Kapitel 4


Xanten feierte die Ankunft des Friesenkönigs bis spät in die Nacht. Aber irgendwann erstarb die letzte Flöte, war der letzte Becher Wein getrunken, die letzte Pastete verzehrt. Ruhe kehrte ein. Die halbfertigen Türme, von verwegenen Gerüstbauten umrankt, ragten wie versteinerte Riesen in den Nachthimmel, groß genug, um jeden Menschen unbedeutend erscheinen zu lassen.

Zufrieden schritt der Prälat Aurelius über die verlassene Baustelle. Der Mensch sollte vor dem Haus Gottes ebensolche Ehrfurcht empfinden wie vor Gott selbst. Deshalb bauten sie den neuen Dom mit den hohen, himmelstürmenden Türmen. Das Sprichwort, die Kathedralen seien die Bibeln des armen Mannes, hielt Aurelius für äußerst passend.

Aber diese Kathedrale war auch die Bibel des gebildeten Prälaten, nicht nur weil Bischof Severin ihn zum Aufseher über die Bauarbeiten bestimmt hatte. In dieser Stellung hatte Aurelius zwei Gründe, nachts zwischen Bauhütten, halbfertig zusammengezimmerten Bogengerüsten und riesigen Steinblöcken in den verschiedensten Stadien der Bearbeitung hindurchzuwandern. Er überprüfte die Baustelle und konnte sich dabei ganz nah bei seinem Gott fühlen.

Plötzlich nahm Aurelius eine Bewegung wahr. Er blieb stehen und wandte den Kopf. Vor ihm schien eine der steinernen Statuen zum Leben erwacht zu sein.

Das Gesicht war noch unbehauen. Ohne Augen, Nase, Mund. Einfach nur eine halbrunde Fläche. Aber das Ding bewegte sich...

Es lebte!

Ging langsam auf Aurelius zu.

Erleichtert stieß er den angehaltenen Atem aus, als er die Wahrheit erkannte. Es war keine zum Leben erwachte Statue, sondern ein Mensch. Ein Steinmetz, der seine Maske aus feinem Drahtgeflecht trug, als Schutz gegen Staub und Gesteinssplitter. Natürlich, die Gestalt, die im Mondlicht nur undeutlich zu sehen war, kam von der Bauhütte der Steinmetzen. Das mußte Meister Bertram sein.

»So spät noch bei der Arbeit, Meister Bertram?« rief der Prälat. »Oder findet Ihr auch keinen Schlaf?«

Er erhielt keine Antwort. Der Maskierte ging einfach weiter, war nur noch drei Schritte vom Prälaten entfernt.

»Wenn Ihr unter der Maske nicht gut sprechen könnt, nehmt sie doch ab!«

Der Maskierte hatte Aurelius erreicht, blieb dicht vor ihm stehen und zog das Drahtgeflecht über den Kopf.

»Na also, Meister...« Der Prälat stockte, und seine Augen weiteten sich, als er in das Gesicht sah. »Ihr seid es, Herr? Was hat das...«

Diesmal verstummte er nicht freiwillig. Scharfer Stahl, der mit stechendem Schmerz in seine linke Brust fuhr, brachte ihn zum Schweigen. Er krümmte sich, während der andere die Klinge wieder aus seinem Leib zog. Dann fiel Aurelius in den Staub. Noch war ein Funke Leben in ihm. Er dachte an den Brand des Monasteriums vor fünfzehn Jahren und an die beiden Leichen, die man am nächsten Tag gefunden hatte: eine Dirne und den Propst - erstochen. Den Mörder hatte man nie gefaßt, zum Unglück und Schrecken für alle Geistlichen Xantens.

Immer wieder hatte der Unbekannte zugeschlagen. Manchmal lag mehr als ein Jahr zwischen den Morden. Aber wieviel Zeit auch vergehen mochte, man konnte sicher sein, irgendwann wieder einen ermordeten Mönch oder Priester in den Straßen der Stadt zu finden.

So wie man Aurelius finden würde. Er kannte jetzt die Person des Mörders.

Zu spät...

Ein kräftiger Schnitt durch seine Kehle löschte seine Erkenntnis und sein Leben aus.



Mit einem höhnischen Lächeln starrte der Rächer auf den ausblutenden Leib unter ihm und auf den blutigen Dolch in seiner Rechten. Es war derselbe Dolch mit dem Hirschhorngriff, mit dem er damals den sittenlosen Propst getötet hatte. Sein rasselnder Atem beruhigte sich. Wieder hatte er einen Pfaffen der gerechten Strafe zugeführt. Und ausgerechnet den Prälaten, der den Dombau leitete. Das würde ein schwerer Schlag für den fetten Severin sein!

Der Rächer reinigte seine Klinge am Gewand des Toten. Er wollte sich schon abwenden, da kam ihm ein Einfall: War es ein Zeichen, daß in dieser Nacht ausgerechnet Aurelius sein Opfer geworden war? Wollte der Feuergott seinem Diener einen Hinweis geben?

Warum sollte er mit dem großen Feuer warten, bis der Dom fertig war? Warum sollte er es überhaupt zulassen, daß sich eine Kathedrale des falschen Gottes über Xanten erhob?

Diese Nacht war die Nacht des Feuergottes, die Nacht der Rache, des großen Feuers!

Suchend blickte er sich um und erspähte die Bauhütte des Schmieds, der die Werkzeuge für die Bauarbeiten fertigte und ausbesserte. Das Mondlicht fiel auf den klobigen Hammer, der als Zeichen der Schmiedekunst über dem Eingang hing.

Die klapprige Tür aufzubrechen war für den Rächer ein Kinderspiel. Als er zur Esse ging, spürte er die aufsteigende Wärme der Glut im Kohlebecken. Er streckte die flache Hand aus und hielt sie dicht über die Kohlen. Die Glut war nur schwach, aber sie würde ausreichen!

Der Rächer trat an den großen Blasebalg. Mit raschen, aber gleichmäßigen Bewegungen blies er Luft zwischen die Kohlen, entfachte er die Glut aufs neue.

Er spürte ihre Wärme, die zur Hitze wurde. Sah mit lustvoll geweiteten Augen auf das Rot, das sich ausbreitete, als wolle der Feuergott die ganze Welt verschlingen.

So war es auch damals gewesen, als der Feuergott zum erstenmal zu dem Rächer gesprochen hatte. Aus den Flammen hatte ihn das Gesicht angestarrt: schrecklich und zornig und gebieterisch. Und dann erklang die dröhnende Stimme in seinem Kopf:

Warum duldest du, ein Abkömmling meines Geschlechts, daß die Menschen dem falschen Christengott huldigen? Unternimm etwas dagegen! Sei mein Arm, mein Schwert! Vernichte den falschen Gott und alle, die ihm dienen! Bring das Feuer über die Welt!

Dann war die Nacht gekommen, in der er das Stift niederbrannte - seine »Feuerprobe«. In der nächsten Nacht, als er die Asche zur alten Königsburg brachte und das Blut des Feuergottes in seinen Adern aufnahm, wußte er, daß er wirklich der Auserwählte war.

Mit einer Schaufel glühender Kohlen verließ der Rächer die Schmiede, lief zur nächsten Hütte und schleuderte die Glut auf das Holzschindeldach.

Es knisterte, knackte - und die ersten Flammen schlugen empor.

Weiter! drängte die Stimme in seinem Kopf. Brenne nicht nur die Hütten nieder, zerstöre auch das Haus des falschen Gottes!

Er hetzte zur Schmiede zurück, schob neue Kohlen auf die Schaufel, rannte wieder hinaus - und blieb vor der Schmiedehütte stehen. Unter lautem Geschrei rannten Menschen auf die brennende Bauhütte zu. Mönche oder Laienbrüder, er konnte es nicht erkennen. Es war auch gleichgültig. Wichtig war nur, daß seine Tat entdeckt war.

Zu früh!

Aber andere Nächte würden kommen. Und der Rächer würde wieder zuschlagen. Mit einer Waffe, die viel wirksamer war als Dolch und Feuersbrunst. Andächtig flüsterte er: »Siegfried!«



»Wären nicht zufällig ein paar Laienbrüder von einem auswärtigen Besuch zurückgekehrt, hätte das Feuer nicht so schnell gelöscht werden können«, berichtete aufgeregt Bischof Severin und verschwieg, daß diese weibstollen Kerle ein Hurenhaus aufgesucht hatten. »Aber für den armen Aurelius kam leider jede Hilfe zu spät!«

»Dann besteht kein Zweifel, daß es derselbe Kerl war, der damals das Stift in Brand gesteckt hat«, stellte Reinhold von Glander fest. »Der Mönchsmörder hat wieder zugeschlagen.«

»Kann man denn nichts gegen ihn unternehmen?« fragte Sieglind.

Reinhold runzelte die Stirn. »Niemand weiß, wann er zuschlägt. Vielleicht schon heute nacht wieder oder erst in einem Jahr.«

Sieglind schüttelte den Kopf. »Aber warum ausgerechnet in der letzten Nacht, als Xanten feierte?«

»Vielleicht war das der Grund«, meinte der Bischof und rieb über seine vor Aufregung geröteten Wangen. »Vielleicht wollte er den Trubel ausnutzen, um ungesehen zu verschwinden.«

»Oder er wollte Aufregung in die Friedensverhandlungen bringen«, meinte Reinhold.

Sieglind sah ihn an. »Ihr meint, um den Frieden zu stören?«

Reinhold hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, leider.« Sein Blick glitt zu Siegfried und Amke hinüber, die in einer anderen Ecke des großen Burgsaales über einem Schachbrett hockten. »Vielleicht wäre es klüger, wenn Hariolfs Tochter von unserem Gespräch nichts erfährt. Es könnte zur Beunruhigung unseres Gastes führen.«

»Ein guter Rat, Graf Reinhold«, sagte Sieglind und ging zu den beiden hinüber. »Das große Fest geht weiter. Wollt ihr euch den Trubel nicht ansehen? Eure Schachpartie könnt ihr am Abend beenden!«

Siegfried fühlte sich wohl in Amkes Nähe, und ihr schien es mit ihm genauso zu gehen. Sie liefen durch die Straßen von Xanten, sie lachten viel und tanzten, tranken Honigwasser und probierten alle möglichen Köstlichkeiten. Doch einmal brach Siegfrieds lautes Gelächter über die Possen eines zwergwüchsigen Spaßmachers abrupt ab.

»Was hast du?« fragte Amke. »Der Kerl ist doch lustig!«

»Der Graue Geist!« flüsterte Siegfried, während er zu der seltsamen Gestalt weit hinten in der Zuschauermenge blickte.

»Was meinst du, Siegfried?«

»Ach, nichts«, seufzte er und lächelte Amke an. »Ist schon vorbei.« Und wirklich: Bei seinem nächsten Blick über die Köpfe der Menge war der gespenstische Unbekannte verschwunden.


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