Von allen psychologischen Hammerschlägen, die auf die Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts niederprasselten, war der vielleicht vernichtendste — und unerwartetste — die Entdeckung, daß es nirgendwo mehr Gedränge gab als im leeren Weltraum.
Die alte aristotelische Lehre, daß die Natur ein Vakuum verabscheut, war absolut richtig. Selbst wenn aus einem gegebenen Volumen jedes Atom scheinbar fester Materie entfernt war, blieb ein brodelndes Inferno von Energien übrig, von einer Intensität und einem Ausmaß,
wie es für den menschlichen Geist unvorstellbar war. Im Vergleich dazu war selbst die kondensierteste Form von Materie — die hundert Millionen Tonnen pro Kubikzentimeter eines Neutronensterns — ein flüchtiger Geist, ein kaum wahrnehmbarer Wirbel in der unvorstellbar dichten, aber doch schaumartigen Struktur des ‚Superraums‘.
Daß hinter dem Raum viel mehr steckte, als die naive Intuition nahelegte, wurde erstmals durch das klassische Werk von Lamb und Rutherford im Jahre 1949 enthüllt. Als sie das einfachste Element — das Wasserstoffatom — studierten, entdeckten sie, daß etwas sehr Sonderbares geschah, wenn das einzelne Elektron den Kern umkreiste. Weit davon entfernt, sich in einer glatten Kurve zu bewegen, verhielt es sich so, als würde es von unaufhörlichen Wellen in submikroskopischem Ausmaß ständig hinund hergestoßen. So schwer es fiel, diese Vorstellung zu erfassen, es gab Fluktuationen im Vakuum selbst.
Seit den Griechen waren die Philosophen in zwei Schulen gespalten — in jene, die glaubte, daß die Vorgänge in der Natur sich glatt und fließend abspielten, und in die andere, die behauptete, das sei Illusion; in Wirklichkeit vollziehe sich alles in einzelnen sprunghaften Zukkungen, die zu klein seien, um im täglichen Leben wahrgenommen zu werden. Die Aufstellung der Atomtheorie war ein Triumph für die zweite Denkschule; und als Plancks Quantentheorie demonstrierte, daß sogar Licht und Energie in kleinen Bündeln und nicht in kontinuierlichen Strömen auftraten, ging der Streit schließlich zu Ende.
In letzter Analyse war die Welt der Natur granular — nicht kontinuierlich. Selbst wenn das bloße, menschliche Auge zwischen einem Wasserfall und einem Regen von Ziegelsteinen einen sehr großen Unterschied sah, waren sie in Wirklichkeit doch ziemlich gleich. Die winzigen H2O-‚Steine‘ waren zu klein, um für die Sinne ohne Hilfsmittel erkennbar zu sein, aber mit den Instrumenten der Physiker waren sie leicht zu unterscheiden.
Und jetzt wurde die Analyse noch einen Schritt weitergetrieben. Was die granulare Struktur des Raumes so schwer vorstellbar machte, waren nicht nur ihre subsubmikroskopischen Ausmaße — sondern ihre ungestüme Heftigkeit.
Niemand konnte sich wirklich ein Millionstel eines Zentimeters vorstellen, aber wenigstens die Zahl selbst — tausendmal Tausend — war von solch menschlichen Dingen wie Haushaltsplänen und Bevölkerungsstatistiken her vertraut. Wenn man sagte, man brauche eine Million Viren, um einen Abstand von einem Zentimeter zu überbrücken, dann konnte man dem Geist damit einen Anhaltspunkt geben.
Aber ein Million-Millionstel eines Zentimeters? Das war mit der Größe eines Elektrons vergleichbar, und das ging schon weit über alles hinaus, was man sich vorstellen konnte. Man mochte es rein intellektuell erfassen, aber gefühlsmäßig nicht.
Und doch war das Ausmaß der Vorgänge in der Struktur des Raumes noch unglaublich viel kleiner — um so viel, daß, verglichen damit, eine Ameise und ein Elefant praktisch die gleiche Größe hatten. Wenn man sich ihn als blasenwerfende, schaumartige Masse vorstellte (fast hoffnungslos irreführend, aber doch eine erste Annäherung an die Wahrheit), hatten diese Blasen einen Durchmesser von…
… einem Tausendstel eines Millionstels eines Millionstels eines Millionstels eines Millionstels eines Millionstels…
… eines Zentimeters.
Und nun muß man sich vorstellen, daß diese Blasen beständig explodierten und dabei Energien freisetzten, die denen von Atombomben vergleichbar waren — und daß sie diese Energien wieder absorbierten und wieder ausspuckten, und so weiter, immer und ewig.
Das war, grob vereinfacht, das Bild, das einige Physiker gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts von der Fundamentalstruktur des Raumes entwickelt hatten. Daß die ihm innewohnenden Energien jemals angezapft werden könnten, muß zu dieser Zeit ein völlig lächerlicher Gedanke gewesen sein.
Aber das hatte, ein Menschenleben früher, auch für die Idee gegolten, man könne die neu entdeckten Kräfte des Atomkerns freisetzen; und doch war es in weniger als einem halben Jahrhundert so weit gewesen. Die ‚Quantenfluktuationen‘ zu zügeln, die die Energien des Raumes selbst verkörperten, das war eine Aufgabe, die ganze Größenordnungen schwieriger war — und der Lohn dementsprechend größer.
Unter anderem würde sich die Menschheit damit frei im Universum bewegen können. Ein Raumschiff konnte buchstäblich unbegrenzt lange beschleunigen, da es keinen Treibstoff mehr brauchte. Die einzige praktische Grenze für die Geschwindigkeit würde, paradoxerweise, die gleiche sein, mit der auch die ersten Flugzeuge zu kämpfen hatten — die Reibung des umgebenden Mediums. Der Raum zwischen den Sternen enthielt meßbare Mengen von Wasserstoff und anderen Atomen, die Schwierigkeiten machen konnten, lange bevor man die letzte Grenze erreichte, die die Lichtgeschwindigkeit setzte.
Der Quantenantrieb hätte jederzeit nach dem Jahre 2500 entwickelt werden können, und dann wäre die Geschichte der Menschheit ganz anders verlaufen. Leider verzögerten — wie es im Zickzackkurs der Wissenschaft schon oft geschehen war — fehlerhafte Beobachtungen und falsche Theorien den endgültigen Durchbruch um fast tausend Jahre.
Die fieberhaften Jahrhunderte der letzten Tage brachten viele brillante — wenn auch oft dekadente — Kunstwerke hervor, aber nur wenig neues, fundamentales Wissen. Darüber hinaus hatte inzwischen die lange Reihe von gescheiterten Versuchen fast jedermann davon überzeugt, daß es mit dem Anzapfen der Energien des Raumes genauso war wie mit dem Perpetuum Mobile, unmöglich selbst in der Theorie, von der Praxis ganz zu schweigen. Jedoch war es — anders als beim Perpetuum Mobile — noch nicht bewiesen worden, daß es unmöglich war, und bis das jenseits allen Zweifels klargestellt war, blieb immer noch etwas Hoffnung.
Erst einhundertfünfzig Jahre vor dem Ende verkündete eine Gruppe von Physikern im NullschwerkraftForschungssatelliten Lagrange Eins, daß sie endlich einen solchen Beweis gefunden hätten; es gab fundamentale Gründe, warum die gewaltigen Energien des Superraums, obwohl sie nur allzu wirklich waren, niemals angezapft werden konnten. Niemand interessierte sich im mindesten für diese Aufräumarbeiten in einer obskuren Ecke der Wissenschaft.
Ein Jahr später schallte verlegenes Hüsteln von Lagrange Eins herunter. Man hatte einen kleinen Fehler in der Beweisführung gefunden. Etwas, das in der Vergangenheit oft genug passiert war, wenn auch nie mit so folgenschweren Konsequenzen.
Ein Minuszeichen war versehentlich in ein Plus umgewandelt worden.
Mit einem Schlag war die ganze Welt verändert. Der Weg zu den Sternen war aufgetan — fünf Minuten vor Mitternacht.