Kapitel 3


Dicht vor ihm, genau vor seinem Gesicht, öffnete sich das häßliche Maul unter dem rotglühenden Auge und enthüllte die scharfen Fangzähne. Heißer, fauliger Todesodem umwehte Siegfried. Der Schwarze war zurückgekehrt!

Mit einem Aufschrei warf sich der Jüngling nach vorn und umklammerte den Hals des Angreifers, wie er es in den alten Gemäuern der Wolfsburg getan hatte.

War der einäugige Wolf ein Geist, daß er von den Toten auferstanden war?

Geist oder nicht, Siegfried mußte ihn aufhalten, ihn daran hindern, die Wolfsfänge in das Fleisch des Menschen zu bohren, das Ungeheuer, wenn möglich, töten!

Und Siegfried drückte die Hände zusammen, wie eine Zange, fester und fester...

»Hör auf!« krächzte eine entsetzte Stimme. »Du bringst mich noch um, Siegfried!«

Die häßliche Wolfsfratze wurde zu dem breiten Gesicht eines Menschen. Eines zu Tode erschrockenen Menschen.

»Wieland!« stieß Siegfried überrascht hervor und lockerte den Griff um den breiten, kräftigen Nacken.

Der massige Schmiedebursche taumelte rückwärts durch Siegfrieds Kammer und tastete mit zitternden Fingern nach seinem geröteten Hals.

»Unser Freund Siegfried scheint beschlossen zu haben, uns allen den Garaus zu machen«, zwitscherte eine hohe Stimme. »Gestern schleuderte er eine Schwertspitze nach mir, und heute geht er dir an den Kragen, Wieland!« Die schlanke Gestalt Otters schob sich hinter Wielands breitem Kreuz hervor und grinste den auf seinem schmalen Bett liegenden Xantener an. »Du mußt ja einen schrecklichen Alptraum gehabt haben.«

Otter ahnte wohl kaum, wie richtig er mit dieser Vermutung lag. Siegfried sah sich wieder in der Wolfsburg, im Kampf mit dem Schwarzen. Dann das plötzliche Eingreifen des Falken - und das Runenschwert!

Mit der erbeuteten Schwerthälfte war er auf den Burghof zurückgekehrt, nachdem er seinen Dolch aus dem Wolfsleib gezogen hatte. Und noch einmal hatte er festgestellt, daß dies der größte Wolf war, den er kannte. Fast schade, daß er ihn zurücklassen mußte. Was für eine Trophäe!

Kaum saß er im Sattel, hatte er erkannt, daß die Gefahr noch längst nicht vorüber war. Rund um die alte Burg erklang schauerliches Geheul. Also war das Untier kein Einzelgänger gewesen, sondern der Leitwolf.

Siegfried verließ die Burg und ritt so schnell zurück, wie es Walddickicht und Dunkelheit erlaubten. Immer wieder drangen die Schreie der Wölfe an seine Ohren. Dann hörte er das Rascheln im Unterholz und sah unzählige glühende Augen in der Finsternis leuchten.

Er trieb Graufell an, und Graufell war schnell. Trotzdem schafften ein paar Wölfe den Angriff.

Über zwei, drei Raubtiere flog Graufell mit schnellen Sätzen hinweg. Einen Wolf traf Graufells kräftiger Huftritt, doch ein weiterer sprang auf den Pferderücken. Siegfrieds Dolch fraß sein Fleisch und sein Blut; mit kläglichem Todeswinseln rutschte der Angreifer zu Boden.

Dann lag offenes Gelände vor Reiter und Pferd. Graufell holte noch weiter, noch schneller aus. Der Königswald fiel zurück und mit ihm die Wölfe.

Siegfried hatte dank Graufells erstaunlicher Schnelligkeit die Schwertburg noch vor dem Morgengrauen erreicht. So müde war er gewesen, daß er dem Runenschwert kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er verschloß es in der Holzkiste unter seinem Bett, in der er seine persönlichen Sachen verwahrte.

»Schau dir das an, Wieland, der Kerl schläft glatt im Sitzen wieder ein!« krähte Otter und rüttelte Siegfried, dem die Augen wieder zugefallen waren. »He, aufwaaacheeen!«

Siegfried verzog das Gesicht und stöhnte. Otters schlanke Hand hatte eine tiefe Kratzwunde getroffen.

Der Schmiedebursche mit der seltsam bräunlichen Hautfarbe bemerkte sein Mißgeschick und zog die Hand zurück. »Hast du heimlich gekämpft?«

»Nein«, erwiderte Siegfried hastig. »Ich habe die Zähne meines neuen Pferdes zu spüren bekommen.«

»Sieht nicht wie ein Pferdebiß aus«, meinte Otter.

»Ist aber einer!« entgegnete Siegfried verärgert.

»Sieht eher nach einer Wildkatze aus«, fuhr Otter fort, während seine dunklen Augen auf Siegfried ruhten. »Und da sind noch mehr solcher Wunden!«

»Das geht euch nichts an!« knurrte der Xantener und zog die Lammfelldecke über seinen nackten Oberkörper. Er sah durch das Fenster, dessen Verschlag geöffnet worden war. »Überhaupt, was weckt ihr mich so früh am Morgen? Bis zur Arbeit hat es bestimmt noch eine Stunde!«

»Nein«, erwiderte Otter. »Du sollst dich fertigmachen, um mit Reinhold nach Xanten zu reiten. Ein berittener Bote kam im Morgengrauen und meldete das Nahen der Friesen. Eine ganze Flotte kommt den Rhein herauf, und über den Schiffen weht das königliche Wolfsbanner.«

»König Hariolf«, murmelte Siegfried. »So früh schon?«

»Meister Reinhold ist auch beunruhigt«, brummte Wieland, der noch immer seinen Hals rieb. »Er will in Xanten sein, noch bevor die Friesen dort ankommen. Du sollst dich beeilen. Er läßt den Grauen satteln.«

Der Graue!

Bei dem Gedanken an das tapfere Pferd fühlte sich Siegfried gar nicht wohl. Der nächtliche Ausflug mußte selbst ein so kräftiges Tier erschöpft haben. Sollte Siegfried seinem Ziehvater reinen Wein einschenken? Aber was war, wenn Reinhold ihm verbot, auch die zweite Schwerthälfte zu holen?

Nachdem Otter und Wieland ihn verlassen hatten, zog er sich an und ging schlaftrunken in den Speisesaal. Trotz der nächtlichen Aufregung verspürte er kaum Hunger und begnügte sich mit Brot, etwas Würzquark und Ziegenmilch.

Seine beiden Freunde hatten sich zu ihm gesetzt, und Otter frotzelte: »Dir schmeckt die einfache Landkost wohl nicht mehr, wo du bald ein König sein wirst. Träumst wohl schon von wohlriechenden Leckereien, von Fleischpasteten und kandierten Früchten.« Bei dieser Vorstellung schleckte Otters lange Zunge über die Lippen.

Otters Worte trafen Siegfried. Nicht, weil sie wahr gewesen wären. Der Prinz aus Xanten hatte sich auf der Schwertburg sehr wohl gefühlt, das einfache Leben und die harte Arbeit hatten ihm gefallen. Was ihn bedrückte, war der Gedanke an den Verlust all dessen, was sein Leben in den letzten Jahren ausgemacht hatte. Der Verlust von Freunden und von jugendlicher Ungezwungenheit.

Manche Nacht hatte er mit offenen Augen in der engen Kammer gelegen und davon geträumt, ein tapferer Ritter in strahlender Rüstung zu sein, ein weiser, angesehener König, fremde Länder zu bereisen, gegen feindliche Recken und Untiere zu kämpfen. Immer hatte er an all das gedacht, was er gewinnen wollte, nie an das, was er dabei unweigerlich verlieren würde: Otter, Wieland und die Träume, die sich erfüllten. In gewisser Weise auch Graf Reinhold, der nicht länger sein Zuchtmeister, sondern sein treuer, ergebener Untertan sein würde.

»Was denn, warum steht ihr hier so untätig herum?« brüllte Reinhold.

Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, stand er gestiefelt und gespornt im Durchgang zum Burghof. Das seidige Hemd und das samtene Wams wollten nicht recht zu der großen, kräftigen Gestalt passen. Vielleicht hatte Siegfried diesen Eindruck auch nur, weil er Reinhold zumeist mit nackter Brust und lederner Schürze an seiner Esse vor sich sah.

»Komm schon, Siegfried«, mahnte Reinhold. »Graufell steht bereit.«

Schnell verabschiedete sich Siegfried von Otter und Wieland und lief hinaus. »Nur zwei Pferde?« staunte er, als er in den Hof kam, wo Graufell neben einem großen Rapphengst stand. »Nehmen wir kein Gefolge mit, keine Knappen, kein Gepäck?«

»Wozu uns damit aufhalten?« entgegnete Reinhold und schwang sich in den Sattel, ohne auf die Hilfe des Reitknechts zu warten, der die Zügel hielt. »Graufell und Nachtwind sind die schnellsten Pferde weit und breit. Alles andere würde uns nur aufhalten und König Hariolf einen Vorsprung verschaffen.«

Auch Siegfried stieg in den Sattel. Sie verließen die Schwertburg und galoppierten gen Süden. Zwar lag auch Xanten am Fluß, aber die Reiter nahmen den kürzesten Weg und folgten nicht den zahlreichen Windungen des Stroms.

Unwillkürlich mußte Siegfried wieder an den einäugigen Wolf denken und fragte sich, ob es wirklich nur ein Tier gewesen war. Es gab die alten Geschichten von Ungeheuern, die man Mannwölfe, Nachtwölfe oder Werwölfe hieß. War das Wahrheit oder Aberglaube? Siegfried wußte es nicht, doch das unbestimmte Gefühl blieb, daß ihm eine überirdische Macht entgegengetreten war.

Er dachte an den Falken und fühlte sich in dieser Annahme bestätigt. Stärker noch als der Wolf hatte der große Vogel in ihm die Empfindung hervorgerufen, es mit unheimlichen Kräften zu tun zu haben. Der Falke war sein Retter gewesen. Doch wer hatte ihn geschickt?

Wodan selbst, der göttliche Stammvater des Xantener Königsgeschlechtes? Siegmund, sein toter Vater? Oder der unheimliche Mann in Grau?

Die graue Gestalt war vielleicht das seltsamste Erlebnis dieser an Seltsamkeiten nicht armen Nacht. Am Ende des Königswaldes, wo die Bäume spärlicher wurden, hatte Siegfried plötzlich diesen Mann erblickt. Tief verhüllt in einen weiten grauen Mantel, eine Kapuze über den Kopf gezogen, stand er dort, auf einen langen Stab gestützt, und erhob die rechte Hand, wie eine Warnung. Dann war Siegfried auch schon an ihm vorbeigeritten, gehetzt von den wilden Wölfen.

»Haaalt!«

Reinholds langgezogener Ruf riß Siegfried aus den Gedanken. Er mußte Graufell zügeln, um nicht gegen Nachtwind zu prallen. Reinhold hatte seinen Rappen mitten auf dem Weg halten lassen.

»Nach links, Junge«, sagte der Schmied und deutete auf einen Durchlaß zwischen hohen Brombeersträuchern. »Dort gibt es eine Lichtung mit einer kleinen Quelle.«

Er stieg aus dem Sattel und ging voran, führte den Rappen zu der Lichtung und achtete darauf, daß Nachtwind nicht zu hastig und zuviel trank. Ebenso kümmerte sich Siegfried um Graufell. Die Tiere begannen zu grasen.

Reinhold lehnte sich gegen den hellen Stamm einer verwachsenen Birke und zeigte auf den Grauen. »Graufell war schon einmal ausdauernder. Er ist immer wieder zurückgefallen. Hätte ich Nachtwind nicht dauernd gezügelt, hättet ihr uns längst aus den Augen verloren.«

»Graufell ist noch erschöpft«, bekannte Siegfried, der an der Quelle kauerte und Wasser mit der Hand schöpfte, um seinen Durst zu löschen.

»Von deinem nächtlichen Ausritt.«

Reinholds Worte waren keine Frage, sondern eine Feststellung. Siegfried hielt in der Bewegung inne, und das Wasser rann aus seiner hohlen Hand.

»Ihr wißt es also, Meister Reinhold.«

Sein Ziehvater lächelte und nickte. »Ich kann dich gut verstehen, Junge. Wenn ich ein Pferd wie Graufell hätte, könnte ich auch nicht ruhig schlafen. Ein nächtlicher Ausritt mit dem edlen Tier wäre nicht das, woran ich zuletzt dächte.«

Siegfried war erleichtert, daß Reinhold nichts von dem Abenteuer in der Wolfsburg zu ahnen schien.

»Ja«, sagte er schnell. »Es hielt mich nicht im Bett, aber ich habe meinen Ausflug wohl etwas übertrieben.«

»Ein weniger kräftiges Tier als Graufell hätte sich heute gar nicht aus dem Stall bewegt. Und du bist in der Dunkelheit ganz hübsch von den Zweigen zerkratzt worden.«

»Das habe ich erst bei meiner Rückkehr bemerkt«, sagte Siegfried und fühlte sich nicht wohl dabei, seinen Ziehvater zu hintergehen.

Reinhold erhob sich, überquerte die Lichtung, tätschelte liebevoll Nachtwinds Hals und stieg in den Sattel. »Ich denke, Graufell hat sich genug erholt, um es bis nach Xanten zu schaffen. Dort kann er sich an königlichem Hafer laben.«



Sie erreichten Xanten in der Mittagszeit, noch vor der Friesenflotte. Die Kunde von König Hariolfs Ankunft hatte bereits die Runde gemacht, und die große Stadt am linken Rheinufer bereitete sich emsig auf seinen Empfang vor, auf Festtage voller Frohsinn und guter Geschäfte.

Schuster, Waffen- und Kunstschmiede, Bäcker, Wein- und Fischhändler bauten ihre Stände auf. Seiltänzer und Schlangenmenschen führten Kunststücke vor. Spielleute buhlten mit den lauten, oft schrägen Melodien von Flöte, Trommel, Drehleier oder Rebec um die Gunst des Publikums. Bettler streckten ihre Schalen und Beutel aus, baten darum, daß man sie an diesen fröhlichen Tagen nicht vergessen möge.

Über allem lag ein seltsamer Geruch, ein Gemisch aus dem Duft süßer Speisen und dem Schweiß, den Mensch und Tier bei der Arbeit vergossen.

»Gut, daß wir ohne Gefolge und ohne großen Pomp kommen«, bemerkte Reinhold, während Nachtwind und Graufell sich einen Weg durch die vollen Straßen bahnten. »Schon der edle Herr und sein Knappe, für die man uns hält, werden von reichlich Bettlern und Gauklern aufgehalten. Würden die Leute den Königssohn erkennen, gäbe es für uns kein Durchkommen mehr.«

Siegfried wollte ihm recht geben, aber seine Antwort blieb ihm im Halse stecken.

Die Gestalt dort zwischen all den Bettlern!

Sie gehörte nicht dazu, trotz der grauen Kutte und der Kapuze. Sie drängte sich nicht vor, schrie nicht nach Münzen und Barmherzigkeit.

Stand nur aufrecht da.

Wie in der Nacht.

Grau.

Geisterhaft.

»Paß auf, sonst reitest du das Pack noch über den Haufen!« warnte ihn Reinhold und griff in Siegfrieds Zügel. Gerade noch rechtzeitig, sonst hätten Graufells Hufe eine warzige Alte getroffen, die auf dem Boden hockte und apathisch eine brüchige Tonschale hochhielt. »Wo hast du deine Augen, Junge? War der Nachtritt so anstrengend, daß du jetzt im Sattel einschläfst?«

»Verzeiht«, murmelte Siegfried und warf einen verstohlenen Blick über die Schulter.

Der Graue Geist war verschwunden.

Sie näherten sich dem Dom, der an der Stelle des vor einigen Jahren niedergebrannten Stiftes entstand. Einige Gebäude waren bereits fertig, andere noch im Bau. Die Steinmetze, Mörtelmischer, Maurer, Zimmerleute und Dachdecker schufteten hier wie jeden Tag, ohne Rücksicht auf den Besuch des Friesenkönigs.

»Der Herrgott hat seine Gläubigen gut im Griff«, meinte Reinhold spöttisch, während er beobachtete, wie vier kräftige Männer in einem Tretwerk schweißnaß auf der Stelle liefen, um einen mächtigen Steinquader auf das Baugerüst zu hieven. »Jedesmal, wenn ich nach Xanten komme, entdecke ich eine neue Kapelle oder einen neuen Turm. Wenn Bischof Severins Leute so weitermachen, wird bald ganz Xanten mit Kirchenbauten überzogen sein.«

»Die Burg gewiß nicht«, sagte Siegfried. Er sprach völlig ernst und ging nicht auf Reinholds Spott ein. Sein Blick ruhte auf den Türmen, Zinnen und langgestreckten Wehrmauern der Burg, die sich am Rheinufer erhob. Über ihr, auf dem Burgfried, wehte das königliche Banner im Wind.

Hier war Siegfried aufgewachsen. Von hier würde er bald über die Niederlande herrschen. Dieser gewaltige Klotz, zusammengesetzt aus unzähligen dicken, festen Steinen, war ihm schon als Kind wie das größte Bauwerk auf Erden erschienen. Der Dom wuchs zwar, aber konnte er jemals die Xantener Königsburg übertreffen?

Unmöglich!

Auch zur Landseite hin schützten die Wasser des Rheins das Bollwerk. Ermöglicht wurde das durch breite Gräben rings um die Burg. Aber heute waren alle Zugbrücken heruntergelassen. Emsige Betriebsamkeit herrschte auch hier. Herolde und Dienstmannen ritten ein und aus. Beladene Wagen und Maulesel zogen in den Burghof, brachten Vorräte, um die hohen Gäste aus dem Norden angemessen zu bewirten.

Die beiden staubbedeckten Reiter wurden erst erkannt, als sie das große Torhaus erreicht hatten. Ein Diener wollte sie zur Königin führen, aber Reinhold meinte, er und Siegfried sollten sich erst frischmachen. Sie beeilten sich mit dem Bad in der dampfstickigen Badestube, die an diesem Tag so überfüllt war, daß sie sich einen der großen Fichtenholzzuber teilen mußten.

Sie trafen Königin Sieglind im großen Festsaal, wo sie dem Kämmerer, dem Mundschenk und dem Truchseß Anweisungen für die bevorstehende Empfangsfeier gab. Sieglind war eine beeindruckend schöne Frau, obwohl ihre Kleidung schlicht und schwarz war wie immer seit jenem Tag, als die heimkehrenden Recken ihr die Kunde von König Siegmunds Tod gebracht hatten. Viele Fürsten hatten seitdem um sie geworben, aber seltsam, Sieglind schien ihrem Gemahl die Treue bis über den Tod hinaus zu halten. Oft sprach sie gar von ihm, als lebe er noch.

Ein Lächeln zog über ihr ebenmäßiges Gesicht, als Reinhold und Siegfried auf sie zuschritten. Siegfried wollte die ehrfürchtige Verbeugung seines Zuchtmeisters nachahmen, aber Sieglind streckte die Arme aus und zog den Sohn an sich.

»Groß und stark bist du geworden, wie dein Vater«, sagte sie anerkennend. »Früher hätte dein Kopf an meiner Brust geruht, jetzt muß ich zu dir aufsehen, wenn ich mit dir spreche.«

Siegfried fühlte sich ein wenig verlegen. Er wußte nicht, ob er sich gegenüber der Mutter als Edelmann oder als Sohn verhalten sollte, hier, vor aller Augen.

Die Königin wollte den Truchseß beauftragen, den Gästen Speise und Trank zu bringen, als ein Bote meldete, daß die friesischen Schiffe vor Xanten erschienen waren. »Jetzt werdet ihr König Hariolf mit knurrenden Mägen empfangen müssen«, seufzte Sieglind und strich dem Sohn zärtlich über das Haar. »Aber du solltest dich umziehen, Siegfried. Dein ledernes Wams und die einfache Hose mögen einem Schmied gut zu Gesicht stehen, aber der zukünftige König der Niederlande sollte ruhig ein wenig prunken.«



Als er zu seiner Mutter und einer Anzahl edler Herren auf einen der Rheintürme stieg, trug Siegfried ein golddurchwirktes Gewand aus feinstem friesischem Tuch, das Sieglind für ihn mit Rücksicht auf die Gäste ausgesucht hatte. Seinen Umhang zierte das Wappen des Xantener Königshauses: auf blauem Grund ein roter Falke, der seine Schwingen schützend über den güldenen Zinnen einer Feste ausbreitete. Man nannte Siegfrieds Geschlecht auch die Falken vom Rhein.

Zu denen, die von hier oben die Ankunft der Friesen beobachteten, gehörten Reinhold und Severin, der kugelbäuchige Bischof von Xanten. Alle starrten gebannt über die Zinnen des Wehrturms auf den Fluß hinunter, wo sich mit kräftigen Riemenschlägen eine nicht enden wollende Reihe von Schiffen gegen die Strömung voranschob. Die Flotte sah aus wie ein sagenhafter Lindwurm, der aus Holz und Segeltuch bestand. Über jedem Schiff wehte das Banner des Friesenkönigs im frischen Wind, der die Kommandos der Schiffsführer und Steuerer bis auf den Wehrturm trug.

»Eine ordentliche Streitmacht, mit der Hariolf da anrückt«, brummte Reinhold mit deutlicher Mißbilligung. »Das will mir gar nicht gefallen!«

»Der Krieg mit den Friesen ist seit fünf Jahren vorbei, Graf Reinhold«, belehrte ihn Sieglind.

»Aber wir haben nur Waffenstillstand geschlossen, keinen formellen Frieden«, wandte der berühmte Waffenschmied ein, der neben König Siegmund und Graf Grimbert der wichtigste Heerführer im Friesenfeldzug gewesen war.

»Eben deshalb haben wir König Hariolf eingeladen«, sagte die Königin, und ihre Miene verdüsterte sich. »Vielleicht können wir endlich die große Schuld abtragen, die wir vor fünf Jahren auf uns genommen haben.«

Niemand erwiderte etwas. Betretenes Schweigen und angestrengte Blicke hinunter zum Fluß, wo die ersten Friesenschiffe Anker warfen. Am Hof von Xanten sprach man nicht gern über den Friesenfeldzug und über das, was zu König Siegmunds Tod geführt hatte.

In ihrer wüsten Raserei hatten die niederländischen Recken alles niedergebrannt, nicht nur Burgen, auch Städte und sogar Klöster. In einem Nonnenkloster, das unter Siegmunds Führung geplündert und gebrandschatzt wurde, starb König Hariolfs Gemahlin, Königin Amata.

So ausführlich hatte niemand die Geschichte Siegmunds Sohn erzählt. Er hatte sie sich selbst zusammengesetzt, aus Bruchstücken und Andeutungen. Und er wollte nicht glauben, daß sein Vater so gegen alle Ritterlichkeit verstoßen hatte. Er wußte nicht, was schlimmer war, die Schande oder der Tod des Vaters.

»Die Grenzstreitigkeiten, die damals zum Krieg mit Friesland führten, sind noch nicht beigelegt«, brach Reinhold das Schweigen.

»Dann werden wir sie beilegen!« erklärte Sieglind mit Nachdruck.

Reinhold sah sie entsetzt an. »Wollt Ihr etwa nachgeben, Königin, und auf unsere Grenzmarken verzichten? Auf das, wofür wir so hart gekämpft haben, wofür so viele Recken gestorben sind? Das könnt Ihr nicht tun!«

»Ich kann es tun«, entgegnete Sieglind mit ruhiger Bestimmtheit. »Denn wie Ihr eben sagtet, Graf Reinhold, ich bin die Königin!«

»Ihr habt recht, hohe Frau«, mischte sich Severin ein. »Der Friede ist mehr wert als ein paar Ländereien.«

»Zumindest dann, wenn es nicht das Land der Kirche ist«, schnaubte Reinhold und erntete einen erbosten Blick des Bischofs.

Am Ufer formierte sich der Zug der Gäste in Richtung Burg. Pferde wurden über wacklige Planken an Land geführt. Krieger und Dienstmannen nahmen in geordneten Reihen Aufstellung.

»Wir sollten hinunter in den Burghof gehen«, sagte Sieglind. »Es macht einen schlechten Eindruck, wenn wir König Hariolf von hier oben begrüßen - wie die neugierigen Vögel, die wir in Wahrheit sind.« Wieder strich sie über Siegfrieds Haar. »Schön, daß du rechtzeitig gekommen bist, Siegfried. So ist unsere kleine Familie zum Empfang beisammen.«

»Nicht ganz«, warf Bischof Severin ein. »Der götzendienerische Ketzer Grimbert fehlt wie immer.« Für diese Worte bedachte die Königin ihn mit einem strafenden Blick. Schamhafte Röte überzog das runde Bischofsgesicht. »Verzeiht, hohe Frau, das ist mir so entfahren!«

Mit knappem Nicken ging Sieglind an ihm vorbei, hinunter in den Burghof.

»Mußtet Ihr Grimbert erwähnen?« fuhr Reinhold den Bischof leise an.

Grimbert war Sieglinds älterer Bruder, er hatte ihr stets als treuer Beschützer zur Seite gestanden und hätte als Siegfrieds Oheim nach alter Sitte die Erziehung des Prinzen übernehmen sollen. Aber nach dem Friesenfeldzug, auf dem er Seite an Seite mit König Siegmund und Graf Reinhold gekämpft hatte, war er wie verwandelt und kümmerte sich kaum noch um seine Aufgaben am Hofe. Dem Christengott hatte er noch nie viel abgewonnen. Nun aber lästerte Grimbert öffentlich wider ihn. Immer öfter zog er hinaus in die Wälder, und man munkelte, er bete an geheimen Orten die alten Götter an. Ein Runenkundiger sollte er sein, ein Seher und Zauberer. Je seltener er sich in Xanten zeigte, desto wilder wucherten die Gerüchte. Seit zwei Jahren schien er gänzlich verschollen, und die von seinem Tod gehört haben wollten, mehrten sich.

Posaunengeschmetter begleitete den Einzug der Friesen in die Königsburg. Der Xantener Hof bildete ein weites Halbrund, um die Gäste zu begrüßen.

Siegfried, der neben seiner Mutter stand, erkannte König Hariolf sofort, obgleich er ihn niemals zuvor gesehen hatte. Ein nicht übermäßig großer, aber kräftiger und stolzer Mann auf einem edlen Rappschecken. Ein lockiger Bart, rotbraun wie das Haar, zierte Wangen und Kinn, ließ aber die Oberlippe frei. Das Gesicht war von tiefen Linien durchzogen, und jede stand für mehr als ein erlittenes Leid.

Es sah so aus, als wolle er die Königin der Niederlande beleidigen und sie vom Pferd aus, von oben herab, begrüßen. Aber dann schloß er die schon geöffneten Lippen wieder und stieg zur allgemeinen Erleichterung des Xantener Hofstaates aus dem silberbeschlagenen Sattel. Er verbeugte sich vor Sieglind und grüßte sie als hohe Frau und gnädige Königin.

Sie erwiderte den Gruß, hieß den Gast willkommen und stellte ihm ihre wichtigsten Berater und ihren Sohn vor. Die Reihe war wieder an Hariolf, der seine Kinder mitgebracht hatte, Sohn und Tochter.

Prinz Harko, der sein Ritterschwert noch nicht lange tragen konnte, war eine jüngere Ausgabe des Vaters, mit fast gleicher Haar- und Barttracht. Die fehlenden Furchen der Lebenserfahrung machte er durch die Arroganz wett, mit der er den Xantenern gegenübertrat. Siegfried mochte ihn vom ersten Augenblick an nicht.

Ganz anders verhielt es sich mit Prinzessin Amke, die ein oder zwei Jahre jünger als Siegfried war. Ihr offenes, von ein paar kecken Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht mit den leuchtenden Augen, die alles begierig in sich aufnahmen, zog Siegfried fast magisch an. Ihre freundlichen Züge waren wie eine wärmende Sonne, die alle Kälte ausglich, die von ihrem Vater und ihrem Bruder ausging.

Geheimnisvoll und vollkommen unnahbar wirkte der Mann, den König Hariolf als seinen wichtigsten Ratgeber vorstellte: Markgraf Onno.

Alles an ihm war rot, feuerrot: das Haar, die blutunterlaufenen Augen und das bartlose, von dicken Narben gräßlich entstellte Gesicht. Er trug einen roten Umhang und ritt einen Rotfuchs von kräftiger Farbe. Seine Gestalt war groß und hager, daß Siegfried glaubte, jeden einzelnen Knochen unter der Haut zählen zu können. Langgezogen und schmal war auch das Gesicht, das mit der langen, höckrig-krummen Nase an einen Raubvogel gemahnte.

Siegfried fühlte sich bei Onnos Anblick an den roten Falken erinnert.

Sieglind und Hariolf führten die Gesellschaft zur Burg, in den großen Festsaal. Musikanten spielten auf, und die Edlen nahmen an den Tafeln Platz. Siegfried kam es sehr gelegen, daß er neben der lieblichen Amke saß. Sie verstanden sich gut, und Amke ließ ihn mit keinem Wort und keiner Geste spüren, daß Siegfrieds Vater ihre Mutter auf dem Gewissen hatte.

Auch Sieglind schien das bemerkt zu haben und sagte abends in trauter Zweisamkeit zu ihrem Sohn: »Hariolf und sein Sohn wirken auf mich wie zwei Eisbrocken, die tagelang in der Sonne liegen mußten, um aufzutauen. Amke dagegen ist ein sehr liebreizendes Geschöpf, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Siegfried knapp, nicht wissend, worauf seine Mutter hinauswollte.

Sieglind lächelte. »Ich glaube, die beste Sicherheit für einen dauerhaften Frieden zwischen den Niederlanden und Friesland wäre eine Verbindung zwischen unseren Königshäusern.«

»Eine Verbindung?« wiederholte Siegfried verständnislos.

»Eine Ehe«, präzisierte Sieglind und lächelte erneut.

Als Siegfried begriff, was sie meinte, zog Schamröte auf seine Wangen. »Aber Mutter, Amke ist doch noch ein Kind!«

»Erstens war ich das auch, als ich mit deinem Vater vermählt wurde. Und zweitens hatte ich vor wenigen Stunden noch den Eindruck, daß du sie gar nicht wie ein Kind anschaust.«

Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch ging Siegfried zu Bett - und träumte von Amke. Sie lächelte ihn an, und ihre Arme umfingen ihn.

Es war ein höchst angenehmer Traum.


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