12

… Ein Festtag.

Ein überwältigender Festtag. Nadelgleiche Lichter, die, sich vereinigend, zu ihr flossen, Tausende von Augen, die ihr gehörten, eine Nacht voller Augen, ein Himmel voller Augen, ihre Freiheit, angespannt und gierig wie eine Sehne.

Bewegungen. Schritte, unter denen die Erde erzitterte; etwas Rotes, Dunkelrotes, Feuerrotes, Blutrotes, und Schritte, wieder Schritte, die näher kamen — und sie alle gehörten ihr!

Weißer Stoff zerriss. Zärtlichkeit. Kinderhände, die sich ihr durch die schwarzen Fetzen der Nacht entgegenstreckten. Eine Zärtlichkeit ohne Schmerzen, denn sie sind für immer ihre;es zitterte die Erde, unter einem langsamen Tanz, unter einem traurigen Tanz auf einer Trommel, in die sich der Himmel verwandelt hatte, unter einem triumphierenden Marsch, denn sie alle kamen her, flogen und krochen, sammelten sich und erreichten endlich ihr Ziel, wurden zu ihr selbst, während sie näher und näher kamen …

Sie alle wurden sie.


Ywha kam in einer großen und dunklen Straße wieder zu sich, vermutlich einer Chaussee. Sie brauchte kein Licht, denn ihre Haare bildeten eine flammende Aureole, sie war vollkommen frei und allein auf der Welt, sie sog die Welt in sich ein, setzte sich selbst an die Stelle der Welt. Die Nacht, überraschend warm, stand reglos im Zenit und erzitterte am Horizont, raschelte mit Hunderten von Flügeln, flog, fiel, flog …

Ywha brach in schallendes Gelächter aus.

Ihre Kinder eilten auf ihren Ruf zu ihr hin. Sie durchbrachen die Absperrungen, fegten die Verbotszeichen fort und rissen den Beton auf. Selbst nach dem Tod würden ihre Kinder noch zu ihr eilen.

Sie rieb sich die Handgelenke, an denen die Holzblöcke blutige Armreifen hinterlassen hatten. Fragmente ihrer Erinnerung bewahrten noch den Palast, der sich in den Himmel bohrte, die Ketten, die ihr den Willen raubten, und den Mann in dem schweren Panzer des Inquisitors.

Klawdi.

Dieser Name störte für einen kurzen Augenblick die Harmonie, die Nacht büßte ihre Konturen ein, und in ihren Haaren, die sich aufgestellt hatten, knisterte trocken eine blaue elektrische Entladung.

Klawdi …

Die Welt um sie herum dröhnte wie ein Orchester. Die Welt sang und verströmte Gerüche. Nicht sie hatte sich verändert, sondern die Welt.

Wieder lachte sie laut auf. Der Rhythmus einer majestätischen Prozession, der die Nacht durchdrang und der Ywha durchdrang, ein über alles triumphierender Rhythmus nahm das Zepter wieder in die Hand.

Sie legte sich auf die Straße, streckte sich aus und presste das Ohr gegen die Erde.

Und hörte die Schritte.

Ihre Kinder kamen. Es würde nicht mehr lange dauern.


Eigentlich hätte das Telefon schon längst klingeln müssen. Sicher, das Netz war vor einigen Tagen zusammengebrochen, trotzdem hatte das klingelnde Telefon nichts Mystisches an sich, denn seine Schnur mündete nicht in die Steckdose; es gab überhaupt keine Schnur, sondern lediglich eine komische Antenne mit einer Kugel am Ende.

Das war aber nicht weiter verwunderlich. Schon gar nicht angesichts der verblüffenden Tatsache, dass Klawdi Starsh immer noch lebte. Lebte und handlungsfähig war, selbst nachdem er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte.

Die Keller des Palasts existierten nicht mehr. Sie waren eingestürzt — weshalb sich der Fußboden in seinem Büro verdächtig neigte. Alle in den Kellern gefangen gehaltenen Hexen waren geflohen, die Erde hatte gebebt, er selbst war im letzten Moment noch entkommen. Dabei hätte ihn das Wesen in diesem Augenblick problemlos zerquetschen können, zertreten wie eine Assel.

Er holte tief Luft und rieb sich fest über die Nasenwurzel.

Das Telefon klingelte.

Klawdi ließ den Blick über die Bürowände gleiten, die mit Schutz- und Hilfszeichen bemalt waren. Er schaute zur Tür ins Vorzimmer hinüber, hinter der der Inquisitor Hljur schlief, der dem Wyshnaer Palast nach wie vor die Treue hielt. Er trat vom Fenster weg. Draußen erhoben sich schwarze Rauchsäulen, die bis zum Himmel reichten. Er nahm das Telefon vom Tisch und hielt es ans Ohr.

»Wyshna? Wyshna?!«

»Wyshna«, bestätigte Klawdi mechanisch.

»Einen Moment …«

Eine Pause.

»Wyshna?«, fragte eine andere, eine kräftigere Stimme.

»Ja«, erwiderte Klawdi mit einem Anflug von Ärger.

»Starsh?!«

Erst da erkannte er die Stimme, die ihm ins Ohr schrie. Dabei hatte Foma aus Altyza nie die Angewohnheit gehabt zu jaulen. Manches Mal mochte er pathetisch geworden sein, die Stimme erhoben haben — natürlich nur, sofern die Gesetze der Rhetorik dieses verlangten.

»Oh! Guten Tag, Usurpator!«

»Starsh, wir reden hier über Satellit! Wir hatten Schwierigkeiten, überhaupt … eine Verbindung … Wie gut, dass Sie noch leben …«

»Für wen ist das gut?«, hakte Klawdi gallig nach. Doch die Ironie entging Foma.

»Starsh, der Herzog ist gestern gestorben … sein Auto … explodiert …«

»Das tut mir leid«, antwortete Klawdi mit einiger Verzögerung. »Das tut mir sehr leid, Foma. Wer ist sein Nachfolger?«

»Es gibt keinen Nachfolger. Es gibt überhaupt nichts mehr. Wir wollen Sie da rausholen. Noch haben wir Treibstoff für die Hubschrauber …«

»Die Armee? Wer befiehlt die Armee?«

»Das weiß ich nicht! Ich habe überhaupt keine Ahnung!«

Klawdi zog das flache schwarze Kästchen aus der Innentasche seines Jacketts. Seine Hand zitterte. Er besah es sich genau. In einer Ecke des Displays pulsierte unverändert das graue Quadrat.

Noch war die Zentrale einsatzbereit — und damit auch die Raketen.

»Starsh! Starsh! Der Große Exodus der Hexen … alles kommt in Bewegung, die Mutterhexe … wir haben … sie geortet … aus der Luft … an der Grenze zum Kreis Rydna, eine Datschensiedlung … Sie dürfen nicht länger in Wyshna bleiben, wir schicken Ihnen einen Hubschrauber …«

»Tun Sie das«, sagte Klawdi sachlich. »Hljur und die Jungs aus seiner Abteilung sind noch hier. Schicken Sie Ihren Hubschrauber …«

»Halten Sie durch, Starsh!«

Die letzten Worte glichen eher einem panischen Gejammer, als dass sie einen Versuch darstellten, ihn aufzumuntern.

Klawdi legte den Apparat auf das aufgeschlagene Buch. Auf das Tagebuch von Atryk Ol. »Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde.«

Erst jetzt verstand Klawdi, was genau der Alte meinte. Ihren Geist. Einen schweren Geist. Fast ein Geruch. Als junger Mann war er einmal in einer kleinen Stadt gewesen, die in der Nähe eines riesigen Schlachthofs lag. Sein ganzes Leben lang war der Ort von der Windrichtung abhängig. Die Bewohner hatten sich mehr oder weniger daran gewöhnt, Klawdi jedoch fröstelte, denn sobald der Wind von dort kam …

Die Mutterhexe ließ sich leicht an ihrem Geist erkennen. Genauso wie ein Mensch mit guter Nase ohne Probleme einen Schlachthof fand.

»Glauben Sie nicht, Klawdi, dass in die Seele … von. Hexen bei der Initiation ein anderes Wesen einquartiert wird. Dass sie sich verändern … aufhören, sie selbst zu sein … Das stimmt nicht!«

Er grinste. Ein unschönes Grinsen. Ein schiefes. Bist du das, Ywha?! Gehört dir dieser schwere Geist, der an einen Schlachthof erinnert?!

»Die Welt … die ist nicht so, wie Sie sie sehen. Wie wir … alle … sie sehen. Sie ist ganz anders. Aber das kann ich nicht erklären.«

Anders. Leer, voller Rauch, Tod und Schrecken. Was hatte Atryk Ol geschrieben? Die Menschen flohen in die Wälder, versteckten sich in Höhlen, verwilderten …

»Die Welt … die ist nicht so, wie Sie sie sehen.«

Und wie ist sie, verflucht noch mal?!

»Klagend kommen die Menschen zu mir und fragen mich: Warum eilt die große Kraft, welche die Welt erschaffen hat, uns nicht zu Hilfe? Ich antworte ihnen: Warum seid ihr selbst so hilflos? Warum sind einzig meine Herrinnen, die Hexen, frei und stark, mag auch die Kehrseite ihrer Freiheit das Böse sein?«

Klawdi schlug mit der Faust auf den Tisch, nicht sehr heftig, aber immerhin so, dass die weiß hervortretende Haut von den Fingerknochen platzte.

Ja, warum sind wir selbst so hilflos?!

»Wollten Sie das denn nicht?«

»Was?«

»Die Hexen verstehen?«

»Jetzt will ich es eben nicht mehr.«

Bist du das, Klawdi Starsh? Bist du das — der schon in der Schule als »Eisenhaken« bekannt war?

Ywha, du hast mich nicht mehr fragen können, warum ich der Inquisition beigetreten bin. Und ich habe dir nicht mehr erklären können, dass es die Einrichtung war, zu der ich auf gar keinen Fall gehen wollte. In dieser Zeit meines Lebens hatte ich mir jedoch selbst die Strafe auferlegt, nur das zu tun, was mich anwiderte und schmerzte.

Nichts geschieht einfach so, sinnierte er. Alles hat einen verborgenen Sinn. Und jetzt offenbart sich, warum ich der Inquisition angehöre …

Mit den blutigen Fingerspitzen berührte er sanft den rechteckigen Gegenstand in seiner Innentasche.

Schließlich ging er ins Vorzimmer hinüber. An dem schlafenden Hljur vorbeihuschend, kam er durch einen unterirdischen Gang zum kleineren der beiden Parkplätze der Inquisition. Erleichtert aufseufzend ließ er sich auf den Sitz des gewaschenen und frisch überholten Graf fallen, der so grün war wie das Frühlingsgras.

Klawdi Starsh raste nie.

Zumindest war er bis heute noch nie gerast.


Und dann ging, sich dem tauben Rhythmus dieser Nacht unterordnend, der Mond auf.

Ywha passte sich dem Rhythmus ebenfalls an. Es war das einzige Gesetz, dem sie sich jetzt noch fügte. Ihr Körper, ausgebreitet über die ganze Welt, verlangte nunmehr danach, sich wieder zusammenzusetzen. Sie konzentrierte sich wie ein Tier vorm Sprung. Ihre Arme, ihre Augen eilten aus allen Himmelsrichtungen herbei, wenn auch nicht vollständig — obwohl die Welt doch gar nicht so groß war. Schon zuvor hatten sich die Teile, die ihr zugehörten, von Vorgefühlen beschlichen, zusammengefunden und gruppiert. Jetzt galt es nur noch, diesem kolossalen, amorphen Körper Leben einzuhauchen, eine Seele in ihn hineinzulegen. Im Rhythmus bebend, ging Ywha weiter, ließ sich vom Rhythmus vorantreiben, während ihre Gräser hinter ihr raschelten, ihr Mond einen Windzug wahrnahm, ihre Kinder — die Sterne — durch schwarze, zerrissene Wolken auf sie schauten.

Es spielte keine Rolle, wo sie sich trafen. Das Sakrament würde um Mitternacht vollzogen werden, genau dort, wo das Wesen mit den hochflackernden roten Haaren um Mitternacht sein würde. Unter dessen Füßen in diesem Augenblick sämtliche Straßenpflaster wie im Krampf zuckten. Es spielte keine Rolle, denn sie, die herbeieilten, damit sich ihr Schicksal erfülle, würden intuitiv das Zentrum der Bewegung wittern, den Punkt ihres, Ywhas, Weges, der gleichsam ein in die Erde eingelegtes Tor markierte, zu dem alle unsichtbaren Fäden führten, alle Adern und Schlingen, die sich nicht um ihre Kehle, sondern um ihre Seele legten. Welche Angst sie hatten, zu spät zu kommen! Wie sie liefen, sich die Füße blutig schürften, die Motoren antrieben, durch die Luft jagten, ihr mit allen Kräften, mit allem, was ihnen zu Gebote stand, entgegenstrebten!

Noch war die Zeit nicht reif. Allzu schwach zitterte noch die Nacht, allzu zögernd noch nahm sie, die Nacht, sie, Ywha, in sich auf. Allzu hoch wehten noch die gelben Banner des Mondes, dieses erschrockenen Mondes, der sich jedoch mit dem Unvermeidlichen abgefunden hatte. Allzu fern, allzu taub dröhnten noch die Trommeln.

Ywha erschauderte.

Vor ihr, auf dem Weg, der Linie, von der sie jetzt nie mehr abweichen würde, stand ein Leben, das hier nicht hergehörte. Ein blindes, böses Leben. Das zu schwach war, um sie aus dem Rhythmus zu bringen.

»Stehen geblieben! Das ist Sperrgebiet! Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«

Ywha brach in schallendes Gelächter aus.

Ihr Gelächter berührte die Baumkronen, die über der Straße hingen und deren schwarz-weiße Blätter nun herabsegelten. Ihr Gelächter schüttelte ein schweres Armeefahrzeug, das die Straße versperrte, zog es langsam von der Stelle, entblößte auf dem Fahrdamm schwarze Streifen, setzte den Geruch verbrannten Gummis frei, drehte den Wagen um, kippte ihn und warf ihn weg.

Die Explosion erfolgte dann von selbst. Schreiende dunkle Figuren spritzten in alle Richtungen. Ywha ging weiter und beobachtete, wie sich die Flamme in ein Trauerband aus dickem Rauch einwickelte, wie sie sich von Wipfel zu Wipfel goss, lebte, neu aufzüngelte und sich gen Himmel erhob.

Sie schritt aus, die Erde mit den Sohlen kaum berührend. Das Feuer legte sich ihr zu Füßen, pulsierte an den Straßenrändern und stand reglos im Zenit. Sie durchquerte ein fuchsrotes Lagerfeuer, und die Flamme, die vom Anbeginn der Zeiten ihre Kinder verschlang, wagte es nicht, an ihren aufgestellten Feuerhaaren zu lecken.

Sie ging weiter. Schwarzer Rauch wob sich in die Nacht hinein und wurde zu einem Teil der Prozession.

Es gab keine Zeit mehr. Es gab nur noch feine Membranen von Sekunden, die sie, strikt dem Rhythmus folgend, zerriss. Eine Minute später — vielleicht auch eine Stunde — bemerkte sie vor sich eine weitere Absperrung. Ihre Nasenflügel blähten sich.

»Bleib stehen, Hexe!«

Sie glitt aus der großen Welt heraus und herrschte innerhalb des eigenen kleinen Körpers, dieses Pseudokörpers, denn ihr eigentlicher Körper lag über das Antlitz der Erde verteilt und hatte sich noch nicht wieder zusammengesetzt.

»Bleib stehen, Hexe! Du kommst hier nicht durch!«

Die Nacht bevölkerten mit einem Mal ungebetene, falsche Sterne, gelb-grüne Sterne, die flackernden Blinklichter des Tschugeister-Dienstes. In den majestätischen Rhythmus der Prozession flocht sich ein anderer, ungleichmäßiger, der alles erstickende Rhythmus eines fremden Tanzes. Eines tödlichen Tanzes.

»Stehen bleiben!«

Sie zügelte ihre Schritte nicht. Und sie lachte auch nicht mehr, als ihr aus der Dunkelheit eine Reihe von Menschen in Kunstpelzen entgegentrat, mit einer Silberkette um den Hals und einer silbernen Dienstmarke auf der Brust, mit einem irren Rhythmus in den Augen.

Unsichtbare Fäden spannten sich um ihre Opfer. Wie pulsierende Schläuche, die ihnen das Leben nahmen. Wie schwarze Rüssel, die ihnen die Seele heraussaugten.

Die weißen Augen von Taschenlampen blitzten auf. Eine mit einem Gelbfilter. Da musste Ywha blinzeln.

»Du? Du?!«

Ywha verzog die Lippen. So hätte auch der Himmel in ihrem Rücken seine Zähne blecken können, lautlos, einsam, mit einem fahlen Blitz.

Die Kette schwankte und fiel auseinander. Den Tschugeistern genügte ein einziger Blick in ihr Gesicht.

»Himmel steh uns bei!«

»Zurück! Komm zurück, Priw!«

Er war der Einzige, der sich nicht rührte. Versteinert stand er da, aufgespießt von ihrem starren Blick.

»Weg da, Priw! Geh ihr aus dem Weg!«

Lauter und lauter rief die Trommel. Der Himmel toste, über die Schalldecke gespannt. Diejenige, die jetzt die Straße hinunterschritt, nahm bloß ihr Recht wahr. Ihr unteilbares und gutes Recht.

Ohne langsamer zu werden, stieg sie über den Mann hinweg, der am Boden lag.

Eine Sekunde später — eine dünne Membran später, durchrissen von ihrem Körper — vergaß sie ihn, um sich nie wieder an ihn zu erinnern. Und nie stellte sie sich die Frage, ob er überlebt hatte.


Schwieriger als alles andere war es, aus der Stadt herauszukommen. In völliger Dunkelheit schlug er sich durch den Ort, umrundete Hindernisse und fuhr an Ruinen vorbei, während ihn der allgegenwärtige Rauch husten ließ. Der Geist, der sich nur mit dem Geruch des Schlachthofs vergleichen ließ, entfernte sich ein ums andere Mal, nur um sich sogleich wieder zu nähern. Der Graf hatte die gerade, fast freie Autobahn bereits erreicht, als Klawdi Starsh, der niemals raste, reinen Gewissens das Gaspedal durchtrat.

Rechts vor ihm loderte ein Gehöft. Die Flamme eines gigantischen Lagerfeuers griff nach dem Himmel, die Funken legten sich auf die Windschutzscheibe, wurden vom Wind gegen das Glas gepresst und glommen ein letztes Mal auf, bevor sie sich in schwarze Rußklumpen verwandelten. Das Feuermonster stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, den Bart vom Wind zerzaust, und folgte mit dem Blick dem einzigen Punkt, der sich auf der langen Straße bewegte, dem Graf nämlich, der dem Ungewissen entgegenfuhr. Klawdi bleckte die Zähne.

Die Welt existierte nicht länger. Nichts von dem, was er normalerweise als seine Umwelt bezeichnete, gab es hier noch. Alles, was ihm einst so vertraut, was so unerschütterlich gewesen war, war aus den Fugen geraten; über der Menschheit hing ein Strudel, eine schwarze Windhose, die sich wie in Zeitlupe drehte, und, erfasst von ihrer gewaltigen Anziehungskraft, flogen Gesetze und Verpflichtungen, Normen und Bräuche, lebende Kühe, Gebäudeteile, entwurzelte Bäume und aus den Gräbern gerissene Särge durch die Luft.

Weiter und weiter trat Klawdi das Gaspedal durch. Sobald er im Fernlicht ein Hindernis entdeckte — ein umgekipptes Auto, von Flüchtlingen zurückgelassenen Hausrat oder einen auf die Straße geschmierten Körper –, biss er knirschend die Zähne zusammen und verschmolz mit seinem Wagen, diesem gehorsamen und treuen Gefährt, das sich widerspruchslos auf jedes Manöver einließ …

Als er irgendwann begriff, dass er mehr und mehr von der Richtung abkam, bog er zur Seite. Eine brennende Tanksäule beleuchtete seinen Weg, ein in Flammen stehendes Dorf, ein in der Ferne niederbrennendes Waldstück. Durch die Feuerherde lavierend, kam er rasch auf eine andere Straße, einen Feldweg, wendete und trat noch einmal das Pedal durch.

Das Auto schlotterte. Das Auto stöhnte. Schon seit geraumer Zeit beunruhigte ihn ein stechender Blick. Er begriff nicht auf Anhieb, dass ihn da, ohne einmal zu blinzeln, der tief hängende, gelbe Mond anstierte.

Die Straße riss immer weiter auf, was ihn zwang, das Tempo zu drosseln, damit er sich nicht vor der Zeit das Genick brach. Aus den Trümmern eines Holzverschlags flatterte ein weißes Huhn auf und stürzte, offenbar um den Verstand gebracht, gegen die Windschutzscheibe, schlug mit den Flügeln, hackte mit dem Schnabel auf diese ein, ohne sich um die aufstiebenden Federn zu scheren, und glotzte den Mann, der hinterm Steuer erstarrt war, voller Hass an.

An einem Brunnen saß mit gesenktem Kopf ein Toter. Er stierte mit gallertartigem, reglosem Blick vor sich hin. Klawdi wandte den Kopf ab.

Eine halbe Stunde später brachte der aufgerissene Weg den Graf zu einer weiteren Autobahn. Klawdi glaubte sogar, sich an ihre Nummer zu erinnern. Der Geist der Mutterhexe war hier so klar und deutlich, dass Klawdi es sich gestattete anzuhalten.

Auf dem Beifahrersitz lagen kreuz und quer allerlei Karten. Zielsicher wählte er die einzige Militärkarte aus, die in nüchterne Planquadrate unterteilt war. Er breitete sie aus, schaltete das Licht ein und fand in dem Geflecht von Straßen auf Anhieb jene winzige Kreuzung, auf der sein verstaubter Graf gerade in aller Einsamkeit parkte.

Über die Schulter schaute ihm der tief hängende Mond in die Karte. Es hätte nicht viel gefehlt, und Klawdi hätte sie mit der Hand vor dem Himmelskörper abgeschirmt.

Der Inquisitor konzentrierte sich. Der Geist der Hexe, der satte Geruch des Todes drang durch die Scheibe und das Metall, doch die strategische Karte vermochte selbst dem stärksten Druck zu widerstehen. Schließlich war sie ebenfalls schrecklich, denn die Namen menschlicher Siedlungen fanden sich in solider Nachbarschaft von gleichgültigen Zeichen, die nicht bloß schlicht den Tod symbolisierten, sondern eine unausweichliche, unverzügliche, vollständige und durch nichts verdiente Zerstörung.

Mit stumpfem Blick auf die Karte schauend, gedachte der Großinquisitor Wyshnas schweigend Seiner Durchlaucht, des verstorbenen Herzogs.

Danach zog er aus der Innentasche seines Jacketts das kleine rechteckige Kästchen mit dem schmalen Display.

Wie sehr konnte er sich geirrt haben? Einen halben Kilometer? Einen ganzen? Fünf?

Würde Wyshna leiden?

Wer hielt sich noch dort auf, im Umkreis jenes Punktes, der mit einem hellgrauen Kreis markiert war, jenes Dorfes, unter dem in akkurater Kursivschrift »Podralzy« stand?

In einer Ecke des Displays blinkte ein Zeichen. Die Zentrale war einsatzbereit. Irgendwo tief unter der Erde, wohin der Blick dieses grausamen Mondes nicht reichte, saß ein übermüdeter Offizier mit Kopfhörern und wartete. Wartete ohne Ende.

Vielleicht wusste er noch nicht einmal, dass sein Oberbefehlshaber tot war? Doch selbst wenn er bereits davon Kenntnis erhalten hatte, spielte das keine Rolle, denn die Kriegsmaschinerie durfte nicht von einem einzigen Menschenleben abhängen.

Die Erde bebte. Oder bildete er sich das nur ein? Nein, jetzt bebte sie noch einmal, und der Geist der Mutterhexe gewann weiter an Kraft. Kurz nahm es Klawdi den Atem. Neben diesem Wesen waren alle Inquisitoren der Welt hilflos — selbst wenn sie sich zusammenschlössen oder es ihm gelänge, sich zum Anführer von allen aufzuschwingen und den Willen seiner Kollegen an den seinen zu koppeln.

Da brach er in ein Gelächter aus. In ein heiseres und tiefes, aber aufrichtiges Gelächter. Fast ohne Bitternis.

Podralzy. Woher nahm er die Gewissheit, dass sie sich in Podralzy befand? Eine überflüssige Frage, sein Geruchssinn hatte immer ausgereicht, einen Schlachthof zu orten. Auf einem anderen Blatt stand allerdings, dass er sich nie darum gerissen hatte, einen Schlachthof aufzusuchen; jetzt blieb ihm allerdings keine andere Wahl …

Podralzy. Der Ort, an dem sie initiiert worden war. Diese Hündinnen, die sie initiiert und in ihre Welt gezerrt hatten, die nun nicht mehr so war wie einst, während sie selbst, glaubte er denn ihren Worten, das Ganze heil überstanden hatte. Also trug die Welt die Schuld an allem! Diese Biester, diese Ungeheuer, warum hatten sie …?

Ohne nachzudenken, schätzte er völlig automatisch die Entfernung zwischen Podralzy und der grauen Kreuzung, auf der sein Graf parkte, ab. Fünf Kilometer. Was hatte der verstorbene Herzog noch gleich gesagt? »Sehen Sie zu, sich möglichst fern der Schusslinie zu halten.«

Im Grunde blieb ihm noch Zeit, mehr noch, er durfte sich Zeit nehmen, eine halbe Stunde vielleicht. Das Auto brachte es gut und gern auf zweihundert Stundenkilometer, die Straße war vorzüglich, da würde er ein gutes Stück von hier wegkommen, um sich in irgendeine Höhle zu verkriechen.

Auf einmal wünschte er sich nichts sehnlicher als zu schlafen.

Er stellte sich vor, wie er, nachdem er in einer Höhle die ferne Explosion und das Erdbeben abgewartet hatte, aus seinem Versteck kröche. Wie er sich die Asche abklopfte …

»Es ist kalt«, flüsterte er.

Die Szene lief erneut ab, in Zeitlupe und Vergrößerung: Eine Wagentür ließ sich erkennen, die geöffnet wurde; knirschende Erdklumpen, vom Wind herangetragen; ein Dämmerhimmel, eine Welt, frei von Hexen, frei von der Mutterhexe …

Wie hatte Atryk Ol das schaffen können? Immerhin hatten ihm keine Atomraketen zur Verfügung gestanden! Wie hatte er es geschafft? Wie nur?!

Klaw, sagte Djunka voller Mitleid. Klaw, du bist krank, etwas mit dem Herzen, glaube ich, Klaw.

Bald werde ich fünfundvierzig, antwortete er finster. Was wunderst du dich da, Djun. Außerdem hatte ich schon früher solche Probleme.

»Womöglich kommt das für Sie einer Beleidigung gleich, aber die Inquisition ist in unserer Welt eben nicht die stärkste Kraft, Klaw.« Das waren die Worte des Herzogs gewesen.

Stimmt, das beleidigte ihn. Er hatte sich immer für den stärksten Inquisitor von allen gehalten. Und so war es ja auch gewesen. Manch einer war ihm in der Kunst des Intrigenschmiedens überlegen, manch einer zeigte größere Talente als Verwalter … Aber an Stärke konnte es niemand mit ihm aufnehmen, das hatten sowohl Foma aus Altyza wie auch Tanas aus Rydna verstanden, ja, sogar der Herzog hatte das verstanden. Klawdi Starsh hatte davon geträumt, an den Ruhm Atryk Ols heranzureichen — doch stattdessen würde er nur auf einen Knopf drücken, ganz wie ein feiger und herzloser Politiker, und den Schlag mit fremden Händen ausführen. Noch dazu einen solchen Schlag! Einen schmutzigen, gemeinen und ehrlosen Schlag!

Und all das nur, weil er seine Chance nicht genutzt hatte. Weil er die rothaarige Frau nicht mit dem Silberdolch erstochen hatte. Weil er sie nicht in dem Verlies eingemauert, sondern ihr erlaubt hatte, ihren Weg zu gehen, weil er ihre Initiation zugelassen hatte. Und alles, was er jetzt tat, stellte lediglich eine Korrektur dieses Fehlers dar …

Fest entschlossen legte er den Daumen auf den Sensor. Eine endlose Sekunde lang geschah nichts, seine Nackenhaare wollten sich bereits sträuben, als endlich das schnöde Wort »Code« im rechteckigen Display aufblinkte.

Der Mond verstand nicht, was hier vor sich ging. Der Mond glotzte nach wie vor finster und böse. Später aber würde der Mond einen Schreck kriegen — danach.

Er gab den Code ein. Nachdem er freigeschaltet worden war, studierte er aufmerksam die Karte und gab die Koordinaten des Dorfes Podralzy ein.

Anschließend warf er einen Blick aufs Zifferblatt und setzte die Zeit fest, wobei er klugerweise bis zur Explosion einen Spielraum von einer Stunde ließ. Sechzig Minuten.

Am Ende starrte er lange und mit leerem Blick auf die rot blinkende Schrift, die ihm mitteilte, sein Befehl werde ausgeführt, sobald er die Identifikation über den Sensor wiederholt und den roten Knopf gedrückt habe.

Diesen roten Knopf drückte er jedoch nicht; stattdessen verstaute er das Kästchen behutsam in der Innentasche seines Jacketts, ließ den Motor an und fuhr leise und sehr langsam weiter — in die Richtung, aus der ihn der Atem der Mutterhexe anwehte. Auf das Dorf Podralzy zu.


Kurz vor Mitternacht erreichte die Prozession ihren feierlichen Höhepunkt. Der Himmel, diese riesige Pauke, dröhnte, jeder dieser triumphalen Trommelschläge federte schwungvoll von dem glänzenden dunkelroten Gewebe zurück. Auf ihrem Weg hatte Ywha eine Niederung entdeckt, ein rundes Tal mit sanften, grasbewachsenen Hängen, einem harten Asphaltboden und einem gigantischen Gebäude in der Mitte. Das Haus hatte ein dunkles Glasdach, in der Nähe brannte ein Feuer aus Autos, die wie Holzscheite aufgeschichtet waren. In dem schrecklichen gelben Feuer tanzten, drehten sich im Kreis, wirbelten wie von einem Strudel erfasst: wilde Pferde, ohne Geschirr.

Der Rhythmus verlangsamte sich, Ywha hielt an.

Ein dumpfes Gewieher. Ungestümes Hufgetrampel, jedoch fern und kaum hörbar. Auffliegende Erdbrocken, der Widerschein eines Feuers. Ywha schloss die Augen. Die Pferde vollführten einen feierlichen Tanz, formierten sich zum Paradezug. Wehende Mähnen, feuchte Rücken, vorquellende Augen …

Ywha trat nach vorn, erlaubte dem Strudel, auch sie fortzutragen. Kaum erfasste er sie, schleuderte er sie auch schon in einer Spirale hoch, riss sie ins Zentrum, ganz in die Mitte, zur Achse der Windhose, die ein Feuerband drehte. Anmutig flatterte es dort oben, ganz auf der Spitze, inmitten der Sterne, und das Feuer amüsierte sich mit einem Haufen Schrott und drei PKWs, die, gerade weil sie es hatten vermeiden wollen, von der Straße abgekommen waren.

Die Pferde drehten sich inzwischen immer langsamer, einige schleppten sich nur noch mit Mühe weiter und ließen den Kopf so hängen, dass ihre hellen Mähnen fast den Boden berührten. Ihr neuer Körper, das spürte Ywha in nahezu schmerzlicher Weise, hatte sich bereits eingefunden.

»Mutter! Wiedergeborene Mutter!«

Ein Meer der Zärtlichkeit. Ein Meer heißer Augen. Ein Meer von Berührungen, mal zarten, kaum wahrnehmbaren, mal schmerzhaft festen, dabei jedoch süßen, heißen und aufrichtigen. Ein Festtag, voll des inneren Sinns.

Ywha erschauderte.

Die Windhose, die sie in den Trichter gezogen hatte, unterwarf sich ihr jetzt, verschmolz mit ihr, saugte sie in sich ein, erhob sich über ihren Kopf. Und Ywha sah, den Kopf im Nacken, durch die hohle Röhre hindurch, die sich drehte, die Sterne.

Sie verströmte Liebe wie ein sommerlicher Fluss des Morgens Dampf verströmt. Wie ein erregter Menschenkörper. Wie der Mond sein Licht. Ganz von selbst, natürlich und einfach, ohne ihr Zutun.

Sie vermochte ihre Gesichter nicht zu unterscheiden. Doch ausnahmslos gehörten sie alle zu ihr, ihre Kinder, die Anteile ihres Wesens, die Zellen ihres neuen Körpers, ihre Finger, Haare und Augen. Staunend nahm sie wahr, wie das Leben in sie einströmte. Dieses Gefühl war so heftig, dass es ihre Kräfte überstieg. Für einen Augenblick gestattete sie es sich daher, in die Hülle jener rothaarigen jungen Frau zurückzugleiten, in deren Augen sich die Scheibe des Mondes spiegelte.

Sie lief an Glastüren vorbei, die splitternd zerfielen, sobald sie sich näherte, spürte auf ihrem Gesicht den Luftzug einer gigantischen Klimaanlage, lachte und zuckte die Achseln.

Die Dunkelheit zerplatzte. Ein Gebäude erstrahlte, leuchtete bis hinauf in die Glaskuppel, bis in den letzten Winkel, das Haus ertrank in fidelem elektrischen Licht, in diesem selbstgewissen Licht des ewigen Tages, das nichts von einem gelben Mond wusste, von Kerzen oder lodernden Fackeln. Rolltreppen erwachten und surrten los, krochen nach oben und nach unten, Flügel von Ventilatoren schossen steil in die Luft, allenthalben leuchteten kleine bläuliche Bildschirme auf; in dem Schirm, der ihr am nächsten stand, erblickte Ywha ihr kleines Ich mit dem reglosen, bleichen Gesicht, den brennenden Augen und einer Feuerkugel aus Haaren, in denen genau in diesem Moment ein Miniaturblitz aufzuckte.

Ywha brach in schallendes Gelächter aus. Die Bilder stapelten sich übereinander. Die rothaarige Frau stellte sich als gänzlich überflüssige Besitzerin dieses menschenleeren Supermarkts heraus. Während ihr wahres Ich, dessen Körper gerade in einem von wahnsinnigen Pferden umrahmten Strudel mitten in der Steppe entstand, sich als ganz und gar überflüssige Herrin dieser großen Welt entpuppte.

Die allerdings, wie sie nun wusste, gar nicht sonderlich groß war.

Sie schritt zwischen den Regalen und Ständern aus, zwischen dem bunten Einerlei aus Konsumgütern und Lautsprechern, Schaufensterpuppen, Leder, Chrom und Nickel, Porzellan, Spiegeln, knalligen Schachteln und Pflanzen. Auf dem Doppelbett, das nach Leinen und Lack roch, lagen aufgeschlagen — die Seiten gierig ineinander verschlungen — schamlose Pornozeitschriften sowie ein hervorragend editierter Anatomieatlas. Am Boden eines aufblasbaren Planschbeckens war, die Köpfe liegend aneinandergeschmiegt, ein Paar dunkelroter Schwertfische zu sehen; Ywha ging weiter, und zusammen mit ihr bewegte sich das Zentrum des kolossalen Strudels, der Windhose, die am äußeren Trichterrand Pferde kreisen ließ. Über ihr ragte eine dunkle Säule auf, die die Zungen ihrer Feuerlocken nach oben zog. Ab und zu schnappte sich die Windhose, was sie gerade zu fassen bekam, riss etwas aus den glitzernden Regalen, wirbelte das Spielzeug in einer Spirale nach oben, drückte die Glaskuppel ein, brach von den panisch dahinrasenden Rolltreppen kleine gläserne Splitter und vom Mond Lichtreflexe ab. Diejenigen, die ihre Kinder waren, fügten sich ebenfalls der Windhose, es zog sie zwangsläufig zu ihr, saugte sie an, drängte sie zum Zentrum, zu der schwarzen Säule des Strudels, dessen Teil sie, Ywha, jetzt war. Ihre Kinder bewegten sich gleich den Pferden am Trichterrand, im Kreis, in einer Spirale, und verzaubert näherten sie sich sekündlich weiter dem innersten Sinn, dem Wertvollsten auf dieser Welt, dem Einzigen, das Wert besaß, ihrer Mutter …

Die Windhose spielte mit einer Unzahl kleiner Spiegel. Die Windhose ließ Lichtreflexe auf den Supermarkt regnen, indem sie Puderdosen aufklappte, die sich widerstandslos öffneten, ganz so, wie Muscheln unter dem Druck eines Messers ihre Perle entblößen. Und es rieselten Klümpchen weißen Puders herab, die als feiner Staub durch die Luft trieben. Und es funkelten die Spiegel …

Das Grundmotiv, schoss es Ywha durch den Kopf, während sie sich daran ergötzte, wie all diese nutzlosen, aber außerordentlich hübschen Dinge durch die Luft flogen. Das Grundmotiv, das, was zum Einzigen wird …

Das Wort beschwor eine Art Erinnerung herauf. Das Licht einer Fackel und die Hände eines Menschen, eines Mannes, mit einem feinen Geflecht von Adern und einem verknäulten Netz von Schicksalen in den feingliedrigen Händen …

Die Windhose verdichtete sich und presste die Erinnerungen aus ihrem Kopf — presste sie heraus und warf sie zu einem der schwarzen, strahlenden Löcher in der Glaskuppel hinaus.

Sie bestieg ein rundes Podium, auf dem einsam ein gigantischer Stuhl mit einer hohen geschnitzten Lehne thronte. Gemessen und majestätisch schritt sie aus, gleichsam als fürchte sie, die Krone fallen zu lassen — bei der es sich um die schwarze rotierende Säule handelte.

»Wiedergeborene Mutter!«

Sie riss die Arme hoch.

Das Licht verlosch. Der Mond blickte durch die zerbrochene Glaskuppel, und in der Ferne, vielleicht am anderen Ende der Welt, schlug eine Glocke.

»Wiedergeborene Mutter!«

»Zu mir, meine Kinder, kommt zu mir.«

In Wahrheit sprach sie kein Wort. Die Windhose über ihr blähte sich, verwandelte sich von einer Säule erst in einen Kegel, dann in eine Kugel. Von der unbändigen Rotation erfasst, flog alles in die Luft, was seit Jahren an die eigene feste Verwurzelung glaubte.

Alle Gegenstände, die sich bisher für wertvoll gehalten hatten, all die Objekte aus Metall und Stoff, Glas und Plastik, all die Leitungen und Schnüre verflochten sich nun, verführt von einem höhnischen Reigen. Inmitten dieser Bruchstücke schwebten lachend und Purzelbäume schlagend ihre Kinder, und es kam ihr vor, als rühre sie eigenhändig diese Brühe um. Die Windhose gewann an Größe, wuchs immer schneller an, riss den Putz von den Wänden, bohrte sich in Ziegel, katapultierte Fragmente des Mauerwerks in die Höhe und zerdrückte schließlich den Rest der Glaskuppel, um das Gemenge dem Mond ins Gesicht zu blasen, woraufhin sich dieser für einen Augenblick verfinsterte, indem er sich mit einer schwarzen Schicht aus Rauch und Asche überzog.

Von dem Stuhl, gegen dessen eine Armlehne sich die reglos stehende Ywha schmiegte, war dagegen nicht einmal das welke rosafarbene Blütenblatt geglitten, das seit Unzeiten auf seinem Sitz lag. Kein Staubkorn hatte der Stuhl eingebüßt, Ywhas Kleidung hatte nicht geflattert. Ihre Nase nahm den frischen Geruch der Nacht auf. Durch die nackten Rippen des Mauerwerks erblickte sie die Pferde, die der Strudel packte, über die Erde trug und wieder freigab. Und als sie aufkamen, wieder Boden unter den Füßen spürten, setzten sie völlig automatisch die Bewegung fort, als fürchteten sie, andernfalls den Rhythmus zu verlieren.

Über ihr flogen jetzt keine Relikte der alten Welt mehr. Ihre lachenden Kinder mit den in der Windhose flatternden Haaren und Gewändern streckten ihr die Arme entgegen und kamen mit jeder Sekunde näher, über einen langen süßen Weg, im Kreis und in einer Spirale.

Irgendwann setzte sie sich, warf den Kopf in den Nacken, richtete sich gerade auf, ohne mit dem durchgedrückten Rücken die geschnitzte Lehne zu berühren. Sie schloss die Augen und stellte sich in aller Klarheit das Schicksal vor, das der Welt bevorstand.

Die schönste aller Welten. Das Königreich der ewigen Bewegung, der Kegel eines kolossalen Wirbels, die Herrschaft der Windhose …

Und der Sterne.

Sie lachte glücklich, und ihr Gelächter wurde von Hunderten von Stimmen aufgegriffen.


Der Druck derjenigen, die vor ihm einherging, nahm ihm den Atem und lähmte seine Kräfte. Bis zur Explosion blieben noch vierzig Minuten, der Befehl an die Zentrale harrte noch immer der Bestätigung, das schmale Display des dunklen Kästchens blinkte nach wie vor fordernd rot auf. Der Graf schaukelte langsam die Straße hinunter, im gemütlichen Tempo eines Fahrradfahrers. Der Großinquisitor Wyshnas biss die Zähne zusammen und ging seine bis dato nicht verbrauchten Kräfte nach und nach durch.

Das ist nicht dein Ernst, oder, Klaw?, fragte Djunka erschrocken. Du bist zu schwach, nicht eine Minute wirst du standhalten!

Ich werde nicht standhalten, stimmte er ihr finster zu.

Das ist doch nicht dein Ernst, Klaw! Atryk Ol ist schließlich nicht berühmt, weil er verbrannt wurde, sondern weil er die Mutterhexe aufgehalten hat. Und um sie aufzuhalten, musst du keineswegs einen erniedrigenden und schrecklichen Tod sterben.

Ja, sagte er sich selbst, während er mit aller Kraft die Hand aufs Steuer schlug. Ja, ja, ja!

Der Graf heulte mit widerwärtiger, fisteliger Stimme auf. Wieder und wieder. Das Hupen breitete sich im gesamten Kreis aus, und wenn hier noch ein lebender Mensch war, dann zuckte er jetzt vermutlich zusammen, felsenfest davon überzeugt, das Ende der Welt sei gekommen.

Was ist mit dir, Klaw?, fragte Djunka traurig.

Tut mir leid, Djunka, ich weiß es nicht.

Weshalb tust du das, Klaw?

Weshalb habe ich Tag und Nacht am Grab gesessen, das Gesicht in den welkenden Kränzen vergraben? Weshalb habe ich all das …

Klaw, willst du wirklich … Du, der du nie an Selbstmord gedacht hast, du, dessen stärkster Wille stets der Lebenswille war, du willst einen sinnlosen Tod sterben, Klaw? Du weißt doch genau, dass du beim letzten Akt dieser Tragödie nicht dabei sein musst!

Ich kann dir das nicht erklären, Djun. Jemand verlangt von mir, dass ich dabei bin.

Und das sagst du, der foltern kann?

Das Auto, das über den Beton kroch, bog plötzlich ab.

Es gibt viel, was ich kann, Djun.

Das rote Licht des Notrufs loderte am Armaturenbrett auf.

Klawdi erschauderte. Er bildete sich das nicht ein. Das Licht blinkte und blinkte, bat um seine Antwort, forderte sie …

»Nieder mit dem Abschaum«, sagte er hohnlachend ins Telefon. »Was gibt es?«

Ein kurzes Schweigen.

»Klawdi …«

Er erkannte die Stimme nicht. Zu viele Störungen gab es, zu entstellt klang sie, zu fern und unwahrscheinlich.

»Klawuschka, ich bin’s, Fedora … Wir wissen … der Herzog … hat dir … Klawuschka, gib den Befehl. Schnell. Beeil dich.«

»Wo bist du?«

»In Altyza. Die Hexendichte pro Kopf der Bevölkerung nimmt rasant ab, sie ballen sich zusammen, in der Nähe von Wyshna, die kritische Masse …«

»Sind die Kinder bei dir?«

»Ja. Wo bist du, Klaw? Gib den Befehl, aber lass genügend Zeit, damit dich der Hubschrauber abholen kann. Sag mir nur, wo du bist …«

Ein Hubschrauber.

Er senkte kurz die Lider. Es war ihm nie gelungen, das Gefühl genau zu bestimmen, das diese Frau ihm entgegenbrachte. Ob es das war, was alle Welt Liebe nannte?

»Die Koordinaten, Klaw! Gib mir die Koordinaten durch!«

Er schielte auf die Karte. Genau ließ es sich nicht bestimmen, doch das Dorf Podralzy schien nicht weit entfernt zu sein.

»Beeil dich, Klaw! Sonst ist es zu spät!«

»Schweig!«

Warum war ihm, einem erwachsenen, ernsten Mann, nur eine derart lebhafte Phantasie gegeben? Jetzt sah er den Hubschrauber vor sich, der hinter einem Hügel aufstieg, sah die Flügel, die sich in der Luft drehten, sah die Leiter, die heruntergelassen wurde, spürte den Windzug …

In der Ferne zog Wind auf. Immer stärker und stärker. Er fiel über den Graf her, als wolle er ihn von der Straße drängen. Nach einer Weile gab er ihn wieder frei und legte sich.

»Ich kann deinen Vorschlag nicht annehmen, Fedora. Trotzdem vielen Dank.«

»Klawdi! Wo bist du, Klawdi? Klaw!«

Er öffnete das Handschuhfach und zog das Kabel aus dem Anschluss. Das rote Lämpchen erlosch, die Leitung war tot. Klawdi warf den Apparat auf den Beifahrersitz.

Eine spitzbübische junge Frau, eine Hexe auf dem Besen, schaute ihn von der Postkarte an, die an der Seite der Windschutzscheibe steckte. In ihrem Blick lag ein belustigtes Mitgefühl. Bis zur Explosion blieben noch zwanzig Minuten, als ein jäh aufkommender Wind das Auto quer über die Straße schleuderte und mit einem Schlag sämtliche Seitenfenster eindrückte.

Klawdi schaffte es gerade noch, sich zu ducken. Er krümmte sich am Boden des Wagens zusammen, wobei er mit seinem Körper das Kästchen schützte. Der Druck der Mutterhexe nahm zu, trat immer deutlicher zutage. Die Sterne über ihm verloschen, alles verlosch, selbst der ferne Widerschein des Feuers. Das Auto stellte sich wie ein Zirkuspudel auf die Hinterräder, ragte auf, um dann auf alle viere zu krachen, dabei rieselten Glassplitter. Die spitzbübische Frau von der Karte verschwand, hörte auf zu existieren.

Der Wind legte sich.

Gewittergeruch schwängerte die Nacht. Frisch und intensiv, sogar angenehm — wäre da nicht der Geist der Mutterhexe gewesen, der mit jedem Augenblick erstarkte und alles mit seiner triumphierenden Anwesenheit vergiftete. Zwei Schritte vom Auto entfernt lag, die Gebüsche am Straßenrand erbarmungslos platt walzend, ein riesiger Konzertflügel.

Vorsichtig trat Klawdi auf die Kupplung.

Im Auto steckte noch Leben. Folgsam setzte es sich in Bewegung, umrundete die quadratischen Gehäuse der Fernseher mit den zersprungenen Bildröhren, die hölzernen Vitrinen mit den eingeschlagenen Scheiben und allerlei weiteres, phantastisches Zeug. Die Reifen verloren Luft, das Auto verwandelte sich in ein bockiges Tier, das den Wunsch seines Herrn jedoch uneingeschränkt teilte und sich weiter und weiter vorpirschte.

Bis zur Explosion blieben noch sieben Minuten. Der Befehl musste unverzüglich bestätigt werden. Klawdi wusste nur zu gut, dass die Raketen drei Minuten brauchten, um ihr Ziel anzufliegen.

Noch sieben Minuten Leben. Eine unendlich lange Zeit. Er würde es noch schaffen, eine Zigarette zu rauchen. Er würde es noch schaffen, im Gras zu sitzen, die Sterne anzuschauen und sich an Ywha zu erinnern — so, wie sie war, als sie nackt am Ufer des Sees stand, überzogen von einer Gänsehaut, schmal, fast durchscheinend, eine Frau, die man sich anzufassen fürchtete, die man nur anschauen konnte — indem man sich die Hände vor die Augen hielt und durch die nicht ganz zusammengepressten Finger sah.

Du wirst sie umbringen, sagte Djunka traurig. Mich hast du ja auch umgebracht, nicht wahr?

»Hör auf!«, schrie er laut, wobei er vergaß, dass er mit sich selbst sprach. »Was redest du da! Niemals hätte ich …«

Er würde nie erfahren, ob es seine Djunka war, die er in jener schrecklichen Nacht getötet hatte, oder nur ein Monster, ein Gespenst, das ihre Züge angenommen hatte.

Oder er würde es erfahren. In sieben … nein, in sechs Minuten. Und die Rakete brauchte Zeit, um ihr Ziel zu erreichen.

»Du bist viel früher gestorben«, sagte er Djunka, wobei sich seine Lippen kaum bewegten. »Du bist an jenem Tag gestorben, als wir beide baden waren. Im Schilf …«

Auch Ywha ist schon längst gestorben, versicherte ihm Djunka gern. Nämlich als sie initiiert wurde.

»Ich habe sie nach der Initiation gesehen«, sagte Klawdi, der unverwandt vor sich hin starrte. »Da war sie noch wie zuvor. Sie war eine Hexe, aber sie war auch noch Ywha.«

Als ihr im Keller miteinander geredet habt, war ihre Initiation noch nicht abgeschlossen, präzisierte Djunka unbarmherzig. Du erinnerst dich doch noch, was sie am Ende dieses Gesprächs getan hat?

»Aber umgebracht hat sie mich nicht!«

Ja, und?, wunderte sich Djunka.

»Als Mutterhexe wäre sie verpflichtet gewesen, mich umzubringen!«

Das habe ich nicht gewusst, meinte Djunka verlegen, und Klawdi konnte förmlich sehen, wie sie mit den eisverklebten Augen klapperte. Das habe ich nicht gewusst. Meinst du, sie hatte Mitleid mit dir? Oder hat sie dich einfach bloß beiseite gefegt, wie langweiligen, harmlosen Müll?

»Mir bleiben in meinem Leben noch vier Minuten«, sagte er tonlos. »Und du sagst mir … so etwas.«

Ihr bleiben in ihrem Leben ebenfalls nur noch vier Minuten, sagte Djunka bitter. Willst du ihr nicht verzeihen? Bevor ihr beide sterbt?

Klawdi holte das Kästchen aus der Innentasche, das blinkend eine Bestätigung des Befehls verlangte. Er verzog das Gesicht, als leide er Schmerzen. Insgeheim hoffte er, wie er sich nun selbst eingestand, die Verbindung zur Zentrale und zu den Raketen zu verlieren. Sollte der rote Knopf versagen, so hätte er vermutlich Erleichterung empfunden und den nutzlosen Kasten einfach zum Fenster hinausgeworfen. Dann hätte er nichts mehr entscheiden müssen.

Vielleicht solltest du es noch hinauszögern, schlug Djunka sachlich vor. Gib ihr und damit auch dir noch eine halbe Stunde. Wenn du bis zum Zeitpunkt X den Befehl nicht bestätigst, wird er automatisch gelöscht. Gib einfach noch mal alles neu ein.

»Wozu soll das gut sein?«

Damit ihr euch noch treffen könnt.

»Wozu?!«

Deshalb bist du ja wohl hergekommen, bemerkte sie. Wenn es dir nur darum ginge, dich umzubringen, gäbe es doch auch noch andere Möglichkeiten.

Klawdi sagte kein Wort. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, Tränen traten ihm in die Augen.

Andernfalls zögere es nicht hinaus, riet Djunka leise. Es ist so schmerzlich, auf den Tod zu warten. Bestätige den Befehl, schließlich warst du bereits als junger Mann tapfer. Bestätige den Befehl!

Mit zitternden Fingern angelte er sich eine Zigarette aus der Schachtel. Beim dritten Versuch bekam er sie endlich an. Der Wind trug den Tabakqualm davon, und der Mond, der schon nicht mehr gelb prangte, sondern elektrisch weiß glühte, goss sein Licht auf die Straße, auf das Tal, in den riesigen Trichter vor ihm, die im Kreis rasenden Pferde, die Trümmer eines gigantischen Supermarkts, den Berg ausgebrannter Autos.

Wie sie gewesen war: Mitleid erregend, durchgeweicht, auf den Treppenstufen hockend, wo sie die Nacht vor verschlossener Tür zugebracht hatte.

Wie sie gewesen war: lachend, bis zur Taille im Wasser stehend, in ihrem Gekicher vergessend, dass ihre nackte Brust aus dem Wasser herausragte und glasklare Tropfen ruhig darüber rannen.

Wie sie gewesen war: auf dem Steinfußboden im Verlies, gefesselt mit Holzblöcken, rote Locken vorm Gesicht, mit Tränenspuren, mit Tropfen, die vom Kinn fielen.

»Ich habe gedacht … ich würde Sie nie Wiedersehen.«

Er hatte nie daran gedacht, ihr das Du anzubieten.

Du wolltest leben, aber du hast den Tod nie gefürchtet, sagte Djunka leise.

»Ich fürchte ihn auch jetzt nicht«, antwortete er tonlos. »Ich habe noch nicht einmal … darüber nachgedacht.«

Dennoch wirst du sterben. Sie haben dich bereits gewittert, erklärte Djunka, und in ihrer Stimme klang Panik an.

»Ich habe keine Angst. Ich muss nachdenken.«

Du hast Angst, sie umzubringen! Aber mich hast du …

»Schweig!«

Sie hatten ihn tatsächlich gewittert. Er spürte, wie aus dem Trichter, von dort, wo sich die Säule der monströsen Windhose erhob, gleichzeitig Hunderte von Händen nach ihm griffen.

Was hatte Atryk Ol gefühlt?

Die Zeit! Bestätige den Zeitpunkt, schrie Djunka. Töte sie, sonst töten sie diese Welt, für die du verantwortlich bist, du bist ihr Hüter, du bist Klawdi Starsh, auf deinen Schultern ruht jetzt die Verantwortung für die Menschheit, schlag zu!

»Es ist eine arme Menschheit, Djunka. Sie hat sich einen unwürdigen Hüter gewählt.«

Ich weiß, warum du zögerst, brauste Djunka auf. Aber du hast bereits mich ermordet! Du hast doch Erfahrung, bring nun auch sie um!

»Ich will das nicht mehr! Glaubst du, das ist mein Handwerk, diejenigen, die ich liebe, umzubringen? Oder ein Sport? Wo du mit jedem Training gewiefter wirst? Ich will das nicht, es reicht mir, ich will, dass sie lebt

Du bringst sie nicht zurück, schrie Djunka voller Schmerz.

»Das … wollen wir doch mal sehen.«

Ein letztes Mal spähte er auf das schmale Display, das rot blinkte und eine Bestätigung des Befehls verlangte. Dann holte er kräftig aus und schleuderte das Kästchen durch die glaslose Windschutzscheibe — den Hexen ins Gesicht, die sich in Kreisen über dem sanften Hang erhoben.


Ihr neuer Körper gewann mit jedem Augenblick an Kraft und Gestalt. Weiter oben schienen die Arme der Windhose eine Handvoll Sterne zu packen, zumindest schwebten in dem schmalen Kegel des Trichters jetzt weiße und gelbe Funken, wie bei einem Jahrmarktskarussell. Sie rieselten den Pferden, diesen Karussellpferden, in die Mähne und glänzten mit den strahlenden Augen ihrer Kinder um die Wette.

Dann störte etwas den Rhythmus. Zwar nur geringfügig. Nur für einen Augenblick — als nämlich der Strudel lachend nach dem grünen Auto griff, das am Rand des Trichters erstarrt war. Er trug es in einem Kreis nach oben, in einer Spirale, erlaubte sich seinen Spaß mit dem Fahrzeug, während er überlegte, an welcher Stelle er das rauchige, benzingetränkte Feuer entzünden sollte.

Dann traf er seine Entscheidung.

Das Feuer, nach der Explosion rund wie eine Seerose, züngelte rasch und unter Einbüßung der ursprünglichen, der klaren Form hoch. Eine Zeitlang ergötzte sie sich am Tanz der Flammen, der mit dem Gesamtrhythmus wunderbar harmonierte. Vielleicht hörte sie auch deshalb nicht gleich den verängstigten Aufschrei ihrer Töchter.

Neben dem brennenden Auto lag ein Mann auf der Erde, der über Macht gebot. Seine Macht erinnerte an einen weißen Blitz, seine Macht roch scharf nach verbranntem Fleisch, irritierte und provozierte. Sie sah, wie ihre Kinder, die in den Kreis seiner Macht gerieten, vergeblich versuchten, ihm Widerstand zu leisten.

Sie schloss die Augen. Ein Gefühl, als bohre sich eine stumpfe Nadel in eine geballte Faust. Ein Gefühl, das stärker und stärker wurde.

Sie lachte schallend. Der weiße Kreis der Macht, die der aufdringliche Neuankömmling ausgoss, loderte heller auf — und erstarb fast im Anschluss. Sie hatte einfach die Nadel herausgezogen. Hatte die fremde Macht abgeschüttelt. Ohne Schwierigkeiten. Ihre Kinder, ihre Finger, ihre gehorsamen Muskeln spannten sich kaum merklich an, und ihre Kraft zeigte sich in kleinen, dunkelroten Blitzen, ihre Kraft zerfetzte den weißen Kreis, ebenso wie den weißen Panzer, mit dem sich der Mann zu schützen versuchte, ja, ihn selbst hätte die Kraft beinahe auch in Stücke gerissen, war sie doch willens, alles zu zerhacken und zu zerlegen, alles zu einem Baustein des Chaos zu machen, alles als Staubkorn in die spiralförmige Rotation einzuspeisen.

Doch noch immer leistete dieser Mann Widerstand. Er schlug mit einer schmerzlichen weißen Explosion auf ihre Finger ein — und verschwand. Um erneut zuzuschlagen.

Sie wurde böse. Ihre Finger schlossen sich zusammen, als wollten sie seinen Willen zerstoßen wie einen Knochen unter einem Mahlstein. Sein Schmerz funkelte grün, bildete eine leuchtende Wolke. Wieder entspannte sie die Finger und warf den leblosen Körper fort, damit ihre Kinder, ihre Finger, nach Belieben mit ihm verfahren und Vergeltung üben konnten.

Daraufhin kehrte sie in ihr kleines Selbst zurück. Sie öffnete die Augen.

Ihre Kinder freuten sich, und ihre Freude band eine weiche, kühle Schleife um Ywha.

Eine Prozession. Eine feierliche Prozession im Kreis, in einer Spirale. Ihre Kinder trugen seinen Körper auf ausgestreckten Armen, seinen gehorsamen, leblosen, schweren und steifen Körper. Sie folgten ihm, ein endloser Zug, eine lange Eskorte, eine so lange Eskorte, dass diejenigen, die den Körper trugen, den Klagefrauen am Ende des Prozessionszuges beinahe in die Hacken traten. Die Klagefrauen lachten lauthals, und der Strudel blähte ihre Kleidung auf zu einer Spirale …

Sie trugen ihn auf ausgestreckten Armen. Sein Kinn ragte gen Himmel, er sah nach vorn, und sein seltsam verdrehtes Gesicht verkam zu einem lächerlichen Portrait.

»Ywha …«

Nein, seine Lippen hatten sich nicht bewegt. Seine Lippen blieben krampfhaft aufeinandergepresst. Dennoch hatte sie es deutlich gehört, klar, eindeutig und ohne Zweifel.

»Ywha.«

Die Prozession endete dort, wo sie auch begonnen hatte — an dem brennenden Auto. Genauer: an dem ausgebrannten. Der Wirbel hatte sein Bestes getan, die Flamme hatte alles verschlungen, was brennen konnte, und nur ein schwarzes Gerippe zurückgelassen, ein verkohltes Skelett.

Ihre Kinder frohlockten. Lange genug hatten sie nach einem Sinn gesucht. Es war ihr gutes Recht, die Verkörperung all ihrer Leiden abzuurteilen. Sie richteten dabei nicht über den Menschen, der sowohl seine Macht als auch seine Kraft verloren hatte, sondern bestraften das Monster, das sie über Jahrhunderte hinweg gefressen hatte; es war ihr gutes Recht, die Inquisition zu verurteilen.

Bedächtig zogen ihre Finger das Drahtseil um seine Handgelenke zusammen. Ihre Kinder lachten, während sie den Großinquisitor an sein verbranntes Auto fesselten. Sollten sie einander ruhig ähnlich werden, der Maschinenmensch und das Maschinenauto.

»Reisig! Bringt Reisig!«

Es waren viele, Hunderte von Händen. Wenn jede ein Hölzchen warf, würde sich ein riesiges Feuer erheben.

Sie saß auf ihrem Stuhl, mit durchgedrücktem Rücken. Über ihr drehte sich der Wirbel, die schwarze Achse eines Hurrikans.


Faules Wasser, das vor vierhundert Jahren die Stadt Wyshna überschwemmt hatte. Einige Tausend Tote. Eine Epidemie, vergiftete Brunnen, menschliche Körper, eingenäht in Kuhmägen.

Ein fünfjähriger Junge, der im Hochsommer in einen verrosteten Nagel getreten war. Ein Teenager, der sich bei einem Fußballturnier in der Schule das Bein gebrochen hatte. Die Spitze eines mit einem Zauber belegten Messers, das dem jungen Inquisitor aus der Provinz tief in die Seite eindrang. Der ganze Schmerz, den er in seinem Leben gespürt hatte, verkam zur Klöppelarbeit, zum Flor, zum Schatten … angesichts des Schmerzes, den er jetzt empfand. Nicht einmal das Bewusstsein verlor er, nein, alle seine Gedanken waren klar, alle Bilder deutlich und dreidimensional, konturiert, damit sie besser zu erkennen waren.

»Infolge eines direkten Kontakts mit der vermeintlichen Mutterhexe, der wohl zu deren Tod führte, war der Inquisitor Atryk Ol völlig entkräftet und teilweise erblindet, worauf die in der Stadt versammelten unzähligen Hexen schrankenlose Macht über ihn erlangten. Der Stich eines unbekannten Künstlers, offenbar ein Augenzeuge der Ereignisse, hält den Moment von Atryk Ols Tod fest. Die Hexen hatten ihn geteert, in Stroh gewälzt und angezündet.«

Wie genau das Gedächtnis funktioniert. Er erinnerte sich an alles, bis zu dem Haar, das an ihrer Schläfe klebte, bis zum Geruch des Bücherstaubs, bis zu der bunten Feder eines unbekannten Vogels, wie auch immer diese zwischen die Seiten geraten sein mochte.

»Infolge eines direkten Kontakts …« Was sollte das heißen? Direkt? Er konnte sich ja nicht einmal nach ihr ausstrecken! »Der Inquisitor Klawdi Starsh büßte seine Kräfte ein … aber das Sehvermögen verlor er keinesfalls …« Denn sehen sollte er, welches Schicksal die Hexen für ihn bereithielten. Nicht schlicht über die Erde sollte er geschleift werden, sondern, mit einem Drahtseil an sein Auto gefesselt, den Berg von Reisig erblicken, der zu Füßen der Mauerreste wuchs, zu Füßen der Betonkonstruktion … Schon ließen sie das Seil von oben herab, knoteten es an das Wagendach. Viel zu stark waren sie, wie sie da feierten und triumphierten, wie sie da auftrumpften. Was für ein Fest, was für ein Tanz, was für ein Reigen — der den Tod des Inquisitors im Feuer bedeutete. »Der Stich eines unbekannten Künstlers hält den Moment von Klawdi Starshs Tod fest, den die Hexen an die Reste seines Autos schnürten, das sie an einer Betonmauer hochzogen, um darunter ein Feuer zu entfachen und ihn zu grillen — wie ein Ferkel.«

An alles würde er sich erinnern. Alles würde er spüren. Nichts würde er vergessen — bis zur letzten Sekunde nicht.

»Aber sie haben sich geirrt, Ywha. Nach der Initiation … also, um es kurz zu machen, eine aktive Hexe hat überhaupt nicht mehr das Bedürfnis, jemanden zu lieben. Die Liebe macht sie, hm, zu abhängig. Nein, das trifft es auch nicht. Die Liebe ist ein Gefühl, das einen Menschen abhängig macht. Und Hexen ertragen genau dies nicht, das darfst du nie vergessen.«

Das Drahtseil zerschnitt ihm allmählich die Handgelenke.

Läutete da eine Glocke? Oder bildete er sich das nur ein? Ein ferner, melodischer und irgendwie mitleidiger Glockenschlag. Dann noch einer, stärker, schneidender, verzweifelter, eine Art Schrei. Was kann ich schon tun?, schrie die Glocke. Wie soll ich dir helfen, Klaw?

Tief in seiner Seele jammerte und weinte die längst verstorbene Djunka vor Angst. Schon wieder hatte er sie verraten, denn mit ihm würde auch die Erinnerung an sie sterben.

Scheußlich! Warum war er immer noch bei Bewusstsein?!

Aber das hast du doch selbst so gewollt, Klaw, flüsterte die Stimme der sterbenden Djunka in seinen Ohren. Deshalb bist du doch hergekommen. Es wäre doch dumm … bewusstlos zu sterben, alles vergessend … ohne Erinnerung …

Ich habe mich geirrt, Djunka, wollte er widersprechen. Ich habe mir selbst etwas vorgemacht!

Willst du etwa immer noch, dass sie lebt?, fragte Djunka kaum hörbar. Willst du das wirklich immer noch, Klaw?

Gequält holte er Luft, entspannte sich und versuchte, die verkrampften Muskeln in eine weniger schmerzhafte Position zu bringen.

Ein Hexensabbat! Sollte irgendjemand auf dieser Welt in dieser Nacht Kinder zeugen, kämen diese ausnahmslos als Hexen zur Welt. Und alle würden zum Teil dieses Trichters, dieser Windhose werden.

Die Hexen standen um ihn herum, unter ihm, denn er hing über ihren Köpfen. Sie hatten einen Kreis gebildet. Als ob sie sich, bevor sie das Reisig entzündeten, noch einmal an dem Anblick von ihrer Hände Arbeit weiden wollten. Hunderte von Hexen, brennende Augen, ein ganzes Feld funkelnder Kohlen. Die Stille, die absolute Stille vor einem Euphorieausbruch, vor dem Tanz, vor dem Höhepunkt des Hexensabbats.

Es gab noch einen Menschen, der über der Menge stand. Eine reglose weibliche Figur, die auf einem hohen Stuhl saß. Und es gab den Mond, der die Feuerkugel elektrisch aufgeladener Haare wie gemeißelt hervortreten ließ, ebenso wie die gekrümmten, an einen gespannten Bogen erinnernden Lippen und die leuchtenden Scheiben der Augen, die kein einziges Mal blinzelten.

»Ja, Djunotschka«, sagte er laut. »Ja. So habe ich es gewollt.«

In diesem Augenblick züngelte das Feuer hoch.


Ein dunkler, rot funkelnder Kern, das Zentrum, umhüllt von einer schweren Robe. Der Flug, dieser wahnsinnige Reigen, all die kleinen Strudel ihrer Töchter, die sich in der schwarzen Leere ausbreiteten, der Flug und der Fall, die vom Strudel erfassten Späne — all das würde jetzt, genau in diesem Augenblick, mit der Mutter verschmelzen.

Sie hob den Kopf.

Der Himmelskreis drehte sich schneller und schneller. Er versuchte, den schwarzen Wirbel einzuholen, verschmierte dabei aber nur die klaren Lichter der Sterne, die ihrerseits eine weiße Spur hinterließen, als wollten sie einander über den Himmel jagen und beim Schwanz packen, diese Tausenden von grellen kleinen Kometen.

Der Strudel wurde tiefer. Immer tiefer und tiefer. Der Rand, markiert von den flatternden Mähnen der inzwischen toten Pferde, wölbte sich nach oben und rollte sich ein, als wolle er den unverschämt tief stehenden Mond in einen Sack stopfen.

Sie lachte, erschreckte mit ihrem Gelächter den Rand des Strudels, der erschlaffte und sich nach unten kräuselte, während sie auf dem Gipfel eines Berges saß, eines kegelförmigen Vulkans, und tief unten am Horizont die Konturen verlassener und zerstörter Städte erkannte.

Sie riss die Hände hoch. Der Strudel bildete sich neu, gewann die alte Größe zurück, und auf den Resten der Betonmauer, die unsagbar alt wirkten, erblickte sie einen Mann, der an sein eigenes Auto gekreuzigt war.

Hunderte von kleinen Lichtern. Neue Sterne gesellten sich zu dem monsterhaften Karussell.

»Brenne! Brenne! Brenne!«

Ihr Thron bebte.

Nein, ihr Thron blieb unerschütterlich. Ihr Thron stellte das einzige unbewegliche Etwas in dieser sich wahnsinnig drehenden Welt dar, in diesem Strudel von Himmel und Sternen, Erde, Wasser und Feuer. Seit vielen Jahrhunderten schon saß sie auf diesem Stuhl.

Denn das war sie, eine alte Statue. Eine Sphinx, an der die Zeit genagt hatte. Sie rührte sich nicht, sie war ein Turm, der seit dem Anbeginn der Zeiten stand und in dessen Innerem sich Treppen hinaufschlängelten und Gänge kreuzten, sie war das monströse Gebäude einer unbekannten Zivilisation. Sie, die mit den Händen nach den Sternen greifen konnte, sie, die zum hundertsten Mal lebte, sie …

»Segne deine Flamme, Mutter!«

Ihr Blick hob sich, Segen zu spenden.

Der Mann, gekreuzigt an Beton und Stahl, hob ebenfalls den Blick — um den Segen des eigenen Todes zu empfangen.

Mit ihm starb all das, was er verkörpert hatte, jene Welt aus stramm verschnürten Fäden. Eine Welt der Unfreiheit, denn jede Zuneigung …

»Segne deine Flamme, Mutter!«

Woher kam nur dieser fremde Rhythmus? Woher kam dieser ungeschickte, irritierende Rhythmus, der den ewigen Tanz störte?

Sie erzitterte.

Dort! Aus den schiefen Ruinen einstiger Macht und Kraft streckte sich ihr eine Hand entgegen.

Obwohl seine Hände gefesselt waren, durch das Drahtseil gekrümmt, hilflos und reglos. Und dennoch sah sie es genau — wenn auch nicht mit den Augen.

Eine zugleich fordernde und schlaffe Hand, eine fest gespannte Hand, bei der jeder Muskel die Berührung zustande bringen wollte.

Der Strudel kippte zur Seite.

Für einen Augenblick bloß. So neigt sich ein Glas, aus dem ein roter Tropfen Wein schwappt, ein einziger Tropfen nur — der das weiße Kleid der Braut dennoch völlig verdirbt, denn eine Rose, am falschen Fleck erblüht, stört, bringt das Gleichgewicht ins Schwanken. Der Wein im Glas, er strudelt, brodelt, er sucht sich die Freiheit …

Die fremde Hand streckte sich ihr weiter entgegen, nun fast gebieterisch. Der fremde Rhythmus durchwob den Rhythmus des triumphierenden Tanzes, bohrte sich durch ihn hindurch, wie Gras durch Asphalt wächst, wie ein fahles grünes Blättchen, das eine Granitplatte spaltet. Warum jagte ihr dieser im Grunde harmlose Riss eine solche Angst ein?!

Die verschreckten Augen ihrer Kinder. Sie musste sie beruhigen. Sie würde ihnen eine Freude bereiten, ihnen eine weitere Runde in ihrem Reigen erlauben.

Und abermals wirbelte der Reigen in die Höhe. Er schlug auf die ausgestreckte Hand ein, wollte sie abhacken wie einen trockenen, nutzlosen Zweig.

Der fremde Rhythmus riss kurz ab.

Die Sterne zerflossen zu Kreisen, der schwarze Himmel leuchtete auf, der Mond hing wie ein Eigelb in einem Filter brodelnden Kaffees. Ihre Kinder fassten sich bei den Händen und flatterten wie eine festtägliche Girlande durch die Luft, flogen zusammen mit Planeten und Gestirnen einher, an diesem feuerspeienden Festtag. Die Himmelskuppel dehnte sich zu einer Röhre, und dort, am Ende des kolossalen Tunnels, erstrahlte für einen flüchtigen Augenblick ein unwirkliches, überirdisches, märchenhaft schönes Licht.

Das Reisig verschlingend, züngelte die Flamme auf. Der Mann an der Mauer hing reglos da, und er war das Einzige, das in dieser Welt reglos blieb, abgesehen von ihr natürlich, der Statue, dem Turm auf dem Thron.

Doch sein Herz schlug noch. Sein Herz schlug in einem abweichenden Rhythmus, brachte sie aus dem Takt, kippte die feierliche Schale.

Sie erschauderte erneut.

Denn abermals sah sie die ihr entgegengestreckte Hand.

Ihre Kinder peitschten mit Knuten auf die zitternden Finger ein, ihre Kinder lachten sich kaputt, denn schließlich gibt es nichts Komischeres als eine vergebliche Hoffnung.

Da kippte der Strudel wieder zur Seite. Diesmal verlor er einige Sterne, die über den dunklen Rand purzelten und für immer in der Zeitlosigkeit verschwanden. Und er störte den Reigen ihrer Kinder, die durch die Luft flogen, ihrer Teile, ihrer Augen, Nerven und Muskeln.

Es kostete sie enorme Mühe, die schwarze Säule der Windhose wieder über ihrem Kopf aufzurichten.

Dieser Rhythmus! Obwohl er so schwach, hoffnungslos und die Hoffnung verachtend war, zog er Kraft aus der eigenen Verdammnis, dieser kaum wahrnehmbare, alles zerstörende Rhythmus.

Die Statue schwankte. Der Turm bebte, die Zeit, die sich in den Ritzen abgelagert hatte, rieselte wie Staubsand heraus.

Denn die Hand, gebieterisch und rufend, wollte um jeden Preis eine Berührung zustande bringen, selbst noch, als ihr die Knochen schon gebrochen waren …

Wieder verlor die Windhose das Gleichgewicht.

… selbst noch, als sie schwarz verkohlt war, wollte sich diese Hand ausstrecken, sich vorstrecken.

Wie Gras durch Stein.

Diese schlichte Erkenntnis brachte sie ein drittes Mal zum Zittern, worauf sie, bar jeder Stütze, in sich zusammenfiel.

Sie, die mit ihren Händen die Sterne berühren konnte, sie, die bereits hundert Mal gelebt hatte, sie …

Sie, eine rothaarige Frau, die durch das Labyrinth von Gängen und Räumen irrte, sie, die in eine Statue eingeschlossen war und den Ausgang nicht fand.

Sie, die sie vollkommen frei war, die sie die Welt in ihrem Innern verstaute, die sie die Welt durch sich ersetzte.

Grundmotiv, das versteckte sich also hinter diesem Wort. Der Wert, der zum Einzigen wird …

Die Glocke schlug und sagte ihr, nun lasse sich nichts mehr ändern. Keine Stimme dieser Welt klingt triumphaler, klingt hoffnungsloser als die einer Glocke.

Sie …

Bald, Ywha, bald. Bald, Ywha, dort blitzt bereits ein Licht, vielleicht steht dort eine Tür auf, bald, schon bald, nur noch die Treppe nach unten, nach rechts, nach links, achte nicht auf den Boden, der einstürzt …

Das winzige Zimmer, in dem ihre Mutter saß, den Kopf auf die verschränkten Finger gelegt, mit dunklen Ringen unter den Augen.

»Ich wollte dir immer schreiben, Mama. Wenn alles geschafft ist, wenn ich mir etwas aufgebaut hatte, dann wollte ich dir schreiben, das schwöre ich, Mama. Aber jetzt habe ich keine Zeit, jetzt hab ich’s eilig …«

Die Mutter bedachte sie mit einem schmerzlichen und tadelnden Blick. Ywha schoss in den Korridor hinaus, zur Tür links — die war verschlossen, fest verschlossen, mit einem riesigen, verrosteten Schloss. Hinter dieser Tür lauerte die Angst.

Also nach unten, über die Wendeltreppe. An alle Türen hämmernd, rannte sie vorwärts, durch den langen Gang, an dessen Ende ein Licht aufzublitzen schien …

Unzählige trockene Blätter prasselten ihr ins Gesicht. Weiter! Vorbei an einem Zimmer, das bis unter die Decke mit allerlei Kram vollgestopft war. Muffige Kleidung mit den weißen Spuren einer unersättlichen Motte, mit verkrusteten braunen Flecken. Ein Geruch stieg ihr in die Nase, der Geruch nach Naphthalin und Moder.

»Nein!«

In der dunklen Rumpelkammer walkte ihr älterer Bruder ihren jüngeren Brüder methodisch durch, verdientermaßen, und zwar für etwas, das er angestellt hatte, wie üblich für etwas, das er angestellt hatte …

»Ich hab’s eilig! Ich habe keine Zeit, ich muss mich so beeilen, ich werde gebraucht …«

Von der Holztreppe wusste sie genau, dass die vierte Stufe einbrechen würde, und das tat sie auch. Und unter der Treppe lag eine Plastikpuppe, rosafarben, als sei sie mit heißem Wasser überbrüht worden, mit weißen Haaren, für immer von Wasserstoffperoxid verhunzt.

Ywha lief weiter. Sie verirrte sich, kam immer wieder an denselben Ort zurück. Sie hüllte sich in Schweigen. Ywha kämpfte mit der Leere, mit dem Schatten, zog die Zeit wie ein Gummiband in die Länge, denn das Feuer erhob sich höher und höher.

Sie sah mit ihren Augen. Sah, wie sich die Pupillen des Mannes in undenkbarer Weise erweiterten, die Pupillen jenes Mannes, der …

»Klawdi! Klawdi!«

Der Name half ihr. Sie schrie, böse und wütend, und lief weiter, suchte den Ausgang, denn hier musste es einen Ausgang geben, es musste … einen Ausgang …

Sie kam zu einem Zimmer, dessen Boden mit Orangenschalen und Kerzenstummeln bedeckt war.

Dann ein leeres Zimmer mit einer Decke, die mit silbergrauem Menschenhaar zugewachsen war.

Ein Treppenhaus. Hier war sie schon gewesen, nein, doch nicht, das war eine andere Treppe, die ins Nichts führte und an deren Rand jemand mit den Beinen baumelte …

»Klawdi?!«

Der Mann drehte sich um.

Das war nicht Klawdi. Das war jener Mann, der mit ihr, der Zehnjährigen, mitgefahren war, in dem Bus über das Land, sich so nett mit ihr unterhalten und ihr einen Apfel gegeben hatte, während er selbst die ganze Zeit mit der Hand über das brennende Kunstleder des Sitzes strich und seine Hand dann unter sie, unter ihr Kleid und auch unter ihren schmalen Kinderpo schob.

Sie fauchte durch die Zähne, nicht wie eine Katze, sondern wie eine Schlange. Es katapultierte den Mann vom Rand der Treppe, und er fiel in den Abgrund. Sein nicht endender Schrei begleitete Ywha, während sie weitersuchte.

Eine geschlossene Tür. Noch eine. Ein leerer Raum. Das Antiquariat, hinter dessen Tür der bleiche Nasar stand, dann Professor Mytez mit der Mandoline, dann eine Blondine mit großer Nase, ihre Klassenkameradin von der Kunstschule, die immer von der Liebe der Schwäne erzählt hatte …

Und dort, hinter der Eisentür, stand ihr Vater. Sie war sieben Jahre alt. »Geh heute nicht raus, meine Kleine.« »Aber ich möchte so gern, Papa!« »Geh nicht, ich bitte dich!« »Aber ich will!« »Dann geh, meine Kleine, nur zu …«

Feuchter Lehm, der platschend in eine Grube fiel.

Wenn ich damals zu Hause geblieben wäre — mein Vater würde noch leben.

Sie stürzte weiter. Alle Türen hinter sich schließend, zuknallend, möglichst weit weg von jener Eisentür — zu der sie sich doch immer wieder umdrehte. Wenn ich damals nicht gegangen wäre … damals … wenn ich gleich alles gesagt … wenn ich damals alles erklärt hätte … wenn ich es verstanden … wenn ich es nur vorher gewusst hätte!

Diejenige, die da in dem geschnitzten Stuhl sitzt, diese reglose Statue, an der die Zeit genagt hat — bin ich das?

Als sie die nächste Tür aufriss, fand sie sich in der Turnhalle ihrer Schule wieder. Ihre Mitschüler, achtjährige Kinder, drückten sich an der gegenüberliegenden Wand herum. Sie alle trugen Turnhosen, und ihre nackten Knie funkelten. Sie wollte schon zurückweichen, wollte diesen Winkel der eigenen Seele nicht erkunden, doch dort, auf dem Boden, da lag eingeringelt eine Schlange.

»Folgt dem Faden. Hört auf eure Natur.«

Verschreckt starrten die Jungen und Mädchen einander an. Unter ihnen machte sie diejenigen aus, die sie gejagt hatten, und diejenigen, die ihr Pausenbrot mit ihr geteilt hatten. Die erste Gruppe war natürlich größer. »Verhaltet euch so, wie es euch eure Natur vorgibt. Folgt eurem wahren Wesen. Und wenn die Zeit kommt zu sterben, so sterbt. Und wenn die Zeit kommt zu leben, so lebt. Schreitet Fuß für Fuß den Faden entlang, kommt nicht vom Weg ab, denn dies ist euer Weg, geht ihn bis zum Ende!«

Aber du bist deinen Weg bereits gegangen, wunderte sich die Schlange.

Dort, am Ende des Saals, standen inzwischen keine halb nackten Kinder mehr, sondern schweigende Frauen, deren ernster Blick sie nicht eine Sekunde lang freigab.

Du bist deinen Weg schon gegangen! Du hast deine Wahl bereits getroffen, Ywha! Deine Kinder …

Die Windhose packte sie. Die Windhose trug sie in Kreisen, in einer Spirale, nach oben und hinauf zum Sternenstaub, hob sie über die reglose Statue auf dem geschnitzten Stuhl hinaus, der sie, an ihr vorbeifliegend, in die riesigen, gleichgültigen Augen blickte — die ihre eigenen Augen waren.

Ich werde es tun. Ich werde die Initiation durchlaufen.

Aber du hast die Initiation bereits hinter dir!

»Und wenn die Zeit kommt zu sterben, so sterbt. Und wenn die Zeit kommt zu leben, so lebt.«

Sie machte einen Schritt.

Ihr Weg würde sich als unsagbar schwer erweisen.

Sie lief nicht über den Schlangenkörper — sie bohrte sich durch das metallene Labyrinth im Innern der Eisenschlange. Und der Ringelkörper wand sich, wollte sie zermalmen. Sie nicht durchlassen.

Der Gang wurde enger und enger. Sie kroch vorwärts, schürfte sich die Haut an den Ellbogen und Knien auf, an den Schultern und Rippen. Die Liebe ihrer Kinder wehte ihr ins Gesicht, eine Liebe, so natürlich wie der morgendliche Dunst über einem warmen See. Und diese Liebe stieß sie wie ein Kolben zurück. Sie robbte weiter. Die Hälfte des bereits gegangenen Weges war verloren, und verloren war auch die Gewissheit, denn schließlich verlangte es sie selbst nach diesem über alles triumphierenden Festtag, nach den Feuernadeln, nach dem Himmel voller Augen, nach der Freiheit, die so gierig war wie eine gespannte Sehne …

Doch eine andere Kraft, deren Namen sie nicht wusste, trieb sie mit einem unbarmherzigen Ruf an. Sie musste weitergehen. Denn dort, am Ende des Schlangentunnels, streckte sich ihr eine Hand entgegen …

Und sie ging weiter. Sie kroch, zwängte sich durch die Eisenringe, schloss die Augen, folgte dem Magnetismus dieses zarten Rufs, der Saite, die jeden Augenblick reißen konnte, der Kraft, deren Bezeichnung sie nicht kannte.

Weißer Stoff zerriss. Zärtlichkeit durchflutete sie. Kinderhände reckten sich ihr durch die schwarzen Fetzen der Nacht entgegen. Die Zärtlichkeit schmerzte nicht, denn die Kinder besaßen sie für immer. Die Erde bebte, ein langsamer Tanz zog sich dahin, ein schmerzlicher Tanz auf der Trommel, in die sich der Himmel verwandelt hatte, ein Triumphmarsch. Und alle ihre Kinder kamen hierher …

Ihr neues Wesen erwies sich als allzu mächtig, allzu groß und schön, als dass es sich losreißen wollte, als dass es aus ihr wie aus einem Nylonstrumpf herausschlüpfen würde. Erneut presste es Ywha zurück, ganz zum Anfang ihres Weges, und die Eisenschlange rasselte mit den Gliedern, sagte jedoch kein einziges Wort. Vorhin, als sie noch lebendig und gestreift gewesen war, hatte sie schon alles gesagt: »Du bist deinen Weg bereits gegangen.«

Nun lag sie da, zerschlagen und gebrochen. Und sah die ausgestreckte Hand nicht mehr.

Sie dagegen sah, wie die Flamme des hohen Lagerfeuers züngelte. Immer höher und höher, dorthin, wo zwischen dem kreisenden Himmel und der kreisenden Erde das reglose Opfer hing.

»Ich bin nie ein Opfer gewesen. Ich bin niemals ein Opfer gewesen, und ich werde mich nicht opfern, Ywha. Ich führe lediglich das aus, was ich für notwendig erachte.«

Woher kam diese Stimme? Woher?! Oder sprach sie mit sich selbst, wollte sie sich täuschen, es sich leichter machen, sich rechtfertigen?

»Sieh mich an. Das macht niemand mit mir, das mache ich selbst, weil ich es so entschieden habe … Djunka … Ywha. Weil ich es so will.«

Sag mir den Namen, bat sie schweigend. Verrat mir, wie die Menschen das nennen, wie dieser Ruf heißt, der mir im Hals steckt, aber trotzdem nicht herauskann. Wie heißt er? Den Namen, Klawdi, nenn ihn mir!

Er schwieg. Das Feuer erhob sich und blühte auf, der Wind zauste zärtlich die orangefarbenen Flammenzungen.

Warum, Klawdi? Warum tust du das?

Er schwieg.

In diesem Augenblick sprudelte die unbenannte Kraft aus ihr heraus wie das Blut aus einer aufgeschlitzten Kehle. Der Strahl flutete in den Raum und riss sie mit sich, durch das Labyrinth, einer neuen, einer zweiten Initiation entgegen, einem neuen Wesen entgegen, für das es noch keinen Namen gab.

Die Nacht schlug ihr ins Gesicht. Ein rotes, ein dunkelrotes, ein feuerrotes, ein blutrotes Gesicht. Der Mond flatterte mit gelben Bannern. Sie standen für ein großes Ziel und einen majestätischen Sinn, diese schönen, verlorenen, fast verlorenen … schon … fast …

Vor ihr wartete nicht mehr auf sie als eine ausgestreckte Hand.

Gleich würde sie die kalten, steifen Finger berühren.

Nur ein einziger Augenblick fehlte noch bis zu dieser Berührung. Der Bruchteil eines Augenblicks, dann würden sich ihre Hände vereinigen, einmal nur noch musste sie Luft holen …

Gleich.

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