Tief über den Pferdehals gebeugt, ließ Siegfried den grauen Hengst weit ausgreifen. Die Hufe schienen durch die Luft zu fliegen und den Waldboden kaum zu berühren. Daß sie es doch taten, zeigten die Abdrücke, die Graufell hinterließ.
Und die Siegfried seinem Verfolger verrieten! Deshalb war es trotz Graufells Schnelligkeit unmöglich, den anderen Reiter abzuschütteln. Als der junge Xantener das erkannte, änderte er seinen Plan: Er mußte den Abstand zu seinem Verfolger so weit vergrößern, daß er ihm eine Falle stellen konnte. Der dichte Wald, in den er sein Tier lenkte, schien ihm die beste Gelegenheit zu bieten.
Immer wieder streiften Äste und Zweige Pferd und Reiter. Siegfried ritt langsamer, er wollte nicht riskieren, daß der wertvolle Hengst über gefährliche Baumwurzeln stolperte und sich verletzte. Gewaltig wie Bergfriede erhoben sich hier die Bäume, uralt mit ihren verwitterten Borken, düster und geheimnisvoll.
Aber zur Linken schimmerte etwas hell. Neugierig riß Siegfried den Grauen herum und hielt auf das Licht zu. Die Bäume wurden spärlich, wichen Sträuchern und Farnen, die eine große grüne Lichtung mitten im düsteren Wald bildeten. Nur ein Baum erhob sich hier, eine von Bienen umschwärmte Buche mit mächtigem Stamm.
Das Gras, das sich auf der Lichtung ausbreitete und sich bis in die Ausläufer des Waldes erstreckte, brachte Siegfried auf eine Idee. Graufells Hufspuren waren hier nicht so deutlich zu erkennen. Siegfried stieg vom Pferd. Am Zügel führte er den Grauen am Rand der Lichtung entlang und dann wieder in den Wald hinein. Nach etwa zwanzig Schritten hielt er unter einer Eiche mit starken, weitausladenden Ästen an. Von der Lichtung aus war er hier nicht zu sehen.
Nur kurz zog er in Erwägung, sich heimlich abzusetzen. Die Neugier war stärker. Er wollte herausfinden, wer ihn verfolgte. Als er aus dem Lager geschlichen war, hatte er sich sicher gefühlt, denn alle Recken waren auf der Jagd gewesen. Doch schon nach kurzer Zeit hatte er den hartnäckigen Verfolger bemerkt.
»Sei ruhig, Graufell!« ermahnte er den Grauen und strich ihm sanft über Nase und Nüstern. »Gib keinen Laut von dir, was immer auch geschieht!«
Bei einem anderen Pferd hätte er sich kaum darauf verlassen können. Aber Graufell war ein besonderes Tier: verläßlich in jeder Hinsicht. Als Siegfried die Eiche erkletterte und den Hengst nur lose angebunden unter sich zurückließ, zweifelte er nicht daran, daß Graufell ihn verstanden hatte und seinen Befehl befolgen würde.
Siegfried kletterte, bis er freien Ausblick auf die Lichtung hatte. Er machte es sich auf einem dicken, gegabelten Ast bequem, den Rücken an den Stamm gelehnt. Plötzlich blieb sein schweifender Blick an einem großen, gewundenen Felsgebilde hängen.
Die Schlangenhöhle!
Wie eine glückliche Fügung war es ihm erschienen, als seine Mutter und ihre Ratgeber beschlossen, die friesischen Gäste auf eine große Jagd einzuladen - in den Schlangenwald. Reinhold von Glander war auf die Idee gekommen, den begeisterten Jäger Hariolf dadurch freundlich zu stimmen.
Zwar hatte Siegfried die Tage in Xanten genossen, das Wiedersehen mit seiner Mutter und nicht minder das Zusammensein mit Prinzessin Amke. Siegfried hatte das Friesenmädchen in fast jede Ecke seiner Vaterstadt geführt. Insgeheim jedoch hatte er nach der unheimlichen grauen Gestalt Ausschau gehalten.
Aber als Siegfried die Gelegenheit kommen sah, auch die zweite Hälfte des Runenschwertes zu holen, war ihm dies noch wichtiger als die liebliche Amke. Es war wie ein Lockruf, dem er folgte, um das Erbe seines Vaters anzutreten.
Geräusche, erst leise, dann immer lauter, lenkten seine Aufmerksamkeit wieder auf die Lichtung. Zweige brachen, und ein Pferd schnaubte erschöpft.
Ein Schatten fiel aus dem Waldunkel: das Pferd, schlank und lichtbraun, mit dunkler Mähne und dunklem Schweif. Selbst auf diese Entfernung erkannte Siegfried das Tier und auch die Reiterin im goldverzierten Damensattel. Vornehm war ihre Haltung und liebreizend der Anblick des offenen Gesichts.
Was trieb Amke hierher? Warum verfolgte sie ihn?
Langsam ritt sie auf die Lichtung; sie hielt ihre Stute zwischen Farnen und Brombeersträuchern an und schaute sich suchend um. Zum Schutz gegen die grelle Mittagssonne beschirmte sie ihre schönen Augen mit der flachen Hand.
Siegfried lächelte. Das Versteckspiel begann ihm Spaß zu machen. So sehr, daß der Gedanke an die Schlangenhöhle und ihr wertvolles Geheimnis in den Hintergrund trat. Er genoß es, vor Amkes Blicken verborgen, das Mädchen in Ruhe zu betrachten. Es trug zwar teure, aber in gedeckten Farben und ohne aufwendige Stickereien gefertigte Kleider. Einmal mehr bewunderte er die Friesin. Obwohl jung an Jahren, beherrschte sie die höfischen Sitten und wirkte dennoch nicht überheblich oder altklug. Hing es mit dem frühen Tod ihrer Mutter zusammen, daß sie so schnell erwachsen geworden war?
Amke, die sich langsam im Sattel gedreht hatte, erstarrte plötzlich und blickte angestrengt zum Waldrand. Aber nicht in die Richtung, wo Siegfried auf der Eiche kauerte. Ein zottiger Bär trottete im schaukelnden Gang auf die Lichtung und wälzte dabei mühelos Farn und Strauchwerk nieder. Siegfrieds Herz raste, als er erkannte, daß der Bär genau auf die Reiterin zuhielt. Am liebsten hätte er einen Warnschrei ausgestoßen. Doch er befürchtete, daß ein lauter Ruf Amke, ihr Pferd und auch den Bären über Gebühr erschreckte.
Die Stute schien ohnehin gehörig erregt. Sie mochte ein redliches Tier sein, aber für die Jagd war sie nicht ausgebildet. Mit jedem Schritt, den der gewaltige Bär näher kam, stieg ihre Unruhe. Laut schnaubend tänzelte sie hin und her, so daß Amke Mühe hatte, sich im Sattel zu halten.
Nur noch zehn Schritte von der Reiterin entfernt blieb der Bär stehen. Sein Vorderleib mit dem klobigen Schädel pendelte hin und her, während er Amke und die Stute betrachtete. Siegfried, der schon mit Reinhold auf die Bärenjagd gegangen war, kannte dieses Verhalten. Der Bär war sich unschlüssig, ob er es mit einem Freund oder Feind zu tun hatte. Wenn er kein verärgerter Einzelgänger war und keine Bärin, die ihren Nachwuchs schützen wollte, würde er keinen Reiter angreifen. Seine Beute waren eher die Brombeeren auf der Lichtung.
Amkes Stute wurde immer aufgeregter. Sie wieherte laut und stieg auf die Hinterbeine, als der bepelzte Gigant noch einen Schritt näher trat. Amke verlor den Halt, stieß einen spitzen Schrei aus und stürzte aus dem Sattel, mitten in die großen Farnwedel.
Siegfried hielt die Luft an. Es sah so aus, als würde die zu Tode erschrockene Stute ihre Reiterin zertreten.
Dann aber jagte das Tier quer über die Lichtung, schlug einen Haken, um dem Bären nicht zu nahe zu kommen, und preschte ins Unterholz des Waldes. Äste zerbrachen. Das Pferd stieß ein lautes Wiehern aus, bevor es im Zwielicht des Dickichts verschwand.
Und Amke?
Siegfried beugte sich so weit vor, daß er fast von seinem Ast stürzte. Doch so sehr er seine Augen auch anstrengte, von der Friesin konnte er nicht mehr erkennen als einen dunklen Fleck, ein Teil ihres erdfarbenen Gewands. Sie schien vollkommen still zu liegen.
Wollte sie den Bären täuschen? Oder konnte sie sich nicht bewegen, weil... Er weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Plötzlich begriff er, wieviel ihm Amke bedeutete.
Der Bär stieß ein lautes Schnauben aus, das zu einem wilden Heulen wurde. Er stieg auf seine Hinterbeine und richtete sich auf wie ein Mensch. Jetzt erst erkannte Siegfried die volle beeindruckende Größe des Bären.
In den Farn kam Bewegung. Die Blätter schwankten wie die Lanzen eines im Galopp angreifenden Reitertrupps. Mühsam kam Amke auf die Beine. Siegfried fiel ein Mühlstein vom Herzen. Hatte das erregte Geheul des Bären Amke aus der Benommenheit gerissen?
Amke sah den Riesen, der noch immer auf seinen Hinterbeinen stand. Sie begann zu laufen, stolperte, als sich ein Fuß im Brombeergestrüpp verfing, sprang auf und lief weiter, um im Schatten der Buche Schutz zu suchen.
Der Bär sank wieder auf die Vorderbeine. Dann stieß er ein wütendes Schnaufen aus und trottete langsam auf die Buche zu. Das Glück schien Amke verlassen zu haben. Sie hatte genau das Falsche getan, als sie zur Buche lief. Der Baum bot ihr keineswegs Schutz. Der Bär vermochte ihn schneller zu erklettern als ein Mensch. Das Bild der verängstigten Friesin vor Augen, die sich an den Stamm der Buche preßte, sprang Siegfried von der Eiche herab. Unten löste er Graufells Zügel vom Astwerk und zog den Hengst zur Lichtung, wo er sich in den Sattel schwang.
Dann riß er den Spieß hervor, den er Graufell hinter dem Sattel aufgebunden hatte. Mit der Rechten umklammerte er den dicken Eichenholzschaft. Die Stahlspitze glänzte silbrigblau im Sonnenlicht, als Siegfried auf die Lichtung galoppierte.
Amke stand noch eng an die Buche gepreßt, starr wie ein Fels. Entweder hatte sie erkannt, daß jede Bewegung den Bären noch mehr reizen würde, oder die Angst hielt sie im lähmenden Griff. Nur noch fünf Schritte, und der Bär hatte sie erreicht.
»Holla, Meister Petz, dreh dich um!« schrie Siegfried aus voller Kehle. »Die Maid kann dir nicht gefährlich werden, mein Spieß aber schon.«
Ungelenk wandte der wütende Bär sich um und richtete seine Aufmerksamkeit nicht länger auf Amke, sondern auf den schnell heranpreschenden Reiter.
Die Friesin hatte Siegfried mittlerweile erspäht. »Siegfried, nein!« brach es aus ihr hervor. »Greif nicht an! Der Bär wird dich töten!«
Ihr Ruf kam zu spät, schon war Siegfried herangestürmt. Auch der Bär bewegte sich jetzt viel schneller, als es seine gewaltige Leibesmasse und sein behäbigtapsiges Auftreten vermuten ließen. Er spannte die Muskeln unter dem dunkelbraunen Fell, um dem Reiter in die Flanke zu fallen.
Siegfried riß Graufell im letzten Augenblick zurück und entging dem Schlag der krallenbewehrten Pranke. Aber sein Gegenangriff fiel kläglich aus. Der Xantener schaffte es nicht, die Stahlspitze ins Fell des Bären zu bohren. Es langte nur zu einem kräftigen Hieb mit dem Spieß, mitten auf die große schwarze Bärennase. Zu Siegfrieds Überraschung jedoch stieß der Bär einen lauten Schrei aus und vollführte eilends zwei, drei lange Sätze von der Buche weg.
»Der Schlag mit dem Spieß scheint dir nicht gefallen zu haben, Meister Petz!« rief Siegfried. Vielleicht ließ sich der Bär vertreiben, ohne daß Siegfried sein Blut vergoß. Denn war das Tier erst verwundet, konnte es leicht vom Schmerz rasend werden und ohne Rücksicht auf Verluste angreifen.
»Ho, Graufell!« Siegfried schlug die Fersen in die Flanken des Pferdes. »Besorgen wir es dem Brummbären, bevor er merkt, daß eine schmerzende Nase nicht so schlimm ist, wie sie sich anfühlt!«
Als das große Tier Siegfried anreiten sah, richtete es sich halb auf und fuchtelte mit einer Pranke in der Luft herum, wie um den Reiter von sich fernzuhalten. Aber Siegfried mußte mit seinem Spieß gar nicht so nah herankommen. Wieder schlug er zu.
Der Bär sprang erneut erschrocken zurück. Sein Vorderleib pendelte hin und her. Das Tier schien abzuschätzen, ob sich der Kampf lohnte. Erst war nur Amke dagewesen, dann plötzlich Siegfried. Konnten noch weitere Feinde im Dickicht lauern?
Siegfried gönnte dem Bären keine Pause. Unter lautem Geschrei führte er den nächsten Angriff, den Spieß zum neuen Schlag erhoben. Doch der Bär hatte offensichtlich genug. Er wandte sich um, hetzte in schnellen Sätzen über die Lichtung und brach geräuschvoll in das Dickicht.
Als das Tier nicht mehr zu sehen war, ritt Siegfried zur Buche, sprang aus dem Sattel und rammte den Spieß mit der Spitze in den Erdboden. Ehe er noch etwas sagen konnte, lag Amke in seinen Armen und nahm dann sein Gesicht in ihre Hände, um ihn erst auf die Wangen und dann auf den Mund zu küssen.
Eine nie gekannte Wärme erfüllte Siegfried. Die sanfte Berührung ihrer weichen, warmen Lippen ließ ihn die eben noch tödliche Gefahr vergessen. Und sogar die Schlangenhöhle und das Runenschwert waren nicht wichtig in diesen schönen, viel zu kurzen Augenblicken, in denen nichts zwischen dem Xantener und der Friesin zu stehen schien. Kein ruhmloser Feldzug, kein vergossenes Blut, kein Wort und kein Gedanke.
Doch viel zu bald löste sich Amke von ihrem Retter, trat zwei Schritte zurück und dankte ihm mit einfachen, von Herzen kommenden Worten.
»Mir ist nur ein wenig schwindlig«, erklärte Amke mit einem fast entschuldigenden Lächeln.
Das Blut auf ihrer Stirn und der linken Wange stammte zum Glück nur von leichten Schürfwunden. Siegfried reinigte die Wunden mit Wasser aus seinem ledernen Schlauch. Amke hielt still und stieß nicht den kleinsten Schmerzenslaut aus. Siegfried bewunderte ihre Tapferkeit. Sorgfältig verschloß er den Wasserschlauch. »Die Sache ist noch einmal glimpflich ausgegangen. Zum Glück war ich in der Nähe.« Daß er Amke von der Eiche aus beobachtet hatte, verschwieg er lieber. »Du solltest nicht allein durch den Wald reiten, Amke!«
»Ich war nicht allein. Ich habe alles versucht, dich nicht aus den Augen zu verlieren. Auch wenn du eher um das Gegenteil bemüht warst!«
Siegfried war über diesen Vorwurf erbost. »Du hast mich also verfolgt?«
»Ich habe dich nicht verfolgt!« entgegnete sie in beleidigtem Tonfall. Trotz schlich sich in ihr schönes Antlitz.
»So, was dann?«
Er sah Amke an, wie angestrengt sie überlegte. Schließlich verschwanden Trotz und Strenge aus ihrem Gesicht und machten einem nachgiebigen Lächeln Platz.
»Also gut, ich bin dir aus Neugier nachgeritten, als ich gesehen habe, wie du dich heimlich aus dem Lager geschlichen hast, nachdem der Jagdtrupp aufgebrochen war. Ich hörte von deinem verstauchten Fuß und fand es merkwürdig, daß du trotzdem einen Ausflug unternimmst. Übrigens merkt man dir gar nicht an, wie sehr dein Fuß schmerzt!«
»Es war nur eine Ausrede, um allein losreiten zu können.«
»Warum? Was hast du vor?«
Siegfried zwang sich, nicht nach Westen zu sehen, zur Schlangenburg. Mit einem kühlen Unterton erwiderte er: »Das ist nicht von Belang.«
Amke seufzte ergeben und meinte: »Du brauchst es mir nicht zu sagen, ich werde es ja sehen.«
»Wieso?« fragte er und legte den Kopf schief.
»Weil wir zusammen zu deinem geheimnisvollen Ziel reiten werden. Goldflimmer ist in den Wald geflohen. Willst du mich hier ohne Pferd und Schutz zurücklassen?«
Um äußere Ruhe bemüht, stieß Siegfried einen stummen Fluch aus. Hätten seine Mutter oder Bischof Severin die Ausdrücke gehört, wäre eine Beichte mit einer saftigen Buße fällig gewesen. Mindestens drei Nächte durchbeten und eine Woche fasten!
Verzweifelt suchte Siegfried nach einer Lösung. Zurücklassen konnte er Amke tatsächlich nicht. Wenn er sie mitnahm, wäre sein Geheimnis gelüftet. Brachte er sie aber zurück ins Lager, würde das einigen Aufruhr verursachen, und er würde sich kaum ein zweites Mal heimlich davonmachen können.
»Vielleicht ist dein Pferd noch in der Nähe«, sagte er hoffnungsvoll und rief laut nach dem Tier - vergebens. »Versuch du es!«
Amke rief Goldflimmers Namen in alle Himmelsrichtungen, aber auch sie erhielt keine Antwort.
»Ich weiß nicht, ob ich Goldflimmer jemals wiedersehe«, meinte sie traurig. »Sie hatte solche Angst vor dem Bären, daß sie bestimmt bis ans Ende der Welt läuft.«
»Sie war kein gutes Jagdroß.«
Der Trotz kehrte in Amkes Stimme zurück: »Das war auch nicht Goldflimmers Aufgabe!«
»Vielleicht kann uns Graufell helfen.«
Siegfried veranlaßte seinen Hengst, laut zu wiehern, und lauschte angestrengt nach einer Antwort. Wenn das verängstigte Pferd noch in der Nähe war, würde es Graufells Ruf beantworten. Doch kein Laut war zu hören. »Dein Pferd kehrt nicht zurück«, sagte Siegfried mißmutig.
»Graufell scheint stark genug, uns beide zu tragen.«
»Gewiß«, verkündete er nicht ohne Stolz. »Aber ich kann dich nicht mitnehmen. Es ist zu gefährlich - und außerdem ein Geheimnis.«
Amke lachte plötzlich. »Ich weiß doch längst, was du vorhast!«
Ein beklemmendes Gefühl erfaßte Siegfried. Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Er bekam kaum noch Luft. Wie war Amke ihm auf die Spur gekommen? Und wenn sie von seinem Geheimnis wußte, wer noch?
»Der Spieß, den du bei dir führst, hat dich verraten, Siegfried«, fuhr Amke fort. »Du bist allein losgeritten, weil du ein ganz besonderes Tier erlegen willst. Niemand sollte es vor dir sehen und dir zuvorkommen. Damit wirst du alle beeindrucken, die wackeren Recken, deinen Lehrmeister Graf Reinhold und auch deine Mutter. Ist es nicht so?«
Siegfried war erleichtert, daß Amke sein Geheimnis nicht kannte. Lächelnd antwortete er: »Ja, so ähnlich verhält es sich.«
»Was für ein Tier ist es?« fragte Amke voller Neugier. »Ein großer Bär wohl kaum, den hättest du eben erlegen können. Ein wilder Eber vielleicht?«
»Es ist ein Geheimnis«, wiederholte Siegfried und kam zu einer Entscheidung. Er durfte diese Gelegenheit, sich die zweite Hälfte des Runenschwertes zu holen, nicht verspielen. Daher sagte er: »Ich werde dich mitnehmen, aber nur unter drei Bedingungen!«
»Drei?« staunte Amke. »Das muß aber ein sehr geheimes Geheimnis sein, das du hütest. Also gut, nenne mir deine Bedingungen!«
»Erstens: Du gehorchst mir aufs Wort, was auch geschieht. Zweitens: Du stellst keine Fragen. Drittens: Du bewahrst über alles Stillschweigen, auch deinem Vater und deinem Bruder gegenüber.«
Sie überlegte eine kurze Weile und fragte dann: »Was ist, wenn ich nicht darauf eingehe? Reitest du dann ohne mich fort?«
Siegfried antwortete nicht, sondern sah fest in ihre grünblauen Augen.
»Also gut«, seufzte Amke unter seinem beschwörenden Blick. Ein kecker Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. »Ich hoffe doch sehr, du wirst mein Versprechen nicht zu unritterlichen Taten mißbrauchen.«
Siegfried lächelte und erwiderte zweideutig: »Ich bin noch kein Ritter, edle Frau.«
»Und ich noch keine Frau«, sagte Amke in demselben neckischen Ton, als Siegfried ihr aufs Pferd half.
Er band den Spieß wieder auf Graufells Rücken, stieg vor Amke in den Sattel und riet ihr, sich an ihm festzuhalten. Er genoß ihre Nähe, die Berührung ihrer Hände und ihres Leibes, den er mit jedem Schritt Graufells an seinem Rücken spürte.