Kapitel 8


Nach altem Brauch sollte Siegfried die letzten Tage vor seiner Schwertleite in Abgeschiedenheit verbringen, um sich unter der Aufsicht seines Zuchtmeisters auf das bedeutsame Fest vorzubereiten. Er würde nicht nur in den Kreis der waffenfähigen Recken aufgenommen, sondern zugleich zum Nachfolger Siegmunds ernannt werden. Sieglind würde fortan nicht mehr die führende Rolle im Reich der Niederlande spielen, sie würde allmählich an Einfluß verlieren und ihrem Sohn bald nur noch eine Ratgeberin sein.

Obgleich es die Trennung von Amke und seiner Mutter bedeutete, fühlte sich Siegfried erleichtert, als er mit Reinhold zur Schwertburg zurückkehrte. Die große Stadt Xanten war ihm nach der Rückkehr von der Jagd beklemmend eng erschienen. Vielleicht lag es an den unangenehmen Blicken, die ihn trafen: Haßerfüllt begegnete ihm Harko, vorwurfsvoll und traurig Amke.

Er ging allen aus dem Weg, bis er endlich mit Reinhold zur Schwertburg reiten durfte. Das alte, vom Rhein umspülte Gemäuer war ihm in den letzten Jahren eine zweite Heimat geworden, nicht weniger vertraut als die Königsburg von Xanten. Hier war er zum Mann gereift und hatte Freunde gefunden, die wiederzusehen er sich freute: Otter und Wieland.

Sobald Siegfried und Reinhold mit kleiner Bedeckung Xanten verlassen hatten und im lockeren Trab zwischen Feldern und Weiden dahinritten, fühlte Siegfried einen stechenden Schmerz in seinem Herzen. Er bedauerte, ohne ein klärendes Wort von Amke fortgeritten zu sein. Wenn er ein Mann sein wollte, mußte er kämpfen, nicht nur um Gold und Ehre, sondern auch um die Frau, die er liebte. Aber es war noch nicht zu spät, beruhigte er sich. Er würde bald in die Königsstadt zurückkehren und dann ein Mann sein, ein Recke, der Träger des Runenschwertes!

Als Siegfried auf der Schwertburg seine Kammer betrat, um die Schwertspitze der anderen Hälfte beizufügen, war seine Erregung so groß, daß seine Glieder zu zittern begannen. Nach einem prüfenden Blick zur Tür und der erleichternden Feststellung, daß sie verschlossen war, zog er die schwere Holzkiste unter dem Bett hervor. Mit fliegenden Fingern griff er in den Lederbeutel an seinem Gürtel, der den eisernen Schlüssel enthielt.

Siegfried schloß den Kasten auf - und zögerte plötzlich, den Deckel aufzuklappen. Was, wenn der Schwertgriff verschwunden war?

Unsinn! sagte er sich.

Mit einer entschlossenen Bewegung schlug er den Deckel hoch und sah das Wolltuch, in das er die in der Wolfsburg erbeutete Schwerthälfte gewickelt hatte. Hastig zog er das Tuch auseinander - und blickte auf den Schwertgriff, erleichtert und aufgewühlt zugleich.

Andächtig, beinah zärtlich strich er über den vergoldeten Griff und die mit Gold verzierten Runen, bevor er die Spitze danebenlegte. Stärker als je zuvor spürte er den seltsamen Zauber, der von dem Schwert ausging. Die Schwertmagie schien auf ihn überzugehen, während er gleichzeitig die Magie beeinflußte. Mensch zu Stahl und Stahl zu Mensch. So fühlte er, während seine Hände wieder und wieder über die Waffe strichen. Er stellte sich vor, wie beglückend es erst sein mußte, wenn das Schwert wieder zusammengefügt war, eine unschlagbare Waffe in seinen Händen!

Aber wie sollte er die Teile zusammenschmieden?

Die Schwertleite fand schon in fünf Tagen statt. Wenig Zeit für Siegfried, heimlich aus dem zerbrochenen Schwert ein ganzes zu schmieden. Gewiß, Reinhold hatte ihn die Schmiedekunst gelehrt. Aber was war, wenn Siegfried einen Fehler beging? Wenn er die Magie des Runenschwertes für immer zerstörte?

Dieser Gedanke hielt Siegfried davon ab, in der Nacht in die Schmiede zu schleichen und ganz allein die Schwerthälften zu vereinen. Er benötigte Hilfe, die Hilfe des besten und erfahrensten Schmieds im ganzen Königreich. Die Hilfe Reinholds!



Im Durchgang zum Speisesaal der Schwertburg, wo er Reinhold zu finden hoffte, schlugen Siegfried Gelächter und Gesang entgegen, der von Leiermusik begleitet wurde. Es hatte einen fahrenden Sänger auf die Burg verschlagen, einen noch sehr jungen Burschen, den sie Volker riefen.

Alle Holzbänke war voll besetzt. Einige Burgbewohner hockten sogar auf dem nackten Steinboden und hatten bei den niedrigen Tafeln keine Schwierigkeiten, die Speisen zu erreichen. Zwischen den Tafeln und Bänken eilten die Aufwärter mit großen Krügen und Platten umher, auf denen sich Fleisch, Fisch und Käse häuften. »Wer auf der Schwertburg lebt, arbeitet wie ein Knecht«, pflegte man zu sagen, »aber er tafelt wie ein König.«

Siegfried erhaschte die Blicke von Otter und Wieland, die an der Tafel der Schmiedeburschen saßen. Wieland sah nur kurz auf und widmete sich dann wieder der klobigen Hühnerkeule in seinen vor Fett triefenden Händen. Otter aber stellte den irdenen Bierkrug beiseite und schaute neugierig zu seinem königlichen Freund, der nach einwöchiger Abwesenheit zurückgekehrt war und noch keine fünf Worte mit ihm gewechselt hatte. Auch jetzt stand Siegfried nicht der Sinn nach einer Unterhaltung mit dem Findeljungen.

Der Xantener tat, als wische er sich etwas aus den Augen, um den Blicken Otters auszuweichen. Dann entdeckte er die Tafel der Schmiede, an der Reinhold saß. Seine dröhnende Stimme verstummte nur, wenn er von einer großen Pastete abbiß oder das silberbeschlagene Trinkhorn zum Mund führte.

Während Siegfried noch überlegte, ob es klug war, mit seinem geheimnisvollen Bündel unter dem Arm durch den Speisesaal zu gehen, stand Reinhold plötzlich auf, wischte mit einem fleckigen Tuch über seinen Mund und kam auf ihn zu. Unwillkürlich trat Siegfried ein, zwei Schritte zurück in den halbdunklen Steinbogen des Durchgangs.

»Lauf nicht fort, Siegfried!« rief Reinhold. »Meine Beine sind nicht mehr so jung, und ein Wettlauf wäre nach dem reichlichen Mahl für mich eine doppelt schwere Probe. Du bist doch gekommen, um mich zu sprechen, nicht wahr?« Er postierte sich vor Siegfried und hüllte ihn mit dem Geruch von süßlichem Met und einer würzigen Schinken-Zwiebel-Pastete ein.

»Ja, Meister Reinhold. Aber woher wißt Ihr...«

»Ich habe es gelesen.«

»Gelesen?« wiederholte Siegfried, ohne zu begreifen. In wenigen Tagen wollte er ein Mann sein, doch gegenüber Reinhold kam er sich oft noch wie ein dummer Junge vor.

»In deinen suchenden, fragenden Augen las ich es«, erklärte Reinhold. »Den Blick eines anderen zu lesen ist ebenso wichtig, wie Latein und Französisch zu verstehen. Zuweilen, besonders wenn es auf Leben und Tod geht, noch wichtiger.«

Siegfried nickte und sagte: »Ich will Euer Mahl nicht stören, aber ich möchte Euch etwas zeigen, Graf Reinhold.«

Der Waffenschmied deutete auf das zusammengelegte Wolltuch, das Siegfried bei sich trug.

Siegfried trat einen Schritt zur Seite, um Reinholds Stallmeister samt Frau und Kindern in den Speisesaal zu lassen, bevor er antwortete: »Bitte nicht hier, Meister. Ich möchte das Päckchen gern unter vier Augen öffnen.«

»Klingt geheimnisvoll«, brummte Reinhold mit leicht gerunzelter Stirn und lächelte dann. »Ich bin gesättigt, und die Dämmerstunde ist die rechte Zeit für ein solches Unterfangen. Geh also voran, ich folge dir!«

Erleichtert wandte sich Siegfried um und schritt hinaus auf den Burghof, der im bläulichen Abenddämmer lag. Aus einigen Fensteröffnungen drang Kerzenschimmer, der sich im Zwielicht des schwindenden Tages verlor. Knechte und Mägde liefen über den Hof, brachten Vorräte in die Küche oder versorgten die Tiere in den Stallungen. Das Meckern der Ziegen, das Blöken der Schafe und Rinder sowie Pferdegewieher bildeten einen eigenartigen Kontrast zu der Musik im Speisesaal.

Siegfried eilte weiter, auf der Suche nach einem verlassenen, ruhigen Ort. Die Schmiedehütten, die am Rand der Burganlagen einen hufeisenförmigen Hof bildeten, lagen schweigend und dunkel. Unter der alten Linde, die dem Schmiedehof ein natürliches Dach schenkte, hielt Siegfried an und blickte sich um.

»Außer uns ist niemand hier.« Reinhold wirkte belustigt. »Oder soll ich noch Wachen aufstellen, damit keiner den Hof betritt?«

Siegfried schüttelte den Kopf. Er kniete sich hin und wickelte das Tuch auseinander, das er auf den Boden unter der Linde legte. Der Himmel warf noch genug Licht, um die beiden Schwerthälften deutlich hervorzuheben. So deutlich, daß es wirkte, als leuchte das Runenschwert, als gehe ein unwirklicher blauer Schimmer von ihm aus.

Reinhold ließ sich langsam neben seinem Ziehsohn auf die Knie sinken und betrachtete schweigend und mit ungläubig aufgerissenen Augen den Stahl. Auf dem Schmiedehof war es so still, daß Gelächter, Gesang und Musik aus dem Speisesaal deutlich zu vernehmen waren. Reinholds Lippen öffneten sich und sprachen lautlose Worte. Selten hatte ihn Siegfried so fassungslos erlebt.

Der Schmied räusperte sich, riß seinen Blick von dem zerbrochenen Schwert los und wandte sich seinem Schützling zu: »Du hast es also wirklich getan!« Seine Stimme zitterte. In den Worten schwang eine Vielzahl von Gefühlen mit: Überraschung, Anerkennung, aber auch ein deutlicher Vorwurf. »Hattest du mir nicht versprochen, dir alles gut zu überlegen?«

»Mir wurde klar, daß ich das Erbe meines Vaters nicht verleugnen darf. Was für ein König wäre ich, hätte ich nicht versucht, das Runenschwert zu erlangen?«

»Die Worte eines Mannes«, seufzte Reinhold, während er abwechselnd Siegfried und das Schwert betrachtete. »Allmählich beginne ich zu verstehen. Ich nehme an, daß dein Ausflug am Jagdtag dich zur Schlangenhöhle geführt hat?«

»Ja, Herr.«

»Und Prinzessin Amke?«

»Ich mußte sie mitnehmen, nachdem ihr Pferd vor dem Bären geflohen war. Aber sie weiß nichts von dem Schwert.«

»Das ist auch besser so«, sagte Reinhold leise. »Die Friesen haben keine gute Erinnerung an das Runenschwert und an den Feldzug, auf dem König Siegmund die magische Klinge führte.« Er lächelte plötzlich. »Die Wolfsburg hast du vermutlich in der Nacht besucht, bevor wir nach Xanten aufgebrochen sind?« Siegfried nickte eifrig und wollte von seinen unglaublichen Abenteuern erzählen.

»Nicht hier«, ermahnte ihn Reinhold. »Auch wenn der Hof verlassen scheint, kann hinter vielen Ecken ein heimlicher Lauscher verborgen sein. Gehen wir in die Schmiede!«

Sorgsam legte Siegfried sein Bündel zusammen und nahm es auf, bevor er Reinhold in eine der Schmiedehütten folgte. Der Schmied verschloß hinter ihm die Tür und schlug auch die Klappen der scheibenlosen Fenster zu. Das blauschwarze Himmelslicht, das durch den Rauchabzug einfiel, war kaum noch wahrzunehmen. Dafür lag auf dem ganzen Raum ein rötlicher Glanz, den die noch glimmenden Kohlen in der Esse ausstrahlten.

Reinhold griff nach der klobigen, rußgeschwärzten Laterne, die an einer Deckenverstrebung hing. Er löste sie vom Haken und ging mit ihr zur Esse. Er nahm eine der unzähligen Zangen, die an einem dicken Draht vor der Esse aufgehängt waren, und griff damit ein rotglühendes Kohlenstück, das er so lange an das Lampenöl hielt, bis es sich entzündete. Als er die Laterne an ihren angestammten Platz zurückhängte, verbreitete sich ein seltsamer Geruch in der Schmiede. Es roch nach Wald, nach den Beeren, aus denen das Öl gewonnen war.

»Jetzt berichte«, sagte Reinhold. Er setzte sich auf einen wuchtigen Rüsterblock, lehnte den Rücken gegen den Amboß und sah seinen Schüler neugierig an.

Siegfried blieb stehen. Er legte sein Bündel auf eine steinerne Werkbank und erzählte von seinen Abenteuern in der Wolfsburg und in der Schlangenhöhle, von dem einäugigen Wolf und der einäugigen Wasserschlange, von der Königsotter, von dem roten Falken und auch von der schemenhaften Gestalt, dem Grauen Geist. Sogar von dem Streit mit Prinz Harko berichtete er.

»Bei allen Göttern der Alten!« rief Reinhold aus, als Siegfried geendet hatte. »Selbst unser wackerer Spielmann hätte kaum eine unglaublichere Geschichte erzählen können.«

»Ihr glaubt mir nicht?« fragte Siegfried enttäuscht.

»Doch, jedes Wort. Der Beweis liegt dort auf der Werkbank. Trotzdem sind es erstaunliche Abenteuer, die du bestanden hast. Fast noch erstaunlicher ist es, daß du noch lebst! Deine Mutter hätte mich im Rhein ersäufen lassen, hätten die Bestien dir etwas angetan!«

»Es waren wirklich seltsame Bestien. Ich möchte wissen, ob es nur Tiere waren. Und warum erschien zweimal der rote Falke, um mir zu helfen?«

»Tiere können manchmal mehr als Tiere sein, so wie Menschen zuweilen mehr als Menschen sind«, lautete Reinholds rätselhafte Erwiderung. »Vielleicht war der Falke nur ein Vogel und hatte trotzdem den Auftrag, dich zu schützen.«

»Einen Auftrag.« Siegfried überlegte. »Ja, so schien es tatsächlich. Aber wer hat ihm den Auftrag erteilt?«

Reinhold blickte auf das Päckchen mit dem Runenschwert und sagte: »Vielleicht...« Dann erstarb seine Stimme, seine Stirn umwölkte sich, und er schüttelte den Kopf.

»Was wolltet Ihr sagen, Meister?«

»Mir kam da eben ein Gedanke. Aber das ist natürlich Unsinn. Aberglaube, würde Bischof Severin sagen.«

»Vieles, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, würde der Bischof nicht verstehen.«

»Da hast du wohl recht, Siegfried.« Reinholds Schmunzeln galt offenbar der Vorstellung, wie der Bischof von Xanten auf die Geschichte von Siegfrieds Abenteuern reagiert hätte. »Mein Gedanke allerdings würde Seine Eminenz zutiefst erschrecken. Ich dachte daran, daß der rote Falke das Wappentier des Xantener Königshauses ist. Und mir fiel der Glaube der Alten ein, die Seelen Verstorbener könnten in Tiere fahren.«

»Die Seelen Verstorbener...« Siegfried sprach die Worte leise und nachdenklich mit nach innen gekehrtem Blick. Als er die Bedeutung von Reinholds Äußerung erkannte, zerriß der Schleier, der sich auf seine Augen gelegt hatte. Er starrte den Lehrmeister an, als habe sich dieser in ein Untier verwandelt, in den Riesenwolf oder die Wasserschlange. Oder in den roten Falken! »Ihr wollt damit doch nicht sagen, daß mein Vater den Falken gesandt hat?«

»Das war meine heidnische Überlegung. Gewiß ein Frevel in den Augen eines Christen. Allerdings ist auch die Heilige Schrift voll von Wundern.«

»Habt Ihr Beweise für Eure Annahme?« Erregt ging Siegfried zwischen Esse und Werkbank hin und her.

»Das ist keine Sache des Beweises, sondern des Glaubens und Fühlens. Und nicht auf mich kommt es dabei an, sondern ganz allein auf dich, Siegfried. Wenn du glaubst, daß der Falke ein Bote von König Siegmund war, daß dein Vater dir sein Erbe anvertrauen will, dann solltest du das Runenschwert tragen. Andernfalls hättest du die Schwerthälften besser in der Wolfsburg und in der Schlangenhöhle gelassen.«

Zwar war Siegfried von der Offenheit überrascht, mit der Reinhold über Dinge sprach, die von der Kirche als Heidentum verteufelt wurden. Aber insgeheim hatte der junge Xantener ähnliche Überlegungen über den roten Falken angestellt. Wenn der Raubvogel ein Freund und Retter war, warum dann nicht ein Bote des Vaters? Hatte Siegfried an dem Abend, als er zur Wolfsburg ritt, nicht geglaubt, König Siegmunds Gesicht in den Wassern des Rheins zu sehen?

Er erzählte Reinhold, wie er darüber dachte.

»Ich halte deine Gedanken für weise, Siegfried. Die Götter sind mit dir.«

»Wirklich?« fragte er zweifelnd. »Was ist mit dem grauen Schemen, den ich mehrmals sah, dem Grauen Geist?«

»Vielleicht war es nur eine Ausgeburt deiner Phantasie.«

»Aber auch Amke hat ihn an der Schlangenhöhle gesehen.«

»Auch sie kann sich getäuscht haben. Wenn dort aber tatsächlich etwas war, einem Menschen ähnlich, aber doch keiner, so würde ich dabei an den Falken denken. Wer ihn geschickt hat, hat wissen wollen, ob der Vogel dir wirklich Rettung brachte.«

Ein seltsames Gefühl ergriff von Siegfried Besitz. Als wäre er eingehüllt von Wärme und Zuneigung. Niemals in den fünf Jahre seit dem Friesenfeldzug hatte er sich seinem toten Vater so nah gefühlt.

»Wir wollen uns an die Arbeit machen«, rief Reinhold und ging zur Werkbank.

»In der Nacht?« fragte Siegfried.

»Die beste Zeit, um ungestört zu arbeiten.« Reinhold schlug das Tuch auseinander und berührte das zerbrochene Schwert, ganz vorsichtig, als könne er sich daran die Finger verbrennen. Er umfaßte den vergoldeten Griff, hob ihn an und strich über die goldausgelegten Runen am oberen Ende der Klinge. »Diese Runen sind wahrlich ein Geschenk der Götter!«

Siegfried trat zu ihm und fragte: »Was bedeuten sie?«

»Es sind die beiden ersten Buchstaben des Futharks, des Runenalphabets.« Reinhold zeigte auf die erste der Goldfiguren, die aus einer senkrechten Linie mit zwei aufwärts gebogenen, nach rechts führenden Verästelungen bestand. »Dies ist die Rune Fehu.«

»Das klingt wie Vieh«, wunderte sich Siegfried.

»Das heißt es auch und vieles mehr. Fehu symbolisiert die Kraft der Rinder, die sich auf die Menschen überträgt und zugleich die Kraft der Götter ist. Fehu beinhaltet die Macht, alles zu erreichen, und das Feuer der Schöpfung und Zerstörung.«

»Und diese Rune?« Siegfried deutete auf die andere Klingenseite, die ein hufeisenähnliches Zeichen zierte.

»Das ist Uruz, Fehus Gegenstück, die Rune des mächtigen Urs, des Auerochsen. Auch Uruz steht für die Urkraft und die Macht des Feuers. Wo Fehu und Uruz sich mit dem Segen der Götter verbinden, entsteht eine unüberwindliche Kraft.«

Lange starrte Siegfried auf die Runen, gewiß zwei schöne Verzierungen, die jedem Schmied zur Ehre gereichten. Aber konnten davon wirklich magische Kräfte ausgehen? Er fragte Reinhold, ob er daran glaube.

»Das ist nicht wichtig, Sohn. Nur der muß daran glauben, der das Schwert der Götter führt.«

»Wenn es wirklich von den Göttern stammt, kann es auch magische Kräfte besitzen«, stellte Siegfried zögernd fest. Er war sich unsicher, ob es richtig war, die alten Götter neben den Allmächtigen zu stellen. »Aber kann dieses Schwert nicht ebenso von Menschenhand geschmiedet sein?«

»Natürlich kann es das, jedenfalls ist es sehr alt. Aber wenn es ein Mensch war, können doch die Götter seine Hand geführt haben. Deine Väter glaubten jedenfalls, Wodan selbst habe das Runenschwert dem Stammherrn deines Geschlechts überreicht.«

»Erzählt mir die Geschichte!« bat Siegfried.

»Gern, wenn du derweil das Feuer in der Esse schürst.«

Eifrig machte sich der junge Xantener an die Arbeit, blies mit dem doppelten Blasebalg die Glut der Kohlen an, schüttete neue Kohlen aus einem großen Eimer hinzu und verteilte sie mit dem Schürhaken.

»Das Runenschwert soll den Königen von Xanten schon gehört haben, als sie noch keine Könige und Xanten ein unbedeutender Marktflecken war«, begann Reinhold seine Erzählung. »Damals waren die Niederlande noch unter verschiedene Stämme aufgeteilt, und der Stammvater deines Geschlechts war ein Häuptling unter vielen. Als er eines Abends mit seinen Unterführern bei Wildbret und Met saß, ritt ein heruntergekommener Mann auf einer ärmlichen grauen Mähre ins Lager und erflehte seinen Schutz vor Verfolgern, die ihm ans Leben wollten. Diese waren die besten Krieger eines benachbarten Stammes, und die Unterführer rieten deinem Ahnherrn ab, zur Waffe zu greifen. Warum sollte man einen Krieg riskieren wegen eines fremden Bettlers! Als der Fremde aber erzählte, daß er von den Verfolgern heimtückisch überfallen worden sei, zögerte dein Ahne nicht länger, führte seine Mannen gegen die anstürmenden Nachbarn in den Kampf und schlug sie in die Flucht. Der Fremde bedankte sich, bevor er weiterritt, mit der einzigen Kostbarkeit, die er bei sich trug, dem Runenschwert. Der tapfere und rechtschaffene Häuptling und seine Nachfahren sollten es immer zum Kampf für die rechte Sache führen, lauteten die Worte des Fremden. Erst später dämmerte deinem Vorfahren, daß er keinem Menschen geholfen hatte, sondern einem der Götter, die damals noch in Menschengestalt auf Erden wandelten: dem Herrn der Runen selbst, Wodan. Das Schwert erwies sich als unbesiegbar, führte dein Geschlecht von Sieg zu Sieg und schließlich auf den Königsthron.«

»Und Vater hat es zerbrochen«, rief Siegfried kopfschüttelnd, während er einen Moment innehielt, den Blasebalg zu bedienen. »Warum bloß hat er es entweiht?«

Reinhold öffnete die Lippen zu einer Antwort, schwieg aber und legte den Kopf auf die Seite. Er schien zu lauschen. Ehe Siegfried eine Frage stellen konnte, legte der Schmied den Zeigefinger an die Lippen. Er griff nach einem schweren Hammer, schlich zur Tür, riß sie auf und sprang nach draußen.

Siegfried hörte Stimmen, unterdrücktes Stöhnen und ein paar dumpfe Schläge. Dann kehrte Reinhold zurück, in einer Hand seinen Hammer, die andere fest um den Arm eines schlanken Jungen gekrallt.

»Otter!« staunte Siegfried. »Was suchst du hier?«

»Dich und Meister Reinhold«, ächzte Otter. »Hätte ich geahnt, daß ich verprügelt werde, wäre ich nicht gekommen.«

»Warum bist du überhaupt gekommen?« fragte Reinhold mit harter Stimme.

»Ich sah Euch und Siegfried zur Schmiede gehen und bemerkte den aufsteigenden Rauch. Ich dachte, ihr könntet Hilfe gebrauchen. Ihr müßt eine dringende Arbeit verrichten, wenn ihr die Nacht dafür opfert.«

»Wir schaffen es schon allein«, sagte Reinhold abweisend. »Geh jetzt zurück zur Burg, auf der Stelle! Und plappere nicht herum!«

»Lieber versiegele ich meine Lippen, ehe ich mir von Euch die Zähne ausschlagen lasse, Meister Reinhold.« Anscheinend hatte Otter seinen Humor schnell wiedergefunden. Er wünschte dem Freund und dem Lehrmeister gutes Gelingen und lief hinaus, zurück zur Burg.

»Ich mag keine Spione!« stieß Reinhold hervor, als er die Tür wieder schloß.

»Ich glaube nicht, daß Otter spionieren wollte. Er ist ein guter Freund.«

»Wenn du ein guter König sein willst, solltest du dir eins merken, Siegfried: Trau keinem, der sich als dein Freund ausgibt. Besonders dann nicht, wenn du nicht weißt, wer er ist und woher er stammt.«

»Aber Otter weiß es selbst nicht.«

»Das spricht nicht für, sondern eher gegen ihn«, brummte Reinhold und blickte zur Esse. »Das Feuer ist heiß genug. Nun wollen wir unsere Kunst versuchen. Jeder erhitzt eine Schwerthälfte. Vergiß nicht, auf was du zu achten hast!«

»Das Wichtigste beim Feuerschweißen ist die richtige Hitze«, wiederholte Siegfried, was er einst von Reinhold gelernt hatte. »Bringt man die beiden Eisen nicht in die richtige Hitze, verschmelzen sie nicht. Macht man sie zu heiß, brennen sie.«

»Und wie erkennt man, wann die Eisen die richtige Hitze erreicht haben?«

»Weiß muß ihr Glühen sein, und die ersten Funken müssen aufstieben wie die liebestollen Männchen der Glühwürmchen.«

»Gut«, lächelte Reinhold und zog grobe Lederhandschuhe über seine Hände. »Lassen wir die Glühwürmchen tanzen!« Er nahm die Schwertspitze und trat an die Esse.

Auch Siegfried zog Handschuhe an und holte dann die zweite Schwerthälfte.

»Achte darauf, daß wir die Eisen gleichmäßig erhitzen«, sagte Reinhold. »Das beste Weißglühen nutzt nichts, wenn ein Eisen später als das andere erglüht.«

Zur gleichen Zeit schoben sie die abgebrochenen Enden der Eisen ins Feuer. Einer achtete auf die Eisenglut des anderen. Hin und wieder gab Reinhold kurze Anweisungen, wie Siegfried sein Eisen halten sollte.

Siegfrieds Spannung war groß und wuchs noch, als die Eisen wie Feuer zu glühen begannen. Das stählerne Feuer wurde weiß, und dann spritzten die ersten Funken davon.

»Es ist soweit!« rief Siegfried.

»Bei mir noch nicht«, erwiderte Reinhold. »Zieh dein Stück ein wenig aus der Kohlenglut!«

Siegfried befolgte die Anweisung augenblicklich, und nur noch wenige Funken stoben von seinem Eisen.

»Jetzt tanzen auch meine Glühwürmchen«, sagte Reinhold zufrieden und nahm das Eisen aus der Esse. »Los, mein Sohn, auf den Amboß!«

Beide legten ihre Schwertteile auf den großen Amboß in der Nähe der Esse. Und schon schwang Reinhold den Hammer. Kräftige, schnelle Schläge verformten das glühende Eisen. Immer wieder traf der klobige, schwere Kopf die beiden Schwerthälften und trieb sie ineinander.

Reinhold arbeitete wie ein Besessener. Schweißtropfen flogen von seiner Stirn, rannen an seinem Gesicht entlang, liefen in seine Augen - es störte ihn nicht. Erst als er sich aufrichtete und den Hammer an den Rüstblock lehnte, wischte er mit dem rußigen Hemdsärmel über seine Stirn.

»Das war’s«, keuchte er und starrte auf das Schwert, das wieder eins war. »Die Gabe der Götter ist nicht länger zerbrochen. Jetzt müssen wir die Klinge nur wieder in die richtige Form bringen, härten und schärfen.«

Was Reinhold so beiläufig aufzählte, währte den Rest der Nacht. Er und Siegfried gaben sich Mühe wie niemals zuvor. Besonders Reinhold fand immer noch etwas zu verbessern. Er glättete Stellen, deren Unebenheit Siegfried gar nicht aufgefallen war. Wieder und wieder fuhr der Daumen des Schmieds prüfend an den Schneiden entlang. Endlich war er zufrieden. Durch den Rauchabzug schimmerte schon blaßrot die Morgendämmerung. Vögel zwitscherten jenseits der steinernen Wände. In der Schmiedehütte war es stickig. Siegfried schmeckte den Ruß auf seiner Zunge. Er und Reinhold waren vollkommen verschwitzt und hundemüde. So müde, daß Siegfried es kaum genießen konnte, als er das Runenschwert in der Hand hielt. Zweifel überfielen ihn.

»Traust du unserer Arbeit nicht?« Reinhold schaute ihn fragend an.

»Ich denke an die Schwerter, die ich zerbrach.« Mißtrauisch blickte Siegfried zu dem Abkühlblock, an dem seine Klinge zerschellt war.

»Wenn wir gut gearbeitet haben, hält das Runenschwert auch dem Stahl des Blockes stand«, erriet Reinhold seine Gedanken. »Wenn nicht, sollten wir es möglichst bald feststellen. Also versuche es, Junge! Aber führe das Schwert der Götter nicht voller Zweifel, sondern mit Vertrauen!«

Der junge Xantener spürte das schon bekannte Gefühl der Wärme, das von seinem gesamten Körper Besitz ergriff. Diesmal war es stärker als je zuvor. Wie ein Feuer brannte es in ihm, als würde Siegfried mit dem Runenschwert verschmelzen.

Er öffnete die Augen, trat zum Abkühlblock, hob das Schwert und ließ es auf den Stahlklotz niederfahren. Der Block wurde sauber in zwei Hälften zerteilt. Das Runenschwert war durch den Stahl hindurchgegangen wie durch ein Stück Käse.

Siegfried starrte auf die Klinge. Sie war nicht zerbrochen, zeigte noch nicht einmal eine Schramme.

»Vollkommen unversehrt«, sagte er. »Das ist unmöglich!«

»Nein«, belehrte ihn Reinhold. »Das ist die Macht der Götter, die Kraft der Runen. Unsere Schmiedekunst hat allerdings auch einen bescheidenen Beitrag geleistet.« Zufrieden fuhr seine Hand über die Klinge. »Hart wie ein Fels, scharf wie Wodans Speer.«

Er zupfte einen Wollfaden aus seiner Hose und hielt ihn mit spitzen Fingern hoch. »Halte das Schwert gerade, mit einer Schneide nach oben!«

Siegfried gehorchte, und sein Lehrmeister ließ den Wollfaden los. Sanft wie eine Schneeflocke schwebte er herab und berührte die mehrfach geschliffene Schwertschneide. Wie von selbst teilte sich der Faden in zwei Hälften, die zu beiden Seiten der Klingen entlangglitten und dann weiter zu Boden schwebten.

»Bei Wodan, das ist die schärfste Klinge, die ich jemals sah. Du kannst stolz auf deine Waffe sein!«

»Ja«, sagte Siegfried lahm und wunderte sich, warum er nicht die angemessene Begeisterung aufbringen konnte. Es mußte an der verfluchten Müdigkeit liegen.

Reinhold lachte. »Ein hungriger Krieger ist wie ein reißender Wolf, ein müder Krieger wie eine zahnlose Vettel. Leg dich schlafen, Siegfried. Heute bist du von allen Verpflichtungen befreit.«

»Und das Schwert?«

»Nimm es mit, wenn du möchtest. Aber wickle es wieder ein, wenn du die Überraschung nicht verderben willst.«

Das Gesinde schlurfte bereits durch die Gänge der Schwertburg, um das Frühstück vorzubereiten. Aber die meisten Menschen schliefen noch. Er war froh, niemandem zu begegnen.

Rußig und verschwitzt fiel er auf die schmale Bettstatt und legte das Tuch mit dem Runenschwert darunter. Kaum hatte er sich hingelegt, da träumte er schon von den Heldentaten, die er mit dem Runenschwert vollbringen würde. Von fürchterlichen feuerspeienden Drachen, die er erschlug. Und von funkelnden Schätzen, die er erbeutete.

Und er sah sich an der Seite einer wunderschönen Frau. Seiner Gemahlin? Er wußte es nicht; er konnte sich später nicht einmal an das Gesicht erinnern. Nur daran, daß es eine Königstochter war.


Загрузка...