14. Mirissa

Noch als sie schon eine sehr alte Frau war, konnte sich Mirissa Leonidas genau an den Augenblick erinnern, in dem sie Loren zum erstenmal gesehen hatte. Sonst gab es niemanden — nicht einmal Brant — auf den das zutraf. Das hatte nichts mit dem Reiz des Neuen zu tun; sie hatte schon mehrere Erdenmenschen kennengelernt, ehe sie Loren begegnete, und die hatten keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht. Die meisten von ihnen hätte man für Lassaner halten können, wenn sie ein paar Tage lang der Sonne ausgesetzt worden wären.

Anders Loren; seine Haut wurde nie braun, und sein auffallendes Haar färbte sich, wenn überhaupt, nur noch silbriger. Sicherlich war es das, was zuerst ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, als er mit zweien seiner Kollegen aus dem Büro von Bürgermeisterin Waldron kam — alle hatten diesen leicht frustrierten Gesichtsausdruck, der bei einer Sitzung mit Tarnas lethargischer und fest verwurzelter Bürokratie gewöhnlich herauskam. Ihre Blicke waren sich begegnet, aber nur einen Augenblick lang. Mirissa machte noch ein paar Schritte; dann blieb sie, ohne daß sie das bewußt gewollt hätte, plötzlich stehen und schaute über die Schulter zurück, nur um festzustellen, daß der Besucher sie anstarrte. Und schon in diesem Augenblick wußten sie beide, daß ihr Leben sich unwiderruflich verändert hatte.

Später an diesem Abend, nachdem sie sich geliebt hatten, fragte sie Brant: „Haben sie gesagt, wie lange sie hierbleiben werden?“

„Du suchst dir auch immer den unpassendsten Zeitpunkt aus“, brummte er schläfrig. „Wenigstens ein Jahr. Vielleicht auch zwei. Noch einmal — gute Nacht.“

Sie war klug genug, keine weiteren Fragen mehr zu stellen, obwohl sie noch hellwach war. Lange Zeit lag sie mit offenen Augen da und sah zu, wie die flinken Schatten des inneren Mondes über den Fußboden strichen, während der geliebte Körper neben ihr sanft in Schlaf sank.

Sie hatte vor Brant so einige Männer gekannt, aber seit sie mit ihm zusammen war, stand sie allen anderen völlig gleichgültig gegenüber. Warum also jetzt dieses plötzliche Interesse — sie tat immer noch so, als sei es nicht mehr — an einem Mann, den sie nur ein paar Sekunden lang flüchtig gesehen hatte und von dem sie nicht einmal den Namen wußte?

Mirissa tat sich etwas darauf zugute, ehrlich und klarsichtig zu sein; sie schaute auf Frauen — oder auch Männer — herab, die sich von ihren Gefühlen beherrschen ließen. Ein Teil der Anziehung, dessen war sie ganz sicher, bestand im Element des Neuen, im Glanz riesiger, neuer Horizonte. Daß man mit jemandem sprechen konnte, der tatsächlich durch die Städte der Erde gegangen war — die letzten Stunden des Sonnensystems miterlebt hatte — und der jetzt auf dem Weg zu neuen Sonnen war, das war ein Wunder, das ihre kühnsten Träume übertraf. Es rief ihr wieder einmal jene tiefsitzende Unzufriedenheit mit dem gemächlichen Tempo des Lebens auf Thalassa ins Bewußtsein, obwohl sie mit Brant glücklich war. Oder war es nur Zufriedenheit und nicht wahres Glück? Was wollte sie wirklich? Ob sie es bei diesen Fremden von den Sternen finden konnte, wußte sie nicht, aber ehe sie Thalassa für immer verließen, wollte sie es ausprobieren.

Am selben Morgen hatte auch Brant die Bürgermeisterin besucht, die ihn nicht ganz mit der gewohnten Herzlichkeit begrüßte, als er die Trümmer seiner Fischfalle auf ihrem Schreibtisch ablud.

„Ich weiß, du hast Wichtigeres zu tun“, sagte er, „aber was wollen wir dagegen unternehmen?“

Die Bürgermeisterin betrachtete das wirre Durcheinander von Drähten ohne rechte Begeisterung. Es fiel schwer, sich nach den berauschenden Aufregungen interstellarer Politik wieder auf die Alltagsroutine zu konzentrieren. „Was ist denn deiner Meinung nach passiert?“ fragte sie.

„Es war eindeutig Absicht — sieh nur, wie dieser Draht so lange gedreht wurde, bis er abbrach. Und das Netz ist nicht nur beschädigt, es sind ganze Stücke davon weggenommen worden. Ich bin sicher, daß niemand auf der Südinsel so etwas machen würde. Was für ein Motiv sollte er auch haben? Außerdem würde ich früher oder später auf jeden Fall dahinterkommen…“

Brants bedeutungsschwangeres Schweigen ließ keinen Zweifel daran, was dann geschehen würde.

„Wen hast du im Verdacht?“

„Seit ich angefangen habe, mit elektrischen Fallen zu experimentieren, hatte ich nicht nur gegen die Umweltschützer zu kämpfen, sondern auch gegen diese Verrückten, die glauben, alle Lebensmittel müßten synthetisch sein, weil es schlecht ist, Lebewesen aufzufressen wie Tiere — oder sogar Pflanzen.“

„Wenigstens die Umweltschützer haben vielleicht nicht so unrecht. Wenn die Falle so leistungsfähig ist, wie du behauptest, könnte sie das ökologische Gleichgewicht stören, von dem sie immer reden.“

„Die regelmäßige Riff-Zählung würde uns schon sagen, wenn das passieren würde, und dann würden wir die Falle eben einfach eine Weile abschalten. Außerdem bin ich eigentlich hinter den Meerestieren her; mein Kraftfeld scheint sie aus einer Entfernung von drei oder vier Kilometern anzulocken. Und selbst wenn alle Leute auf den Drei Inseln nichts als Fisch äßen, könnten wir in den Bestand im Ozean nicht einmal eine Delle machen.“

„Da hast du sicher recht — soweit die einheimischen Pseudofische betroffen sind. Und das hilft uns nicht viel, nachdem die meisten von ihnen so giftig sind, daß es sich nicht lohnt, sie aufzubereiten. Aber bist du auch sicher, daß der terranische Bestand gut angegangen ist? Du könntest der letzte Tropfen sein, der das Faß zum Überlaufen bringt, wie eine alte Redewendung sagt.“

Brant schaute die Bürgermeisterin voller Respekt an; ständig überraschte sie ihn mit solch schlauen Fragen. Er war nie auf die Idee gekommen, daß sie ihre Stellung nicht so lange hätte halten können, wenn sie nicht einiges mehr auf dem Kasten gehabt hätte, als auf den ersten Blick zu erkennen war.

„Ich fürchte, die Thunfische werden nicht überleben; es dauert noch ein paar Milliarden Jahre, bis die Meere für sie salzig genug sind. Aber den Forellen und Lachsen geht es sehr gut.“

„Und sie schmecken auch köstlich; vielleicht besiegen sie sogar die moralischen Bedenken der Synthetiker. Nicht, daß ich deine interessante Theorie wirklich akzeptieren würde. Diese Leute reden vielleicht, aber sie unternehmen doch nichts.“

„Vor ein paar Jahren haben sie auf einer Versuchsfarm eine ganze Rinderherde freigelassen.“

„Du meinst, sie haben es versucht — die Kühe sind schnurstracks wieder nach Hause gegangen. Alle haben so darüber gelacht, daß jegliche weiteren Demonstrationen abgeblasen wurden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie sich so viel Mühe machen würden.“ Sie zeigte auf das zerrissene Netz.

„So schwierig wäre das gar nicht — ein kleines Boot bei Nacht, ein paar Taucher — das Wasser ist nur zwanzig Meter tief.“

„Tja, ich werde Erkundigungen einziehen. Inzwischen möchte ich, daß du zwei Dinge tust.“

„Was?“ fragte Brant, bemüht, nicht argwöhnisch zu klingen, aber ohne jeden Erfolg.

„Du sollst das Netz reparieren — im Techniklager bekommst du alles, was du brauchst. Und du, sollst keine Anschuldigungen mehr vorbringen, solange du nicht hundertprozentig sicher bist. Wenn du dich irrst, stehst du dumm da und mußt dich vielleicht noch entschuldigen. Wenn du recht hast, verscheuchst du am Ende die Täter, ehe wir sie fangen können. Verstanden?“

Brant fiel die Kinnlade ein wenig herunter. So scharfsinnig hatte er die Bürgermeisterin noch nicht erlebt. Er sammelte Beweisstück A ein und verabschiedete sich einigermaßen ernüchtert.

Vielleicht wäre er noch mehr ernüchtert — oder auch nur belustigt — gewesen, wenn er gewußt hätte, daß die Bürgermeisterin nicht mehr ganz so verliebt in ihn war.

Loren Lorenson, der stellvertretende Chefingenieur, hatte an diesem Vormittag auf mehr als einen Bürger von Tarna Eindruck gemacht.

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