7

»Ihr habt also als Netz gearbeitet? Nicht einen starken Schlag geplant, sondern viele kleine Schubser, Fäden gesponnen und Knoten geknüpft, Brunnen vergiftet und Zöpfe in Schaffell geflochten? Ja?«

Ywha war schlecht. Mit ihrem ganzen Körper spürte sie den Druck, den der Mann in dem hohen Stuhl ausübte — obwohl dieser eigentlich auf eine Frau gerichtet war, die in der Mitte des Verhörraums stand. Doch Ywha, die sich in einer tiefen Nische in einer Seitenwand verbarg, bekam ihn ebenfalls ab, davor bewahrte sie selbst der Gobelin mit einem eingewebten Zeichen nicht. Das Zeichen reizte sie, quälte sie wie Sand in den Augen, letztlich aber spürte die befragte Hexe allein seinetwegen Ywhas Anwesenheit nicht. Es war ein sogenanntes Tarnzeichen.

»Ich würde gern wissen, Orpyna, warum du, die du niemals Freundschaft schließt, dich in dieser Weise auf die Hexen eingelassen hast. Wegen dieser dämlichen Schafe? Was sind das nur für komische Interessen?«

Die Vernommene, eine Blondine von fünfunddreißig Jahren, ließ die Schultern immer tiefer hängen. Der Inquisitor hatte sie vollständig unter Kontrolle, und zwar einzig durch seinen Blick. Doch obwohl sie schwächer und schwächer wurde, senkte sie den Kopf nicht und wandte auch die vor Hass lodernden Augen nicht von ihrem Gegenüber ab.

»Hat man dir dafür etwas versprochen? Geld? Irgendeine andere Bezahlung?«

»Ich habe niemandem etwas Böses getan«, sagte die Frau tonlos. »Keinem Menschen.«

»Soll ich vielleicht annehmen, du hättest etwas Gutes vollbracht? Du bist vor zwei Jahren initiiert worden. In diesen beiden Jahren hast du dir nichts zuschulden kommen lassen. Den Hexentrank können wir hier getrost außer Acht lassen. Warum hast du dir jetzt das Vieh vorgenommen? Warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Fünfhundert tote Schafe innerhalb einer Woche, von zwei vollständig ruinierten Höfen ganz abgesehen …«

Der Inquisitor erhob sich. Einen kurzen Augenblick schob sich sein von der Kapuze verhüllter Kopf zwischen Ywha und die Fackel. Die verhörte Hexe prallte zurück.

»Ich habe bereits alles gesagt. Dem ist nichts hinzuzufügen.«

Der schwarze Stoff verhüllte das Gesicht des Inquisitors bis zum Kinn. Hinter den schmalen Sehschlitzen herrschte undurchdringliche, mit Händen greifbare Dunkelheit. Nun stand er unmittelbar vor der Hexe. Ohne Frage kostete es sie gewaltige Anstrengungen, nicht zurückzuweichen.

»Gut, Orpyna. Warst du auf Hexensabbaten?«

Die Hexe zögerte, nickte am Ende jedoch gequält.

»Hast du mal unter Bluthochdruck gelitten?«

Wieder eine Pause. Und wieder schüttelte die Hexe am Ende gequält den Kopf.

»Hast du oft Kopfschmerzen? Fällst du ohne Grund in Ohnmacht?«

»N-nein.«

»Denk an etwas Gutes.«

Ywha erstarrte in ihrem Versteck. Mit einer geschmeidigen, katzenartigen Bewegung legte Klawdi der geradezu betäubten Hexe die Hände auf die Schultern. Kaum merklich zuckte die Frau zusammen, ihre Lippen öffneten sich ein wenig und entblößten scharfe, feucht schimmernde Zähne. Die Augen … Im Halbdunkel konnte Ywha sie nicht richtig erkennen. Die Hexe stand da, aufrecht und die Hände vor die Brust gepresst; sie schien durch den in sein Gewand gehüllten Mann hindurchzusehen.

»Ywha.«

Sie erschauderte.

»Komm her.«

Sie zwang sich, nach dem Rand des Gobelins zu fassen, ganz vorsichtig, um ja das Zeichen nicht zu berühren. Kaum traf ihr Blick auf die dunkle Kapuze, da schaute sie schon weg.

»Ein Inquisitor muss schrecklich aussehen. Stell dir vor, du wärst beim Fasching. Wollen wir uns an die Arbeit machen? Du hast doch keine Angst, oder?«

»Nein«, versicherte Ywha, wobei ihre Stimme jedoch wenig überzeugend klang.

»Ich zwinge dich nicht«, erklärte der Inquisitor sanft. »Aber es wäre sehr schön … wenn wir gemeinsam einen Durchbruch erzielen könnten. Das verstehst du doch, nicht wahr?«

»Was soll ich tun?«

»Ich werde alles tun. Ich brauche ihre Gründe, ihre wahren Motive. Von sich aus sagt sie nichts, die Folter widert mich an und bringt uns meist kaum weiter; ihre Seele kann ich nicht knacken, die hat sie gut verriegelt. Deshalb werde ich sie spiegeln — und zwar in dir. Denn erstens bist du auch eine Hexe, und zweitens bist du ausgesprochen empathisch. Mit den technischen Details werde ich dich nicht belästigen. Stell dir einfach vor, du seist ein Spiegel. Ist das so weit klar?«

Ywha grinste. Ein Bild aus ihrem Physiklehrbuch fiel ihr ein, ein Schnitt durch ein Periskop. »Wir spielen Periskop, oder?«

Endlich streifte er die Kapuze ab.

Sein Gesicht war angespannt. Müde und böse.


… Es war kalt.

Als Erstes nahm sie die schneidende Kälte wahr. Die Feuchte. Dunkle, auseinanderdriftende Linien umsponnen sie. Kein Geräusch entstand, keine Berührung kam zustande, als Grashalme wegknickten, hohe Stängel, die sich in den Himmel bohrten. Sie rannte über eine Wiese, in ihrer Hand, fest in ein Bündel eingeschnürt, lag etwas Lebendiges, das mit den Flügeln schlug. Ein Vogel.

Sie wollte sich das nicht weiter ansehen. Voller Wucht schlug die Angst über ihr zusammen: wie ein Schwimmer, der sich vom Boden abstößt, nach oben schnellt, zur Sonne.

Die Sonne. Nicht warm, aber blendend grell, schmerzte sie in den Augen. Ein kahler Hügel, ohne jedes Gras. Von ihren Händen tropfte eine ölige Flüssigkeit.

Nein, das war nicht die Sonne, sondern der Mond, rund und dick wie ein Fass. Im Schatten schief stehender Bäume krümmte sich ein Haus. Nach wie vor fehlte jeder Laut, ihren Platz nahmen Gerüche ein. Es roch stark nach Dung, schwächer nach verfaultem Holz. Und kaum noch wahrnehmbar nach Metall — denn sie hielt ein spitzes Messer in Händen. So mühelos drang die Schneide ins Holz, als handle es sich um lockere Erde. Liebevoll fuhren ihre Hände über den Griff. Seltsame, ungewohnte Bewegungen …

Der Messergriff wurde feucht. Und warm.

Ein tropfendes Geräusch.

Weiße schwere Tropfen fielen in einen Blecheimer. Es war ein Melkeimer. Immer schneller arbeiteten ihre Hände. Was tat sie da? Ein rhythmisches Ziehen und Pressen. Sie melkte den Griff des Messers … Melkte … Von ihren Fingern tropfte Milch, pladderte in den Eimer und schwappte manchmal über ihre Ärmel.

Obwohl ihr die Finger lahm wurden, vermochte sie nicht aufzuhören. Berauscht war sie, verlangte nach mehr, immer mehr …

Die Milch versiegte. Zischte nicht mehr in Strömen, tröpfelte kaum noch, füllte den Eimer nur mit Mühe …

Wieder spürte sie die Wärme. Die satte Zufriedenheit. Eine warme Flüssigkeit netzte ihre Hände, keine weiße, sondern eine schwarze.

Schwarze Tropfen fielen in den vollen Melkeimer.

Rote Tropfen. Ihre Händen wurden klebrig.

Angst keimte auf.

Sie hörte den eigenen Schrei nicht.

Ihre stumme Angst roch. Sie roch nach Eisen.


Wieder behielt er sie über Nacht bei sich. Letztlich war es ihm gleich, was man von ihm dachte. Vor allem angesichts des letzten Gesprächs mit Seiner Durchlaucht, dem Herzog.

Der Herzog wusste viel, zum Glück jedoch nicht alles. Seit geraumer Zeit schon befleißigte sich Klaw einer doppelten Buchführung. Das war zwar heikel und infam, doch wenn der Herzog — schlimmer noch die Allgemeinheit — die wahren Zahlen wüsste …

Nachdem er die Berichte aus den Provinzen für die letzten drei Tage gelesen hatte, presste Klaw die Lippen zusammen und befahl Hljur, die Angaben zu überprüfen.

Es stimmte alles. Hexensabbate waren gefeiert worden, von denen sie vorab nicht einmal etwas geahnt hatten, Initiationen im großen Maßstab hatten nicht verhindert werden können. Schwerer noch wog allerdings die hohe Zahl von Todesfällen, auf die sie sich keinen Reim machen konnten.

Irgendwann rief Fedora an. Ein Ferngespräch aus Odnyza.

Klawdi presste die Zähne aufeinander. Einen schönen Beichtvater hatte sie sich da ausgesucht, einen fürwahr vortrefflichen Beschützer! Ausgerechnet diese starke und unerschrockene Frau. Ein Monolog, gespickt mit »wenn einer was weiß, dann du«, »wenn einer das wieder ins Lot bringt, dann du«, »wenn einer unseren Schutz garantiert, dann …« und als Zugabe: »Kann ich zu dir kommen?«

Klawdi kratzte sich das Kinn.

Morgen früh würde in Wyshna der Rat der Kuratoren zusammentreten. Wer wohl den Brandgeruch bereits gewittert hatte? Genauer: Wer ihn wohl bisher noch nicht gewittert hatte? Wer wohl gegen den Großinquisitor auftreten und ihn bezichtigen würde, ein Protektionist zu sein, ein tödliches, verantwortungsloses und geschmackloses Spiel zu spielen?

Wobei: Im Grunde war selbst das ihm egal. Er wusste ohnehin, wer das sein würde. Der frisch eingesetzte Kurator von Rjanka war ihm treu ergeben, aber Mawyn, der Kurator von Odnyza, fürchtete ihn; mit dem Kurator von Egre verband ihn wiederum eine alte Freundschaft. Den Kurator von Bernst hatte er wiederholt abgekanzelt, und auch den Kurator von Korda hatte er erst vor Kurzem öffentlich für sein — wie Klaw meinte — ganz und gar eindeutiges, wiederholtes Versagen gedemütigt. Der Kurator von Altyza war ein junger intelligenter Mann, der sich stets auf die Seite des Stärkeren stellte — bis er selbst als solcher anerkannt wurde. Sein stärkster Gegner im Rat war der Kurator von Rydna, der den Luxus und die Stadt Wyshna nur allzu sehr liebte. Und der Hexen viel zu sehr hasste. Aufrichtig hasste. »Nieder mit dem Abschaum!« Für ihn war das längst nicht nur eine leere Floskel.

Es roch brandig — denn in Wyshna war die Oper niedergebrannt.

Klawdi hohnlachte. Diesmal hatte sich der Herzog nicht mit einem Anruf begnügt. Einbestellt hatte er ihn, den Großinquisitor, um ihm wie einem kleinen Jungen den Kopf zu waschen. Das Resultat war ein beispielloser Streit. Dabei hatte sich der Herzog als erstaunlich informiert gezeigt. Wer von seinen, Klawdis, engsten Mitarbeitern wohl hin und wieder Geld in einem Umschlag mit dem Staatswappen zugesteckt bekam?

»Kann ich reinkommen?«

Ywha stand in der Küchentür. Ihr Gesichtsausdruck bestürzte ihn. Unter ihren Augen lagen nachtblaue Schatten. Die Lippen zeigten eine schwer zu beschreibende Farbe, verschmolzen fast mit dem Fahlgelb der Haut. In den Fuchsaugen stand eine unsagbare Müdigkeit geschrieben. Klawdi verspürte einen einzelnen, jedoch schmerzlichen Biss des sogenannten Gewissens.

»Natürlich. Hast du schon gegessen?«

»Ja.«

»Tut dir etwas weh?«

»Nein.«

Er zog sie neben sich auf das Sofa. »Es tut mir leid. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich selbst kann das nicht tun. Ich bin schließlich keine Hexe …«

»Schade«, sagte sie mit angedeutetem Lächeln.

Er legte ihr den Arm um die Schultern.

Jedes Mal, wenn er Fedora berührte, löste das eine quälende Anspannung in ihm aus, eine Flut fleischlicher Wünsche; jetzt, da er unter Ywhas dünnem Pullover ihre Rippen spürte, blieb all das aus. Er empfand für sie wie für ein Füchslein. Wie für eine Schwester oder, eher noch, wie für eine Tochter.

Über den flimmernden Bildschirm des Fernsehers rannten lautlos knallbunte, bewusst irreal gestaltete Menschen.

»Ywha … Ich möchte, dass du das verstehst. Ich will mir keinen Orden verdienen. Wie du dir unschwer vorstellen kannst, ist mir so ein Ding völlig egal. Auf uns rollt da irgendeine Sauerei zu, und ich weiß nicht, womit sie, diese Sauerei, sich begnügt. Ob bloß das übliche Postenkarussell, das es auf allen Ebenen der Inquisition gibt, eine neue Runde drehen muss oder …«

Er verstummte.

Da drüben lag es, das schmale Buch. Auf dem obersten Regal, halbleinen. Ereignisse, die sich vor vierhundert Jahren abgespielt hatten und vom Moos der Geschichte überwachsen schienen.

»Und ihr Reich lag in Trümmern …«

Woher stammte dieses Zitat?

Verfaultes Wasser hatte vor vierhundert Jahren die Stadt Wyshna überflutet. Einige Tausend Menschen waren gestorben, zu dieser Zeit praktisch die ganze Bevölkerung. Eine Epidemie war ausgebrochen, es hatte vergiftete Brunnen gegeben, menschliche Körper, eingenäht in den Leib einer Kuh …

Damals zählten die Menschen in dieser Stadt nur einige Tausend.

Ywha stöhnte auf. Er zerquetschte ihr fast die Schultern.

Großinquisitor war damals Atryk Ol gewesen. An einem Winterabend hatte ihn eine Horde von wahnsinnigen Hexen auf dem Hauptplatz Wyshnas in einem hoch aufgeschichteten Feuer verbrannt. Im Namen der Großen Mutter.

»Du musst mir helfen, Ywha. Zu zweit kriegen wir es aus ihnen heraus. Ich muss einfach wissen, was da los ist.«

»Wenn das … so einfach ist … mit Ihrem Periskop … Warum haben Sie es nicht schon früher …?«

»Das ist weiß Gott nicht so einfach.« Er lächelte schief. »Außerdem hatte ich früher …« Widerwillig gab er sie frei. »… keinen Menschen … keine Hexe, der ich vertrauen durfte.«


(Djunka. Mai)

Anfangs war er gerannt, und die Menschen waren ausgewichen und hatten ihm empört nachgebrüllt. Dann versiegte seine Kraft, und er wechselte in Schritttempo, schließlich gewann er die Kontrolle über sich zurück.

Vor ihm tauchte die lustige Markise einer Nachtbar auf. Er wollte sich ein großes Glas voll mit einem bitteren und starken Schnaps bestellen, der ihm schlagartig den Verstand raubte, überlegte es sich jedoch im letzten Moment anders und wählte Orangensaft. Es brachte nichts, hysterisch zu werden.

Der Saft, ebenso süß wie sauer, wollte nicht runter. Klaw musste mehrmals husten, bevor er endlich das Glas ausgetrunken hatte. Das schummrige Licht des Etablissements wirkte unerträglich grell, die Figuren der Menschen, die vorbeigingen, verschwammen vor seinen Augen. Klaw kam sich wie ein kaputter Apparat vor oder wie eine Filmkamera, die versuchte, die Schärfe zu regulieren.

Dabei könnte er jetzt im Sarg liegen.

Als er grinste, wich die junge Kellnerin, die dieses Hohnlächeln auffing, zurück. Sie musste ihn für einen Verrückten halten. Vermutlich würde sie die Polizei rufen.

Dabei könnte er jetzt im Sarg liegen. Was wohl die Gerichtsmediziner sagen würden? Selbstmord? Wahrscheinlich.

Er atmete tief durch und wartete auf den nächsten Schwindelanfall. Der Lichterfluss unter ihm … war unendlich weit entfernt gewesen. Der Flug hätte wohl eine halbe Minute gedauert. Währenddessen hätte er in die erhellten Fenster geblickt …

Wie zum Teufel konnte der Zaun auf dem Dach durchgebrochen sein?!

Ein Zufall. Ein willkürliches Zusammentreffen. Jeder, der auf ein Dach steigt, sollte an die Erdanziehungskraft und die Zerbrechlichkeit der eigenen Knochen denken. Er war ja selbst schuld …

Aber dreimal hintereinander?!

»Sie sind Njawken. Leere Hüllen von Menschen … Das sind keine Menschen … Es ist, als ob dein Mörder in der Maske einer schönen Frau zu dir käme. Oder, noch schlimmer, in der Maske deiner Mutter.«

Er betrachtete seine Finger, deren Knöchel durch den todbringenden Griff um das schmale Glas weiß hervortraten. Viel fehlte nicht — und hier würde eine Handvoll blutiger Scherben liegen. Warum tat er das?

Kaum hatte er die Macht über die eigene Hand zurückerlangt, stellte er das Glas behutsam auf der hellen Tischplatte aus Marmorimitat ab.

Er hatte Angst. Hatte Angst, empfand Schwermut. Und nicht ein Funken von dem Gefühl war in ihm zurückgeblieben, das er in den letzten Monaten für Glück gehalten hatte. Für ein Ersatzglück. Eine Art stellvertretendes Glück.

Er brauchte ja nicht wieder in diese Wohnung zu gehen. Er konnte sie vergessen. Djunka — oder diejenige, die er für Djunka zu halten gelernt hatte — hatte kein Essen nötig. Sie hatte überhaupt nichts nötig …

Abgesehen von ihm, Klaw. Seine Anwesenheit war für sie lebensnotwendig. Mehr als einmal hatte sie das erwähnt, und auch er selbst hatte es gesehen, wenn er nach einer langen Zwangspause wieder bei ihr erschienen war und ihr Gesicht bleich und hohlwangig aussah, wenn ihr Körper leblos und abgemagert schien.

Er presste die Zähne aufeinander. Was war das? Ein Tauziehen? Er zog sie zu sich, ins Leben, während sie …

»Njawken verkehren in der Regel mit Menschen, um diese umzubringen. Gewissermaßen um die Chancengleichheit wiederherzustellen.«

»Wollen Sie noch etwas bestellen, junger Mann?«

»Ja. Noch einen Saft. Und … zweihundert Gramm Kognak.«

Die Frau wunderte sich nicht im Geringsten. Klaw wirkte offenbar wie ein Mann, der es gewohnt war, Kognak aus Teegläsern zu trinken.

Was, wenn er sie aufgab? Wenn er Djunka der Einsamkeit überließ? In der abgeschlossenen Wohnung?

Plötzlich meinte er in dem alten Mann, der am Tisch gegenüber saß, den Tröster vom Friedhof wiederzuerkennen. Das müde Allerweltsgesicht. Der eindringliche Blick unter den zusammengezogenen Augenbrauen. »Ich bin nur ein Lum. Ich tu, was ich kann.«

Klaw blinkerte. Nein, dieser Alte war ganz anders. Ein pausbäckiger, ihm unbekannter Mann.

Er kippte seinen Kognak wie Medizin herunter — und erstickte beinah daran. Zum Glück klopfte ihm jemand kräftig auf den Rücken. »Du solltest ein anständiges Getränk nicht so herunterstürzen, mein Junge!«

Klaw war noch immer nüchtern. Er drehte den Kopf …

… und erschrak nicht. Wie einem alten Bekannten nickte er dem Tschugeist zu.

Von ihm ging ein Geruch nach feuchtem Fell aus. Klaw schüttelte den schweren Kopf, wischte sich die Tränen aus den Augen. Wenn der Tschugeist in seiner Fellweste in den Regen kam, würde er vermutlich wie ein Wolf riechen. Aber es regnete gerade nicht, und außerdem handelte es sich um Kunstpelz.

Sie alle waren offenbar gerade erst reingekommen. Sie hatten einen Ecktisch mit Beschlag belegt, weswegen Klaw, der einsam seinen Kognak schluckte, sie nicht bemerkt hatte. Jetzt beobachteten ihn drei vom Tisch aus, während einer vor Klaw stand …

Sie waren sich schon über den Weg gelaufen. Genau ihm war er schon einmal begegnet. Nur zerfloss jetzt sein Gesicht, außerdem schaffte Klaw es nicht, die auseinanderstiebenden Gedanken zu bündeln und sich zu erinnern, wo genau und auch worüber dieser lange, schlaksige Kerl da mit ihm, Klaw, geredet hatte.

»Ist dir nicht gut? Brauchst du Hilfe?«

Nach Klaws Ansicht hatte sich sein Kopf in den Erdball verwandelt, so schwer war er ihm, so unaufhaltsam drehte er sich.

Und es ließ sich kaum noch ertragen, ihn, diesen Kopf, zu schütteln, um den guten Tschugeist mit einer schlichten Geste, einem klaren Nein, fortzujagen.


Als Klaw unter den Kuratoren Fedora erblickte, war ihm klar, dass ihm ein unerträglich anstrengender Tag bevorstand.

»Patron … Bedauerlicherweise ist Kurator Mawyn schwer erkrankt. Es war sein Wunsch, dass ich ihn hier in Wyshna vertrete. Hier ist die Urkunde, in der er mir die notwendigen Vollmachten erteilt hat.«

»Danke, nicht nötig. Meine Herrschaften, nehmen wir unsere Plätze ein und beginnen wir mit der Diskussion.«

Der finstere Kurator aus Rydna zog einen Mundwinkel leicht nach oben. Ganz leicht nur.

Er, der den Luxus so liebte und die Hexen so hasste, hieß War Tanas und war etwas über fünfzig. Vor fünf Jahren hatte er die besten Aussichten auf den Stuhl des Großinquisitors gehabt. Selbst jetzt hatte er die Hoffnung darauf noch nicht aufgegeben. Wie Klawdi wusste, verfolgte Tanas die erste halbe Stunde jeder Diskussion schweigend.

»Meine Herrschaften, bevor ich mir Ihre Ansichten anhöre, möchte ich einige Worte dazu sagen, wie sich mir die Sachlage darstellt.«

Er sprach siebzehn Minuten. Fedora, die auf Mawyns Platz saß, blickte stur durch ihn hindurch. Nur mit Mühe konnte er den Wunsch unterdrücken, sich einen schmerzenden Punkt an der Schläfe zu reiben — an jener Stelle, wo ihr Blick ihn traf.

»Mir ist daran gelegen, dass wir heute möglichst offen zueinander sind. Und die größtmögliche Verantwortung für unser Tun übernehmen. Denn für die Lage, in der wir alle uns gegenwärtig befinden, dürfte es kaum Analogien geben … zumindest nicht in den letzten vierhundert Jahren.«

Sie alle verstanden nur zu gut, worauf er abzielte. Von dem Kurator aus dem Kreis Bernst vielleicht einmal abgesehen. Der saß da, entrückt und seinen eigenen Gedanken nachhängend.

»Und jetzt würde ich gern Ihre Ansichten hören … bezüglich der ungewöhnlichen Aktivität der Hexen. Und bezüglich ihrer seltsamen Tendenz zur Gruppenbildung. Sowie — warum lange darum herumreden — im Hinblick auf die Schlinge, die um unseren Hals liegt und sich allmählich zusammenzieht …«

Der Kurator aus Rydna zog wieder einen Mundwinkel nach oben. Fedora seufzte.

Ums Wort bat der Kurator aus Altyza, ein junger Mann mit braunem Haar und einem schweren, behäbigen Körper sowie einer wieselflinken, höchst dehnbaren Moral. Schwermütig sann Klawdi darüber nach, dass der Stuhl des Großinquisitors irgendwann unter dem gewichtigen Hintern von Foma aus Altyza ächzen würde. Vermutlich. Der Fettwanst besaß einen hellen Verstand und war ein meisterlicher Taktiker. Heute bildete er eine Allianz mit dem Kurator aus Rydna, indem er als Erster sein Beil auf Klawdi abfeuerte, zugunsten von Tanas.

Klawdi vertrieb den aufdringlichen Gedanken an eine Zigarette.

Foma fasste sich kurz, redete jedoch sehr emotionsgeladen.

Ja, die Situation in Altyza lasse zu wünschen übrig, woran freilich nicht die vermeintlich gesteigerte Aktivität der Hexen die Schuld trüge, sondern der letzte Befehl aus Wyshna. Altyza sei ein Kreis der Landwirtschaft, in dem es traditionell zahlreiche sesshafte und friedliche Hexen gebe. Die drakonischen Maßnahmen, die der Großinquisitor einklage, hätten die gleiche Wir­kung wie ein Päckchen Hefe, das man in die Toilette werfe. Der Abschaum würde aus allen Ritzen kriechen. Die Hexen, die jahrzehntelang zurückgezogen und unregistriert in ihren Hütten gelebt hatten — wobei sie selbstredend stillschweigend kontrolliert worden seien –, würden jetzt Gott weiß wohin verschwinden, denn falls die Inquisition von Altyza den Befehl befolgte, könnte und müsste sie sämtliche Gefängnisse des Kreises mit unregistrierten Hexen füllen. Dies wiederum würde den Haushalt aufs Äußerste belasten. Die Hexen müssten zudem in überfüllte Zellen gepfercht und unter Bedingungen gehalten werden, die jeder Beschreibung spotteten. Dies würde nur ihre Aggressivität steigern, zu Panik führen und Destabilität oder Tragödien nach sich ziehen — wie die jenes dreizehnjährigen Mädchens, das von ihrer Mathematiklehrerin initiiert worden sei und mit Zahnpasta das Zeichen der Pumpe auf die Wange ihres schlafenden Bruders gemalt habe …

Foma legte eine Pause ein. Der peinliche Zwischenfall, der ihn unter anderen Umständen den Kopf gekostet hätte, diente heute dazu, die Wahrheit seiner Worte zu illustrieren. Eine Untermalung in grellen, ja, schreienden Farben.

Foma senkte den schweren, unter einem Übermaß an Kinnmasse leidenden Kopf. Im Grunde war er fertig. Die Lage im Kreis konnte mit einiger Mühe stabilisiert werden — und zwar nur deshalb, weil er die Sünde auf sich genommen habe, von einer buchstabengetreuen Umsetzung des letzten Befehls aus Wyshna abzusehen. Jetzt würde er vermutlich wegen Amtsanmaßung und Insubordination zur Verantwortung gezogen werden. Ein anderer an seiner Stelle hätte es sicher vorgezogen, den Kreis in strenger Befehlserfüllung in den Abgrund zu treiben. Das sei alles, was er, Foma, zu sagen habe, jetzt sei er bereit, auf Fragen zu antworten.

Klawdi, der während der ganzen Ansprache mit unbeweglichem, freundlichem Gesicht dagesessen hatte, zauberte jetzt eines seiner charmantesten Lächeln auf die Lippen. »Meine Herrschaften, ich schlage vor, erst alle anzuhören. Dann werden wir zu den Fragen zurückkommen, sozusagen in ihrer Gesamtheit.«

Foma zuckte die gut gepolsterten Schultern und nahm vorsichtig Platz. Er führte überhaupt jede Bewegung voller Vorsicht aus. Risikofreudig, kühn oder überraschend konnte er nur in Worten und Taten sein.

Nacheinander sprachen der Kurator von Korda und der neue Kurator aus Rjanka. Der Erste holte weit aus, blieb vage und erschöpfte sich in Anspielungen auf die kurzsichtige und allzu dominante Führung in Wyshna, ließ jedoch auch eine Reihe nebulöser Anschuldigungen gegen die Hexen vom Stapel, die in der Tat ausgesprochen aggressiv aufträten. Der Zweite, der frischgebackene Kurator Juryz, beschränkte sich auf eine Aufzählung der Maßnahmen, die er bereits ergriffen hatte. Sie liefen im Wesentlichen darauf hinaus, alles, was sein Vorgänger angeordnet hatte, rückgängig zu machen. Klawdi zerquetschte unterm Tisch ein Päckchen Zigaretten. Juryz war ohne Zweifel talentiert. Warum hielt er sich mit solchen Kleinigkeiten auf? In zwanzig Minuten würde Klaw eine Pause ausrufen. Zum Rauchen.

Die Ansprache Antors, des Kurators aus Egre, stellte einen schlecht verhüllten Angriff gegen die Position Fomas aus Altyza dar. Treffsicher pickte Antor aus der emotionalen Rede den Punkt heraus, der dem Kurator das Genick brechen musste: Die große Zahl unregistrierter, in der Landwirtschaft tätiger Hexen, die angeblich keine Aggression erkennen ließen und, heimlich von der Inquisition überwacht, in ihren Hütten lebten. Die Enthüllung einer solchen Tatsache hätte in früheren Zeiten nicht nur zur Amtsenthebung, sondern gleich zum Ausschluss aus der Inquisition aufgrund professioneller Unzulänglichkeit geführt. Antor sprach leise, seine Stimme klang metallen. Klawdi senkte die Lider ein wenig und beobachtete einen Sonnenstrahl, der über den weißen, polierten Tisch kroch. Formal hatte Antor recht. Faktisch war jedoch Foma im Recht. Die Methoden, die für Großstädte geeignet waren, versagten häufig bei den vereinzelt liegenden Gehöften und kleinen Ortschaften.

Er schielte auf die Liste, die in der offen stehenden Schublade des Tisches lag. Die letzten Zahlen aus den Kreisen, die er sich im Übrigen nicht direkt von den Kuratoren besorgt hatte, sondern heimlich, durch Spione. Der ruhigste Kreis war ausgerechnet Altyza. Noch gestern hatte Egre am besten dagestanden. Am schlimmsten hatte es …

Er fasste sich an die Schläfe. Fedora sah zu ihm herüber, doch er erwiderte ihren Blick nicht.

Am schlimmsten hatte es Odnyza getroffen. Und die Lage spitzte sich weiter zu. Der Statthalter von Odnyza hatte Kurator Mawyn sogar schon eine offizielle Anfrage geschickt, ob …

Antor, der Kurator aus Egre, endete. Er blieb kurz stehen, um alle Anwesenden nacheinander zu betrachten. Dann setzte er sich, genauer: er plumpste auf den Stuhl. Er zeichnete sich durch ein gewisses Ungeschick aus, in seinen Bewegungen und in der Kleidung, jedoch nie in seinen Taten. Zumindest auf Antor durfte Klawdi zählen.

Foma, den Antors Rede gekränkt und verletzt hatte, verzog seinen großen weichen Mund zu einem giftigen Lächeln. Er verlangte Revanche und bekam nach Klawdis Dafürhalten weiche Knie. Zu viel hatte er auf eine Karte gesetzt — und konnte nun in der Tat erst recht rausfliegen.

Alle sahen Tanas an, den Kurator aus Rydna. Die erste halbe Stunde war längst vorbei, jetzt kam der Zeitpunkt für sein gewichtiges Wort.

Tanas hüllte sich jedoch weiter in Schweigen. Beide Winkel seiner dünnen Lippen wiesen nach unten. Der eine stärker, der andere schwächer. Alle warteten. Tanas schwieg.

Was tun wir hier eigentlich, dachte Klawdi angeekelt. Einen akrobatischen Tanz führen wir auf, unter Einbeziehung eines hohen Stuhls. Dem einen helfe ich auf den Sitz, den anderen schubse ich runter. Du klettere ruhig auf den Sitz, während ich mich neben die rechte Armlehne stelle, und unser Freund hier soll sich neben die linke stellen. Dann stoße ich dich mit seiner Hilfe runter und schiebe ihn auch weg, woraufhin sich ein neues Gesicht neben die Armlehne stellt …

Er wollte schon den Mund öffnen, um die Pause zu verkünden, als er sah, dass sich der Kurator aus Bernst langsam und — wie immer in sich selbst versunken — entrückt und bleich von seinem Stuhl erhob.

Die Hexen nannten ihn, Wikol, eine eiserne Schlange. Ein eisernes Wesen, das mit seinen Gelenken klirrte und am Ende selbst das wendigste Huhn schnappte. Erbarmungslos konnte er einen erwürgen, in null Komma nichts.

Klawdi mochte Wikol nicht. Gerade weil er so entrückt wirkte. Ein unbeteiligter Inquisitor — das ging einfach über Klawdis Horizont.

»Herrschaften!« Mit dieser gefühllosen Stimme sprach Wikol auch mit seinen Hexen. »Nach dem Erhalt des Befehls des Großinquisitors bezüglich der außergewöhnlichen, die Hexen aller Kategorien betreffenden Maßnahmen und insbesondere nach einem entsprechenden Versuch, diese auch zu realisieren, bin ich nicht minder verärgert als Kollege Foma.«

Wikol verstummte. Vermutlich konnte eine einzige dieser Pausen selbst die hartnäckigste Hexe im Schweiß schwimmen lassen.

»Herrschaften! Ich sehe mich gezwungen einzugestehen, dass die durch den Großinquisitor vorgeschlagenen Maßnahmen längst nicht ausreichen. Wir stehen vor einem Abgrund, Herrschaften, vor dem wir nur zu gern die Augen verschließen wollen.«

Die eintretende Stille durchbrach ein langer, ein ungebührlich langer Seufzer.

Niemand wandte sofort den Kopf. Alle zählten innerlich bis fünf, manche sogar bis sieben, erst dann gestatteten sie sich, Fedora Ptach anzusehen, die zweite Kuratorin von Odnyza, die — wie alle wussten — ehemalige Geliebte von Klawdi Starsh.

Der Einzige, der sich nicht rührte, war Klawdi. Starr hielt er den Blick auf den obersten Knopf am Jackett von Kurator Wikol gerichtet.

Wikol wartete eine Minute. Seine Stimme klang völlig unverändert, als er, die schweigende Runde betrachtend, klar und deutlich fortfuhr: »Das veränderte Verhalten der Hexen lässt sich weder mit dem schlechten Wetter noch den schlechten Zeiten oder irgendeinem Fehler erklären. Ich hoffe, der Großinquisitor ist weitsichtiger als wir alle und hat sich seine eigenen Gedanken zu diesem Problem gemacht.«

Erst da schaute Klawdi zu Fedora hinüber. Sie sah besser aus. In den zwei Wochen, in denen sie sich nicht gesehen hatten, hatte sie fraglos zugenommen. Angeblich sollen Frauen ja häufig zu viel essen, wenn sie Kummer haben.

Die paar Pfunde mehr standen Fedora. Sie glätteten eine gewisse Härte in ihrem Gesicht, rundeten die Schultern, vergrößerten offenbar sogar die Brust.

Woran dachte er jetzt schon wieder?! Ob das seine fabelhaften »eigenen Gedanken« waren, die er seinen Kollegen auch gleich mitteilen sollte?!

In Fedoras schönen Augen lag — wenn auch nicht an der Oberfläche, sondern tief innen — eine weniger schöne Panik.

»Du verstehst das doch, nicht wahr? Das, was hier vor sich geht? Du kannst dem doch Einhalt gebieten, oder?«

»Vielleicht trage ich hiermit zu Ihrer Erheiterung bei«, ergriff Klawdi nun mit unaufgeregter Stimme das Wort, »aber offenbar steht uns nicht mehr und nicht weniger als die Ankunft der Mutterhexe ins Haus.«


… In der Scheune roch es nach Heu und Erde. Und nach feuchtem Brennholz.

Das Scheunendach war so verbeult wie ein alter Kessel, Löcher und Ritzen klafften darin. In die Löcher schoss mit scharfen Strahlen Licht. Mondlicht.

Nein, das war kein Dach. Das war der Himmel. Und die nadelgleichen Strahlen, das waren die Sterne.

Ywha rannte, den Kopf zurückgeworfen, den Weg nicht einmal witternd. Dennoch stieß sie nirgendwo an, als führten ihre Beine das Kommando.

Den Strahlen am schwarzen Himmel, diesen Nadeln, gesellte sich eine weitere hinzu, die sie in der Hand hielt.

Ein Reigen leuchtender Flecken — bis es düster wurde.

Die Menschen, diese silbrigen Schatten, waren an den Himmel gepinnt, mit einem Nagel mitten durchs Herz. Ohne den Silbernagel in ihrer Brust zu berühren, schwebten sie dort. Ywha musste blinzeln, vertrieb die Tränen. Nein, das sind doch keine Menschen, das sind nur Sterne! Noch einmal blinzelte sie. Das sind … Schatten, aufgespießt auf weiße Nadeln. Weiß-hellblaue Schatten, weiß-rosafarbene Schatten, grünliche …

Was für ein malerischer Anblick!

Ywha lachte auf. Die lange Nähnadel zitterte in ihrer Hand.

Ein schöner Mann mit weichem, weißem Haar löste in Ywha, obgleich sie ihn nicht kannte, einen irrsinnigen Hass aus. Sie nahm ihn genau wahr, diesen Geruch von Hass. Den Geruch von Eisen.

Inmitten all der anderen Sterne prangte ein scharfzackiger.

Sie streckte sich aus. Und sie beobachtete, wie die spitzen Nadeln und der scharfzackige Stern eins wurden.

Ywha stach zu. Die Nadel bohrte sich bis zur Hälfte in den Himmel, dann rutschte sie wieder heraus. Verrostet.

Der Stern trübte sich ein.

Ein Windhauch ging. Der Geruch nach geschmolzenem Paraffin breitete sich aus. Kerzen, Kampferalkohol, ein bleiches, unbekanntes Gesicht. Lachend warf Ywha die verrostete Nadel in einen Brunnen.

Das weiße Auge des Mondes lugte aus einer fernen, tief in der Erde gelegenen Schale heraus. Ein Mond, der am Boden des Brunnens lag, eine verrostete Nadel, die das unzufriedene Auge des Mondes piekte.

Ywha fühlte sich schwerelos. So schwerelos wie nie zuvor. Die Erde lag weiter unter ihr. Mit dem Mund fing Ywha den Wind ein, der, selbst als er ihr bereits in die Lungen drang, Wind blieb. Kalt und wild.

Eine Kristallerde. Ywha sah, wie das tief in der Erde liegende Muttermal bläulich aufschimmerte. Wie eine Truhe, von Wurzeln umflochten, wie es trüb ergelbte, menschlichen Knochen ähnlich, die vergessen am Grund einer Schlucht weißten.

Jedes Geräusch fehlte, nur Gerüche gab es. Die unendlich vielfältigen Gerüche des Windes.

Ywha lachte.


Endlich kam sie wieder zu sich. Die Hexe, die vor ihr stand, blickte weiterhin stumpfsinnig durch sie hindurch, in eine Weite, die es nicht gab. In dem kleinen Kellerraum war es heiß. Es ließ sich nur schwer atmen, die rituelle Fackel blakte.

Sie brauchte einige Minuten, um ihre Benommenheit abzuschütteln. Anstelle des süßen Windes umgab sie die abgestandene Luft des Verhörraums. Hunderte von Nadeln bohrten sich ihr in die Hände, die Wangen und die Stirn.

Unsicher schüttelte sie den Kopf. Blinzelnd betastete sie ihr Gesicht. Auf ihre Schultern legten sich feste, schwere Hände.

»Das war großartig. Hast du Schmerzen?«

»Nein …«

Es war … wie damals in der Schulzeit. Im städtischen Schwimmbad. Als sie über die glitschige Trittleiter aus dem transparenten, vom Chlor blauen Wasser stieg und die Erdanziehungskraft sich ihr mit der alten, inzwischen vergessenen Last auf die Schultern legte.

Ja, genauso fühlte es sich jetzt an.

Sie wartete in ihrer Nische, wo extra für sie ein kleiner Dreifuß bereitgestellt worden war. Sie wartete, bis die ausgelaugte, benebelte Hexe hinausgeführt worden war. Sie würde sich selbstverständlich an nichts erinnern.

Ywha spürte eine flüchtige Antipathie. Und Neid. Eine genadelte Hand ist widerlich. Ein Flug über Gräser dagegen, über Baumwipfel hinweg …

»Ywha …«

Sie schaltete sich ins Jetzt zurück. Panisch riss sie sich von ihren Gedanken los. Alles Hexenhafte sollte getrost bei der Hexe bleiben. Ihre Sünden und blutrünstigen Freuden waren ihr, Ywha, durch und durch fremd, daran würde sich nie etwas ändern. Sie diente nur als Spiegel. Ein Spiegel beschlägt schließlich auch nicht, wenn er Nebel spiegelt. Ein Spiegel zerspringt nicht, wenn er einen Blitz spiegelt.

»Ywha …«

Klawdi wirkte verdrossen. Und besorgt. Als sie versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, misslang das. »Was ist?«, fragte sie deshalb, ohne zu lächeln. »Ist der Versuch gescheitert? Kreisten unsere Träume … um nichts? Gab es nichts Neues?«

Gierig stürzte Klawdi Mineralwasser aus einem schmalen Glas hinunter. Ywha spürte, wie trocken ihr Mund war. Die reinste Wüste.

Er fing ihren Blick auf. Entschuldigend zuckte er die Achseln, beförderte von irgendwoher ein weiteres Glas zutage und goss ihr ebenfalls ein.

»Ywha … Ich glaube, wir verstehen uns vermutlich besser, wenn ich dir etwas erkläre. Nämlich, was wir eigentlich suchen.«

Aus unerfindlichen Gründen fürchtete sie sich genau davor. Sie trat an den hohen Stuhl heran und setzte sich auf die Armlehne.

»All diese Hexen sind … unterschiedlich. Aber wir suchen das Gemeinsame in ihnen, Ywha. Wir brauchen … das verbindende Motiv. Ich würde es das … Grundmotiv nennen.«

Ywha sagte kein Wort.

»Falls du das jetzt noch nicht verstehst, wirst du es sicher später … Sie bringen jetzt eine andere Hexe, und du solltest versuchen, in ihren Motiven eben dasjenige zu entdecken … das sie letztlich antreibt. Das den Wunsch auslöst, sich selbst zu opfern. Den Wunsch, anderen zu folgen. Und was immer sonst noch. Ich habe keine Ahnung, Ywha! Aber eine solche Triebkraft muss es geben. Es ist das Gefühl … wenn du so willst … das Gefühl einer treu ergebenen Tochter.«

»Ich bin müde«, flüsterte Ywha.

»Was?«

»Ich … kann nicht mehr. Heute jedenfalls nicht. Es geht einfach nicht mehr. Ich bin müde.«

Sie beobachtete, wie Verwunderung und Ärger auf seinem Gesicht der gewohnten Verdrossenheit wichen. Seufzend legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid. Natürlich musst du dich ausruhen. Morgen geht’s weiter.«

Die Geheimtür öffnete sich. Der junge Mann, der darin stand, einer derjenigen, die Ywha durch das Palastinnere begleiteten, trat auffordernd in den dunklen Gang zurück.

Auf einmal fühlte sie sich traurig. Einsam und allein. »Vielleicht könnte ich …«

Er dachte bereits an etwas anderes. Ihre Frage riss ihn aus Überlegungen von staatstragender Relevanz, weshalb seine Augenbraue leicht verärgert in die Höhe schnellte. »Was?«

»Könnte ich vielleicht ein bisschen spazieren gehen?«, fragte sie ohne jede Hoffnung. »Ohne Aufpasser?«

Einen Moment lang sah er ihr in die Augen. Dann trat er an die Wand, und Ywha hörte zu ihrer Überraschung das Geräusch eines Lichtschalters. Sofort wirkte die Fackel überflüssig und fehl am Platze. Ywha hatte bisher nicht gewusst, dass sich dieser Raum derart grell beleuchten ließ.

Klawdi drehte sich um und baute sich vor Ywha auf, die, da sie den eindringlichen Blick nicht aushielt, wegsah.

»Ich vertraue dir«, sagte er langsam. »Du kannst so lange Spazierengehen, wie du willst … Na los …«

Erst im Gang, in der Begleitung des Wärters, der nach frisch gegerbtem Leder roch, erreichte sie sein Ruf: »Ywha!«

Erschaudernd blieb sie stehen.

»Ich begleite dich ein Stückchen. Du hast doch nichts dagegen?«

Die Sonne ging unter.

Durch die Straßen strich heißer Wind; Staub, Pappelflaum und Bonbonpapier strömten in kleinen Windhosen. In den Kellern der Inquisition ist es das ganz Jahr über gleichbleibend feucht und kalt, dachte Ywha. Aber dort drüben an der Kreuzung gab eine Schar sportlicher Mädchen, die erfolglos versuchte zu trampen, mit ihrer bronzenen Sonnenbräune an, mit dieser Art Bräune, wie man sie sich in langen und tristen Stunden am Strand erliegen muss.

Trotzdem blieb selbst ein verregneter Sommer ein Sommer!

Sie atmete tief ein. Der Wind spielte mit den leichten, kurzen Röcken dieser ausgelassen wirkenden Frauen — und fuhr stumpf in den undurchdringlichen Stoff von Ywhas Jeans. Beschämt zog er daraufhin ab.

Der Wind. Die Erde tief unten.

In den heißen Wind mischte sich eine einzelne eisige Brise. Eine Brise jenes Nachtwinds. Ywha erschauderte — und die Brise verschwand.

»Möchtest du ein Eis?«

Ywha schüttelte den Kopf. Sie hatte den Eindruck, Klawdi würde still vor sich hin unablässig mehrstellige Zahlen dividieren. Während er sich mit ihr unterhielt, dachte er über sie nach — und noch über etwas anderes. Und dann auch noch über etwas Drittes.

»Was willst du denn überhaupt machen? Willst du runter zum Strand? Oder shoppen?«

Ywha stöhnte traurig.

Es gehörte sich nicht, einen viel beschäftigten Mann von der Arbeit abzuhalten. Klawdis Gesicht glich einer Sanduhr, und die Zeit, die er für die junge Hexe abzweigte, war bereits fast durchgerieselt.

Hier, außerhalb des Kellers, interessierte sie ihn nicht. Gleich würde er ihr die Frage stellen, deretwegen er seine wichtigen inquisitorischen Aufgaben unterbrochen hatte. Er würde sie stellen, eine Antwort erhalten und weggehen. Allein könnte Ywha dann Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle bringen, durch die Stadt schlendern wie ein freier Mensch … Und so viel Eis essen, wie sie mochte. Denn wie es ein glücklicher Zufall wollte: Sie hatte die Tasche voller Kleingeld.

»Was bedrückt dich, Ywha?«

Ein gute Frage.

Ein Teenager skatete an ihnen vorbei. Er sprang auf die Fahrbahn, machte vor einem empört hupenden Auto eine Kehrtwende, flog wieder auf den Gehsteig und verschwand johlend um die nächste Ecke.

»Fällt dir sehr schwer, was du machst? Wozu ich dich zwinge? Indem ich dich, wie ich es gewohnt bin, unter Druck setze?«

Sie lächelte säuerlich.

Da packte er sie bei den Schultern und riss sie an sich. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Am Hals spürte sie seine kräftige Hand. Wenn er wollte, bräuchte er ihr bloß die Schlagader abzudrücken …

An der Stelle, an der sie gerade eben noch gestanden hatte, sauste ein weiterer Skater vorbei. Ywha spürte den Luftzug, der über sie hinwegzischte, und erspähte eine feuerrotes Baseballcap mit in den Nacken geschobenem Schirm. Der Junge war höchstens dreizehn. Jetzt schoss er in eine eiserne Mülltonne, stolperte und schrubbte mit den leidgeprüften Knieschonern über den Asphalt.

Als Klawdi Ywha wieder losließ, versuchte sie, seinen Blick zu meiden.

»Sag mir, wenn dich etwas beunruhigt, Ywha. Das ist wichtig.«

Sein Gesicht fungierte nun nicht mehr als Sanduhr. Kam es ihr nur so vor oder spiegelte sich in ihm eine echte, unverfälschte Sorge wider? Interessierte ihn wirklich, was in ihrem Innern vorging? Oder bedeutetet dieses »Das ist wichtig« nur dies: wichtig für die Inquisition?

»Mögen Sie Hunde, Klawdi?«

»Ja«, antwortete er prompt und ohne sich zu wundern.

»Und Katzen?«

»Auch. Wieso?«

»Und Meerschweinchen?«

»Die nicht. Und Hamster auch nicht. Fischen und Papageien stehe ich völlig gleichgültig gegenüber. Was noch?«

»Sehen Sie in mir eine Katze — oder doch nur einen Hamster? Oder ein Versuchskaninchen?«

Tief in ihrer Seele hoffte sie, sie würde ihn damit aus der Reserve locken. Er würde sich wenigstens kurz empören.

Eine vergebliche Hoffnung.

»Du bist ein Mensch. Habe ich dich verletzt? Habe ich dich wie eine Katze behandelt?«

Toll, nun durfte sie sich auch noch rechtfertigen. Weil sie den guten Herrn Inquisitor grundlos beleidigt hatte …

»Ich bin traurig.« Nervös kaute sie auf der Lippe herum. »Ich sehe mich in dem Ganzen gar nicht. Nirgends. Es kommt mir vor, als trete ich vor einen Spiegel und in dem spiegelt sich das Zimmer … und meine Sachen … nur ich nicht. Die Hexe, die gegen die Hexen vorgeht. Die Braut ohne Bräutigam. Als ob ich ein Werkzeug von Ihnen wäre … noch dazu ein billiges und aus zweiter Hand.«

»Du bist meine Mitarbeiterin«, sagte Klawdi sanft. »Meine Verbündete. Wenn du so willst, meine Freundin.«

»Das geht nicht. Seinen Mitarbeitern sagt man die Wahrheit. Und mit Freunden … ist es ohnehin schwierig. Ich hatte nie Freunde. Und Sie auch nicht.«

»Woher weißt du das?«

Da riss sich Ywha wieder zusammen.

Es dämmerte bereits. Irgendwo in einem Gartencafé erschallte durchdringend ein Banjo. Über den hellgrauen, vom Wind blank gefegten Gehsteig klackerten rote Lackschuhe mit unglaublichen Pfennigabsätzen. Die Besitzerin dieser High Heels sah Ywha nicht — so tief hatte diese, sich ihrer Schuld bewusst, den Kopf gesenkt.

»Was soll das, Ywha? Erlaubt sich da die Hexe in dir einen Spaß? Gräbst du Geheimnisse aus, ziehst du sie ans Licht?«

»Das ist doch kein Geheimnis.« Ywha hob den Kopf. »Jeder, der sich nur kurz mit Ihnen unterhält … begreift sofort, dass Sie keine Freunde haben.«

»Ist das so schlimm?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ändern lässt es sich jedenfalls nicht.«

»Weißt du was, Ywha?« Klawdi deutete ein Grinsen an. »Wenn du keine Hexe wärst, würde ich dich für ein Genie halten. Bei deiner Intuition … Du bist also der Ansicht, ich sei weder zu treuer Freundschaft noch zu hehrer Liebe fähig?«

… Der Wind im Gesicht, das Gefühl zu fliegen, geknicktes Gras, der Wald, über dessen Wipfel grüne Wellen wogten …

Ihr bleicher Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Vom Scheitel bis zur Sohle. Was sollte das? Fand sie jetzt etwa Gefallen daran, eine Hexe zu sein?!

Sie drehte sich weg und lehnte sich über einen gusseisernen Zaun, der eine Blumenrabatte säumte. »Zu hehrer Liebe … sind Sie imstande. Das weiß ich.«

»Wie solltest du das auch nicht wissen? Schließlich hast du ja dieses prachtvolle Bett gesehen, diesen Weidegrund der hehren Liebe …«

»Sie brauchen sich gar nicht über mich lustig zu machen!«

Die Scham trieb ihr jäh die Tränen in die Augen. Sie wusste nicht einmal, wer für diese ganze Situation verantwortlich war. Sie, Ywha? Klawdi? Oder jene Hexe, in dessen Seele sie heute ohne jedes Recht eingedrungen war?

»Hören Sie auf, sich über mich lustig zu machen! Denn die Liebe … die steht über alldem. Ja, Ihr Bett ist widerlich! Ja, Nasar hat mich sitzen lassen! Aber die Liebe … die Liebe schert sich einen Dreck darum. Sie fragt nicht nach uns … es ist ihr gleich, was wir von ihr denken. Es ist ihr gleich, dass ausgerechnet wir sie nicht abbekommen haben … Sie ist einfach da. Vielleicht hilft mir das sogar ein bisschen …«

»Du hast dich nie mit Philosophie beschäftigt, Ywha. Sonst würdest du sagen, die Liebe sei eine objektive Realität, die unabhängig von unserer subjektiven Wahrnehmung existiert.«

»Lachen Sie ruhig! Von mir aus sogar laut!«

»Ich mache mich nicht über dich lustig. Das ist ein Grundmotiv.«

»Was?«

»Das Grundmotiv. Für dich ist es das, was du die Liebe nennst. Für die heutigen Hexen ist es offenbar die Mutterhexe.«

»Und für Sie sind es vermutlich Ihre Zigaretten. Okay, mir reicht’s, ich gehe.«

Sie war aufgebracht genug, um nicht lange zu fackeln oder sich umzudrehen.

Die Sonne sank immer tiefer, verkroch sich hinter den Dächern. Schatten wanderte durch die Straßen, die Reklameschilder der zahllosen Straßencafés erwachten, öffneten sich wie die Augen eines Nachttiers.

Das Banjo in dem Restaurant um die Ecke war verstummt. Jetzt sang dort ein breitschultriger Mann mit erstaunlich blauen Augen zur Gitarre. Er trug ein extravagantes Jackett und zerschlissene Jeans. Ohne auf jemanden zu achten und mit gedankenleerem Kopf setzte sich Ywha an den nächstbesten Tisch.

»Was wünschen Sie?«

Zu spät fiel ihr ein, dass ihr Geld nur noch für ein Eis reichte.

»Ein Eis.«

»Sonst noch etwas?«

Der Mann mit den blauen Augen sang gut. Ein Lied über den Frühling und den Regen.

»Mehr nicht. Nur ein Eis.«

»Und zwei Cocktails sowie zwei Salate. Du hast doch bestimmt Hunger, Ywha, oder? Wie immer?«

Sie fuhr zusammen.

Priw trug Freizeitkleidung. Ein Hemd mit Blumenmuster und helle Hosen. Um seinen Hals baumelte eine Silberkette. Vermutlich steckte die Plakette, die silberne Dienstmarke der Tschugeister, unter seinem Hemd.

»Danke, aber ich will nichts«, antwortete sie automatisch.

Priw lächelte.

Ein unschönes Lächeln. Plötzlich verkrampfte sich Ywhas Bauch.

»Aber ich will. Sehr. Schon seit Langem.« Er kippte einen der aparten Bistrostühle so, dass er auf einem Bein stand, wirbelte ihn herum, setzte sich rittlings darauf und legte das Kinn auf die Lehne. »Wir beide trinken jetzt etwas. Dann tanzen wir. Ich habe genug von dem Reigentanz. Ich möchte gern mein Mädchen einladen …«

Der Sänger intonierte ein Lied über den Dschungel und die Sterne. Die Kellnerin brachte zwei hohe Gläser mit einer Flüssigkeit, die in sattem Orange funkelte. Und zwei komplizierte Gebilde aus mariniertem Gemüse.

Ywha beobachtete, wie die Limonenscheibe an der hohen Glaswand mit ihrer feuchten Seite die bunten Lichter einfing, die im Takt des schnulzigen Liedes flackerten. Ihr eigenes Gesicht kam ihr versteinert vor, tot wie eine Maske. Sie schien kreidebleich. Und offenbar nahm Priw das mit Genugtuung zur Kenntnis.

»Priw … das war nicht … richtig von mir. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht … beleidigen.«

»Ach nee?!«

»Ehrlich! Ich wusste nicht mehr, was ich tat!«

»Ich habe dich gesucht.« Sein Lächeln kehrte zurück. »An höchst zweifelhaften Orten. Ist es da nicht ein Wink des Schicksals, dass ich dich ausgerechnet in meinem Lieblingscafé treffe? Auf dein Wohl, Ywha.«

Seine Lippen wanderten ohne jede Anstrengung bis zu den Ohren. Ein alberner Tschugeist, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit — und dennoch saß er ihr gegenüber.

Ywha drehte sich um. Hoffnungsvoll blickte sie zu den Passanten hinüber, doch es wollte kein bekanntes Gesicht auftauchen. Klawdi war auch schon lange weg, hinabgestiegen in seinen feuchten Keller, wo er zur Abwechslung mal wieder den Abschaum ausrottete.

Priw ließ das Gemüse krachen. Er warf die Oliven in die Luft und fing sie mit dem Mund auf. Zufrieden grinsend fuhr er sich mit der schmalen Zungenspitze über die Oberlippe. Dann zerbiss er knackend weitere Bestandteile der Salatkomposition, und indem er sowohl die Gabel als auch jegliche Tischmanieren vergaß, verwandelte er die Nahrungsaufnahme in eine Showeinlage. Die Leute an den Nachbartischen kicherten.

»Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Ywha hilflos.

Priw schob sich in jeden Mundwinkel ein Stück von einer Frühlingszwiebel, was ihn wie einen Vampir mit grünen Eckzähnen aussehen ließ. Eine Grimasse schneidend, mimte er ein Monster. Am Tisch rechts brach man in lautes Gelächter aus. Am Tisch links schnaubte man und wandte sich ab.

»Priw«, sagte Ywha entmutigt. »Was ist für dich ein Grundmotiv? Gibt es dir was, eine Njawka zu töten?«

Sollten ihn die Worte beleidigt haben, so ließ er sich das nicht anmerken. Ungerührt saugte er seine Eckzähne ein, kaute, rutschte vom Stuhl — und zwar wortwörtlich, so wie ein müder Reiter vom Pferd rutschte. Dann wandte er sich dem Sänger zu.

Vermutlich kannten hier wirklich alle diesen Priw. Oder sein Äußeres war in diesem Augenblick besonders beredt. Jedenfalls ließ der Sänger seine eben erst angestimmte Ballade auströpfeln; in der eintretenden Stille brauchte der Tschugeist seine Stimme nicht zu erheben. »Wir bitten um einen heißen Tanz.«

»Priw!« Ywhas Hände wurden eiskalt. »Ich habe keine Lust zu tanzen.«

»Sei kein Feigling.« Mit einem schiefen Grinsen packte er sie beim Arm. »Ich werde dich schon nicht zu Tode tanzen.«

Der Sänger griff in die Saiten. Die Lichter um die Bühne antworteten mit einem Feuerwerk rhythmischer Reflexe. Wenn Ywha sich widersetzte, dann nur schwach. Priw zog sie zu der kleinen Tanzfläche, die wie eine richtige Bühne in grelles Licht getaucht wahr.

Ein scharfer Wind peitschte Ywha ins Gesicht.

Das war er, der Tanz der Tschugeister.

Sie wirbelte im Kreis, wirbelte, obwohl sie ausbrechen wollte. Jedes Mal packte die Hand ihres Partners sie kurz vor dem Ausscheren. Priws buntes Hemd loderte im Licht der Scheinwerfer, die orangefarbenen Palmen funkelten, die blauen Papageien leuchteten. Das Hemd verzauberte sie, kettete sie an den Rhythmus. Irgendwann akzeptierte Ywha verzweifelt die Regeln des Spiels, das ihr aufgezwungen worden war.

Der Boden unter ihren Füßen glühte und rauchte. Selbstvergessen und wütend tanzte Ywha, rebellierte nicht länger gegen ihren Partner, ordnete sich ihm jedoch auch nicht eine Sekunde lang unter. Im Grunde konnte sie nur so ihre Ansichten über das Leben und ihren Platz darin zum Ausdruck bringen. Genau wie die Erinnerungen an den Flug über die schiefen Kiefern. Oder den Geruch des brennenden Theaters, die Nadel, die sich durch das Sternenherz bohrte.

Eine Schar riesiger Schmetterlinge schien durch die Luft zu flattern und mit ihren Flügeln ihr Gesicht zu streifen. Von diesen Flügeln rieselte Staub, fiel ihr in die Augen, und es blieb ihr keine Zeit, ihn auszureiben, also brannte es und stach und ihr kamen die Tränen. Alles um sie herum schien sich zu verknäulen, zu verhaken, glich dem Werk einer wahnsinnigen Spitzenklöpplerin. Der Rhythmus. Dieser Rhythmus, der alles erschlug, erfasste, ihr Partner, der sich wie irre drehte.

Unter ihr der Holzboden. Über ihr die Decke mit den gipsernen Eiszapfen zur Zierde. Die flackernden Lichter.

Priw tanzte wie toll. Seine Füße berührten die glatten Bretter der Tanzfläche gar nicht mehr. Er schien weder Knochen noch Sehnen zu haben, so streckte und bog er sich in jede Richtung. Ein Schatten aus Gummi, dachte Ywha. Ein sehr klarer, präziser Schatten, der seine Bewegungen bis ins letzte i-Tüpfelchen hinein kalkulierte. Als er sie in eine nur ihm bekannte Figur eines nur ihm bekannten Tanzes einband, nahm sie flüchtig den Geruch von Veilchen wahr.

Den Geruch eines fremden Willens. Ein Spinnennetz, das sich in der Luft spannte.

In diesem Moment hakte es bei ihr aus. Nun tanzte auch sie mit einer verdreifachten Wildheit. Das unsichtbare Spinnennetz knisterte elektrisiert und zerriss. Ihre Jeans knisterten ebenfalls. Die Leute im Café schrien verängstigt auf.

Jäh verstummte die Musik. Das wirkte, als habe man einer tanzenden Marionette mit einem einzigen Schnitt der Schere sämtliche Fäden gekappt. Ywha fiel — und erst kurz vor dem Boden fing sie jemand ab.

Die Menschen, die an den Tischen saßen, applaudierten und lachten. Und sie riefen etwas. Auf dem Fußweg vor dem Restaurant hatte sich eine Menge gebildet, die teilweise schon auf den Fahrdamm drängte. Ein Auto hupte empört, da es nicht vorbeikam.

Ihre Füße schmerzten entsetzlich. Ywha blickte auf ihre Turnschuhe: die waren durchgetanzt. Am rechten klaffte die Spitze auf, der linke hatte keine Sohle mehr.

Ywha wollte losweinen, was ihr jedoch nicht gelang. Priw zog sie fort, wobei er sie so an sich presste, dass sie die Dienstmarke unter seinem tropischen Hemd spürte.

Sein Hemd war klatschnass. Er selbst hielt sich auch kaum noch auf den Beinen.

Wie hieß es doch? Versuch nicht, einen Falschspieler auszutricksen, einen Steuerinspektor mit Argumenten zu überzeugen oder einen Tschugeist niederzutanzen.

Auf der Bühne drängten sich Menschen, und der krebsrote Sänger starrte verblüfft auf seine Gitarre. Eine gerissene Saite hatte sich zu einer Spirale aufgerollt.

Priw atmete keuchend. »Du Hexe!«, brachte er zwischen den Zähnen hervor. »Du Hexe, du!«

»Lass mich los!« Sie versuchte, sich seinem Griff zu entreißen. Schwer ließ sie sich auf den nächstbesten Stuhl fallen.

»Du Hexe. Du bist wirklich eine Hexe!«

»Was ist? Hast du nicht bekommen, was du wolltest?« Sie brachte ein böses Hohnlachen zustande. »Hast du genug getanzt? Reicht’s dir?«

»Hexe!« Priw wandte sich der gaffenden Menge zu. »Meine Herrschaften, rufen Sie bitte die Inquisition.«

Er warf Ywha einen triumphierenden Blick zu, vielleicht in der Hoffnung, in ihren Augen Entsetzen und Panik zu entdecken. Verächtlich verzog Ywha die Lippen. In diesem Augenblick legte sich ihr eine schwere Hand auf die Schulter. »Die Inquisition steht zu Ihren Diensten.«

Die Stimme klang wie das Rascheln einer Schlangenhaut in einer ausgetrockneten Regenrinne. Zum ersten Mal schlich sich so etwas wie Verzweiflung in Priws Gesicht.

»Die Inquisition der Stadt Wyshna.« Die Dienstmarke am Revers blitzte kurz auf und verlosch wieder. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, junger Mann. Die Hexe ist verhaftet.«

Am ganzen Körper spürte Ywha die Blicke. Angewiderte und verängstigte, hier und da aber auch mitleidige: Die arme Hexe, so jung und schon in den unerbittlichen Händen der Inquisition.

In Priws Augen veränderte sich etwas. Im nächsten Moment begriff Ywha, dass er Klawdi Starsh erkannte hatte.

»Und du, Hexe, sitz hier nicht rum«, meinte der Großinquisitor der Stadt Wyshna seelenruhig. »Du bist verhaftet, steh auf, wir gehen.«

Völlig verkrampft hakte sich Ywha am hingehaltenen Arm unter, wie eine Ertrinkende, die nach einem Strick schnappte, den man ihr hingeworfen hat.

Priw bleckte die Zähne. Die Clownsmaske fiel von seinem Gesicht, die ewig lächelnden Lippen pressten sich aufeinander. »Einen schönen Beschützer hast du dir da geangelt! Mit dem Fußvolk gibst du dich wohl kaum ab, was, Ywha?!« Er japste. »Dann hab ich hier wohl nichts mehr verloren!« Er beugte sich vor, starrte Starsh mitten ins Gesicht. »Mein Inquisitor! Ich würde Ihnen empfehlen, nicht nur die Hexenwerte dieses prachtvollen Mädchens festzustellen, sondern auch, ob sie nicht zufällig geschlechtskrank ist. Irgendwo habe ich gelesen, dass Hauptüberträger entsprechender Krankheiten nicht professionelle Nutten seien, sondern Mädchen mit solch unschuldigen Augen … Wenn ich mich jetzt entschuldigen darf? Leben Sie wohl.« Höflich neigte er den Kopf.

Ywha registrierte, wie die Muskeln des Arms, an dem sie sich festhielt, so hart wurden wie ein Jackettärmel im Frost.


Ihre Füße waren von den Zehen bis zur Ferse wund. Von den alten Turnschuhen war nichts mehr übrig geblieben. Klawdi hatte ein Privattaxi angehalten und Ywha zum Platz des Siegreichen Sturms gebracht. Sie schien Fieber zu haben; zumindest zitterte sie entsprechend.

»Dieses … Schwein. Soll ihm doch … die Zunge … abfallen.«

»Lass das. Das hat er nur gesagt, damit du weinst.«

»Er war wütend. Wenn ich … damals nicht vor ihm weggerannt wäre, dann wäre ich genau das, was er von mir … behauptet hat.«

»Warum hast du dich überhaupt mit ihm eingelassen?«

»Wo sollte ich denn hingehen?!«

Dieses Gespräch führten sie nun schon zum dritten Mal, und Klawdi spürte einen unangemessenen Ärger. Das brachte ihm jedoch nichts. Zugegeben, das, was der Junge über Ywha gesagt hatte, hatte ihn über Gebühr aufgebracht. Ein echter Gentleman hätte diesem Schwatzkopf bestimmt auf der Stelle einen Kinnhaken verpasst …

Klawdi verzog das Gesicht. Das gäbe ein Bild für die Götter! Der Großinquisitor, der sich wegen einer junge Hexe mit einem Tschugeist prügelt. Allerdings hätte er dann auch noch Seine Durchlaucht, den Herzog, zur Vorstellung einladen sollen!

Ohne diese Wut im Bauch hätte er sicher Mitleid und Verständnis für Ywha empfunden. Aber die Wut verlangte ihm einiges ab: Er musste sich zusammenreißen, verschließen, durfte sich äußerlich nichts anmerken lassen. Ywha verstand seine Distanz als Verachtung. Als ob der Zynismus dieses Priw die Beziehung von Klawdi zu seinem Schützling hätte verändern können!

Andererseits war die Geschichte mit Priw in der Tat so einfach nicht. Klaw musste sich gewaltig anstrengen, um zu vergessen, dass Priw ein Tschugeist war; nachdem ihm das endlich gelungen war, setzte er sich selbst an seine Stelle. Unwillkürlich presste er die Lippen aufeinander. Oh, oh …

»Du musst dich ausruhen«, sagte er zu Ywha. »Morgen steht uns ein wichtiger Tag bevor. Man hat drei Hexen aus Odnyza gebracht, die sich zusammengerottet haben. Erinnerst du dich noch, was ich dir über das Grundmotiv gesagt habe? Darüber, worauf es uns ankommt?«

Schweigend starrte Ywha zum dunklen Fenster hinaus. Er wartete ihre Antwort nicht ab, ging in sein Arbeitszimmer und rief Hljur an. Er gab einige Befehle, hörte sich den Bericht seines Stellvertreters an und knirschte mit den Zähnen. Tapfer widerstand er der Versuchung, sich Ywha zu schnappen und auf der Stelle mit ihr in den Palast zu fahren, um sofort mit der Arbeit zu beginnen. Als er ins Zimmer zurückkam, stand sie da wie zuvor.

»Weißt du, was das Zeichen der Pumpe ist?«

Ohne sich umzudrehen, schüttelte Ywha den Kopf.

»Es ist ein Zeichen, das man auf der Kleidung, manchmal auch auf der Haut ausführt. Wenn man es auf die Haut malt, stirbt das Opfer innerhalb von vierundzwanzig Stunden an vollständigem Kraftverlust, Austrocknung und Salzverlust. Es auf die Kleidung aufzubringen ist einfacher und auch praktischer. Dann saugt das Zeichen den Menschen, der sie trägt, in kleinen Portionen aus. Seine Kraft geht auf die Hexe über, die das Zeichen ausgeführt hat.«

Langsam drehte Ywha den Kopf um.

»In Egre hat man ein Atelier entdeckt, eine exklusive Schneiderwerkstatt«, fuhr Klawdi bedächtig fort. »Die Frauen haben das Zeichen unter dem Futter der Jacketts eingearbeitet. Sie haben sich reiche junge Männer ausgesucht, die es zu etwas gebracht hatten. Nachdem sie jahrelang Kleidung mit diesem Zeichen getragen hatten, sind sie jetzt völlig ausgezehrt. Die genaue Zahl ihrer Kunden lässt sich nicht mehr ermitteln. Aber die Schneiderinnen waren zu gierig. Sie haben nämlich angefangen, alle Kleidungsstücke mit dem Zeichen zu versehen. Elf Todesfälle in einer Woche … Daraufhin wurde die Schneiderei entdeckt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie fett die dortigen Hexen geworden sind. Es waren zwei, um genau zu sein.«

Ywha schluckte. Ihr dünner Hals ruckte.

»Im Dorf Koschtscha … Das ist nur zweihundert Kilometer von Wyshna entfernt: unser Umland, wenn du so willst. Dort wurde ein Initiationssaal entdeckt. In einer Tiefgarage. Zwanzig aktive Hexen wurden verhaftet. Zwanzig, Ywha! So viele haben wir früher in einem halben Jahr festgenommen! Im gesamten Kreis! Ist dir überhaupt klar, was das heißt?«

»Ja.« Der gesenkte Rotschopf nickte zögernd. »Ich soll schneller als Spiegel arbeiten. Ich soll dieses Grundmotiv ausfindig machen. Also werde ich es suchen, was habe ich denn sonst für eine Chance?«

Klawdi wollte schon sagen, sie könne auch ablehnen, wenn es ihre Kräfte übersteige, brachte jedoch kein Wort über die Lippen. Schließlich war es nötig, die Mutterhexe zu finden. Sie musste gefunden werden, egal mit welchen Mitteln.

»Ywha, versteh doch! Ich will, dass du mir als meine Gefährtin nicht nur blind gehorchst. Deshalb werde ich dir jetzt etwas erzählen: Vor vierhundert Jahren hatte der Großinquisitor der Stadt Wyshna, Herr Atryk Ol, die Angewohnheit, wertvolles Papier mit seinen Notizen über die Geschehnisse des Tages zu beschreiben. Seinen letzten Eintrag machte er früh am Morgen — und am Abend desselben Tages brannte er im Namen der Mutterhexe. Ich werde dir ein Buch geben, Ywha. Seine Aufzeichnungen sind nämlich entziffert und für den internen Gebrauch in einer Auflage von fünfhundert Exemplaren gedruckt worden.«

Wieder nickte der Rotschopf, allerdings ohne jede Begeisterung.

»Ywha«, seufzte Klawdi. »Ich lasse jetzt einen Wagen kommen, und du fährst … zu dir. Du nimmst ein Bad und gehst schlafen.«

Sie hob den Kopf.

Ihre geröteten Augen hatten sich zu zwei bösen Schlitzen verengt. Die zusammengepressten Lippen erinnerten an einen feinen Faden. Sie atmete tief ein, als wolle sie etwas sagen, schwieg dann aber. Neuerlich presste sie die Lippen aufeinander und wandte sich ab.

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Klawdi leise.

Ywha zuckte nur die Achseln, um ihm damit zu signalisieren, er dürfe keine Erklärungen von ihr erwarten.

»Ich verstehe dich nicht«, wiederholte Klawdi, diesmal in erstauntem Ton. »Was habe ich dir denn jetzt schon wieder getan? Habe ich deinen kostbaren Willen eingeschränkt? Dich unterdrückt? Dich zu irgendwas gezwungen?«

»Sie sollten sich die Hände waschen, nachdem Sie mit mir zu tun hatten«, presste sie hervor. »Und die Wohnung … desinfizieren lassen. Damit so ein dreckiges Wesen wie ich … keine Spuren hinterlässt.«

Eine Weile lang schwieg Klawdi wie vor den Kopf geschlagen.

Dann ging ihm ein Licht auf. Sie knabberte noch immer an der Beleidigung, die ihr der zynische Tschugeist an den Kopf geworfen hatte. Und an der Demütigung, dass Klawdi sie gehört hatte — ohne darauf zu reagieren, ohne sich im Geringsten darüber zu wundern.

»Ywha, du kleiner Dummkopf! Warum hörst du auf den? Er ist doch nur ein Tschugeist!«

Normalerweise weigerte sich seine Zunge, dieses Wort überhaupt auszusprechen, weshalb er auch jetzt kurz stockte — was sich jedoch höchst vielsagend ausnahm.

»Er …« Ywha rieb sich die feuchten Augen. »Weshalb hat er das getan? Dieser Scheißkerl! Seine Rache hatte er schließlich schon! Aber nein: Er musste mir auch noch in den Rücken spucken! Mit Gift! Tschugeister sind doch alle gleich! Sie quälen jeden. Was die mit den Njawken machen! Ich habe das mal gesehen. Ihren Reigen! Den Ring! Mit penibler Sorgfalt bringen sie die Njawken um! Gut, die Njawken sind keine Menschen, aber die sind noch schlimmer. Warum erlaubt man ihnen das? Denn alles, was sie tun, ist legal! Geht es denn wirklich nicht anders?! Die Njawken schreien … Aber dann kommt ein Plastiksack, mit Reißverschluss, es riecht nach Veilchen … oder wie Veilchen, jedenfalls widerlich …«

Klawdi kniff sich in die Nase, reflexhaft, automatisch, denn er wollte den Geruch nicht riechen, der nur in seiner Erinnerung existierte.

Ywha verstummte. Ihre feuchten Wimpern flogen geschwind auf und ab, als wären es Flügel. Klapp, klapp …

Er drehte sich um und ging in die Küche. Dem Kühlschrank entnahm er eine Flasche Bier, öffnete sie und trank direkt aus der Flasche einen tiefen Zug. Den Geschmack nahm er nicht wahr — er wollte einzig und allein diesen Geruch vergessen. Und den Gedanken an den Sack vertreiben, aus Plastik und in schmutzigem Grün. Mit einem Reißverschluss …

»Habe ich was Falsches gesagt?«

Ywha stand in der Küchentür. Mit trockenen Augen. Aufmerksam und angespannt. Bemerkenswert! Denn Klawdi war felsenfest davon überzeugt gewesen, in seinem Gesicht hätte nicht ein Muskel gezuckt. Offenbar hatte er sich getäuscht. Er hatte sich verraten. Wodurch nur?

»Nein, Ywha, es ist alles in Ordnung. Ich kann nur … Veilchen nicht ertragen.«

Sie biss sich auf die Lippe. »Verzeihen Sie.«

»Was?«

Sie blickte ernsthaft drein. Traurig und sogar ein wenig mitleidig. »Ich dachte, ich hätte Sie an etwas Schreckliches erinnert. Es wird nicht wieder vorkommen. Verzeihen Sie.«


(Djunka. Mai)

Nachdem er zwei Stunden durch die nächtlichen Straßen gestreift war, befand er sich in einem Zustand krankhafter Verwirrung. Der Rausch war relativ schnell vergangen und an seine Stelle ein widerlicher, gemeiner Schmerz getreten. Sobald er auf das letzte halbe Jahr seines Lebens zurückschaute, schaffte er es nur mit Mühe, den Kopf nicht gegen die nächste Mauer zu knallen.

Mehr als einmal hatten ihn wie wild Autos angehupt, und die Fahrer, denen er vor den Wagen gelaufen war, hatten geflucht und ihm mit Fäusten gedroht. Mehr als einmal hatte Klawdi an das glückselige Nichtsein gedacht, das so einfach unter den Rädern dieser dummen Raser zu finden war. Zuletzt hatte er den Gedanken an Selbstmord als so erstaunlich angenehm empfunden, dass er sich eine heftige Ohrfeige verpassen musste. Was für eine hysterische Geste!

Nachdem der Schmerz des Schlages vergangen war, realisierte Klawdi, dass sich der Wunsch, Hand an sich selbst zu legen, quasi zu einer Krankheit ausgewachsen hatte. Er war zu einer Idee geworden, die ihn nicht mehr losließ. Eine Art Abschiedsgeschenk jenes Abgrunds, in den er sich dann doch nicht gestürzt hatte.

Aber immer noch stürzen konnte. Klaw ballte die Fäuste, bis sich die Fingernägel in die Handteller bohrten.

Djunka.

Du bist doch Djunka, nicht wahr?

Lange blieb er im Hauseingang stehen, und die wenigen Liebhaber nächtlicher Spaziergänge, die das Haus betraten oder verließen, schauten besorgt zu dem seltsamen, reglosen Jungen hinüber.

Später rief er den Fahrstuhl, und irgendwo zwischen dem zehnten und dem vierzehnten Stock fielen ihm die Leere unter dem dünnen Fahrstuhlboden und die beiden massiven Zugstränge ein, die — wie er vorhin gesehen hatte — oben aus dem Schachtboden herausragten.

Er schloss die Tür auf.

Djunka — oder diejenige, die er wie üblich für Djunka hielt — schlief nicht. Vermutlich schlief sie überhaupt nie.

»Klaw?«

Der Ausdruck in ihren Augen fiel ihm wieder ein. Wie sie geguckt hatte, dort oben, auf dem Dach, als sie sich über ihn beugte — über ihn, der jene Grenze immer noch nicht überschritten hatte. Irritiert und verständnislos hatte sie dreingeschaut. Und enttäuscht?

»Ja, ich bin’s«, antworte er tonlos, obwohl Djunka ihn natürlich mit niemandem verwechseln konnte. »Hallo.«

Djunka blinzelte. Wir haben uns lange nicht gesehen, dachte Klaw müde.

»Klaw, du …«

»Antworte mir, Dokija. Sieh mir in die Augen und antworte mir. Willst du mich … zu dir ziehen?«

Schweigen. Er meinte, auf dem Grund ihrer Augen kurz Panik aufflackern zu sehen.

»Willst du meinen Tod? Aber warum? Glaubst du, dann wäre alles besser? Warum bist du nicht auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob ich … mir diesen Lauf der Dinge auch wünsche?«

Schweigen. Djunkas Gesicht wurde nicht weiß, sondern grau, mit einem Stich ins Bläuliche. Das Licht der Scheinwerfer, das sich an der weißen Decke brach, riss mal die scharf hervortretenden Wangenknochen aus dem Halbdunkel, mal den dunklen Streifen der aufeinandergepressten Lippen oder die Augen, die so tief lagen, dass die Höhlen wie runde schwarze Feuer wirkten.

Sie lebte nicht.

Angst peitschte auf ihn ein, verschlug ihm vorübergehend die Sprache, erstickte und lähmte ihn. Klaw biss die Zähne zusammen. Er hatte es auch früher schon gewusst — aber es zu wissen bedeutete eben nicht, auch daran zu glauben.

»Du bist nicht Djunka«, presste er hervor. »Warum hast du mich getäuscht?«

Lautlos flogen ihre feuchten, mit winzigen Eiszapfen behangenen Wimpern auf und ab.

Wenn sie nicht Djunka war, woher kannte sie dann diese Geste?!

»Du bist nicht Djunka«, wiederholte er. »Mach mir nichts vor! Djunka hätte mich nicht … umgebracht.«

Die dunklen Lippen zitterten kaum merklich. Worte kamen jedoch nach wie vor nicht über sie.

»Ich bin selbst schuld«, urteilte er. »Aber ich wollte … Jetzt habe ich keine andere Wahl. Denn ich will leben …«

»Klaw …« Der Ton ihrer Stimme ließ ihn schaudern. »Verzeih mir, ich habe dir nie … Aber überlass mich nicht … denen. Ich liebe dich, Klaw. Das schwöre ich. Liefer mich denen nicht aus. Ich habe Angst …«

»Gibst du zu, dass du nicht Djunka bist? Gibst du es endlich zu?!«

Eine neuerliche Lichterexplosion erhellte zwei funkelnde Schlitze in ihrem Gesicht.

»Ich soll … nicht ich sein? Wenn du es sagst …«

Er wollte schon sagen: Geh dahin, wo du herkommst, ließ es aber. Seine Kehle war zugeschnürt.

»Bleib ruhig hier. Du bist frei … zu tun, was du willst. Aber ich habe Angst vor dir … Djunka. Ich gehe jetzt.«

»Verlass … mich nicht.«

»Ich will leben!«

»Klaw … verlass … mich nicht … lass uns zusammenbleiben. Bitte …«

Sie kam auf ihn zu, streckte die Arme aus. Klaw wich zurück, als sei er geschlagen worden, und stürzte davon, die Tür hinter sich zuknallend.

Er hörte ein ersticktes Stöhnen. Einen ganz und gar unmenschlichen Laut. So schrie nur ein Vampir, dem seine Beute entwischt war.

Gleich darauf vernahm er kindliches Jammern.

Er hatte vergessen, wo der Fahrstuhl war.

Er riss eine Tür auf, stolperte ins Treppenhaus und stürzte nach unten, von einem panischen, Ekel erregenden Entsetzen gepackt. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, war es ein Wunder, dass er nicht stürzte und sich die zitternden Beine brach. Seine Schuhe krachten auf den Betonstufen, und er glaubte, jemand jage ihm durch das Halbdunkel des nächtlichen Treppenhauses nach. Lautlos und schrecklich.

Dann hörte die endlose Treppe auf. In der von Lichtern erhellten Straße war keine Menschenseele. Klaw überquerte die Straße, hastete zum anderen Gehsteig und fiel, da ihm seine Beine den Dienst versagten, auf alle viere.

Ein Bonbonpapier, in den Asphalt getreten. Vermutlich das, das er im letzten Moment vor dem Schritt in den Abgrund erspäht hatte. Ein Zufall?!

Niemand beobachtete ihn. Um diese Zeit konnten ihn höchstens eine Alte, die an Schlaflosigkeit litt, oder Verliebte, die die Nacht mit Liebkosungen verbrachten, entdecken. Und was würden sie schon sehen? Einen jungen Junkie, der durch die verlassene Straße taumelte.

In seiner Nähe gab es drei Telefonzellen. Eine Phalanx, erstarrt in der Erwartung eines Jetons.

Klawdi durchwühlte seine Taschen. Er hatte aber keine Jetons. Allerdings gehörte die Nummer zu den wenigen, die man umsonst anrufen konnte.

Der Schlüssel. Der Schlüssel von der Mietwohnung. Der Schlüssel von der Tür, hinter der schmerzlich stöhnend … Nein, besser, er dachte nicht mehr daran. Der Schlüssel brannte sich in seinen Finger. Bloß weg damit!

Das metallene Bund klimperte in dem eisernen Mülleimer. Klaw empfand keinerlei Erleichterung.

Unerschütterlich hallte der Kosmos in der Telefonzelle wider. Klaw blickte zu dem einzigen Stern hoch, der nicht von Wolken und den hohen Dächern verdeckt war. Wenn das Weltall eine Stimme hätte, wäre es die einer leeren Telefonzelle, und diese Stimme sagte: Wähle!

Vier Zahlen. Jeder Bürger kannte sie: Eins, eins, eins, eins!

Der Hörer sprang auf die Gabel zurück. Nein!

Ein entsetzlicher Laut zwängte sich durch die geschlossene Tür zu ihm — und erklang gleich noch einmal, als Echo in seinem Gedächtnis. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten.

»Präg dir die Nummer gut ein, Bürger! Wir sorgen dafür, dass du in Ruhe leben kannst. Wähle vier Mal die Eins. Mit fester Hand.«

Er lachte. Mit fester Hand! Wie leicht man sich doch den größten Mist einprägt, ganz wie damals diese Kinderverse.

Etwas unterhalb der Tasten hatte eine feste Hand eine Nummer eingeritzt. Und ein schweinisches Graffito dazu.

Der Hörer legte sich an sein Ohr wie eine Pistole an die Schläfe — ohne seinen Einfluss …

Der Zeigefinger tippte vier Mal auf die Eins.

Ein kurzes Läuten. »Zentrale des Tschugeister-Dienstes«, meldete sich eine höfliche Frauenstimme. »Was kann ich für Sie tun?«

Er schwieg.

»Zentrale des Tschugeister-Dienstes. Was kann ich für Sie tun?«

Klaw zog die Gabel nach unten. Mit einer solchen Kraft, dass er sie beinah aus der Verankerung gerissen hätte.

»Mach das Telefon nicht kaputt.«

Wie kalt es war. Wie kalt es plötzlich war.

Klaw erstarrte, den Blick unverwandt auf das Graffito gerichtet. In der Telefonzelle wurde es dunkel. Denn ein Schatten fiel in sie hinein.

»Klawdi Starsh, Wyshnaer Schule Nr. 3. Der nächtliche Vernichter von Münztelefonen.«

Klaw drehte sich um.

Ihm fiel wieder ein, wo sie sich schon begegnet waren. An der Zufahrt zur Hauptstraße, als die Polizeistreife sie kontrolliert hatte und Klaw etwas von einer Prostituierten zusammengelogen hatte, woraufhin der Fahrer, der Djunka und ihn mitgenommen hatte, sie erstaunt und mit einer tüchtigen Portion Ekel angeblickt hatte. Es waren zwar zwei Tschugeister gewesen, gesprochen hatte aber hauptsächlich der größere von beiden.

»Ein komischer Zufall, nicht wahr, Klaw? Du hast noch nicht mal die Nummer zu Ende gewählt, und schon sind wir da. In voller Montur.« Auf seinem Handteller, der in einem schwarzen Handschuh steckte, lag ein Schlüssel. Genau der, den Klaw vor drei Minuten in den Müll geworfen hatte. »Ja, Klawdi Starsh. Einmal hast du mich getäuscht. An der Nase herumgeführt. Das ist vor dir noch niemandem gelungen. Du wirst es noch weit bringen. Klawdi Starsh …« Die durchscheinenden Augen des Tschugeistes kamen näher. »Du wirst es noch weit bringen, denn du bist, obwohl du mich getäuscht hast, immer noch am Leben. Meinen Glückwunsch.«

Klaw schloss die Augen.


Die Straße, die tief unter ihm dahinströmte. Die dunkelrote Schnauze einer Diesellok. Ein Föhn, der in einen Berg aus Schaum abtauchte.

Von außen betrachtet, sah das alles schrecklich aus. Trotzdem fürchtete er sich jetzt am allermeisten davor, Freude zu empfinden.

In wenigen Minuten würde etwas zerstört werden, das sein Leben in eine einzige Qual verwandelt hatte.

Eins wusste er: Wenn er jetzt auch nur einen Schatten von Erleichterung empfand, würde er sich das nie verzeihen. Dann würde er sich selbst nicht mehr in die Augen sehen können und das Recht verlieren, sich einen Mann zu nennen: Klaw zu heißen.

Und er fühlte auch keine Erleichterung.

Überhaupt hatte er die Fähigkeit eingebüßt, etwas zu empfinden. Er stand bloß da und stierte. Auf das Fenster im vierzehnten Stock. Hörte die bedächtigen Schritte im Treppenhaus, das Wummern des Lastfahrstuhls.

Dann kamen sie wieder heraus.

Und sie kam mit ihnen. Ohne dass die Tschugeister sie zerrten.

Загрузка...