8

… Im Mondlicht wirkte die Kuh porzellanen. Genau wie Ywha selbst, ein weißer nackter Körper, vollkommen und fremd. Sie lief neben der schweigenden Kuh einher, murmelte Worte, die ihre Seele wie ihren Körper trunken machten, die Kuh wie auch die in einem Unterschlupf erstarrten Menschen, das heißt: verzauberte, reglose, gierige Männer.

Gedankenverloren schritt sie weiter. Die weit aufgerissenen, großen Augen dieser Männer gingen sie nichts an.

Auch das Auge des Mondes stand offen. Das weiße Euter berührte das hohe Gras. Sie berauschte sich an Kraft. Weder gebrauchte sie diese Kraft noch gab sie ihre Existenz preis; sie trug sie einfach in sich, wie einen randvollen Melkeimer. Und ihre Kraft glich der Milch, roch nach Gräsern und Blumen.

(Such das Grundmotiv. Das Grundmotiv. Das Grundmotiv.)

Das Auge des Mondes zwinkerte. Über die weiße Pupille kroch eine wurmlange dunkle Wolke. Die Kuh wackelte verschreckt mit den Ohren. Nach wie vor war kein Laut zu hören, aber in den überwältigenden Geruch des nächtlichen Feldes schlängelte sich ein beißender Rauchfaden.

Von Krämpfen geschüttelt, seufzte sie.

Die Welt war leer, ihr Glück eine Illusion. Die Welt war leer, die Kuh Nippes aus Porzellan, die Kraft ein Windhauch, der kaum über das Gras strich …

(Such!)

Sie war eine Tochter, die sich verirrt hatte. Sie würde die Mutter nicht finden, zu groß war das Feld, zu hoch stand der grüne Roggen.

Ywha fing an zu weinen.


»Damit will ich keineswegs behaupten, jede junge Frau stelle gegenwärtig eine Gefahrenquelle dar. Mehrheitlich sind Frauen für die Gesellschaft sogar von größtem Nutzen. Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen die Augen auch nicht vor den Fakten verschließen. Ist Ihnen bekannt, dass sich allein im letzten Monat die Gesamtzahl der Hexen verdoppelt hat? Natürlich ist das geschehen! Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich binnen der nächsten Woche verdreifacht. All die bescheidenen und ehrlichen Frauen, deren sich unsere ruhmreiche Inquisition so väterlich angenommen hat, indem sie sie registriert und ihnen damit die Freiheit geschenkt hat — all diese sind heute aktive Hexen. Es sind diejenigen, die morgen das Wasser in unseren Brunnen vergiften. Sie schicken uns Pest und Hunger an den Hals. Ja, meine Damen und Herren, wir haben unterdessen alle vergessen, was das bedeutet. Doch vielleicht haben die Hexen bereits in einem Jahr ihre eigene Inquisition! Und dann werden wir, die wir nicht zum Hexenzirkel gehören und folglich in einem Jahr in der Minderheit sein werden, registriert und ins Gefängnis gesteckt. Dann werden die Hexen die Welt regieren. Können Sie sich überhaupt vorstellen, was das heißt?«

Ywha kannte den Sprecher. Letztes Mal hatte sie ihn ebenfalls im Fernsehen gesehen; damals hatte er auf einer Parkbank gesessen, mit dem Rücken zu Tauben, die über den Rasen stolzierten; das dem Zuschauer zugekehrte Gesicht war gepixelt gewesen. »Ja, meine Herren! Der Inquisition stehen bereits heute Mittel zur Verfügung, die es ihr erlauben, einer Hexe ihre, wenn man so will, Hexenschaft zu nehmen! Sie in gewisser Weise zu reinigen! Nachzubessern!«

Diesmal trat er offen auf, mit einem unmanipulierten Gesicht. Spöttische Augen, in denen nicht der Schatten eines Zweifels lag, ein heller Bartstreifen unter der kleinen Nase und ein glatt rasiertes Kinn.

»Machen Sie sich nichts vor! Schnuppern Sie nicht an einer Rose, wenn um Sie herum stinkende Scheiße quillt! Schlüpfen Sie endlich in den Mantel des Bürgers zweiter Klasse! Freunden Sie sich mit Ihrer Nachbarin, der Hexe, an, vielleicht legt sie ein gutes Wort für Sie ein! Das schmeckt Ihnen nicht?! Dann rufen Sie dem Herzog in Erinnerung, dass Sie ein Bürger sind! Dass Sie Steuern zahlen! Dass die hilflose Einrichtung, die sich Inquisition nennt, Sie entweder bedingungslos zu verteidigen hat oder ihre Tätigkeit einstel …«

»Wer ist das?«, fragte Ywha, während sie den Ton leiser stellte.

Der Referent, der im Vorzimmer das Kommando führte wie ein Kapitän auf der Schiffsbrücke, riss sich kurz von seiner Beschäftigung los. »Ein Politiker.«

Ywha stellte keine weiteren Fragen. Das Wort »Politiker« klang im Mund des Referenten wie ein dreckiges Schimpfwort. Der Großinquisitor selbst schien Politikern kaum gewogener zu sein.

Sie senkte den Blick. Ein Mann, der vor vierhundert Jahren gelebt hatte, der Großinquisitor Atryk Ol: Er hatte nicht angenommen, dass sein detailreiches, nur für den Hausgebrauch verfasstes Tagebuch dereinst entziffert, behutsam an die Sprache seiner Nachfahren angepasst und zur Verwendung innerhalb der Inquisition herausgegeben werden würde. Im Kerzenlicht mit der Gänsefeder übers Papier kratzend — und Ywha war überzeugt davon, dass eine Feder, noch dazu eine Gänsefeder, kratzen musste –, hatte Atryk Ol minutiös alle Eindrücke des zurückliegenden Tages auf Papier festgehalten, ohne an zukünftige Leser zu denken oder sein eigenes schlimmes Los zu ahnen. Das Buch, das Ywha von der letzten Seite zu lesen angefangen hatte, machte einen befremdlichen Eindruck auf sie, da es sie gleichzeitig fesselte und mit Traurigkeit erfüllte.

Der letzte Eintrag datierte vom Todestag des Autors und wirkte zusammenhanglos, zerrissen und unvollendet.

»Gestern peinigte mich starker Schmerz in der rechten Bauchhälfte, weshalb ich meinen Eintrag nicht vollendete und erst heute Morgen das Ausgelassene nachtrage: Meine Herrinnen — die Hexen — scheinen von ihrer eigenen Hände Tat selbst erschrocken, denn am gestrigen Tag stieg das Wasser keinen Fingerbreit. Das versichern zumindest die Menschen, das versichert das noch in der Stadt verbliebene Geschmeiß, vermutlich nimmt sogar der Herr Herzog selbst es an. Und ich werde mich nicht anschicken, sie von ihrem Glauben abzubringen, dieweil eine jede Hoffnung wärmt und sättigt, wo Holz und Nahrung fehlen. So mögen sie sich mit der Hoffnung trösten […]. Ich allein zweifle hingegen keinen Augenblick daran, dass meine Herrinnen nicht über die eigenen Gräuel erschrocken sind. Wenn das Wasser heute nicht steigt, dann wird morgen nur umso größeres Unheil dräuen.

Mithin habe ich, dem allein es an Hoffnung gebricht, entzöge eine solche Hoffnung mir doch jedwede Kraft, meinen Herrinnen einen würdigen Empfang zu bereiten. Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde […]. Und noch heute wird sich um ihren Hals die eiserne Zange schließen, die mein Wille geschmiedet.

Klagend kommen die Menschen zu mir und fragen mich: Warum eilt die große Kraft, welche die Welt erschaffen hat, uns nicht zu Hilfe? Ich antworte ihnen: Warum seid ihr selbst so hilflos? Warum sind einzig meine Herrinnen — die Hexen — frei und stark, mag die Kehrseite ihrer Freiheit auch das Böse sein?

Ich habe eine Welt geschaut, in der meine Herrinnen mit Stumpf und Stiel ausgerottet sind. Öd, grau und unfruchtbar war sie. Eine Welt indes, in der meine Herrinnen sich ungehemmt vermehren, ist noch hundertfach schrecklicher. In ihr gibt es kein Morgen, kein Stein wird auf dem anderen bleiben, sondern in den nie versiegenden Strom aus Wasser und Landmasse gespült, und kein Palast wird noch stehen, sobald ihm jeder feste Grund entzogen, der da ist unsere Pflicht und Schuldigkeit. Sie werden gleich einer Kette unseren Willen knechten, uns damit freilich auch erst die Kraft zum Leben verleihen.

Ein rotlatziger Vogel, auch Schneeammer genannt, bittet unterm Fenster um Brot. Ich befehle der Magd, ihn zu füttern, in diesen kargen Tagen bemächtigt sich selbst ihrer der Geiz.«

An dieser Stelle endeten die Aufzeichnungen. Allem Anschein nach hatte der Großinquisitor Atryk Ol in seinem Leben keine weitere Zeile geschrieben, von einer Unterschrift unter einen letzten Befehl vielleicht abgesehen. Ein kurzer Kommentar teilte mit, dass »infolge eines direkten Kontakts mit der vermeintlichen Mutterhexe, der wohl zum Tod Letzterer führte, der Inquisitor Atryk Ol völlig entkräftet und teilweise erblindet war, worauf die in der Stadt versammelten unzähligen Hexen schrankenlose Macht über ihn erlangten. Der Stich eines unbekannten Künstlers, offenbar ein Augenzeuge der Ereignisse, hält den Augenblick von Atryk Ols Tod fest. Die Hexen hatten ihn geteert, in Stroh gewälzt und angezündet.«

Ywha blinzelte. Sie hob den Blick und schaute zum Fernseher.

Im Gesicht des Kommentators spiegelte sich gezügeltes Mitleid, als habe er das Zimmer eines schwer kranken und ihm völlig unbekannten Menschen betreten. Dann erschien eine Frau in mittleren Jahren, die Kamera erfasste sie fast von hinten, die Zuschauer bekamen nur den Nacken, ein Ohr und den Rand der Wange zu sehen. Ywha griff zur Fernbedienung.

»… und daraufhin bin ich zu ihr gegangen, weil es mir unmöglich geworden war weiterzuleben.«

»Hat er Sie betrogen?«

»Ja, und … unseren Sohn hat er in … irgendeine Bande eingeschleust oder in eine Clique. Da bin ich zu ihr gegangen und habe gesagt: Hilf mir, Mütterchen, ich kann nicht mehr …«

»Und hat sie Ihnen geholfen?«

»Ja. Ich habe sie mit Wodka bezahlt, mit Geld … und ihr Brennholz gebracht. Seit dem Tag ist er wie ausgewechselt, sitzt ständig zu Hause … lässt unseren Sohn zufrieden …«

»Ist Ihnen klar, dass es einen Straftatbestand darstellt, eine Hexe zu beauftragen?«

»Was heißt hier beauftragen?Ich habe nichts unterschrieben, kein Papier. Nichts! Außerdem kann ja wohl niemand etwas dagegen haben, wenn mein Mann, dieser Säufer und Hurenbock, wieder anständ …«

»Und was würden Sie dazu sagen, wenn zu derselben Hexe morgen die Geliebte Ihres Mannes ginge? Wenn die Hexe ihr ebenfalls helfen würde? Indem sie alles wieder rückgängig machte?«

Die Frau brachte kein Wort heraus. Schnaufte und schwieg. Das Ohr, das der Kamera zugekehrt war, färbte sich allmählich knallrot.

Die nächste Einstellung. Eine junge, quirlige Frau. Ihre Augen verbarg ein schwarzer Balken.

»Weshalb hast du das getan?«

»Die hat mir meinen Freund ausgespannt.«

»Den, den du heiraten wolltest?«

»Genau! Aber jetzt hab ich’s mir überlegt! Diese Fo…«

Die aufmerksame Zensur überblendete den unflätigen Ausdruck mit einem langen kräftigen Piepton.

»Weißt du, was jetzt passieren kann?«

»Mir egal! Das kriegt die Hexe ab, nicht ich.«

»Hast du sie bezahlt?«

»Pah! Wie käme ich dazu?! Wenn ich sie bezahlt hätte, wäre es ein Auftrag. Aber so …«

»Die Frau hat beide Beine verloren, tut sie dir denn gar nicht leid?«

»Das hätte sie sich halt eher überlegen müssen, bevor … sie einer anderen den Freund ausspannt! Diese Fo…!«

Ein erneuter Bildwechsel. Der Kommentator schaute so eindringlich, dass Ywha der Ausdruck Stierauge in den Sinn kam.

»Die Menschheit lebt nicht erst seit gestern in einer Gemeinschaft mit Hexen. Und auch nicht erst seit einem Jahrhundert. Man braucht sich ja nur einmal umzusehen. Wer hätte denn noch nie die Dienste einer Hexe in Anspruch genommen? Insofern müssen wir alle uns fragen, warum wir jetzt jammern, sobald wir im Heft unseres kranken Sohnes das Zeichen der Kette entdecken, auf einer Postkarte, die ihm eine Klassenkameradin geschenkt hat?«

Ywha stellte den Ton wieder leiser.

»Was ist das Zeichen der Kette?«

»Könntest du mich vielleicht in Ruhe arbeiten lassen?«

Der Referent zog die Brauen zusammen, in seinen Augen lag jedoch keine Verärgerung. Der junge, ehrgeizige Mann, der es aber wohl trotz allem nie zum Inquisitor bringen würde, mochte sie im Grunde, das wusste Ywha.

Als sie lächelte, bemerkte sie selbst, wie freundlich und charmant sich ihre Mundwinkel verzogen. »Tut mir leid … Myran.«

Schnaufend gab der Referent vor, von den Dingen auf seinem Computerbildschirm aufs Äußerste gefesselt zu sein, bis er sich ihr schließlich doch mit einem resignierten Seufzer zuwandte. »Das Zeichen der Kette steht für eine einmalige Manipulation. Es wird von allen Hexen verwendet, die mindestens einen dreißiger Brunnen haben. Dir ist klar, was es mit dem Wert eines Brunnens auf sich hat?«

»In etwa«, bestätigte Ywha.

»Gut. Das Zeichen der Kette ruft eine Art Drogenabhängigkeit hervor, von dem Menschen verursacht, der dieses Zeichen einsetzt. Es funktioniert wie eine konzentrierte Variante des Liebestranks, indem es eine Art Sklaven-Herr-Beziehung herstellt. Der Mensch an der Kette ist sozusagen auf Turkey, sobald er sich nicht in Gesellschaft seines Herrn befindet. Manchmal stirbt er auch. Manchmal gesundet er unter großen Qualen, wobei in der Regel das Trauma sein ganzes Leben nachwirkt. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

»Wie eine Enzyklopädie«, erwiderte Ywha ernst.

Als das Telefon klingelte, nahm der Referent den Hörer ab, um ihn gewohnheitsgemäß mit der Schulter ans Ohr zu pressen. »Vorzimmer Wyshna-Eins.«

Ywha beobachtete, wie seine Brauen vibrierten. Seine Stimme änderte sich jedoch um keinen Deut.

»Ja, Eure Durchlaucht, die Direktverbindung ist in der Tat abgeschaltet … Ja, Eure Durchlaucht, einen Augenblick, bitte.«

Er drückte einen Knopf. Jetzt sprach der Referent mit anderer Stimme, nicht trocken-höflich wie mit Ywha und, wie sich gezeigt hatte, auch mit dem Herzog, sondern verhalten und gehorsam, so wie er ausschließlich mit Klawdi sprach. »Es tut mir leid, Patron … Seine Durchlaucht ist am Apparat, Patron … Ja, Patron …«

Eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür von Klawdis Büro. Den Referenten ignorierend, nickte der wolkenfinstere Inquisitor Ywha nur kurz zu: »Gehen wir. Wir haben Arbeit.«

… Ein Flug wie ein Rausch, ein Fluss wie eine blaue Ader. Der Geruch der Wolken. Flocken tanzten um ihre Füße, durch Risse hindurch schimmerte die Erde. Über ihr glühte ein heißer Mond, prangte ein klar erkennbarer Ring in der leeren, funkelnden Ebene. Immer höher stieg sie auf …

Eisiger Wind nahm ihr den Atem. Der Mond kam und kam nicht näher. Ywha lachte. In ihrem Rücken flatterten ihre Haare, verflochten sich mit dem Wind und den Wolken. Sie streckte den Arm aus.

Der Mond war kalt, der Ring brannte.

Der Ring lag auf ihrem Handteller, quecksilbern, diamanten, gleichermaßen eisig wie glühend. Den Blick auf den wolkenverhangenen Mond gerichtet, streifte sie sich den Ring über den Finger.

Eine fettige, grünliche Brühe kochte auf, brodelte über den Rand des Topfes. Auf ihrem Handteller zitterte ein warmer Körper, eine betäubte Maus. Bedächtig spreizten sich ihre Finger, das kleine graue Wesen flog in den Kessel, die Brühe schäumte glücklich, den Körper erfasste ein Krampf, dem beim Höhepunkt des Liebesakts ähnlich. Ywha öffnete eine kleine Puderdose, spuckte kräftig auf den puderbestäubten Spiegel. Der Speichel brachte das Glas zum Bersten; Ywha klaubte einen Splitter in Gestalt eines schiefen Sterns heraus und warf ihn der Maus hinterher — in die Brühe. Schrumpfe, schrumpfe, dörre aus, vergiss deinen Namen, vergiss deine Kraft, schrumpfe, schrumpfe, dörre aus …

Sich gemächlich im beißenden Rauch drehend, flog der silberne Mondring dahin.

Die Oberfläche der Brühe glättete sich.

Am Boden der kristallklaren Flüssigkeit lag ein weißes Mäuseskelett.


»Warum haben Sie mir nie etwas über das Zeichen der Kette erzählt?«, wollte sie im Auto von dem finster dreinblickenden Klawdi wissen.

»Bitte was?« Er verzog die Lippen.

»Ach, nichts«, antwortete Ywha, die nachdenklich zum Fenster hinaussah.

Sie hätte sich also nur das Zeichen der Kette beschaffen müssen. Dafür hätte sie sogar die Initiation auf sich genommen! Doch selbst ohne diesen Schritt hätte sie an das Zeichen herankommen können. In kleinen Dörfern gab es immer hilfsbereite alte Hexen, an die sich Leidgeprüfte jeder Art wenden konnten.

»Was für eine interessante Frage«, sagte Klawdi, und in seiner Stimme klang unverhohlen Verachtung mit.

Das nahm ihm Ywha krumm. Dabei kränkten sie weniger seine Worte als vielmehr sein Ton. Als ob er ihr einen kalten, nassen Lappen übers Gesicht gezogen hatte. Als ob er sie ausgepeitscht hätte.

Worüber seine Durchlaucht, der Herzog, und der Großinquisitor der Stadt Wyshna heute wohl gesprochen hatten?

»Mich interessieren halt alle möglichen Dinge«, entgegnete Ywha kalt. »Ohne — ich betone: ohne — das geringste Recht, in der Seele eines Menschen herumzustochern, das ist selbstverständlich nichts anderes als ein netter Scherz. Aber zu versuchen, einen geliebten Menschen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zurückzubekommen, das ist derart widerwärtig, dass Sie die Nase über mich rümpfen.«

»Das ist schon seltsam«, murmelte Klawdi gleichmütig. »Ich habe deine intellektuellen Fähigkeiten für weitaus höher gehalten.«

Beleidigt schmollte Ywha lange vor sich hin.


In der kleinen Wohnung, die Ywha inzwischen insgeheim als die ihre bezeichnete, duschte sie noch, dann schlief sie vor dem Fernseher ein. Allein in dem ackergroßen Bett einzuschlafen war allzu traurig und bitter. Der Fernseher gab seine Dummheiten von sich, dies jedoch mit fast menschlicher Stimme. Sie döste, bis das Läuten des Telefons sie aus dem Sessel schrillte.

»Das Zeichen der Kette«, erklärte Klawdi, ohne sie zu begrüßen, »ist ein sicheres Mittel, jedes gute Gefühl … abzutöten. Wenn ein Mensch nicht ohne einen anderen leben kann und der Grund dafür seine Abhängigkeit von diesem anderen ist, purer Zwang also — was dieser andere Mensch übrigens ganz genau weiß –, so ist das eine ausgesuchte Form der Folter, Ywha. Als ob du zwei Menschen, die sich lieben, Handschellen anlegst, die sie nie wieder abnehmen können. Fetischisten sollen es gerade deshalb schon versucht haben.«

Schweigend presste Ywha den Hörer an die Wange.

»Du wirst lachen, aber ich habe schon Hexen gesehen, die einzig und allein deshalb die Initiation auf sich genommen haben.«

Ywha befeuchtete sich die Lippen.

»Aber sie haben sich geirrt, Ywha. Nach der Initiation … Also, um es kurz zu machen, eine aktive Hexe hat überhaupt nicht mehr das Bedürfnis, jemanden zu lieben. Die Liebe macht sie, hm, zu abhängig. Nein, das trifft es auch nicht. Die Liebe ist ein Gefühl, das einen Menschen abhängig macht. Und Hexen ertragen das nicht, das darfst du nie vergessen.«

Ywha sagte keinen Ton. Die Uhr auf dem Bücherregal, auf Bronze getrimmt, tatsächlich aber aus Plastik, tickte laut in der Stille. Der rote Sekundenzeiger kroch über das Zifferblatt.

»Ertragen Sie … die Abhängigkeit auch nicht? Lieben Sie deshalb niemanden?«

Jetzt war es an Klawdi zu schweigen. Recht lange sogar. Ywha wartete ab. Der rote Zeiger vollendete Kreis um Kreis.

»Weshalb ich eigentlich angerufen habe … Du bist nicht mehr so recht bei der Sache, machst deine Arbeit nur noch halbherzig. Deshalb habe ich etwas, das dich stimulieren soll. Morgen Abend kommt Nasar nach Wyshna … um mit dir zu reden. Hörst du mich?«

Ihr Herz tat einen Sprung — und dann setzte es aus.


Das Klingeln des Telefons riss Klawdi um halb drei nachts aus dem Schlaf.

Zehn Minuten später sprang er in den geöffneten Wagenschlag des Dienstwagens, und der klobige Wagen der Stadtreinigung, der langsam am Rand des Fußwegs dahinkroch und die Straßen sauber spritzte, suchte verängstigt vor dem schwarzen Monster mit den abgedunkelten Scheiben Deckung.

Während der ganzen Fahrt sagte er kein Wort. Vorgestern Abend hatte Klawdi einen Befehl unterschrieben, der die Teilnahme des Großinquisitors an allen operativen Einsätzen sanktionierte, die durch den Ausnahmezustand notwendig wurden. Jetzt, da das schwarze Auto lautlos durch die leeren, gespenstisch beleuchteten Gassen glitt, hatte er den Geruch des brennenden Opernhauses in der Nase. Der verletzte Arm brachte sich durch ärgerliche Unbequemlichkeit ebenfalls in Erinnerung.

Vorm Eingang zum Nachtclub Trolle blinkten zwei Polizeiwagen mit ihren Blaulichtern. Klawdi schloss die Augen. Er witterte keine einzige Hexe. Ganz schlecht!

Anstelle des üblichen Türstehers hatte ein mürrischer Polizist vor dem Eingang Posten bezogen. Klawdi hielt es nicht für nötig, ihm seine Dienstmarke zu zeigen. Das tat Kosta, der hinter ihm ging.

»Bewahren Sie die Ruhe, hier ist die Inquisition.«

Ein ansprechender Raum, rechts ein Billardtisch, links irgendeine verrückte Konstruktion, vermutlich die Bar. Es wimmelte von Polizisten. Entlang der Wände standen halb nackte Menschen, genauer halb nackte Herren, die Besucher des Clubs. Mit ihren Damen, die sich Gott weiß wie zu bedecken versuchten. Hier war auf einen Tisch achtlos ein schwarzes Abendkleid geworfen worden, dort ein Glas umgestoßen; eine Pfütze aus teurem Kognak hatte sich gebildet, der Alkohol sickerte in den noch wertvolleren Teppich. Auf dem Boden lag irgendein Nichts aus Spitze …

Stopp. Was war das, da in der Ecke, verborgen von einem Laken? Nein, verborgen von mehreren Laken! Hatte es also auch hier Opfer gegeben …

Klawdi biss sich auf die Lippe. Er witterte keine Hexe! Aber er verspürte eine unklare Nervosität. Als hielte er Falschgeld in der Hand — wo die Augen ja auch behaupten, es gebe nicht den geringsten Anlass zur Beunruhigung.

Er wandte sich Kosta zu. Dieser zuckte betreten mit den Schultern.

»Was ist hier passiert, Chef?«

Der große beleibte Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht war nicht der Inhaber. Er war einfach der Geschäftsführer — ein Posten, den er vermutlich in nächster Zeit los sein würde.

Eine der Damen weinte lauthals und bat darum, nach Hause gehen zu dürfen. Mit versteckter Schadenfreude untersagten es ihr die Polizisten. Jemand wollte ein verloren gegangenes Brillantcollier suchen, ein anderer fluchte wie ein LKW-Fahrer, aber die meisten standen schweigend an den mit Seide bespannten Wänden. Männer in Smokings, aber mit nackten Beinen, und auch Frauen. Klawdi fing den Blick einer Blondine auf, deren Bekleidung aus einem Tischtuch bestand, das sie vom Tisch gerissen und zum Lendenschurz umfunktioniert hatte. In der Spalte zwischen den großen, gebräunten Brüsten verlor sich ein an einer goldenen Kette baumelndes Goldamulett. Die Dame musste an einem Spezialstrand gelegen haben. Wo sonst bekam man eine derart nahtlose Bräune, der jede bleiche Kontur des Badeanzugs fehlte?

Klawdi spürte, wie sich sein Körper anspannte, der plötzlich eigene Wege zu beschreiten schien; die Blondine zog einen Mundwinkel zufrieden nach oben.

Glücklicherweise geriet er in Wut. Und die erwies sich als stärker als jedes fleischliche Verlangen. Der Geschäftsführer fuhr zusammen, als er Klawdis Blick auffing.

»Die Sache ist die«, erklärte der rosawangige Hauptmann der Polizei, der sich ihnen lautlos genähert hatte, »dass hier eine Stripteasetänzerin gearbeitet hat. Sie hat vor einem Monat angefangen … ohne Papiere vorzulegen. Man hat überhaupt auf sämtliche Papiere verzichtet, nur weil sie verdammt schöne Titten hatte!«

Der rosawangige Hauptmann legte eine empörte Pause ein. Klawdi, der seinen Arbeitsrhythmus nun gefunden hatte, empfand sie lediglich als langes, sinnloses Schweigen.

»Ohne Papiere, nur wegen der Titten«, wiederholte er kalt. »Und weiter?«

Der Hauptmann brauchte einige Zeit, um zu schmunzeln. Klawdi wartete geduldig. »Als die Lady heute auf die Bühne gekommen ist … haben sie … das kann niemand vernünftig erklären! Die Tellerwäscherin der Bar hat es immerhin noch geschafft, die Polizei zu rufen. Stellen Sie sich das vor, die Tellerwäscherin! Sobald wir hier waren, haben wir uns mit Ihnen in Verbindung gesetzt, weil es sich hier um eine Angelegenheit Ihrer Behörde handelt. Da drüben also …«

Der Hauptmann nickte einem jungen Polizisten zu, der neben den Körpern Wache stand, die mit Laken bedeckt waren. Der Mann zog den Stoff weg, wobei er versuchte, woanders hinzusehen.

Fünf Menschen, mit den furchtbaren Gesichtern der Erwürgten, jeweils mit Spuren einer Schnur am Hals, absolut nackt. Vier Männer und eine fülligere Frau. Klawdi wandte sich ab.

»An den Deckenlampen haben sie sich aufgehängt«, informierte ihn der Hauptmann, nachdem er eine — diesmal ergrimmte — Pause eingelegt hatte. »Ein paar mit Gürteln, ein paar mit Schnüren … Hingen da wie Birnen, während die anderen … Niemand von denen kann sagen, was genau passiert ist, deshalb haben wir Sie ja auch … Und alle haben sie sich ausgezogen …«

»Wieso das?« Klawdi warf den Kopf in den Nacken.

Der Hauptmann nickte dem beleibten Herrn zu, durch dessen Brusthaar eine kunstvolle Tätowierung schimmerte. Er trat vor, ungeachtet eines protestierenden Ausrufs vonseiten des für Ordnung sorgenden Polizisten. »Meine Herren Inquisitoren … Ich möchte nicht, dass mein Name an die Presse durchsickert … Ich bin ein in dieser Stadt recht bekannter Mann … Insofern bin ich auch bereit, für die Ergreifung dieser Hexe eine beachtliche Summe auszusetzen. Es ist eine große, füllige Schwarzhaarige, die auf der linken Schulter ein Muttermal hat.«

»Was ist hier geschehen?«, unterbrach ihn Kosta sanft.

»Wir haben alle miterlebt, was wir taten.« Der bekannte Mann senkte den Blick. »Es war … schrecklich. Wie in Trance, wie unter Hypnose …«

»Sie legten alle einen Striptease hin«, erklärte der Hauptmann mit nervösem Lachen. »Alle, Männer und Frauen, tanzten nackt, während dieses Luder sie beobachtete … Dann haben sie angefangen, sich aufzuhängen. Am Ende hätten sich mit Sicherheit alle aufgehängt.«

»Ihren Augen waren …« Der Mann schlug die Hand vors Gesicht. »… wie aus Fluidum … falls das so heißt.«

»Und dann? Wie ist sie entkommen?«

Nun mischte sich der Geschäftsführer ein. Obwohl sich der Schatten der baldigen Entlassung bereits auf sein Gesicht gelegt hatte, gelang es ihm dennoch, die Kontrolle über sich zu wahren. »Sobald die Polizeisirenen erklangen … ist sie verschwunden. Durch den Hintereingang.«

»Warum haben Sie sie denn nicht aufgehalten?!«, empörte sich der stadtbekannte Mann. Der Schatten im Gesicht des Geschäftsführers trat deutlicher hervor.

»Wollen Sie sie verhören?«, fragte der Hauptmann mit einem freundlichen Nicken in Richtung der halb nackten Gäste, die der Hysterie nah waren.

Klawdi schüttelte den Kopf.

Die Anwesenheit einer Hexe — ließ sich irgendwie nicht ausmachen. Seine inneren Alarmglocken schrillten, vage und immer stärker, verkündeten die Gefahr.

Kosta, der Leiter der Einsatzgruppe, hatte eine noch bessere Witterung. Seine Männer standen in einer engen Gruppe zusammen; Klawdi entging nicht, wie sie instinktiv Paare bildeten, sich Rücken an Rücken aufstellten. Also spürten auch sie die Gefahr.

»Bringen Sie … die Opfer weg«, wies Klawdi den Hauptmann an. »Evakuieren Sie das Personal und rufen Sie Ihre Leute ab. Im Gebäude bleibt nur die Inquisition zurück.«

Obwohl der Hauptmann wie ein begossener Pudel dreinsah, widersprach er nicht.


»Oft stellen mir die Menschen eine Frage, die auch mich selbst beschäftigt: Geht die Meisterschaft des Inquisitors nicht mit der Kunst der Zauberei einher? Wir alle wissen, dass die Hexen ihre Kraft aus ihrer Hexenschaft schöpfen, und es erstaunt nicht, wenn meine Herrinnen ohne jedes Gift eine Quelle zu vergiften vermögen, ohne jede Lanzette Blut abzulassen vermögen … Welcher Art ist nun die Kraft, die meine Herrinnen, die seit Jahrhunderten ohne jede Zügel durchs Leben gehen, an die Leine nimmt?

Von Inquisitoren heißt es, sie seien Zauberer. Man beliebt zu sagen, jenes Zeichen auf einem Stein, mit dem meine Brüder, die Inquisitoren, meine Herrinnen — die Hexen — martern, sei nichts anderes als ein Zauberzeichen. Man beliebt auch zu sagen, die Inquisitoren unterwürfen die Hexen durch Zauberkunst. Auch mich fragt man danach, allerdings antworte ich nie.

Diejenigen, die sich Zauberer nennen und in Höhlen leben, zwingen Fledermäuse zu Gehorsam. Sie sind, wie mich dünkt, seltsam und ohne Fromm. Wieder und wieder beteuern sie, einzig Wissen zusammenzutragen — doch was ist ihr Wissen anderes als der Staub, der sich auf jahrhundertelanger Unkenntnis gebildet hat? Ihre Sprüche zeigen gleichermaßen Wirkung bei Fledermäusen wie bei Eichhörnchen, ja, gar bei Menschen und Hexen. Die Zauberer pflegen keinen Unterschied zu machen. Ihr Können ist schöner und eitler Wahn, mehr nicht. Was liegt denn Gescheites darin, eine Fledermaus abzurichten, Wein zu servieren? Der Anblick einer so gequälten Kreatur ruft einzig Bitternis hervor. Noch nie vermochte jedoch einer derjenigen, die sich selbst Zauberer nennen, einen Alten zu verjüngen, einer Hafendirne die längst vergessene Jungfernschaft zurückzugeben.

Indes, ich schweife ab. Das Wasser in der Flasche, die ich mir, die Füße zu wärmen, unterlegte, ist erkaltet. Ich sollte die Magd anweisen, mir eine neue Flasche zu bringen. In diesem Winter feien uns selbst die dicksten Fensterläden nicht gegen die Kälte. Meine Gelenke schmerzen, die Schikanen des Arztes verhalfen mir nur bedingt und nicht auf lange Zeit zu Linderung.

Vorgeblich leiden Zauberer nicht unter Gelenkschmerzen. Dem Vernehmen nach erkranken sie niemals, sondern legen sich, gesund wie die Vögel im Frühling, ins Grab. Gesund zu sterben aber ist eine Schmach. Krank zu leben ist freilich eine noch weitaus größere Schmach. Doch was rede ich da: als hätte ich, der Großinquisitor von Wyshna und vorgeblich selbst ein Zauberer, mich mit Heilumschlägen zu plagen!

Die Magd erschrickt, sobald ich über mich spotte.

Also — ist doch nicht jeder Inquisitor ein Zauberer? Also — ist das Können eines Inquisitors keine magische Gabe? Welches sind dann aber jene unsichtbaren Fangseile, mit denen wir meine Herrinnen — die Hexen — bezwingen? Und warum richten wir mit ihnen bei anderen nichts aus?

Dem Vernehmen nach vermag sich ein Inquisitor, der sich eine Hexe gefügig machen kann, auch alle anderen ge­fügig zu machen. Gewiss — freilich nur in der Weise, wie ein jeder Mensch, der über die innere Kraft gebietet, sich andere gefügig machen kann. Kein Geheimnis um­weht das Geschick eines Inquisitors, sich einen Freund zu Willen zu machen, eine geliebte Frau oder eine Handvoll Bürger. Dies gelingt ihm ohne Zuhilfenahme seiner Kraft, einzig mit seinem Willen. Hingegen bedarf es für die Verfertigung eines Geständniszeichens auf einem Stein mehr als des bloßen Willens vonseiten des Inquisitors.

Manchmal frage ich mich, in nächtlicher Trauer den Blick ins Feuer gerichtet, ob nicht auch die Hexen Zeichen verfertigen? Andere freilich, wiewohl welche, die ihrer Natur nach mit unseren vergleichbar sind. Sollte gar die Kraft des Inquisitors, welche uns gegeben ist, zum Kampfe gegen die Hexen, damit die Welt die jetzige bleibe, am Ende nur eine Widerspiegelung der Hexenkraft selbst sein?«

Ywha schlug das Buch zu.

Damit die Welt die jetzige bleibe. Es dämmerte bereits. Und jetzt konnte sie von dem Treffen mit Nasar mit Fug und Recht behaupten: Es findet heute statt.


Naiverweise hatte er angenommen, alles über Hexen zu wissen.

Er folgte Kosta, dem Inquisitor im Außendienst, einem hervorragenden Einsatzleiter. Vielleicht trübte gerade das seine eigene Aufmerksamkeit ein wenig. Vielleicht aber auch nicht; vielleicht lag es einfach daran, dass alles, was nun geschah, sein hervorragendes Reaktionsvermögen um einiges überstieg.

Kosta blieb stehen. Er hob den Arm, als wolle er sich verteidigen, und brach langsam, wie in Zeitlupe, seitlich zusammen.

In diesem Augenblick spürte es Klawdi ebenfalls.

Die Hexe war hier. Sie war nicht verschwunden, war nicht durch den Hintereingang entschlüpft.

Die in Rauch gehüllte Silhouette hätten sie nie wittern können. Sogar als sie zuschlug und Kosta niederstreckte, war Klawdi noch auf seine Augen angewiesen, denn seine Witterung schwieg, halb tot und verbrüht.

Nieder mit dem Abschaum.

Die Frau lachte. Sie wiegte einen grauen, paillettenbesetzten Schal, als sei es ein kleines Kind. Dann lachte sie wieder, und dieses Gelächter dürfte ihn vermutlich weitere graue Haare kosten. Da war er, der alte Albtraum, der allnächtlich wiederkehrte und in dem er eine Hexe traf, deren Kräfte die seinen überstiegen.

Allerdings war hier noch etwas anderes im Spiel. Was war das für eine seltsame, provozierende, unnatürliche Geste? Sie wiegte ein Halstuch …

Unsere Mutter, unsere ungeborene Mutter.

Sie lachte ein weiteres Mal auf.

Ihr Abgang erinnerte nicht an Flucht. Sie schien nicht einmal auf die Idee zu kommen, Klawdi könne sie verfolgen. Der Schal, der seine Rolle als Kind in diesem grausamen Spiel ausgespielt hatte, fiel zu Boden, neben den reglosen Kosta.

»Stehen geblieben!«

Obwohl er keinen Ton hervorgebracht hatte, hatte sie seinen Befehl laut und deutlich gehört. Sie drehte sich halb zu ihm zurück und bleckte lachend die Zähne.

Da schlug er zu.

Mit diesem Schlag hätte er ein halbes Dutzend Hexen zu Boden strecken können — doch die Hexe vor ihm lächelte bloß noch breiter. In der nächsten Sekunde bemerkte er allerdings den Riss in ihrem Verteidigungsvorhang. Jetzt konnte er sie wittern.

Aber nicht klassifizieren.

Eine Schildhexe? Eine Bannerhexe? Eine Kampfhexe?

»Stehen geblieben, du Miststück!«

Er machte ein schräges Loch aus. Einen Brunnen ohne Boden.


Es dämmerte bereits.

Auf ihrer Flucht berührte sie mit ihren weißen Füßen kaum den Asphalt. Klawdi stürmte zum Auto, wo der verzweifelte, bleiche Fahrer erfolglos versuchte, den bislang tadellosen Motor anzulassen. Klawdi stieß ihn vom Steuer weg, ließ sich auf den Fahrersitz fallen, biss die Zähne aufeinander, spannte die Muskeln an und setzte alles daran, das dumpfe Eisen dem Willen der Hexe zu entreißen. Zwei von Kostas Leuten saßen auf dem Rücksitz, einander ähnlich wie Zwillinge, und führten mit einer synchronen Bewegung in der Luft das Zeichen des Hundes aus. Sie waren zwar eine schwache Hilfe, aber besser als gar nichts.

Mitten auf der Fahrbahn rannte die Hexe die leere morgendliche Straße hinunter; ihre Füße zeigten nach wie vor das kindliche Schneeweiß. Er würde sie erschlagen. Falls er sie nicht schnappen konnte, würde er sie einfach erschlagen, sie überfahren …

Das Auto dachte nicht daran, ihm zu gehorchen. Ungeachtet seiner Anstrengungen, ungeachtet des Zeichens des Hundes und des speziellen Zeichens, das regelgerecht am Fahrzeugboden ausgeführt war. Klawdi hantierte wild mit dem Lenkrad, wich Laternen und der kleinen Betonmauer aus, die Fahrbahn und Fußweg trennte, während die Hexe leicht und spielerisch weiterrannte und sich der Abstand zwischen ihnen in keiner Weise verringerte.

»Und dann tritt sie in Erscheinung, diese monsterhafte Ausgeburt jener Kräfte, die dem Menschen feindlich gesonnen sind. Und sobald sie naht, verwandelt sich der Schwarm stechender Mücken in eine tödliche Armee erbarmungsloser Wespen …«

Konnte das sein?!

Hatte er tatsächlich keine andere Wahl, als die tänzelnd davonrasende Figur einer professionellen Stripperin zu erschlagen und ihren stolz erhobenen, dreckigen Kopf auf dem Asphalt zu zerschmettern, um damit den Albtraum der letzten Wochen zu beenden?

Das Auflodern seines Willens ließ das Auto endlich losschießen — und zwar so, dass die Konturen der Straße verschwammen und die beiden Männer auf dem Rücksitz gegen die Lehne gepresst wurden. Die Inquisition bevorzugte nun mal starke Motoren. Der Abstand zwischen Klawdi und der Hexe schmolz in wenigen Sekunden auf die Hälfte zusammen. Die Stripperin drehte sich um. In ihren Augen lag schallendes Gelächter. Wenn Klawdis Hände nicht mit dem Lenkrad verwachsen gewesen wären, hätte er sich die Ohren zugehalten.

Da wurde es im Wagen dunkel. Risse überzogen die Windschutzscheibe, ließen sie trüb und undurchsichtig werden. Instinktiv stieg Klawdi auf die Bremse. Die trainierten Männer im Fond brachten es fertig, ihm nicht ins Genick zu knallen, während er, ebenfalls — wenn auch vor ewigen Zeiten — trainiert, gegen das Steuer prallte und so der gewesenen Windschutzscheibe half, in lauter Scherben nach draußen zu rieseln.

Verdammt, er musste endlich sein Hirn gebrauchen!

Dem Schmerz konnte er sich später noch in aller Ausführlichkeit widmen.

»Patron?«

Immerhin erkannte er die Straße jetzt wieder klar und deutlich. Den roten Halbkreis der aufgehenden Sonne über den Dächern, die barfüßige Frau, die auf eine Kreuzung zurannte. Die in Sonnenlicht getauchten Schienen der Straßenbahn warfen rosafarbene Lichtreflexe auf den Asphalt. Das ferne Bahnhofsgebäude erhob sich als dunkelblaue Silhouette am Ende der breiten Straße, ruhig und schön.

Verlor er sie?!

Die Wut half ihm, seine Kräfte zu bündeln. Sein Wille stürzte hinter ihr her, schlängelte sich aus dem Auto, hängte der Hexe ein schweres, nicht zu stemmendes Gewicht an die nackten Füße. Oder versagte er doch?

Nein! Schon stolperte sie, drosselte ihr Tempo. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, was ihr vermutlich auch gelingen mochte; allerdings würde sie dafür einige Sekunden brauchen.

Wieder ließ sich die Straße links und rechts vom Auto nicht mehr erkennen. Wind peitschte ihm ins Gesicht, der nun auch noch das letzte Stück Glas der Windschutzscheibe eindrückte. Die Sonne ging vollends auf, verängstigt bremste der von der Arbeit zurückkehrende Wagen der Stadtreinigung, dessen Wassertank nun leer war. Die Hexe hinkte und befreite sich mit jedem Schritt von der unsichtbaren Last, die Klawdi gesandt hatte. Dennoch wurde der Abstand zwischen ihnen kleiner und kleiner. Schon machte Klawdi einen Riss im Saum des dünnen, hellen Kleides aus, schon erkannte er das Verteidigungsornament auf dem Ledergürtel, sah den langen Kratzer auf dem entblößten Schenkel und das rosafarbene Ohr, das durch einen Wust aus dunkel glänzenden Haaren stak.

Konzentriert stellte er sich auf das Duell ein. Vielleicht das wichtigste, vielleicht das entscheidende in seinem Leben. Vielleicht auch das letzte, so wie einst beim Inquisitor Atryk Ol.

Die Hexe blieb mitten auf der Kreuzung stehen. Unter einem Geflecht schwarzer Leitungen. Sie blieb stehen und drehte sich um; Klawdi fing ihren Blick auf.

Auch sie kannte das Schicksal Atryk Ols. Aber auch das Schicksal der Hexen, die ihn getötet hatten. Jetzt verharrte sie reglos, beobachtete, wie ein schwarzes Auto mit zertrümmerter Windschutzscheibe direkt auf sie zuschoss.

Nein, das stimmte nicht: Sie schaute seitlich an ihm vorbei.

Blickte zu einer schmalen, kopfsteingepflasterten Straße hinüber, aus der eine blaue Straßenbahn auf die Kreuzung zuzuckelte. Die erste Bahn des heutigen Tages, Linie 2, noch verschlafen und leer, näherte sich dem Bahnhof. In den quadratischen Fenstern spiegelte sich die tief stehende Sonne.

Gerade eben noch hatte die Hexe auf der Kreuzung gestanden — jetzt hing sie schon auf dem Trittbrett und umklammerte mit beiden Händen die vordere Fahrertür. Und bereits im nächsten Augenblick öffnete sich die blaue Falttür und ließ die Hexe ein.

Brüllend schickte ihr Klawdi einen Schlag hinterher, der jedoch, da er auch noch das Auto lenken musste, zu schwach ausfiel. Die beiden auf dem Rücksitz griffen nach ihren Pistolen. Spinnen die?!, dachte Klaw. Damit machen sie alles nur noch schlimmer!

Die Straßenbahn vibrierte. Zitterte, als leide sie Schmerzen — und fuhr weiter, überquerte die Kreuzung, somit alle Verkehrsregeln und die eigene Fahrstrecke ignorierend. Als sie leichthin über ein Gleis hüpfte, bemerkte Klawdi die an den Rädern aufstiebenden Funken. Die Straßenbahn brach aus, bog in die breite Straße der Industrie, gewann Fahrt und sauste den Hang hinunter.

Er riss das Lenkrad herum, trat das Gaspedal voll durch. Der Wind biss ihm in die Augen.

Die unvorstellbar lange Straße der Industrie fiel über die gesamte Strecke leicht ab. Die Straßenbahn fuhr inzwischen schnell wie ein Eilzug, ächzte, polterte von einer Seite auf die andere und zog einen Schweif braunen Staubs hinter sich her. Die geröteten Augen zusammengekniffen, erkannte Klaw durch die Scheibe die zur Salzsäule erstarrte Gestalt des Straßenbahnführers. Und auch die der stolz dastehenden Frau, die sich wie ein Denkmal neben ihm erhob. Klawdi wollte schießen, wusste jedoch, dass jede in eine Hexe gefeuerte Kugel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Augenzeugen in der Nähe getötet hätte — oder den Schützen selbst.

Die Straße der Industrie endete. Als sei einem unter den Füßen ein Teppichläufer weggezogen worden. Ohne das Tempo zu drosseln, flog die Straßenbahn um die Ecke.

Wie konnte Eisen nur ein solches Geräusch machen? Kein Quietschen, sondern ein Pfeifen, als ob tausend wahnsinnige Verkehrspolizisten in ihre Pfeifen pusteten, um die Hexe zur Vernunft zu bringen.

Wie ein Pferd, das sich aufbäumte, riss die Straßenbahn sämtliche Räder auf der linken Seite von den Schienen. Noch in der Luft drehten sie sich wie verrückt.

Mit aller Kraft trat Klawdi aufs Gas, raste weiter, als wolle er den auf die Seite stürzenden Koloss stützen. Bedauerlicherweise hatte er nur Macht über Hexen. Über öffentliche Verkehrsmittel fehlte sie ihm.

So krachte die Straßenbahn um. Die Erde bebte, ein Schaufenster in der Nähe zersprang, die Straßenbahn überschlug sich, streckte die Räder gen Himmel und zerquetschte die am Straßenrand geparkten Autos; daraufhin überschlug sie sich ein zweites Mal, wobei es für kurze Zeit so aussah, als würde sie gegen die Fassade des Hauses mit dem zersplitterten Schaufenster knallen, am Ende reichte die Fallkraft dafür jedoch nicht aus. Die Straßenbahn konnte kaum noch als solche bezeichnet werden. Eine verkrüppelte Leiche war sie nun, die zurückpolterte, hinein in die völlig unschuldigen Autos, diese in einen Brei aus Glas und Metall verwandelnd, während die Erde erneut bebte.

Klawdi sah sich selbst, wie er dasaß, sich verzweifelt am Armaturenbrett abstützte, das Bremspedal immer noch bis zum Anschlag durchtrat, obwohl das Auto bereits hielt, im Fond Leere klaffte und beide Türen offen standen.

Die Sonne war aufgegangen, das Rot dem Gold gewichen.

Der Straßenbahnführer starb im Krankenhaus.

Zwei Fahrgäste, die die erste Straßenbahn hatten nehmen wollen, sollten überleben, weitere Personen waren am Ort der Katastrophe glücklicherweise nicht zugegen gewesen.

Von der Hexe fehlte jede Spur.


Das Lampenschirmschiff leuchtete. Auf den Wänden der Studentenbude lagen bizarre Schatten. Ywha wollte dem alten, vertrauten Zimmer zulächeln, schaffte es aber nicht.

Ein Gefühl unermesslicher Schuld quälte sie. Mit keinem Wort oder Blick hatte Nasar ihr einen Vorwurf gemacht. Dennoch spürte Ywha, wie mit jeder Sekunde seiner Anwesenheit die Last ihrer Schuld zunahm. Die Begegnung genießen — dazu war sie nicht mehr imstande.

Sie schämte sich, ihm in die Augen zu sehen. Dabei wollte sie ihn mit Blicken verschlingen, gierig jede Nuance, noch den kleinsten Abdruck der getrennt von ihr verbrachten Tage in sich aufnehmen.

Am Ende brachte sie doch noch ein Lächeln zustande. Sie setzte sich aufs Sofa, diesen Zeugen unzähliger leidenschaftlicher Nächte. »Kann ich einen … Tee bekommen?«

Nasar nickte ernsthaft und verschwand in der Küche. Wie sehr Ywha diese Begegnung herbeigesehnt hatte! Und jetzt verbarg sie ihr Gesicht in den Händen …

Eine halbe Stunde vor dem Wiedersehen war sie halb tot vor Nervosität gewesen. Am meisten hatte sie sich davor gefürchtet, Ekel in seinem Blick oder seinen Gesten zu entdecken, weshalb sie mit einem gekünstelten Lachen ohne Umschweife erklärt hatte: »Du brauchst keine Angst zu haben. Nicht initiierte Hexen unterscheiden sich durch nichts von anderen Menschen. Nicht mal physiologisch. Wenn du willst, frag Starsh danach.«

Diese Worte bewiesen einmal mehr, wie sehr sich Ywhas klarer Verstand in der Zeit, da sie diese Begegnung herbeigesehnt hatte, getrübt haben musste, andernfalls wäre sie kaum auf solche Dummheiten gekommen. Nasar blickte finster drein, sagte jedoch kein Wort.

Jetzt saß sie auf dem Sofa, bedeckte das Gesicht mit den Händen, während durch die kalten Finger das transparente Zauberlicht des Schirmschiffs fiel. Nasar hantierte in der kleinen Küche. Das Klappern des Geschirrs kam Ywha wie eine spöttische Antwort auf ihren Traum vor: auf ihre kleine und warme, gemütliche Idealwelt, in der ein Lampenschirm leuchtete und der geliebte Mann ihr in der Küche Tee kochte.

In der Luft hing ein Hauch des Falschen.

Als ob jemand, der sein ganzes Leben lang die magische Erinnerung an die in der Kindheit verlassene Stadt hütet, irgendwann beschließt, in die staubigen, schweißigen und wuseligen Straßen zurückzukehren, dann aber vor der Tür seines Geburtshauses von einem Fuß auf den anderen tritt und verzweifelt den Griff des Koffers, der mit einem Mal sehr schwer scheint, umklammert. Ein unwiederbringlicher Verlust, das ist nicht nur der Tod. Genauer: Es gibt noch andere Formen des Todes, darunter einen Tod, bei dem sich äußerlich nichts ändert und selbst der Tote nicht auf Anhieb bemerkt, dass sich für ihn etwas geändert hat.

Nasar kam mit zwei dampfenden Tassen zurück. Er stellte das Tablett auf dem Tisch ab, setzte sich auf einen runden Drehhocker in der Ecke und stützte die spitzen Ellbogen auf die nicht minder spitzen Knie.

Ihre Phantasie klammerte sich noch immer an die Bruchstücke ihres Traumes. In jener Welt, die sie sich wieder und wieder ausgemalt hatte, hatte Nasar neben ihr gesessen und nach ihrer Hand gegriffen. Da sie ihrem Traum nachhelfen wollte, wäre sie am liebsten aufgestanden, zu Nasar gegangen und hätte ihm die Hände auf die Schultern gelegt. Im letzten Augenblick schreckte sie jedoch zurück, sackte erschöpft in sich zusammen und konnte gerade noch einen schweren Seufzer unterdrücken.

Sie nahm seinen Duft wahr. Sein Pulloverkragen verströmte den Geruch eines herben, ihr unbekannten Eau de Colognes, und diese fremde, sie überspülende Woge verdrängte das gewohnte Aroma seiner Haut und seines Haars. Ywha seufzte tief, ihre Nasenflügel blähten sich und versuchten, den durch das ganze Zimmer wabernden Duft einzufangen. Als Nasar das bemerkte, schien er zu erschaudern. Oder kam ihr das nur so vor? Oder zeigte ihr Misstrauen inzwischen krankhafte Züge?

In ihrer ausgedachten Welt hatte Nasar ununterbrochen geredet. Gelacht, ihre Hand gestreichelt und sie tausend Mal für das um Verzeihung gebeten, was sie, Ywha, sich hatte zuschulden kommen lassen.

Seit sie sich getroffen hatten, waren einunddreißig Minuten vergangen. Erbarmungslos zirkelte die alte Uhr an der Wand die Zeit ab. Voller Panik begriff Ywha, dass nichts von alldem passieren würde, so als säße sie geradezu in einem leeren, vernagelten Kasten.

Plötzlich wollte sie, dass irgendetwas geschah — und sei es etwas Schlechtes.

»Wie geht es Professor Mytez?«, fragte sie deshalb und rang sich ein Lächeln ab. »Was macht mein Schwiegervater?«

Nasar sah auf. Zum ersten Mal seit zweiunddreißig Minuten blickte er Ywha in die Augen. Kurz hielt sie den Atem an.

Denn in Nasars Blick lag weder der Vorwurf, mit dem sie gerechnet, noch der Ekel, den sie befürchtet hatte. Es war ein Blick wie eh und je, nur unsagbar müde, gequält und traurig.

»Ich kann ohne dich nicht leben, Ywha …«


Den Tee tranken sie dann doch nicht. Mehr noch, eine der Tassen fiel vom Tisch und hinterließ auf dem Läufer eine dunkle Pfütze, die nicht trocknen wollte. Das Schirmschiff segelte ungerührt unter dem weißen Himmel der Decke dahin, während im Zimmer ein heftiger, teilweise schon hysterischer Sturm tobte.

Der widerborstige Reißverschluss an Ywhas alten Jeans hatte den Gefühlsausbruch nicht überstanden, denn Ywha hatte ihn kurzerhand zerrissen. So brennen Brücken nieder. Ein Stück nach dem nächsten riss Ywha sich vom Leib. Alles um sie herum drehte sich, als wenn sie betrunken wäre; über den Boden hüpfte ein einzelner Knopf von Nasars Tennisshorts. Jeans und Pullover fielen auf den Teppich, die gestreiften Socken rollten sich ein wie zwei erschrockene Igel. Nasars Hosen boten eine phänomenale Pirouette, auf ihnen landete eine Spange aus Ywhas rotem Haar. Das Schiff schwamm dahin und beleuchtete das Zimmer mit seinem intimen, rätselhaften Licht.

»Ohne dich … kann ich … nicht …«

Im nächsten Moment lagen sie auf dem Sofa. Danach schaukelten sie durch das ganze Zimmer, umarmten sich, lachten Tränen und wälzten ihre zu Boden geworfene Kleidung platt. Am Bein des runden Hockers erlebten sie den Höhepunkt ihres Liebesspiels, anschließend landeten sie, ohne sich voneinander zu lösen, wieder auf dem Sofa, unter der Decke, aneinandergeklammert wie zwei Milben, die durch den Liebesentzug beinahe zu Tode gekommen wären.

»Nasaruschka … ich …«

Er roch jetzt nach heißem, frischem Schweiß. Ywha inhalierte seinen Duft wie eine dumme Katze Baldriantropfen. Die Bettdecke zitterte wie das sturmgepeitschte Meer. Das Schiff drehte sich gemächlich einmal um die eigene Achse, den spitzen Bugspriet vorgereckt. Um das Schiff herum tanzte ein schwarzer Schmetterling, der im Vergleich zu dem kleinen Segel unnatürlich groß wirkte. Unter dem Gewicht des schweren, lodernden Körpers begriff Ywha sofort, dass ihre gesamte bisherige Existenz nur ein Vorspiel für diesen Augenblick echten Lebens gewesen war. Und von ganzem Herzen wünschte sie, es möge ewig andauern.


Am Morgen regnete es.

Ywha lag auf dem Rücken, die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Sanft prasselte der Regen gegen die Metallverblendung überm Fenster. Nasar schnaufte genüsslich und hatte die Hand katzenartig vors Gesicht gelegt. Sonst aber gab es in dieser Welt keinen Laut, kein Geräusch.

Ywha lag wach.

Durch die fest geschlossenen Gardinen drang das Dämmerlicht nicht herein. Obwohl es im Zimmer dunkel war, wusste Ywha, dass der verregnete Himmel bereits graute. Vielleicht würde der Wind die Wolken ja bald auseinandertreiben. Und vielleicht käme auch die Sonne noch heraus.

Sie schloss die Augen. Ein unbekannter, unangenehmer Schmerz saß ihr in der Brust. Nie in ihrem Leben hatte sie irgendwas am Herzen gehabt. Aber natürlich gab es für alles ein erstes Mal.

Sie wollte den Arm heben und sich die Rippen auf der linken Seite reiben, fürchtete jedoch, Nasar zu wecken.

In ihrer Kindheit hatte sie sich gefragt, wie sich wohl die Matrjoschkas fühlten, so ineinandergesteckt, die kleinere immer in der größeren, bis zur allerwinzigsten am Ende. Was mochte eine dieser Puppen fühlen, wenn sie sich aus dem Leib ihrer Vorgängerin schälte und sich gewissermaßen von außen betrachtete?

Jetzt entschlüpfte Ywha sich selbst wie eine Matrjoschka. Von außen sah sie eine rothaarige Frau, die mit einem schlafenden Mann im Arm dalag. Ein schmerzliches Vorgefühl ließ sie den Atem anhalten.

Es war bereits Morgen. Die rothaarige Frau hatte kaum ein Auge zugetan — doch während eines kurzen Traums hatte sie die Baumkronen eines Waldes gesehen, der sich weit unter ihr erstreckte, die verrauchten Gänge eines brennenden Theaters und die Schatten der tanzenden Tschugeister. Gestern Abend hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben gewünscht, die Zeit anzuhalten. Die Zeit hatte ihr jedoch nicht gehorcht — und recht hatte sie damit getan.

Der Mann … Nein, er hatte sich nicht verändert. Er war in der Zeit ihrer erzwungenen Trennung keineswegs gealtert. Ywha beobachtete, wie das selige Glück nach und nach von seinem schlafenden Gesicht kroch. An der Nasenwurzel entstand eine Falte, die Mundwinkel zogen sich traurig nach unten. Nasar träumte von der Wahl, die er am heutigen Morgen treffen musste. Ein unangenehmer, Besorgnis erregender Traum.

Entsetzt registrierte Ywha, dass sich das Vorgefühl in ihrer Brust gerade in Wissen verwandelte.

Sie wollte die Augen schließen, die unvermeidliche Einsicht wegblinzeln — aber wenn sie ihrem Schicksal nicht in die Augen sah, würde es sie unter Garantie einholen und ihr in den Rücken treten. Vielleicht auch etwas tiefer. Ywha holte Luft und ließ das Wissen um den Verlust in sich einsickern.

Es stellte sich als kurz und völlig schmerzfrei heraus. Nicht mehr als ein Wort: Schluss.

Schluss, jetzt war alles aus. Irgendwie war ihr sogar leichter zumute. Sie konnte selbst nicht erklären, warum. Die entsprechenden Worte standen ihr nicht zur Verfügung. Sie fühlte es einfach. Genau wie wohl eine Füchsin um den Moment weiß, da ihr Junges keinen Schutz mehr braucht, auf die raue, schmale Zunge und den warmen, weich bepelzten Bauch verzichten kann.

Schluss.

Sie schlüpfte unter der Decke hervor und zog sich im Halbdunkel an.

Der zerrissene Reißverschluss an den Jeans forderte ihr ein paar lautlose Tränen ab. Was für ein falscher Unterton in der pathetischen Szene ihrer Trennung! Schließlich gehörte es sich für eine junge Frau nicht, mit offenen Hosen auf die Straße zu gehen.

Sie wusste, wo Nasar Nadel und Faden aufbewahrte; sie hatte das Nähzeug selbst an diese Stelle gelegt. Nasar schlief, die Falte an seiner Nasenwurzel grub sich immer tiefer ein, während sich seine ehemalige Freundin hastig die Hosen nähte, die sie gerade am Körper trug. Stich für Stich, ein Zischen unterdrückend, wenn sie sich die Nadel in den Körper rammte.

Nachher würde er aufwachen — und erleichtert sein. Vielleicht würde er sich das nicht einmal selbst eingestehen. Er würde sich traurig, verletzt, möglicherweise sogar verraten fühlen. Aber das entscheidende Gefühl würde das der Freiheit sein. Professor Mytez würde dies vermutlich ebenfalls zu schätzen wissen, der gute alte Professor Mytez.

Ywha biss den Faden ab. Die Hosen waren zu, Nasar schlief, unter der dunklen Zimmerdecke schwamm das dunkle Schiff, das zusammen mit dem Licht auch einen Großteil seines Zaubers eingebüßt hatte. Schluss.

In der Tür schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ihm etwas zu schreiben, ein paar Worte, wie es in allen Melodramen üblich war.

Aber sie hatte keinen Bleistiftstummel, keine Zigarettenschachtel, nicht einmal Bonbonpapier.

Deshalb ging sie schweigend hinaus, die Tür fest hinter sich schließend.

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