefer, gepresster Stimme, mit metallener Wut antworteten ihm seine zahlreichen Gegenüber per Funk.
»Was ist los mit dir, Siebenundzwanzig?«
Eine unverständliche Antwort.
»Und per Hand geht’s auch nicht? Du kriegst die Tür trotzdem nicht auf?«
»Neunundzwanzig …«
Ein verzweifelter Fluch.
»Siebenundzwanzig, hör mir genau zu!«
»Zum Teufel! Verfluchte Scheiße! Auf den Schienen ist …«
»Siebenundzwanzig?!«
Aufgeregte Stimmen, die alle zugleich sprachen. Keuchender Atem. Wieder ein Fluch.
»Ganz ruhig, Siebenundzwanzig. Ganz ruhig. Hörst du mich?«
»O Gott! Rette mich, o Herr, erbarme dich meiner! Nein! Nicht!«
Der junge Mann hörte die Gesprächsfetzen — als Einziger von allen Fahrgästen. Er, ein Junge aus der Provinz, der zum fünften Mal in seinem Leben mit der Metro fuhr, er stand da, das Ohr an die Glastür gepresst, und seine Lippen krochen im Alleingang zu den Ohren. An ein Lächeln erinnerte das nicht.
Allmählich bekamen die Leute keine Luft mehr. Der Zug stand immer noch, und kein Lüftchen ging. Jemand versuchte ein Fenster zu öffnen, jemand anders fächelte sich mit der Hand Luft zu, jemand redete verängstigt auf ein Kind ein. Irgendwann zog der Polizist den jungen Mann von der Glastür weg und hämmerte mit aller Gewalt gegen den Eisenrahmen. »Was ist los? Pennst du? Oder kriegst du den Mund nicht auf, um den Leuten zu sagen, was los ist?«
Ein Knistern drang aus den Lautsprechern, fast eine Reaktion auf diesen Wutausbruch. Es meldete sich eine gepresste Stimme, die nicht das Geringste mit dem ruhigen Tenor der Ansage verband, und murmelte der aufgelösten Menge zu: »Bürger Passagiere, die Leitung der Metro bittet um Ihr Verständnis für diese Misslichkeiten, die aufgetreten sind … und gleich behoben sein werden. Gedulden Sie sich bitte noch. Gedul …«
Genau in diesem Moment hörten sowohl der junge Mann, der gegen die Wand gedrängt wurde, als auch der Polizist, der hilflos seinen Knüppel hielt, die schlanke, am Boden hockende Frau, eine weitere Frau, die vergeblich versuchte, ihre aus der Tasche gerollten Sachen einzusammeln, eine Frau mit einem weinenden Kind auf dem Schoß und noch mehrere Dutzend andere Männer und Frauen, die in dieser Falle gefangen waren, ein erst leises, dann zunehmend sardonisches Gelächter.
So kann man nur mit geschlossenen Lippen lachen. Das war kein offenes Lachen, sondern ein triumphierendes, spöttisches, genussvolles Geräusch, von dem alle im Zug — angefangen von einem Welpen, den ein pummeliger, sommersprossiger Junge unter seinem T-Shirt transportierte, bis hin zum Fahrer, der die stolze Bezeichnung Siebenundzwanzig trug –, all diese Menschen und Tiere, den jungen Mann eingeschlossen, in eine Panik gerieten, die an Wahnsinn grenzte.
Selbst der Tunnel hatte solche Geräusche noch nicht gehört. Einen derart verzweifelten Schrei. Das Klirren splitternden Glases. Die stärksten, mit dem virulentesten Selbsterhaltungsinstinkt ausgestatteten Männer schafften es, ein paar Fenster einzuschlagen, Frauen und Kinder zur Seite zu drängen und dem geschlossenen Waggon zu entkommen — nur, um prompt unter die Räder zu geraten, da sich der Zug gerade wieder in Bewegung setzte.
Das Gelächter erstarb nicht. Es hallte aus allen Lautsprechern, um auf dem Bahnhof die auf den Rolltreppen stehenden Menschen zu bannen, ja, um sogar die Rolltreppen anzuhalten. Frauen in Uniform und Polizisten mit Funkgeräten wuselten herum, ohne zu wissen, wen sie eigentlich zu Hilfe rufen sollten. Die Menge, die in den einzelnen Stationen auf ihre Metro wartete, bildete eine Herde, die versuchte, sich so weit entfernt von der Bahnsteigkante wie nur möglich in Sicherheit zu bringen, denn alle Züge, die sich zu diesem Zeitpunkt in den Tunnels befanden, führten einen irrsinnigen, haltlosen Reigen auf.
Der sich in die Ecke kauernde junge Mann — denn nur in der dunklen Ecke konnte er sich vor den Dutzenden von schweren Füßen retten — sah, wie die Bahnhöfe vorbeirauschten. Eine weiße Explosion, ein Tonwechsel im Lied der Leitungen und wieder ein Schrei, erneut ein Krachen, schließlich völlige Dunkelheit, denn das Licht in den Waggons war seit Langem schon erloschen. Menschen, die sich aneinanderklammerten. Der scharfe, beißende Geruch von Exkrementen. Und das Gelächter, das sogar dann in die Ohren drang, wenn man sie mit den Händen zuhielt. Ein Gelächter, das einem Demut abzwang. Das Gefühl, zum Tode verdammt zu sein. Dem Ende ins Auge zu blicken.
Der »Vorfall in der Metro« dauerte zweiundzwanzig Minuten. Dann schnaubte die durch die Lautsprecher übertragene Frauenstimme verächtlich und verstummte. Verebbte.
Als Einheiten der Zivilverteidigung in die Tunnel eindrangen, als die Feuer gelöscht und die Züge mit den zertrümmerten Scheinwerfern zu den Stationen abgeschleppt werden konnten und als die Tragen mit den Verletzten nach oben gebracht wurden, da strömte mit der Menge, die sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte, auch ein Abiturient, ein Liebhaber der Metro, hinaus ins Freie, wo sich ein blauer Himmel über den heutigen, diesen verfluchten Tag spannte. Er stolperte durch die Straßen, ohne zu bemerken, dass seine Hosen nass waren. Seine Aussage, auf Video aufgezeichnet, bekam der Großinquisitor vierzig Minuten später zu sehen. Zusammen mit unzähligen anderen, die sich alle als gleichermaßen wirr und hilflos herausstellten.
Morgen würde der junge Mann wieder nach Hause fahren.
Binnen einer Woche würde er kahl wie eine Billardkugel sein. Aufgrund von Stress.
Doch wenn man darüber nachdachte: Wozu brauchte ein Buchhalter eigentlich Haare?
Schon seit dem frühen Morgen fühlte sich der alte Mann schlecht. Der Feiertag geriet in Gefahr. Immerhin war sein fünfjähriger Enkel, der bereits lautstarken Protest einlegen wollte, nach einem ernsten Gespräch mit seiner Mutter jetzt ruhig. Für den Jungen, dessen Kopf gerade mal über den Tisch ragte, bot sich damit zum ersten Mal in seinem Leben die Gelegenheit, zwei Umstände — »Ich will die Ballons sehen« und »Großvater ist krank« — bewusst gegeneinander abzuwägen, eine Wahl zu treffen, sich in sein Schicksal zu fügen und das Geplärr einzustellen. Das rührte den Alten, der sich daraufhin überwand, sich eine Tablette, die schon von Weitem nach Medikament roch, unter die Zunge schob und anschließend mit seinem Enkel einem nie zuvor erlebten Spektakel beiwohnte: dem traditionellen Ballonrennen.
Noch am Vorabend hatten sie darüber spekuliert, ob das Rennen aufgrund der jüngsten Ereignisse in Wyshna abgesagt werden würde. Der Alte war sich ganz sicher gewesen, dass das nicht passieren würde. Zu viel Geld war in diesen Festtag geflossen, zu viel Geld stand hinter jedem einzelnen Werbeplakat, zu viele hoch geschätzte Länder hatten ihre Vertreter entsandt, zu gewichtig war die Tradition, als dass man einen solchen Tag einfach absetzte.
Die Eintrittskarten hatten sie schon im Voraus besorgt, keine sehr teuren, aber durchaus passable. Von ihren Holztribünen aus hatten sie eine gute Sicht auf den Großteil des Feldes — was erst recht für den Enkel galt, der bei seinem Großvater auf den Knien stand. Waren die Ballons erst einmal in den Himmel aufgestiegen, konnte ohnehin jeder das Schauspiel verfolgen, auch diejenigen, die keine Karte gekauft hatten, sich hinterm Zaun drängten, also hinter — ein Tribut an die Sicherheit — der Kette aus Polizisten mit ihren Schilden und Knüppeln. Der Junge auf den großväterlichen Knien reckte den Hals und konnte sich nicht entscheiden, wohin er zuerst schauen sollte. Zur Parade der Mannschaften, die dem Vertreter der Gesellschaft der Luftschiffer Bericht erstatteten, oder zu den Onkeln in den schönen Uniformen, mit Helmen, Pfeifen, Funkgeräten und Pistolen.
Der Alte seufzte tief. Hier an der frischen Luft, wo ein leichter Wind ging, fühlte er sich wesentlich besser. Sein Herz machte ihm kaum noch zu schaffen. Gut hatte er daran getan, der Krankheit nicht nachzugeben. Und wie sich der Junge freute!
Das Startsignal wurde gegeben.
Die Leinen, die bislang die bunten, vielgestaltigen Gebilde am Boden gehalten hatten, rissen mit unverhohlener Erleichterung. Auf den Tribünen wurden die persönlichen Favoriten mit lautem Gejohle begrüßt; die eigene stürmische Begeisterung stieg damit ebenfalls in den wolkenlosen blauen Himmel dieses Tages auf. Der exotische Anblick löste Begeisterung aus, die Orchestermusik und das schöne Wetter mündeten in eine allgemeine, überschäumende Heiterkeit. Der Junge hüpfte juchzend auf den Knien seines Großvaters und blickte den bunten Ballons verzaubert nach, die höher und höher aufstiegen. Der Alte selbst, der mehrere Tage lang eine tiefe Depression durchlitten hatte, fühlte sich frischer als der Wind.
»Erster! Der Habicht ist Erster! Er ist höher als alle anderen, schau doch mal, Großvater!«
»Liebe Zuschauer, es beginnt die erste Etappe des Rennens. Mit stockendem Herzen sehen wir, wie …«
»Und da, Großvater, der hat einen roten Schwanz! Und da ist ein Hubschrauber, guck doch, Opa, ein Hubschrauber! Und da …«
Der Himmel verwandelte sich in ein Blütenmeer.
Die Ballons stiegen immer höher, ab und zu fiel ein Schatten auf die Tribüne, dann sahen der Großvater und sein Enkel die Sonne, die durch die dünnen, kunterbunt eingefärbten Stoffe fiel. Die aufwendigen Reklamebänder schlingerten und drehten sich, die Menge hielt angesichts der Erfindungsgabe der Konstrukteure den Atem an. Die Ballons glitten weiter, verschmolzen mal mit dem Himmelsblau, hoben sich dann wieder grell leuchtend gegen den Hintergrund ab, veränderten die meisten ihre Farbe doch in Abhängigkeit von der Temperatur, vom Wind und von weiß Gott was sonst noch für Faktoren. Das Orchester schmetterte, jemand ließ eine Rakete steigen — und wurde prompt wegen dieses Gesetzesverstoßes abgeführt. Der Kommentator schrie etwas, worauf der Alte, vom Anblick der Ballons gefesselt, jedoch nicht achtete. Das tut gut, dachte er. Endlich mal was anderes. Und wie begeistert erst der Kleine sein muss!
In diesem Augenblick schrumpelte der größte und höchste Ballon, der Habicht, der offenbar von einer riesigen Schuhfirma ins Rennen geschickt worden war, so zusammen, dass er an eine faule Birne erinnerte, und verlor jäh an Höhe.
Verängstigt schrien die Zuschauer auf. Der Ballon kam so tief, dass sich einige Schaulustige vor dem bemalten Korb in Sicherheit bringen mussten. Glücklicherweise geschah das weit hinter der Absperrung, dort, wo es keine Tribünen gab und sich nur wenig Menschen befanden. Kurz bevor der Ballon die Erde berührte, blies er sich jedoch wieder auf, und die Zuschauer johlten schon vor Begeisterung, zeigten seine Konturen doch jetzt ein Clownsgesicht mit einer runden Nase, abstehenden Ohren und einem lachenden, offenen Mund.
»Das ist mal was!«, rief der Alte fröhlich. »Früher gab’s so was nicht! Schau doch nur, da!«
Der Kommentator, der eigentlich wie ein Wasserfall hätte sprudeln müssen, geriet ins Stocken, dafür schmetterte das Orchester umso energischer los. Der Habicht, dessen Form seiner Bezeichnung überhaupt nicht mehr entsprach, stieg immer höher, blähte sich weiter, schwoll in kürzester Zeit auf die doppelte Größe an. Die Menschen auf der Tribüne sperrten die Münder auf, denn der Habicht schien den halben Himmel einzunehmen; die anderen Ballons wirkten neben ihm so winzig wie Perlen.
»Schau doch nur!«, wiederholte der Alte. »So was habe ich noch nie …«
Erstaunt verstummten sämtliche Tribünen.
Zu seltsam führten sich die Ballons auf. Einer sank in einer wirbelnden Spirale. Ein anderer erzitterte, bis sein Korb schaukelte; die Besatzung klammerte sich krampfhaft an den schwankenden Wänden fest. Ein dritter zog sich zusammen und wurde ganz flach, ein vierter nahm eine Zapfenform an, ein fünfter drehte sich wie ein Kreisel, schneller und schneller, ungewöhnlich schnell, und die Reklamebänder flogen abgespreizt um ihn herum wie die Sitze eines Kettenkarussells.
Der Habicht wuchs weiter. Der Kommentator schwieg. Der Alte riss den Blick vom Himmel.
Auf dem grünen Feld stand der Vertreter der Gesellschaft der Luftschiffer, sein Gesicht war tellerweiß, in Panik verzerrt.
Nervös zuckte der Alte zusammen. Er wandte sich seinem Enkel zu, weshalb ihm auch alles weitere entging.
Dabei wäre der Anblick lohnend gewesen.
Kurz bevor der Habicht explodierte, knisterte er noch wie Papier, sofort danach platzte er, um über den gesamten Himmel brennende schwarze und rote Klümpchen zu verteilen.
Die Tribünen verharrten einige Sekunden in Stille.
In vollständiger Stille, in der ganz überflüssigerweise das Orchester schmetterte. Dann verstummten nach und nach die Blechinstrumente. Als hätte er auf diese Pause gewartet, ging ein weiterer Ballon in Feuer auf, einer aus dem Ausland, ein grüner mit Silberzier; Feuerbällchen rieselten auf die Köpfe der erstarrten Menschen.
Dann legte der Wind los.
Er fing das Klagelied auf, das gleichzeitig allen Kehlen entströmte, verwandelte es in eine Windhose und schleuderte es in die Höhe — zusammen mit den noch verbliebenen Ballons, die sich inzwischen nicht mehr kontrollieren ließen. Wie Spielzeug für den Tannenbaum funkelten sie, und genauso zerbrechlich waren sie. Auf dem Rasen, der sich noch an die vorhin abgenommene Parade erinnerte, schlug der ausgebrannte Korb mit der Besatzung des Habichts schwer auf, wirbelte dabei Erdbrocken los und riss Grasballen mit Stumpf und Stiel aus. Erst da, erst in diesem Moment schnellten die Menschen von den Sitzbänken hoch.
Die Kette der Polizisten, die dieses Geschehen genauso erschütterte wie alle übrigen Zuschauer, die Kette dieser mit Waffen behangenen Polizisten also, hielt ganze fünfzehn Sekunden stand. Dann brachen die Menschen, einander erbarmungslos schubsend, durch.
Der Alte glaubte beinahe, er allein würde nach oben schauen. Er allein würde sehen, wie die Ballons von einem Wirbelwind erfasst wurden. Schon eine halbe Minute später schienen sie weit weggetrieben, schienen sie über der Stadt, über den Wohnvierteln zu hängen, wo sie im gleichmäßigen Takt einer nach dem anderen explodierten, sich in lodernde Klumpen verwandelten und herabfielen.
Klar sah der Alte den Hof ihres Wohnhauses vor sich. Den jüngsten Enkel in dem blauen Kinderwagen und seine Tochter, die wie gewöhnlich Windeln auf dem flachen Dach aufhängte. Aus heiterem Himmel würden Feuer und Tod über sie hereinbrechen …
Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Ein starker Herzschmerz und die anschließend eintretende Ohnmacht raubten ihm die Möglichkeit, das Geschehen weiter zu verfolgen.
Der Großinquisitor von Wyshna, der später die Liste der Toten durchging, überlas den Namen von Herrn Fedul, dem seinerzeit berühmten Direktor der Wyshnaer Schule Nr. 3. Was der Großinquisitor wohl empfunden hätte, wenn er den Namen in dieser traurigen Aufstellung entdeckt hätte? Doch das tat er nicht — dazu war sie zu lang.
»Ein Übermaß an Gewürzen verdirbt ein Gericht, gleichsam wie ein Übermaß an Frohsinn bisweilen einen Jüngling verdirbt. Und meine Köchin weiß doch, wie zuwider mir der Geruch von Kümmel ist.
Meine Herrinnen hegten nie die Absicht, einen Mord zu begehen, einzig darum ging es ihnen stets, Verwirrung zu stiften. Freilich inszenierten sie dafür eine Farce, die einem nun das Blut in den Adern gefrieren lässt. Spielen sie mit den Menschen, wie es die Katze mit der Maus tut? Oder schöpfen sie lediglich Kraft aus der Angst des aufgelösten Volks? Denn meine Herrinnen werden stärker mit jedem Tag, derweil die Menschen aus der Stadt fliehen, sich im Wald und in Höhlen verkriechen, ganz wie die Tiere.
Indes, wer will behaupten, das Weltengebäude, wie wir es kennen, bliebe unverändert immerdar?
Wenn ich so weitermache, bezichtigt man mich noch der Aufwiegelung.
Meine Herrinnen — die Hexen — wollen das Weltengebäude nicht umgestalten. Wie der Wolf, der in einem Gehege mit den Hühnern lebt, auch nicht die Welt verändern will, in der er lebt, sondern ihr einzig das lebensnotwendige Futter entnimmt.
Ein schmerzlicher Schatten lastet auf meiner Seele. Ich weiß nicht, was das Morgen bringt …«
Am Abend begann der Sturm auf die Bahnhöfe.
Angeblich hatte eine Wahrsagerin, die seit einem halben Jahrhundert ihren feuchten Keller am Stadtrand Wyshnas nicht verlassen hatte, mit Gewissheit prophezeit, es werde ein Jahrhundert der Hexen heraufziehen — was für den Durchschnittsbürger dem Ende der Welt gleichkam. Angeblich wussten hohe Staatsbeamte seit Langem davon und hatten Vorbereitungen getroffen, ins Exil zu gehen. Angeblich zählte zu den Geliebten des Großinquisitors auch die Mutterhexe selbst.
Den beschwichtigenden Versicherungen der Fernsehkommentatoren schenkte niemand mehr Glauben. Vielleicht, weil selbst in ihren professionell gütigen Augen tief unten die Panik lag? Alle Nachrichten, selbst aus den entferntesten Ländern, ähnelten in frappanter Weise den Ereignissen in der Wyshnaer Metro.
Eine Fahrkarte dritter Klasse kostete ein Vermögen. Auf den Bahnsteigen weinten die Kinder, die aus der Stadt evakuiert werden sollten; fast durch die Bank verspürten sie in diesen Tagen eine unbestimmte Angst, und viele von ihnen, darunter auch brave Schulkinder, wachten nachts schreiend auf und hatten eingenässt. In den Straßen stauten sich Autos und Busse. Das sommerliche Wyshna leerte sich im Handumdrehen.
Schwarzer Rauch wogte durch die Straßen. Die verfluchten Ballons, die an dem traditionellen Rennen teilgenommen hatten, waren am Stadtrand abgestürzt und hatten ganze Bezirke niedergebrannt. Die Feuerwehr Wyshnas war Tag und Nacht im Einsatz. Die Brände ließen sich nicht löschen, die Flammen loderten, kaum eingedämmt, immer wieder auf. Aus der Einsatzzentrale schwirrten in alle Richtungen weiße Krankenwagen aus.
Nachdem auf einer Sitzung des Staatsrats Demonstrationen und Versammlungen verboten worden waren, jagte man die Menschen, die vor dem Inquisitionspalast ihre Sicherheit einklagten, mit Wasserwerfern auseinander.
Die Natur, die das menschliche Tohuwabohu anfangs gleichmütig verfolgt hatte, entschied sich irgendwann, einen eigenen Beitrag zu den Ereignissen zu leisten. Mitten im Sommer, der sich zwar auch zuvor schon kühl und verregnet gezeigt hatte, brach plötzlich eisige Herbstkälte aus. Die ahnungslosen Juliblumen verwelkten über Nacht unter Raureif.
Der Herzog bestätigte den Beschluss des Staatsrats über die Ausrufung des Ausnahmezustands. Klawdi Starsh unterschrieb einen Befehl zur ausnahmslosen Verhaftung aller Wishnaer Hexen.
Einheiten der Verkehrspolizei stellten unter Anleitung der Inquisition an sämtlichen Kreuzungen Steine mit dem Zeichen des Hundes auf. Aus der zentralen Steinmetzerei der Stadt wurden sämtliche Grabsteine abtransportiert, damit sich in den Kellern des Palasts fünf qualifizierte Inquisitoren schichtweise darüber hermachten. Das Zeichen sollte die Kraft der Hexen brechen. Die Stadt, gespickt mit diesen Steinen, erinnerte schon sehr bald an einen riesigen Friedhof. Klawdi gab sich bezüglich des Nutzens dieser Maßnahmen keiner Illusion hin. Dies mochte den Hexen vielleicht gewisse Unannehmlichkeiten bereiten — mehr jedoch auch nicht.
Die verhafteten Hexen wurden in geschlossenen Lastern abtransportiert. Das galt allerdings nur für die nicht initiierten. Die aktiven wurden in der Regel innerhalb von vierundzwanzig Stunden hingerichtet. Die Wachtposten verlangten für das Risiko eine Prämie, denn in zwei hintereinander erfolgten Fällen von Flucht waren drei Männer getötet und vier weitere verstümmelt worden. Die Henker verlangten Verstärkung, Panzerwesten und ebenfalls Prämien. »Es kommt euch billiger, jetzt etwas zu geben, als unseren Familien später Renten zu zahlen.«
Der Finanzminister quittierte alle Geldforderungen mit dem Stinkefinger. Klawdi musste die Zähne aufs Bösartigste blecken und den Herzog als Zeugen herbeizitieren. Die Finanzierung erfolgte, aber Klawdi empfand weder Freude noch Genugtuung. »Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde. […] Und noch heute wird sich um ihren Hals die eiserne Zange schließen, die mein Wille geschmiedet.«
»Da ist ein Herr, der seit gestern versucht, Sie telefonisch zu erreichen, Patron. In einer Privatangelegenheit. Soll ich durchstellen?«
»Wie heißt er?«
»Julian Mytez.«
»Das hättest du mir gleich sagen sollen. Stell durch.«
Es knisterte in der Leitung.
»Juljok, was ist los?«
»Klawdi! Zum Teufel, Klaw, ich hab schon fast nicht mehr damit gerechnet, dich noch zu erwischen.«
»Wir leben in schwierigen Zeiten, Juljok. Ich habe nur wenig Zeit. Was gibt’s denn?«
»Klaw, ich … Kannst du mir sagen, was hier vor sich geht? Offenbar haben alle den Verstand verloren, niemand glaubt noch, was in den Nachrichten gebracht wird, die Hexen … Klaw, wenn du nicht offen darüber reden darfst, dann könntest du mir vielleicht etwas andeuten … Sollen wir die Stadt verlassen? Ins Ausland gehen? Aber es heißt, im Ausland sehe es genauso aus!«
Klawdi schloss die Augen. Gegen das Fenster pladderte der herbstlich kalte Regen. Anscheinend mengte sich sogar Schnee in ihn.
»Nein, ihr müsst nicht fliehen. Bleib ruhig, wo du bist. Komm nicht nach Wyshna. Meide Orte mit vielen Menschen und lass auch Nasar nicht aus dem Haus. Das wird vorbeigehen, keine Sorge.«
»Meinst du das ernst, Klaw? Glaubst du daran?«
»Tut mir leid, Juljok, aber ich habe wirklich keine Zeit. Wir sehen uns bestimmt bald, stell schon mal einen Wein bereit. Bis dann.«
»Ja, Klawdi … Ja, entschuldige … Bis dann.«
Der Hörer lag auf der Gabel.
Auf Klawdis Seele lag ein Stein.
Warum hatte sich Julian nicht nach Ywha erkundigt?
Aber was hätte er denn für eine Antwort erhalten? Ich habe mich ihrer persönlich angenommen — genauso wie es bei allen anderen Wyshnaer Hexen geschah …
Alles ging mit einem Überfall auf eine Einheit los, die eine Ladung nicht initiierter Hexen aus der Stadt schaffte. Bei den Angreifern handelte es sich ausnahmslos um Mitglieder des Hockeyclubs Wyshna, zehn kräftige Kerle, mit Hockeyschlägern und ein paar Damenpistolen bewaffnet, die Kleinholz aus dem Laster machten und innerhalb von achteinhalb Minuten die Hexen befreiten, die danach ihrerseits wie vom Erdboden verschluckt schienen. Die überlebenden Soldaten schworen später, sie hätten ein Gelächter »wie in der Metro« gehört; außerdem hätten die stämmigen, kahl rasierten Sportler die Schatten von schlanken Frauen mit langen Haaren geworfen. Klawdi verzog schmerzlich das Gesicht, fuhr lange mit der Hand über eine riesige Karte der Vororte, hörte sich die Vorträge der Bezirksinquisitoren an und schickte immer wieder eine Einsatzgruppe an einen entlegenen, ganz und gar unauffälligen Ort der Stadt, in dem plötzlich Panik ausgebrochen war.
Zwei- oder dreimal fanden die Einsatzkommandos an besagten Orten ein verlassenes, noch warmes Nest. Sie hoben einen Initiationssaal aus, auf dem trocken gelegten Boden eines Schulschwimmbeckens. Dreimal konnten sie einen erfolgreichen Zugriff verzeichnen, und zwei erfahrene sowie vier frischgebackene Hexen fielen den Einsatzkommandos zum Opfer.
Von den alten Hexen — von denjenigen, an die Klawdi gewöhnt war, seien sie nun hinterlistig oder geradeheraus, feige oder mutig, von den Hexen der Friedenszeiten — unterschieden sich die festgenommenen »Herrinnen« dadurch, dass sich diese dem eigenen Schicksal gegenüber absolut desinteressiert zeigten. Ihr Selbsterhaltungsinstinkt war ihnen abhanden gekommen. Weder Versprechungen noch die Folter beeindruckten sie, die Frage, wann ihr Urteil vollstreckt würde, kümmerte sie nicht im Geringsten; selbst die neu bekehrten Hexen, die die Initiation erst vor ein paar Tagen durchlaufen hatten, hatten sich in ihrer Seele nichts Menschliches mehr bewahrt. Bei den Worten »ungeborene Mutter« funkelten in ihren Augen für kurze Zeit verräterische gelbe Feuer auf. Das war die einzige Reaktion, die bewies, dass die Gefangenen nicht gehörlos waren.
Klawdi versuchte nicht, mit Ywhas Hilfe hinter ihre Motive zu blicken. Sich selbst redete er ein, die Periskop-Methode habe die in sie gesetzten Hoffnungen nicht gerechtfertigt. Letztlich dürfte jedoch auch die Antipathie eine gewisse Rolle gespielt haben, die er diesen gemeinen Seelen gegenüber hegte; vermutlich wollte er nicht, dass Ywha in diese eindrang. Wer wusste denn, wie sich dergleichen auf die junge Frau auswirken konnte?
Das nächste entscheidende Ereignis war, dass zwei junge, vielversprechende Inquisitoren durch ein spitzfindiges Manöver die »Straßenbahnerin« für Klawdi fingen, jene ehemalige Stripperin aus dem Nachtclub Trolle, hinter der der Inquisitor selbst in dem Auto mit der zersplitterten Windschutzscheibe hergejagt war und die er aus gutem Grund verdächtigt hatte, die …
Auf diesen Gedanken hatte ihn erst der silbrige Schal gebracht, den sie gewiegt hatte. Die Mutter, eine Wiege … Die Mutterhexe! Die ungeborene Mutter. Oder war sie inzwischen bereits geboren?
Mit einem schiefen Lächeln begrüßte sie ihren Feind, den sie schon einmal ausgetrickst hatte. Sie war eine Schildhexe von nie da gewesener Stärke. Mit einem fünfundachtziger Brunnen. Mit einer eisernen Abwehr und der professionellen, artistischen Schamlosigkeit einer Nachtclubtänzerin.
»Deine Mutter hat sich von dir losgesagt, Any.«
Nein, damit brachte er sie nicht aus dem Konzept. Keine Sekunde. Als Antwort schenkte sie ihm nur ein weiteres Lächeln, dieses Mal ein verächtliches.
»Warum hätte sie sonst zugelassen, dass du mir in die Hände fällst? Du wirst noch heute sterben, Any. Dein Scheiterhaufen ist bereits aufgeschichtet.«
Weder Angst noch Verzagtheit.
»Wo ist deine Mutter, Any? Wo ist denn deine großartige Mutter? Zeig mir den Weg zu ihr. Sie wird doch nichts dagegen haben.«
»Willst du das so sehr?«
In der Stimme der Hexe schwang ein Oberton mit, der die Wächter in ihren dunklen Ecken lautlos verkrampfen ließ. Die Stimme drang ihnen durch die Haut, schwächte sie, schüttelte sie und spottete über sie.
»Du wirst sterben, Großinquisitor.«
»Wir alle werden sterben.«
»Alle werden sterben, aber du zuerst. Im Feuer. Unsere noch ungeborene Mutter wartet auf dich. Sie wird warten …«
»Wartet sie oder sammelt sie noch ihre Töchter?«
»Das verstehst du doch nicht. Denn du gibst dich mit dem zufrieden, was du mit eigenen Augen siehst. Du tust mir leid.«
Zur Bestätigung ihrer letzten Worte lächelte sie tatsächlich mitleidig. Schweigend. Und sie würde — das stand für Klawdi unwiderruflich fest — bis zu ihrem Tod kein Wort mehr hervorbringen.
Fünf Minuten nachdem Klawdi den Bericht über den Tod der Stripperin auf den Tisch bekam, geschah noch etwas Seltsames.
Sein Referent stürmte mit unangemessener Hast ins Büro. Allein aufgrund des fiebrigen Glanzes in seinen Augen wusste Klawdi, dass es um etwas Außergewöhnliches gehen musste.
»Patron … da ist … zu Ihnen … Seine Durchlaucht, der Herzog …«
Angeekelt linste Klawdi zu dem überquellenden Ascher, ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, in dem Rauchschwaden hingen, als spännen sich graublaue Stoffbahnen quer hindurch. Kein Herzog von Wyshna hatte je diesen Raum betreten, kein Großinquisitor war bisher zu dieser Ehre gekommen — falls man das denn für eine Ehre hielt.
Er erhob sich, um seinem Gast entgegenzutreten, wobei er sich bemühte, die Balance zwischen der eigenen Würde und dem nötigen Respekt zu wahren. Aus seinen, Klawdis, Adern hätte man nicht ein einziges Glas jenes adligen Blutes abzapfen können, das so reichlich durch den Herzog floss. Seine Durchlaucht war groß, hielt sich etwas krumm, hatte leicht hängende Wangen und tiefe Augenhöhlen. Am Grund dieser Höhlen, die Klawdi an eine in die Erde gehauene Fallgrube erinnerten, saßen giftige, strenge Raubtieraugen.
»Sie rauchen zu viel, Herr Großinquisitor.«
Was für ein verheißungsvoller Auftakt des Gesprächs!, dachte Klawdi finster. Klingt ja fast inoffiziell. Oder wie ein deprimierter Vater, der die Misserfolge seines Sohnes in der Mathematik satt hat. Ist nicht für morgen eine außerordentliche Sitzung des Kuratorenrats anberaumt? Dergleichen hat es früher schon mal gegeben, auch da sind heimlich Einladungen verschickt worden, ohne dass der Großinquisitor davon erfuhr, der dann, eines schönen Tages vor die unnachgiebigen Kollegen zitiert, feststellen musste, dass der hohe Stuhl auf wundersame Weise unter seinem Hintern weggezogen worden war.
Nachdenklich sah sich der Herzog im Büro um. Als sein Blick auf die drei Geständniszeichen stieß, atmete er tief aus. Er hustete, vermutlich wegen des Tabakqualms. Seufzend stellte Klawdi die Klimaanlage ein.
Wer kam als sein Nachfolger in Frage? Der Kurator aus Rydna, den man vor fünf Jahren übergangen hatte, um Starsh seinen Karrieresprung zu gönnen?
Weshalb zerbrach er sich darüber den Kopf? Und wieso hing er so an dieser bedrückenden Macht, wenn das Ende der Welt ohnehin vor der Tür stand? Denn man musste die Dinge beim Namen nennen. Und falls er übertrieb, dann nur geringfügig. Warum fürchtete er so um seinen Stuhl, wenn das Ende der Welt nahte? Wieso war er bereit, ihn mit Händen und Füßen zu verteidigen?
»Wollen Sie mir nicht auch eine Zigarette anbieten, Herr Großinquisitor?«
Der Herzog rauchte aber nicht. Das wusste jedes Kind. Der Herzog war sogar schon einmal in der TV-Sendung Deine Gesundheit aufgetreten, wenn auch vor zehn Jahren, als sich der schlanke Körper Seiner Durchlaucht noch in Badehose am Rand eines Schwimmbeckens hatte sehen lassen können.
Klawdi dachte an Ywha. Warum waren sie plötzlich alle so scharf auf Zigaretten?
Dem Herzog konnte er die Zigarette nicht so einfach abschlagen wie ihr. Er erhob sich und hielt ihm die Schachtel hin. Allein an der Art, wie der Herzog danach griff, wie er nach dem Feuerzeug fasste, wusste Klawdi, dass Seine Durchlaucht vor langer Zeit gequalmt hatte wie ein Schlot. Die Hände erinnerten sich noch an alle Gesten. So viel zum Thema Deine Gesundheit.
»Ich habe mir Ihren Bericht angesehen, Herr Großinquisitor.«
Klawdi zuckte die Achseln, als wolle er sagen: Wir tun, was wir können.
»Ehrlich gesagt, die Lage in der Hauptstadt ist … hm …«
Ein guter Anfang für ein Gespräch, dachte Klawdi müde. Schlaffe, vielfach wiedergekäute Worte, hinter denen jedoch etwas Gewichtiges steckt, das, was den Herzog eigentlich in dieses Büro mit den Geständniszeichen getrieben hat.
»Ich habe Grund zu der Annahme, die Lage werde sich bald noch weiter verschlechtern«, sagte Klawdi, während er seine Asche abstreifte. »Kein vernünftig denkender Inquisitor dürfte heute eine optimistische Prognose wagen. Selbst wenn er das nicht so offen zugeben würde wie ich, Eure Durchlaucht.«
Der Herzog nahm einen so tiefen Zug, dass der Rauch im Grunde bis in seine unnatürlich kleinen, fast weiblichen Füße sickern musste. Und jetzt wollen wir doch mal hören, weshalb du hier bist, dachte Klawdi mit einem Anflug von Schadenfreude. Jetzt habe ich dir eine Tonlage für unser Gespräch vorgegeben, mit der du, meine goldige Gans, vermutlich nicht gerechnet hast. Denn ich werde mich nicht auf deine Spielchen einlassen, ich bin dir zwar ergeben, aber ich bin nicht dein Eigentum. Jetzt versuch doch mal, mir an den Wagen zu fahren!
Der Herzog hüllte sich in Schweigen. Die lange Zigarette in seinen Fingern schrumpfte langsam dahin. Die tief liegenden Augen blickten zu Boden. Mit einer gewissen Nervosität gestand sich Klawdi ein, dass ihm immer noch unklar war, aus welchem Ärmel der Herzog den Trumpf ziehen würde, den er gegen ihn auszuspielen gedachte. Falls er überhaupt einen Trumpf dabeihatte — und nicht eine Handgranate.
»In meinem Bericht«, bemerkte Klawdi zögernd, »sind einige Überlegungen ausgelassen, die ich dem Papier nicht anvertrauen wollte. Ich bin gern bereit, sie Ihnen jetzt darzulegen. Aber zunächst müsste ich wohl wissen, was mir die Ehre Ihres Besuchs verschafft.«
Das Schweigen des Herzogs wurde unerträglich. Das war keine Pause mehr, keine erzieherische Maßnahme, der er die Beamten aller Ränge unterzog — das war ein Urteil. Was könnte er nach zehn Minuten eines solchen Schweigens noch sagen?
Klawdi seufzte. Er zog die nächste Zigarette aus der Schachtel, besann sich dann aber anders und legte sie beiseite. Er stützte das Kinn auf die ineinander verschränkten Finger. Gut, er konnte warten.
»Vor einer halben Stunde wurde meine Rede an die Nation aufgezeichnet«, setzte der Herzog stockend an. Etwas in seiner Stimme ließ Klawdi zusammenfahren. »Eine trostvolle Ansprache, mit huldvollem Lächeln und in sanftem Ton. Ich kann von Glück sagen, dass ich dergleichen von klein auf gelernt habe. Ich habe so getan, als ob nichts im Schwange sei. Mir ist das höchst überzeugend gelungen, da werden mir viele glauben.« Er musste sich überwinden, um den Blick vom Boden zu lösen. Seine hängenden Schultern sackten noch weiter ab. »Klawdi … uns verbindet keine Freundschaft. Das, was ich jetzt sage … ist nicht für die Presse bestimmt. Das ist nur für Ihre Ohren. Ich fühle mich wie der Kapitän auf einem Schiff, das, begleitet von Orchestermusik, sinkt, während ich sowohl der Mannschaft als auch den Passagieren versichere, alles laufe nach Plan und wir hätten die Situation voll im Griff.« Er seufzte. »Bereits … dreimal hat man mich angerufen. Die Staatsoberhäupter unserer Nachbarländer, was kein Wunder ist. Sie stehen vor denselben Problemen wie wir.«
Jetzt war es an Klawdi zu schweigen.
Das Geheimnis, das seine Durchlaucht ins Büro des Großinquisitors getragen hatte, schaute sich um und entdeckte allenthalben nur Furcht — was insofern bemerkenswert war, als der Träger dieses Geheimnisses eigentlich nicht als Feigling galt.
»Ich habe Unterlagen, Klawdi«, fuhr der Herzog bedrückt fort, »einen ganzen Stapel Anschuldigungen gegen Sie. Meldungen verschiedener Kuratoren, in denen Sie als Querkopf bezeichnet werden, der die Situation mit den Hexen außer Kontrolle geraten lässt. Unter ihren Geliebten soll es eine Abenteurerin geben, eine Hexe, die unzweifelhaft Einfluss auf Sie hat. Schauen Sie mich nicht so an, ich habe nicht die geringste Absicht, Sie in irgendeiner Form unter Druck zu setzen. Ein Teil meiner Quellen beteuert, diese Hexe nehme eine besondere Stellung unter all Ihren Frauen ein … Sie würden sie maßlos lieben und beschützen, während Sie gegen ihre Artgenossinnen drakonische Maßnahmen ergriffen. Lassen Sie mich ausreden. Einige meiner Quellen vertreten ferner die Ansicht, Sie würden ein doppeltes Spiel spielen, Klawdi, und hätten die Mutterhexe längst identifiziert. Diese soll in Ihrer Wohnung wohnen. Sie behalten sie, die noch nicht initiiert ist, in der Hinterhand, wie einen Trumpf im Ärmel. Geben Sie zu, Klawdi, dass ich Ihnen gegenüber offen bin, denn falls dem so wäre …«
Der Herzog schwieg bedeutsam. Klawdi hielt seinem Blick nicht stand.
So sah die Sache also aus. Es fiel ihm immer schwerer, die Maske des Desinteresses beizubehalten. Er wollte naiv mit den Augen klappern, wie eine Eule in einem Schaufenster für Spielwaren. Was für einen frischen Blick die Quellen des Herzogs doch auf die Welt hatten!
Zögernd versuchte er, die Person Klawdi Starsh, der Ywha Lys am Arm führte, mit anderen Augen zu sehen. In der Tat ein seltsames Bild, ein Widerspruch … Wer es darauf anlegte, konnte das für Liebe halten, ja, sogar für einen Trumpf im Ärmel.
»Mit anderen Worten«, bemerkte er bedächtig, »Sie bezichtigen mich des Verrats? Nicht mehr und nicht weniger?«
Etwas in seiner Stimme zitterte. Etwas Aufrichtiges schwang in ihr mit, dem sich selbst der Herzog nicht zu entziehen vermochte; nervös blinkerte er mit den tief liegenden Augen.
»Ich bitte Sie, Klawdi, natürlich nicht. Ich hätte Ihnen all das auch nicht sagen müssen. Aber ich habe Sie davon in Kenntnis gesetzt, um Ihnen einmal mehr zu zeigen, wie sehr ich Ihnen als Leiter einer unserer wichtigsten Behörden vertraue.«
»Die Inquisition ist keine Ihrer Behörden.« Klawdi sah an die Decke. »Die Inquisition war in allen Zeiten etwas Eigenständiges, bildete ein selbstständiges Imperium. Geben Sie ruhig zu, Eure Durchlaucht, dass Sie zutiefst betrübt waren, als ausgerechnet ich diesen Posten bekam.«
Der Herzog stierte auf die Zigarette, die in seinen Fingern heruntergebrannt war. Er stierte auf den vor ihm stehenden Aschenbecher und seufzte hilflos, als wisse er nicht, wie er die beiden Gegenstände miteinander in Verbindung bringen sollte.
»Verehrter Herr Starsh, ob ich betrübt oder erfreut gewesen bin, dürfte doch wohl jetzt kaum von Bedeutung sein, meinen Sie nicht auch?«
»Sind Sie sich dessen sicher?«, hakte Klawdi nach.
»Sie denken da an gewisse Kungeleien«, presste der Herzog hervor. »Ja, es gab eine Zeit, da war mir daran gelegen, Ihnen … gewissermaßen … den Stuhl vor die Tür zu setzen. Aber nicht jetzt, da … kurz und gut, nicht jetzt.«
Es folgte eine lange Pause. Die beiden, die sich an unterschiedlichen Seiten des langen Tisches gegenübersaßen, starrten einander unverwandt an.
Als Erster senkte Klawdi den Blick.
»Gut. Wenn Sie offen zu mir waren, so will ich es umgekehrt auch sein, Eure Durchlaucht. Diese Frau, der Ihre Quellen so viel Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, ist eine Hexe mit außergewöhnlicher Empathie. Ich brauche sie bei der Arbeit. Sie war die Verlobte vom Sohn eines Freundes von mir, weshalb ich mich verpflichtet fühlte … ihr ein wenig zu helfen. Das ist alles. Was die Mutterhexe angeht, da wird Ihnen, Eure Durchlaucht, jeder Fachmann bestätigen, dass vor dem Vollzug des Initiationsrituals das zukünftige Wesen einer Hexe nicht zu bestimmen ist, mehr noch: Selbst in den ersten Stunden und Tagen nach der Initiation befindet sich dieses Wesen in einem Schwebezustand. Eine Arbeitshexe kann da beispielsweise noch ganz einfach zur Kampfhexe heranwachsen. Ywha kann trotz ihrer enormen Empathie eine durch und durch gewöhnliche Hexe werden, schwach, mit einem Brunnen von geringem Wert. Deshalb versuche ich, ihre Initiation um jeden Fall zu verhindern. Davon abgesehen haben weder Gefühle noch die Liebe — sofern diese nicht der Phantasie Ihrer Quellen entspränge, sondern tatsächlich existierte –, geschweige denn die leidenschaftliche Liebe eines älteren Mannes zu einer langbeinigen jungen Frau jemals auch nur den geringsten Einfluss auf mein Verhalten gehabt und werden es auch in Zukunft nicht haben. Dessen kann ich Sie ruhigen Gewissens versichern. Genügt das, oder haben Sie noch Fragen?«
»Ich danke Ihnen«, erwiderte der Herzog stockend. Nach einer Pause wiederholte er: »Ich danke Ihnen. Ihre Geliebten sind Ihre persönliche Angelegenheit, Klawdi. Ihre Arbeitsmethoden ebenfalls. Für Ihre Offenheit … bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet. Können Sie mir jetzt in knappen Worten umreißen, was hier eigentlich vor sich geht?«
Klawdi seufzte.
Gegen die Lehne seines Stuhls geschmiegt, den Nacken bequem auf das Lederkissen gebettet, berichtete er; während er fünfzehn Minuten am Stück redete, kehrte in die Augen des Herzogs etwas vom typischen Glanz und der Entschlossenheit zurück. Klawdi hatte dagegen den Eindruck, zwei Stahlschrauben bohrten sich ihm in den Schädel. Schließlich verstummte er und holte tief Luft.
»Ich danke Ihnen für diese Lektion in alternativer Geschichte«, murmelte der Herzog tonlos. »Fünf aufeinander folgende Jahre ohne Ernte, dafür Pest und Hunger — stimmt, dergleichen wird normalerweise den Hexen zugeschrieben. Aber stehen Ihrer Ansicht nach hinter jenem Aufstand, zu dem es vor vierhundert Jahren gekommen ist, hinter Hochverrat und den blutigen Auseinandersetzungen unter den Erben des Herzogsthrons, auch die Hexen?«
»Alle Sünden der Menschen werden den Hexen zugeschrieben«, erklärte Klawdi mit geschlossenen Augen. »Für mich sind die Hexen jedoch wie Verwandte, Eure Durchlaucht. Nein, verziehen Sie nicht vorschnell das Gesicht. Vermutlich hasst sie kein Mensch so sehr wie ich. Aber sie sind mir nicht fremd. Das ist mein Beruf. Deshalb neige ich eher dazu, die Hexen zu verteidigen und stattdessen die überheblichen Lehnsfürsten anzuklagen, denn Letztere gehen über Leichen, um ihre Gier zu befriedigen, während Hexen … bloß ihrer Natur folgen.«
Klawdi atmete durch. Der Herzog behielt ihn fest im Blick. Auf dem Grund der tiefen Augen stand Staunen geschrieben.
»Die Hexen folgen ihrer Natur wie niemand sonst. Es sind vierhundert Jahre vergangen. Jetzt ist eine neue Mutterhexe gekommen.«
Klawdi hatte den Eindruck, die letzten Worte wollten sich nicht verziehen, wie es menschlichen Lauten geziemt, sondern blieben aus unerfindlichen Gründen an der Decke hängen. Zusammen mit den Schwaden von Tabakqualm. Genauso musste in einem Gerichtssaal ein überraschend hartes Urteil an der Decke hängen.
Der Herzog schien das ebenfalls zu spüren. Er schwieg. Eine seiner hängenden Wangen zuckte nervös. »Zum Teufel mit diesen Humanisten! Die haben uns das alles eingebrockt! Mit ihrer dämlichen Menschenliebe … besser gesagt mit ihrer dämlichen Hexenliebe!«
»In der Geschichte der Menschheit«, erklärte Klawdi und sah den Herzog dabei eindringlich an, »gab es immer Zeiten und Staaten, die die Null-Variante gepredigt haben, Eure Durchlaucht. Eine Welt ohne Hexen.«
Der Herzog antwortete nicht.
»Sie wissen genau, was das heißt, Eure Durchlaucht. Es würde keineswegs weniger Hexen geben. Dafür würden aber die Null-Länder zu einer Art Kriegsfabrik mutieren. Alles wäre gleichgeschaltet, ein eisernes Regime würde herrschen — und die ständige Angst vor diesem Regime. In der Folge würde noch mehr Blut fließen, es käme zu einer Revolte … Das wissen Sie besser als ich.«
»Und?« Der Herzog senkte die Lider.
»Es hilft nichts, sich vorzuwerfen … zu humanistisch zu sein. Wir haben den einzig möglichen Weg eingeschlagen. Jetzt müssen wir eine Möglichkeit finden, die Mutterhexe auszuschalten.«
»Ist sie in unserem Land?«, hakte der Herzog sofort nach. »Wissen wir das mit Sicherheit?«
»Traditionellerweise stattet sie uns ihren Besuch ab«, meinte Klawdi lachend. »Zum Gedenken an Atryk Ol …«
Wieder lastete das Schweigen auf ihnen. Ein langes, endlos langes Schweigen.
»Starsh, ist Ihnen bekannt, wie Ihr … Vorgänger seinen Triumph erzielt hat?«
Klawdi zögerte. Ja zu sagen hieße zu lügen. Nein zu sagen hieße, die eigene Hilflosigkeit einzugestehen.
»Vermutlich ist er mit einer silbernen Klinge auf sie losgegangen?«, presste der Herzog hervor. »Mit einer solchen, wie sie da bei Ihnen an der Wand hängt?«
Unwillkürlich hob Klawdi den Kopf. Richtig, rechts von der Tür hing an einem Nagel der silberne Ritualdolch, mit dem die Hexe aus Odnyza den Faden der eigenen Bosheiten gekappt hatte. Im Stadion, während des Konzerts, bei dem sie beinahe ein unfassbares Blutbad angerichtet hätte. »Oder auf den Tribünen werden sich die Toten stapeln.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Klawdi leise. »Es dürfte ihm wohl eher gelungen sein, ihre Nervenzentren aufzuspüren. Und einen zielgenauen Schlag zu landen. Mit Hilfe des archaischen Verstärkerfluchs beispielsweise.«
»Zielgenau«, meinte der Herzog nachdenklich.
»Wie bitte?«
»Ein zielgenauer Schlag. Dieser Verstärkerfluch ist ja schön und gut. Aber seit jener Zeit sind vierhundert Jahre vergangen.«
Eine Unruhe durchzog Klawdi. Die Angst, die in der Seele des Herzogs nistete, hatte nicht abgenommen, ließ sich jetzt jedoch klarer definieren. Und der Herzog schämte sich ihrer nicht. Er blickte an Klawdi vorbei, starrte auf das Geständniszeichen.
»Ich bin nicht panisch, Starsh. Sie sollten meine Worte nicht für das Gejammer eines Kerls nehmen, der in Panik gerät. Wie Sie wissen, bin ich auch der Oberbefehlshaber … Einer modernen Armee stehen wirksamere Mittel zur Verfügung als ein Ritualdolch. Deshalb händige ich Ihnen … Er sieht wie ein Telefonhörer aus. Den Zugang erhalten Sie über Ihren Fingerabdruck in Kombination mit dem Code. Danach müssen Sie nur noch die Koordinaten eingeben. Und die Zeit. Finden Sie Ihre Mutterhexe, und zwar so schnell wie möglich, bevor unsere verzweifelten Nachbarn anfangen, uns mit Bomben zu überziehen. Sehen Sie zu, sich selbst möglichst fern der Schusslinie zu halten. Es wäre schön, wenn es an einem unbewohnten Fleckchen geschähe … das versteht sich von selbst.«
»Ich verstehe gar nichts«, bekannte Klawdi zögernd.
»Sie verstehen sehr wohl«, widersprach der Herzog mit gequältem Lächeln. »Womöglich kommt das für Sie einer Beleidigung gleich, aber die Inquisition ist in unserer Welt eben nicht die stärkste Kraft, Klaw. Gegenwärtig haben wir nichts Besseres an der Hand als Raketen mit netten kleinen Sprengköpfen. Geben Sie die Koordinaten durch. Dann wird es zu der von Ihnen festgesetzten Zeit eine zielgenaue Atomexplosion geben. Im äußersten Notfall natürlich nur, das versteht sich, wie gesagt, von selbst. Versuchen Sie es vorher ruhig mit Ihren Dolchen und Verstärkerflüchen.«
Klawdi sagte kein Wort.
»Vielleicht kommt es Ihnen merkwürdig vor«, vermutete der Herzog mit zuckender Wange, »dass ich Ihnen derart vertraue?«
Aus irgendeinem Grund fiel Klawdi Helena Torka ein. Das brennende Theater, und dann ihre Worte: »Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«
»Eure Durchlaucht können versichert sein, dass ich Ihr Vertrauen rechtfertigen werde«, sagte er tonlos. »Genau wie wir wohl auf derart drastische Maßnahmen werden verzichten können. Ich nehme … Ihr Angebot an, jedoch nicht, um davon auch Gebrauch zu machen.«
Nach einer kurzen Irritation nickte der Herzog unsicher.
Offenbar löste sich der dunkle Klumpen der Angst, die ihn zu diesem Gespräch veranlasst hatte, erst jetzt auf.
»Liefern Sie mich am Ende also doch aus?«
»Ywha, du kommst weder ins Gefängnis noch unter Arrest. Nicht eine einzige Wyshnaer Hexe genießt momentan das Recht der Freiheit! Versteh mich doch!«
Obwohl sie kein Wort sagte, sprach ihr Blick Bände.
Klawdi hätte viel dafür gegeben, hätte er ihnen beiden diese Szene ersparen können, doch er durfte das Ganze nicht weiter hinauszögern. Wenn er wollte, dass man seine Befehle ernst nahm, musste er selbst mit gutem — wenn auch vielleicht nicht gerade mit mustergültigem — Beispiel vorangehen. Darüber hinaus hatte der Besuch des Herzogs einmal mehr die Gültigkeit einer alten Regel unter Beweis gestellt: Wenn du nicht willst, dass dir die Dienerschaft in den eigenen vier Wänden nachspioniert, tritt dir die Schuhe vor der Tür ab.
Ywha konnte nicht länger in seiner inoffiziellen Wohnung leben, aber er wollte sie auch nicht ins Gefängnis stecken, weshalb er der Ordnung halber einen Aufenthaltsraum der Wärter im Zellentrakt beschlagnahmt hatte. Die Wärter hatten das zwar nicht gerade mit Freude aufgenommen, doch der Raum strahlte sogar eine gewisse Behaglichkeit aus, zudem gab es darin alles, was zum Leben nötig war, darunter auch den staatlichen Schutz, an den Klawdi vorbehaltlos glaubte.
Als er Ywha als prophylaktisch Festgenommene in den Akten vermerkte, verspürte Klawdi keinerlei Erleichterung — immerhin hatte er sein professionelles Gewissen doch von einer gewissen Ungereimtheit befreit –, sondern nur blinde Wut und brennende Scham. Und ein Schuldgefühl, denn bereits als er die Verfügung unterschrieben hatte, war ihm klar gewesen, wie sich das Gespräch mit Ywha gestalten würde. Schon damals hatte er vor seinem inneren Auge Ywhas Gesicht gesehen, auf dem ein tödlich beleidigter Ausdruck lag, während die tränenlosen Augen wütend funkelten und die roten Locken wie Flammen züngelten.
»Ywha«, sagte er so sanft wie möglich, »wenn diese verrückten Zeiten vorbei sind — und das werden sie irgendwann sein –, mieten wir dir eine Wohnung. Mit Blick zum Fluss. Du wirst das Leben führen, das dir gefällt. Und nur du allein wirst einen Schlüssel haben. Wenn du möchtest, können wir über der Tür sogar ein Schild anbringen, auf dem steht: Hier wohnt eine absolut freie Hexe. Aber jetzt geht das noch nicht. Wir müssen den Schein wahren, damit niemand einen Grund hat nachzufragen, warum ausgerechnet diese Hexe noch in Freiheit ist.«
»Da haben Sie also meinetwegen Schwierigkeiten«, sagte sie und lachte kurz. »Gerüchte, Intrigen, Unzufriedenheit. Und ich habe geglaubt, wenn einer immun gegen derartiges Gerede ist, dann Sie.«
Er unterdrückte die überraschend in ihm aufsteigende Wut. Lachend versuchte er, ihre Kritik abzutun. »Soll ich dir beim Packen helfen?«
»Das dauert sowieso nicht lange«, erklärte sie, seinem Blick ausweichend. »Das geht schon mein ganzes Leben so. Socken und Schlüpfer in die Tasche, die Jeans und die Jacke an, ein Paar Turnschuhe, dann eine Fahrkarte für den Zug — und schon bin ich weg. Diesmal sorgen Sie halt fürs Ticket.«
»Es wäre schön, wenn du nicht allzu wütend auf einen Menschen wärest, der deinetwegen … Gut, ich sag ja schon gar nichts mehr.«
»Warum denn nicht?« Sie riss den Kopf hoch, worauf das rote Feuer ihrer funkelnden Haare greller aufloderte. »Schießen Sie ruhig los! Das gibt einen schönen Monolog für eine Daily Soap. Was habe ich nicht alles für sie getan?! Und womit gibt sie es mir zurück? Mit furchtbarer Undankbarkeit!‹«
Seufzend wandte er sich zur Tür, als wolle er gehen. Sie erreichte ihn, als er bereits in der Füllung stand, und umarmte ihn spontan — und zwar so fest und überraschend, dass er erstarrte.
»Klawdi … ich fürchte mich. Lassen Sie mich bitte nicht allein. Sie sind der einzige Mensch, dem … ich halbwegs vertrauen kann … Nehmen Sie mich heute Abend mit zu sich. Wie man ein Kind mit nach Hause nimmt, damit es morgen lustiger ist, wenn es ins Heim kommt. Nur einmal. Aus Mitleid. Ja, Klawdi?«
Er bedeckte ihre Hände, die auf seinen Schultern ruhten, mit den seinen.
Wie kamen die Spione Seiner Durchlaucht darauf, der Großinquisitor sei in »wahnsinniger Liebe« zu seinem Schützling entbrannt? Stand dahinter das typische Denkschema? Wenn sich ein Mann, in fortgeschrittenen Jahren und mit einiger Macht ausgestattet, um eine schöne junge Frau kümmert, dann kann das nur eins bedeuten …
Das Füchslein aus seiner Kindheit fiel ihm wieder ein. Der unglückliche Gefangene hinter dem Metallgitter, das freiheitsliebende Wesen, das im Gefängnis und für das Gefängnis geboren worden war.
»Bist du sehr wütend auf mich, Ywha?«
»Weshalb sollte ich? Weshalb? Klawdi, ich verstehe das doch alles … Verzeihen Sie mir. Und nehmen Sie mich mit! Nur heute Abend … Ich werde auf dem Sofa schlafen und Sie nicht stören. Wenn Sie wollen, werde ich sogar …«
Er wandte sich von ihr ab.
Sie wurde rot. Sie stand da, quälte sich mit ihrem Purpur, die Ohren bronzerot, die Augen wieder mit Tränen gefüllt. »Nein! So habe ich das doch gar nicht gemeint! Klaw, sehen Sie mich nicht so an. Verzeihen Sie mir doch! Bitte. Aber ich habe das schon so oft erlebt! Männer, die … die dafür ganz leicht zu kaufen sind. Jetzt denken Sie bestimmt von mir, ich wäre … Aber von Ihnen habe ich so etwas nie angenommen, das schwöre ich! Ich Idiotin! Warum kann ich nie meine Zunge im Zaum halten?!«
»Weine nicht. Ich denke nichts Schlimmes.«
»Wirklich nicht?«
»Ich verstehe ein bisschen was … von Hexen. Weine nicht.«
Es war der längste Abend in Ywhas Leben.
Während der ersten Hälfte war sie völlig allein, in der großen Wohnung am Platz des Siegreichen Sturms, vor dem dunklen Schirm des Fernsehers. Der kalte Sonnenuntergang schickte ein unschönes rotes Licht in Klawdis Wohnung, zum Glück nicht für lange Zeit, denn dann ging die Sonne unter, und Ywha blieb erst im Dämmerlicht, dann in der Dunkelheit zurück.
Irgendwann zwang sie sich aufzustehen, tastete nach der Lampe auf dem Couchtisch, schaltete das Licht an und sah sich im Zimmer um, das nun in einem anderen, nämlich in einem warmen, gelb-orangefarbenen Licht lag. Diese vorteilhafte Veränderung vermochte Ywha jedoch nicht zu täuschen. Sie kehrte zu ihrem Sessel zurück, nahm Platz und starrte weiter auf den dunklen Bildschirm.
Wie oft schon hatte sich ihr Leben verändert? Und jedes Mal von Grund auf und aus heiterem Himmel. Noch hatte Ywha nicht ganz begriffen, was ihr morgen bevorstand, doch ihre Intuition, geschärft durch die Jahre der Odyssee, ließ ihr nicht die geringste Hoffnung.
Sie saß da und überließ sich ganz der Umarmung des weichen Sessels, sie versuchte gar nicht erst, den Strom ihrer langsam dahinplätschernden Gedanken einzudämmen. Einmal noch wollte sie sich gehen lassen. Es war die letzte Gelegenheit.
Sie dachte ans Gefängnis. Denn was auch immer Klawdi sich einreden mochte — und er redete sich etwas ein, daran ließ sich ihrer Ansicht nach nicht rütteln –, ein Gitter, das einmal hinter einer gefangenen Hexe zugefallen war, würde kein Interesse zeigen, sich je wieder zu öffnen. Schon gar nicht im Jahrhundert der Hexen. Schon gar nicht, wenn diese Hexe Ywha Lys hieß.
Vielleicht litt Ywha ja allmählich unter Verfolgungswahn. Oder sogar Größenwahn. Oder unter beidem. Sie saß vor einem schwarzen Fernseher, und in ihrem Innern verfestigte sich die Gewissheit, jedes Gefängnis, jedes Verlies und jede Folterkammer dieser Welt halte sich bereit, alle anderen zu zerfetzen, der Konkurrenz die Eisenstangen einzuschlagen und die Dornen abzubrechen, nur um diesen Fuchs, dieses freie Tier, das nicht anders leben konnte als in Freiheit, hinter die eigenen Gitter zu bringen.
Im letzten Monat war sie um viele Jahre gealtert. Nicht weil Nasar mit ihr Schluss gemacht hatte oder sie mit ihm — sondern weil sie sich von ihrem Traum verabschiedet hatte, in dem es einen Morgen gab, Sonnenstrahlen auf dem Boden und einen geliebten Menschen, der mit Geschirr klapperte. Vielleicht taugte dieser Traum nicht für sie, vielleicht taugte sie auch nicht für diesen Traum. Vielleicht war es aber auch ganz anders, vielleicht war der Traum einfach zu etwas vollkommen Unerreichbarem geworden — und hatte damit seinen Sinn verloren.
Die Welt, die Ywha umgab, hatte sich mit ihr verändert. Früher war sie einfach nur eine Füchsin gewesen, die durch das reife Herbstfeld lief, das sich Blicken wie Schüssen gleichermaßen offen darbot. Es hatte erbarmungslose, berechnende Jäger gegeben, aber auch einen weiten Himmel und einen jungen Tannenwald, in dem sie sich verstecken konnte. Jetzt stand sie weitaus mehr Jägern gegenüber, und das Feld hatte sich in ein gläsernes Schachbrett verwandelt; die Füchsin aber, die sich völlig verausgabt hatte, sah nun Abgründe unter sich und grauenvolle Schluchten, die sich ihr beschränkter Verstand früher nie hätte ausmalen können.
Ywha seufzte. Gestern hatte sie etwas geträumt.
Dieser Traum hatte aus quälenden Sequenzen und Bildern bestanden, die von den verhörten Hexen stammten. Ein Flug über Bäume, brodelnde Brühe, ein Stern, aufgespießt von einer rostigen Nadel, sich auflösende Gesichter, eine unendlich lange Beerdigung, bei der der Tote im Sarg vermoderte, während die Prozession weiter und weiter einherschritt … Im Schlaf hatte Ywha gestöhnt und um Gnade gebeten. Diese war ihr gewährt worden.
Sie hatte geträumt, sie sei schwanger, was ihr jedoch keine morgendliche Übelkeit bereitete; einfach nur Freude hatte sie empfunden. Ihr dicker Bauch kam ihr ganz leicht vor, das ungeborene Kind schien mit ihr zu reden, und süße, fast unerträgliche Liebe schnürte ihr die Kehle ab. Sie hatte von einer Wiege geträumt, vom Geruch des Kindes ausgefüllt, dem betörenden Duft nach Milch. Sie hatte von einer Badewanne geträumt, in deren Wasser eine Blume schwamm. Und von einem Stoffballen, der sich endlos abrollte, ein schneeweißer, heller und zarter Stoff.
Irgendwann hatten sich alle Träume übereinandergelegt.
Sie hatte auf einem Hügel gestanden. Nein, sie war geflogen, denn ihre nackten Füße hatten das Gras nicht berührt. Das Gefühl hatte ihr den Atem genommen und war vermutlich eher physiologischer Natur gewesen. Von überall her, von oben und von unten, hatte sie Lichtreflexe aufgefangen, zunächst nur schwache, dann immer grellere, immer stärkere — als sei sie eine von tausend Spiegeln umgebene Fackel. Als sei sie eine Mutter, zu der, durch das Gras stolpernd, ihre vergessenen und verlassenen, ihre fern von ihr aufgewachsenen Kinder angerannt kamen.
Auf einem klatschnassen Kopfkissen war sie aufgewacht. Mit salzverklebten Wimpern. Das war gestern gewesen …
In der Küche tickte betäubend die Uhr. Plötzlich fiel Ywha etwas ein. Sie stand auf, ging barfuß in den Flur und blieb neben der Eingangstür stehen. Sie hielt sich ihre Uhr mit dem abgeschabten Lederarmband unter die Nase, ein altes Stück, das schon oft repariert worden war.
Ein Geschenk ihrer Mutter, erinnerte sie sich. Vielleicht das einzige. Alles, was Ywha aus der Kindheit geblieben war.
Die Uhr zeigte halb elf. Klawdi war immer noch nicht da. Draußen schwieg die dunkle Stadt. Nur ab und zu durchriss das Geräusch eines Panzers die Stille, der Strahl eines Suchscheinwerfers die Dunkelheit.
Während Ywha auf die Uhr schaute, blieb diese stehen. Der Sekundenzeiger erzitterte ein letztes Mal, dann erstarrte er. Ywha drehte sich zur Lampe um, zog die Uhr auf und klopfte gegen das Glas.
Still steht die Uhr, stumm,
Schon stirbt mein Name, verlischt.
Golden schimmert eine Blume in der Welt aus Stahl,
Tönern schlägt die Stunde, und stumm steht die Uhr.
Wieder stieß sie mehrere Seufzer aus. Irgendwo dort, in der Stadt, im Dunkeln verborgen, in dem schrecklichen Inquisitionspalast, der seine Zähne fletschte, tötete der unergründliche Klawdi Starsh mit aller Konzentration ihre Gefährtinnen, die Hexen.
Kurz wurde ihr unsagbar bang bei dem Gedanken, er könne die ganze Nacht nicht nach Hause kommen. Sie würde weiterhin im Halbdunkel sitzen und warten und grübeln, während er einfach nicht kam.
Nein, er wusste ja, dass sie hier war. Er würde zurückkommen. Bestimmt.
Was bedeutete sie ihm eigentlich? Was zählten ihre Wünsche und Ängste?
Sie war ein Instrument. Ein Spiegel für das Periskop. Die ehemalige Freundin eines leichtsinnigen Jungen, der der Sohn eines alten Freundes war. Dem hatte er den Gefallen nicht verweigern können, dem hatte er helfen müssen …
Sie schüttelte den Kopf, wollte sich diesen Gedanken nicht anvertrauen. Oder an das glauben, wofür sie erst jetzt ein Bild fand.
Dieser Mann war ein aufgegebenes Schloss, majestätisch, aber voller Gespenster. Es ragte so hoch auf, dass seine Spitze in den Wolken verschwand, reichte so tief in die Erde, dass das Geheimfach im Kellerboden nie entdeckt werden würde.
Ywha lächelte schief. Da machten sich wohl ihre Talente für die angewandten Künste bemerkbar, in dieser Neigung, jedem x-beliebigen Bild Schönheit zu verleihen.
Dieser Mann stand ihr unendlich fern. Sie war eine zufällige Passantin in seinem Leben. Sie rief Mitleid hervor, aber kein Mitgefühl, Neugier, aber kein Interesse. Dieser Mann …
Sie erhob sich und schaltete das Deckenlicht ein. Während sie so dastand, freute sie sich darüber, mit der Dunkelheit auch ein gewisses kratzendes Gefühl vertrieben zu haben, eine Sehnsucht, die sie zum Weinen bringen wollte. Sie lächelte dem kleinen Wandspiegel zu: ihrem Bild. Sie wusste bereits, dass sie die Schwelle dieses Hauses nie wieder überschreiten würde, weshalb sie an der Wand entlangstrich, mit der Hand über die Tapete, die Gobelins, die Bücherregale und das Fensterbrett fuhr, als wolle sie Abschied nehmen.
Die Tür zum Arbeitszimmer. Diesen Raum hatte sie noch nie betreten. Nicht weil die Tür ständig abgeschlossen gewesen wäre, sondern einfach aus Angst. Als fürchte sie, auf dem Schreibtisch des Inquisitors einen abgetrennten menschlichen Kopf zu sehen.
Vielleicht stand da aber auch nur ein Sofa mit zerschlissenen Kissen und ein Schreibtisch, auf dessen matter Platte ein einziger Kerzenhalter thronte.
Sie wollte nicht schnüffeln. Die schmale Eisenklinke schien sich ihr einfach von selbst in die Hand zu legen. Sie drückte sie hinunter; die Tür öffnete sich leicht. Ywha atmete den Geruch von Papier ein, denn auf dem Schreibtisch türmten sich Mappen aus Karton, Wachstuch und Plastik.
Sie überwand ihre Schüchternheit und griff nach der Mappe, die obenauf lag. Sie löste die Bänder, mit der diese verschnürt war, und huschte über bedeutungslose Zeilen: Adressen, Telefonnummern, nichtssagende, ihr unbekannte Namen. Allerlei Formulare, ein Motorradbrief, der vor zehn Jahren ausgestellt worden war.
War das sein Archiv? Dazu war es aber zu bunt, ganz offenbar brauchte Klawdi die Sachen gar nicht, hatte sie nur zufällig zusammengetragen.
Ywha seufzte.
Ganz zuunterst, von den übrigen Papieren erbarmungslos erdrückt, lag eine grüne Wachstuchmappe mit Druckknöpfen. Ywha streckte die Hand danach aus, auch wenn sie selbst nicht wusste, weshalb.
Sie riss daran. Die Dokumentenpyramide schwankte, fiel jedoch nicht in sich zusammen.
Die Mappe war bis auf einen schmalen Stapel weißer Blätter und ein dickes Heft mit einem schwarzen Einband leer. Ywha zog die Nase kraus, als sie einen kaum wahrnehmbaren, uralten und schwer zu bestimmenden Geruch auffing. Ein Parfüm?
Kulturtheorie. Mitschrift von Dokija Sterch, Schülerin.
»In der Geschichte gibt es viele Beispiele … wenn eine Organisation — oder Struktur im administrativen Sinne — selbst die schönste Lehre entstellt …«
Seite um Seite blätterte Ywha um.
»Der kulturwissenschaftliche Aspekt … In Interdependenz zur Religion … Der Hauptgedanke des alten Märchens von der Wanze und der Fliege liegt in …«
Ein zweimal zusammengefaltetes Blatt segelte aus dem Heft. Hastig hob Ywha es auf und steckte es zurück. Dabei schlug das Blatt auf. Diese Handschrift unterschied sich auf den ersten Blick von jener Dokija Sterchs.
»Nicht im Kellercafé, sondern in dem neuen Imbiss, um halb zwei, ich zeichne dir auf, wie du hinkommst …«
Eine einfache Skizze.
»Djunotschka, jede Minute, in der du dich verspätest, ist ein Nagel in meinen … du weißt es ja selbst. Lass die Doppelstunde ausfallen, bitte. Für immer dein — ich.«
Ywha befeuchtete sich die Lippen. Ein Zittern überkam sie, als sei sie unerlaubt irgendwo eingedrungen. Doch statt das Heft zurückzulegen, schlug sie es ein paar Seiten weiter hinten auf. Dort fand sie noch einen Zettel, genauer, ein aus einem Collegeblock herausgerissenes Stück Papier, mit ausgefranstem Rand.
»Djunotschka, stell dich nicht so an, das ist doch nicht meine Schuld. Ich liebe dich, Djun, sei mir nicht mehr böse. Klaw.«
Ywha schloss das Heft. Sie schaffte es kaum, die verrosteten Knöpfe zuzudrücken. Geschwind, ja, nahezu fiebrig legte sie die Mappe an Ort und Stelle zurück, ganz unten auf den unter Papieren begrabenen Schreibtisch. Gerade als sie die Tür an der Eisenklinke hinter sich zuzog, hörte sie, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.
Klawdi war im Sessel eingeschlafen. Als Ywha mit einem Tablett heißen Tees hereinkam, blieb sie unentschlossen stehen.
Klawdis Arme ruhten auf den Lehnen. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck einer so schrankenlosen, so bleiernen Müdigkeit, dass Ywha sich auf die Lippe biss. Sie stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch ab und setzte sich vor dem Sessel auf den Fußboden.
Eigentlich hatte sie ihm sagen wollen … Aber vermutlich war es sogar besser so. Sie würde ihm jetzt alles sagen — und es war viel besser, wenn er es nicht hörte.
»Klawdi … Klaw …«
Irgendwo weit entfernt schliefen in ihrem Gehege die weißen Gänse. Mit den warmen Flügeln aneinandergeschmiegt schliefen sie und sahen im Traum, wie sie den Großinquisitor der Stadt Wyshna heldenhaft jagten und bissen.
»Klawdi.«
Sie fasste nach seiner Hand. Diese war schwer und schlaff, sie konnte sie lange und völlig ungestraft drücken.
»Klaw … Verzeihen Sie mir bitte. Ich wollte so gern … Aber es geht nicht. Das … es geht einfach nicht. Nie sind meine Wünsche erfüllbar. Verzeihen Sie mir, Klaw.«
Sie erhob sich. Bedauernd sah sie zu dem erkaltenden Tee hinüber, lautlos schlüpfte sie in den Flur hinaus und zog unter der Garderobe ihre alte, vor langer Zeit schon gepackte Tasche hervor.
Ich haben Ihnen nie Schwierigkeiten bereiten wollen, wandte sie sich in Gedanken an ihn. Aber ich kann nicht in Unfreiheit leben. Ich bin freiwillig gekommen — und genauso gehe ich wieder.
Da sie wusste, dass Klawdi sofort auf das Geräusch der zufallenden Tür reagieren würde, hatte sie vorab das Schloss blockiert.
Ich habe Ihnen nie Unannehmlichkeiten bereiten wollen. Aber ich würde Ihnen schon bald zur Last fallen. Ich bin eine Fremde für Sie, eine Zufallsbekanntschaft. Ich müsste jetzt gelassen bleiben doch gerade das — gelassen sein — kann ich nicht.
Draußen regnete es. Wie in jener Nacht, als Ywha hier vor der Tür gesessen hatte.
Klawdi! Was soll ich bloß tun?
Die Stadt schwieg.