Kapitel 10


Am schlimmsten war, daß Amke ihn nur stumm anstarrte. Hätte sie ihren Blick ganz von Siegfried abgewendet oder hätte sie ihm, schreiend oder weinend, Vorwürfe gemacht, hätte er es wohl einfacher ertragen.

Siegfried hatte nicht mit ihr gesprochen; er hätte auch kaum gewußt, was er hätte sagen sollen. Wie sollte er Amke erklären, was er getan hatte, wenn er es selbst nicht verstand!

Dann wieder, besonders in Augenblicken, wenn er seine Hand auf das Schwert legte, sagte er sich, daß Harko sein Schicksal herausgefordert hatte. Dieser eitle Königssohn hatte wegen seiner beleidigenden Reden eine Bestrafung verdient! Und hatte Harko sein Schwert nicht zuerst gegen Siegfried gerichtet?

Hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen stand Siegfried auf einem Wehrturm der Xantener Burg und sah zu, wie die Friesen zum Hafen zogen. Im Gegensatz zu ihrer Ankunft war es eine stumme, traurige Prozession, ohne Fanfarenklang und wehende Fahnen. Der Leib des toten Prinzen war mit einem großen Tuch bedeckt, der friesischen Königsflagge: Ein schwarzer Wolf mit goldener Krone sprang auf rotem Feld.

Viele Betrachter mochten beim Anblick des Wappens an die Rückkehr der Friesen denken, nicht als Gäste, sondern als bis an die Zähne bewaffnete, mordende, brandschatzende Rächer. So hatte es König Hariolf an diesem Morgen verkündet, nachdem er die ganze Nacht am aufgebahrten Leichnam seines einzigen Sohnes gewacht hatte. Unter den Xantener Edelleuten waren Stimmen laut geworden, die Hariolf und seinen Anhang festsetzen wollten. Der König sei die beste Geisel gegen seine eigene Rache, argumentierten sie. Aber Königin Sieglind hatte sich strikt dagegen gewandt, das heilige Gastrecht zu verletzen. Die Friesen standen unter ihrem persönlichen Schutz, bis sie das Gebiet der Niederlande verlassen hatten.

Dennoch bereiteten sich die Falken vom Rhein auf den Krieg mit den friesischen Wölfen vor. Sieglind hatte ihren erfahrensten Recken, Graf Reinhold von Glander, zum Kriegsherrn ernannt. Er sollte die Grenzbefestigungen verstärken und das Land auf den bevorstehenden Kampf vorbereiten. Noch im Morgengrauen war Reinhold zur Nordgrenze des Reiches aufgebrochen. Siegfried empfand darüber große Erleichterung. Die vorwurfsvollen Blicke Amkes und seiner Mutter waren schwer genug zu ertragen. Er wollte nicht ständig Reinhold, seinem Zuchtmeister, in die Augen schauen, ohne erklären zu können, weshalb er das Runenschwert entweiht hatte.

Die Spitze des langen Friesenzuges hatte den Hafen erreicht. König Hariolf, seine Tochter und Markgraf Onno bestiegen das königliche Schiff, eins der größten in der friesischen Flotte. Siegfried zählte zwanzig Rojerplätze an jeder Seite. Aber die Rojer wurden nur benötigt, um das Schiff nach dem Einholen des Ankers zur Flußmitte zu bringen. Dann übernahmen die Strömung und ein günstiger Wind die Arbeit, der das große rote Segel mit dem schwarzen Königswolf bauschte und das Schiff den Rhein hinabtrieb, gefolgt von all den anderen.

Siegfried glaubte noch, Amkes kummervollen, trostlosen Blick zu spüren, als das Königsschiff längst hinter einer Flußbiegung verschwunden war. Gleichwohl sah er ihr schönes, ernstes Gesicht, vom Schmerz gezeichnet und doch unfähig zu weinen.



Die Tränen kamen erst, als sich die große Burg am linken Rheinufer in den bewölkten Himmel reckte. Amke wußte, daß es die Schwertburg war. Siegfried hatte ihr viel von dem Ort erzählt, an dem er die letzten Jahre verbracht hatte. Jahre, in denen er den Schmerz über den Verlust des Vaters überwunden und gelernt hatte, ein Mann zu sein.

Ihr Vater stand mit versteinertem Gesicht am Bug und blickte flußaufwärts, nach Norden. Im Geiste sammelte er wohl schon seine Ritter und Kriegsvasallen zum Rachezug gegen die Niederlande. Gegen die Falken vom Rhein, die erst Hariolfs Weib und jetzt seinen Sohn erschlagen hatten.

Amke bemerkte ihre eigenen Tränen erst, als die Schwertburg vor ihren Augen verschwamm. Seltsam: Als sie von Harkos Tod erfuhr, hatte sie nicht weinen können. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie keine Träne mehr vergossen. Warum ausgerechnet jetzt, beim Anblick dieser Burg? Wegen Siegfried? Schmerzte sie sein Verlust mehr als der Tod Harkos?.

Eine andere Burg erschien vor dem Bug des Schiffes, die kleiner war und mitten im Fluß lag. Auch ihren Namen kannte Amke von Siegfried: die Rheinfeste. Der Steuerer lenkte das Schiff nach backbord, weil das Fahrwasser dort tiefer war. Hinter dem Königsschiff teilte sich die Flotte. Die großen und schweren Schiffe hielten nach backbord, die anderen nach steuerbord, um die Rheinfeste möglichst schnell zu passieren. Trotzdem verlangsamte sich die Fahrt der Flotte. Zu eng waren die Fahrrinnen zwischen Rheinfeste und den beiden Ufern. Die Schiffsführer riefen knappe Befehle. Die Rojer hängten sich an die Riemen und minderten die Geschwindigkeit.

Das Königsschiff dagegen glitt mit unverminderter Geschwindigkeit an der Rheinfeste vorbei. Schon lag die Bastion hinter Hariolfs Schiff, da fielen die Feuersterne. Überall am Himmel flammten sie auf und zogen über den Friesenschiffen ihre glühende Bahn. Sternschnuppen des Tages, die einen Feuersschweif hinter sich herzogen. Zischend verloschen sie in seinen Fluten, oder aber sie trafen ihr Ziel: die friesischen Schiffe.

Sie durchschlugen die Segel. Gierig fraß sich das Feuer durch Segeltücher, die sofort in Brand gerieten. Andere Feuersterne entzündeten Ladung, Holz oder den Kalfaterteer. Die Fahrzeuge hinter dem Königsschiff standen in Flammen. Und einige der Flammenpfeile bohrten sich auch in Menschenleiber. Schreiend gingen Friesen über Bord. Einige fielen tödlich verletzt ins Wasser. Andere sprangen hinein, um die Glut zu löschen.

Die Flammenpfeile wurden von den Bogenschützen abgefeuert, die in langen Reihen am Uferstreifen und auf den Wehrgängen der Rheinfeste aufgetaucht waren. Zwischen jeweils zweien stand ein Fackelträger, an dessen Flamme die Schützen immer neue Brandpfeile entzündeten, um sie einen Augenaufschlag später von den Sehnen schnellen zu lassen. Das schrille, dünne Pfeifen, wenn die Flammenpfeile die Luft durchschnitten, klang wie teuflisches Gekicher.

Panische Schreie drangen auf Amke ein: »Eine Falle, ein Überfall!« - »Schneller, an der Feste vorbei, schneller!« - »An die Riemen, wendet das Schiff!« Amke sah, daß das Feuer immer mehr Schiffe manövrierunfähig machte. Wurden die Steuerer von den Flammenpfeilen oder vom brennenden Segeltuch getroffen, gerieten die Schiffe außer Kontrolle und kamen zu dicht ans Ufer oder an den Felsen im Fluß. Die Riemen, die nicht schnell genug eingezogen wurden, zersplitterten wie dünne Äste im Sturmwind. Das Rudergeschirr brach auseinander. Voller Panik sprangen die Männer über Bord, um schwimmend das nahe Land zu erreichen.

Die Schiffsführer riefen ihre Männer zur Ordnung. Sie sollten die aufgelaufenen oder hilflos im Strom treibenden Schiffe durch den Einsatz von Staken wieder flottmachen. Oft kamen alle Bemühungen zu spät, war das Feuer schneller als die verzweifelten Männer. Oder nachfolgende Schiffe, die in den engen Fahrrinnen nicht abdrehen konnten und auf die anderen prallten. Dann bohrte sich Holz auf Holz, verbogen und zersprangen die Planken, fand das willige Feuer neue Nahrung.

Als König Hariolf seine brennende Flotte sah, stieß er einen Wutschrei aus, mehr Wolfsgeheul als menschlicher Laut. Er lief zum Schiffsführer, einem Mann namens Ulerk, und befahl ihm, sofort zu wenden. »Ich muß zu meinen Männern!«

»Nein!« fuhr Markgraf Onno dazwischen, bevor Ulerk den Befehl des Königs weitergeben konnte. »Wir bleiben auf Kurs. Die Männer sollen sich in die Riemen legen!«

»Wie könnt Ihr wagen, meinen Befehl zu widerrufen, Markgraf?« tobte der König. »Ich muß zu meinen Männern. Sie stecken in einer tödlichen Falle. Wir können sie nicht im Stich lassen, nur weil wir den Brandpfeilen durch Gottes Fügung entgangen sind!«

»Nicht durch die Fügung Gottes, sondern durch die der verräterischen Niederländer!« erwiderte Onno und streckte den Arm aus. »Dort kommen sie, um Euch zu holen, mein König. Und wenn sie Euch haben, haben sie auch Friesland in der Hand!«

Hariolf entdeckte ein halbes Dutzend Schiffe auf Gegenkurs. Sie hatten keine Segel gesetzt, nicht einmal Masten waren zu sehen. Die Rojer pullten aus Leibeskräften und trieben die Schiffe gegen die Strömung voran. Auf den Schiffen drängten sich die Bewaffneten. Speere, Schwerter und Schilde blinkten selbst im schwachen Licht dieses trüben Tages. Die niederländischen Schiffe hielten in zwei Reihen auf Hariolfs Schiff zu.

»Wir müssen so schnell wie möglich sein und die Kraft unserer Rojer mit der des Windes und der Strömung vereinen!« stieß Onno laut hervor. »Nur dann können wir die feindlichen Reihen durchbrechen.«

»Aber meine Männer...« versuchte der König mit matter Stimme zu erwidern.

»Wir können ihnen nicht helfen«, sagte der Markgraf hart. »Wir können sie nur rächen. Aber dazu müssen wir aus diesem feigen Hinterhalt entkommen!«

Hariolf sah es ein und nickte widerstrebend.

»Ulerk.« Onno wandte sich an den Schiffsführer. »Alle Männer an die Riemen. Sie sollen um ihr Leben pullen.«

Onno und Ulerk riefen die Männer zusammen, die sich über Reling und Heck beugten und machtlos zusahen, wie die anderen Schiffe ihrer Flotte unter dem Hagel aus Feuerpfeilen verglühten.

Die Friesenschiffe, die weiter flußaufwärts schwammen, noch im sicheren Abstand zur Rheinfeste, wurden von niederländischen Schiffen angegriffen. Und an den Ufern waren Berittene und Fußsoldaten aufmarschiert, um an Land flüchtende Friesen festzusetzen oder niederzumetzeln.

Die Rojer des Königsschiffes sprangen auf ihre Bänke und schoben die Riemen durch die kleinen Löcher in den Bordwänden. Kaum war das geschehen, zählte Ulerk schon einen schnellen Takt, und die Riemenblätter schlugen ins Wasser.

Hariolf, Onno und die Wachen griffen zu den Waffen, während die Zofen Amke unter Deck brachten, in den engen dunklen Verschlag, der streng nach Teer und Holz roch. Und nach Tod. Amke lag gleich neben der Bahre mit ihrem toten Bruder.

»Das ist doch Reinhold von Glander!« schrie Onno, als er den Mann mit den ergrauenden Haaren erkannte, der am Bug des größten niederländischen Schiffes stand und immer wieder kurze Rufe ausstieß, um seine Rojer anzutreiben. »Der niederländische Kriegsherr selbst führt den Angriff!«

»Das war auch nicht anders zu erwarten«, knurrte Hariolf, während er Schwert und Schildgriff fest umfaßte. »Wer sonst hätte wagen können, das Gastrecht zu brechen und noch auf niederländischem Boden die Klinge gegen uns zu führen?«

Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als ein Pfeilregen auf das Friesenschiff prasselte. Scharfkantige Stahlspitzen bohrten sich in Holz und Menschenfleisch.

Die friesischen Krieger rissen abwehrend die Schilde hoch. Die Rojer machten sich möglichst klein, zogen die Köpfe fast zwischen die Schultern.

»Pullt, Männer, pullt!« brüllte Ulerk. »Nur das kann uns retten!«

Dann waren die beiden vordersten Feindschiffe heran. Ein Dreißig-Riemen-Schiff mit Reinhold von Glander an Bord und ein Vierundzwanzigriemer. Ulerk rief dem Steuerer einen Befehl zu. Er hoffte, sein Schiff mit einer winzigen Kurskorrektur zwischen den beiden Angreifern hindurchzumanövrieren.

Reinhold von Glander schien dieses Manöver vorauszuahnen. Jedenfalls rief er seiner Besatzung etwas zu, und der Dreißig-riemer drehte sich quer, auch wenn dadurch die Bordwand des niederländischen Schiffes von dem friesischen Bug, dessen massiver Vordersteven in einem schwarzen Wolfskopf mit aufgerissenem Maul auslief, gespalten wurde. Es sah aus, als wolle der hölzerne Wolf das Feindschiff zerreißen.

Die Niederländer zögerten nicht. Sie sprangen an Bord des Königsschiffes, Graf Reinhold allen voran. Schwerter, Speere und Schilde stießen gegeneinander.

»Unser Schiff scheint weitgehend unbeschädigt«, rief Onno zu Ulerk. »Seht zu, daß ihr es freibekommt, während wir das Xantener Pack zurückwerfen! Wir können diesen Kampf nicht gewinnen, wir können uns nur retten!«

Im Kampflärm ging Ulerks Antwort unter. Onno sah nur noch aus den Augenwinkeln sein knappes Nicken und warf sich schon in die Schlacht, die am Bug des eigenen Schiffes entbrannt war. Vergeblich suchte er Reinhold, den hinterlistigen Verräter. War der Kriegsherr schon gefallen?

Doch Onno mußte zunächst Hariolf zur Hilfe eilen. Der König wurde von drei Gegnern gleichzeitig bedroht. Er hatte seinen Schild verloren und hieb mit seinem großen Schwert um sich, um die gegnerischen Klingen von sich fernzuhalten. Gleichwohl blutete er schon aus mehreren Wunden.

Onno sprang zum Bug und bohrte seine Klinge von hinten gegen den Hals eines Niederländers. Mit solcher Wucht, daß die Eisenringe der Brünne zerbrachen. Mit gurgelndem Laut brach der Niederländer zusammen. Onno zog die blutige Klinge heraus. Er sah sofort mit der Erfahrung vieler Schlachten, daß ein zweiter Stoß nicht nötig war. Der Getroffene krümmte sich zu seinen Füßen; er würde nie mehr eine Waffe führen.

Das rächende Schwert eines anderen Niederländers krachte auf Onnos reflexartig hochgerissenen Schild. Mit kreischendem Geräusch fuhr der niederländische Stahl über den friesischen Eisenbeschlag und zerkratzte Onnos Wappen, ein rotes Schwert über einem fliegenden Vogel gleicher Farbe. Aber der Schild hielt, und der Markgraf drängte den Angreifer ab.

Onno selbst schlug zu, und diesmal fing der Niederländer mit seinem Schild den Schlag auf. Doch Onno hatte so wuchtig zugehauen, daß der Gegner taumelte, das Gleichgewicht verlor und ins Wasser fiel.

Ihm folgte gleich noch ein Niederländer unter fürchterlichem Gebrüll: der dritte Angreifer, dem Hariolfs Klinge zwischen die Augen gefahren war.

Weitere Niederländer formierten sich, um König Hariolf zu bedrängen.

Onno stand an der Seite seines Lehnsherrn und keuchte: »Ich weiche nicht von Euch, mein König. Sie werden Euch nicht bekommen!«

»Nicht lebend!« zischte Hariolf und hob das Schwert zum nächsten Streich.

Da ging ein heftiger Ruck durch das Friesenschiff. Ulerk war es gelungen, das Schiff durch den Einsatz von Staken freizubekommen. Ein ganzer Trupp Niederländer fiel in den Fluß. Nur noch wenige ihrer Kameraden befanden sich an Bord des rasch an Fahrt gewinnenden Königsschiffes. Sie fielen schnell unter den Hieben der wütenden Friesen.

Ulerk rief mit dröhnender Stimme seine Kommandos. In schneller Fahrt schoß sein Schiff zwischen den niederländischen Fahrzeugen hindurch. Die Angreifer hatten nicht damit gerechnet, daß das Königsschiff so schnell freikommen würde. Als es die Feindschiffe erst einmal hinter sich gelassen hatte, konnten die Niederländer es nicht mehr einholen. Jetzt fehlten ihnen die an Land gelassenen Segel, um die Kraft des Windes zu nutzen.

»Wir haben es geschafft!« jubelte Hariolf mit grimmiger Freude. »Wir sind den gottlosen Angreifen entwischt!«

»Nicht alle, mein König«, rief eine dünne Stimme vom Heck. Es war eine von Amkes Zofen. »Sie... sie haben die Prinzessin verschleppt!«

Hariolf riß die Augen auf und starrte die Unglücksbotin ungläubig an.

»Wer?« fragte Onno.

»Der Graf mit seinen Leuten«, antwortete die Zofe, die aus einer Stirnwunde blutete. »Sie haben Prinzessin Amke auf ihr Schiff geholt.«

Onnos Blick schien die ängstliche Frau zu durchbohren. »Graf Reinhold von Glander?«

»Ja, Herr.«

In hilfloser Wut krampften sich Onnos Hände um Schwert und Schild, die jetzt nutzlos waren.

Hariolf dagegen wirkte seltsam ruhig. Sein Blick wanderte rheinaufwärts. »Ich werde zurückkehren und Xanten dasselbe Schicksal bescheren, das diese Hunde über meine Flotte gebracht haben. Die Königsstadt wird brennen! Kein Haus wird dort mehr stehen, wenn ich mein Werk vollbracht habe!« Noch leiser und wie einen unverbrüchlichen Schwur fügte er hinzu: »Ich werde meine Frau rächen, meinen Sohn und meine Tochter!«


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