»Amke hat Euch nichts getan! Wie konntet Ihr Euch an ihr vergreifen? Und warum habt Ihr das heilige Gastrecht gebrochen?« Siegfried schrie es durch den dämmrigen Festsaal der Xantener Königsburg Graf Reinhold von Glander entgegen, der noch die blutbefleckte Rüstung trug. Nur die flackernden Lichter der Kerzen zauberten Bewegung auf Reinholds harte Gesichtszüge. Er stand stocksteif, eine Hand auf den Schwertknauf gelegt, als wolle er deutlich machen, daß in Zeiten wie diesen Worte nicht mehr zählten, sondern nur noch die stählerne Sprache der Waffen.
Draußen in den Straßen begann das Volk zu feiern, als sei der Krieg gegen die Friesen gewonnen. Die Nachricht von Graf Reinholds siegreichem Angriff auf die Friesenflotte und von der Gefangennahme Prinzessin Amkes hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet.
Reinhold war von Siegfrieds Wutausbruch gänzlich unbeeindruckt. »Du hast in zwei Punkten recht, Siegfried: Amke hat mir nichts getan, und ich habe das Gastrecht gebrochen. Aber die Prinzessin ist das beste Unterpfand, das wir bekommen konnten, ausgenommen König Hariolf selbst. Ich habe sie nicht gern gefangengesetzt, und es fiel mir auch nicht leicht, das Gastrecht zu brechen. Aber zu beidem, zorniger Siegfried, hast du selbst mich gezwungen!«
»Ich?«
Reinhold nickte düster. »Hättest du Harko nicht getötet, wäre all das nicht geschehen. Dann hätten wir vielleicht schon den lang ersehnten Frieden mit König Hariolf geschlossen. Jetzt haben wir statt eines neuen Verbündeten einen erbitterten Feind.«
Die eilig zusammengekommenen Edelleute nickten und machten beifällige Bemerkungen.
»Eure Rede mag wahr sein, Graf Reinhold«, erklärte Königin Sieglind, die neben Bischof Severin an der Tafel saß. »Dennoch könnt Ihr kaum leugnen, daß Ihr gegen meinen Befehl handeltet, als Ihr durch den Angriff das Gastrecht gebrochen habt.«
»Doch, das leugne ich entschieden!« erwiderte Reinhold laut und vernehmlich.
Viele der Edlen hielten den Atem an. Entsetzte Blicke trafen den Grafen. Severin sprang trotz seiner Leibesfülle so hastig auf, daß sein klobiger Stuhl umstürzte.
»Überlegt Euch Eure Worte, Graf Reinhold!« mahnte der Bischof mit bestürztem Gesicht. »Wollt Ihr unsere allergnädigste Königin der Lüge zeihen?«
»Ich stelle nur richtig, was richtiggestellt werden muß«, entgegnete Reinhold und verneigte sich vor Sieglind. »Und wenn ich Euch beleidigt habe, meine Königin, bitte ich untertänigst um Vergebung. Aber vergeßt nicht, daß Ihr mich zum Kriegsherrn der Niederlande ernannt habt. Damit liegen alle Entscheidungen über die Kampfhandlungen gegen König Hariolf bei mir. Ich konnte nicht gegen Euren Befehl verstoßen, hohe Frau, weil nur ich Befehle über Kriegshandlungen geben kann. Solltet Ihr mit meiner Vorgehensweise nicht einverstanden sein, so ernennt einen anderen Recken zum Kriegsherrn, und ich werde mich ihm unterordnen.«
»Ihr habt gut reden!« schnaubte der Bischof; seine fleischigen Wangen zitterten vor Erregung. »Nicht Ihr allein müßt leiden, wenn König Hariolf plündernd und mordend Rache für das Unrecht sucht. Wir alle werden uns ihm stellen müssen, jeder Edle hier im Saal und jeder einfache Handwerker und Bauer da draußen!« Mit unruhiger Hand deutete er zu einem der großen Fenster, in denen seltenes, teures Glas saß.
»Hariolf hatte seine Rache schon beschworen, bevor er Xanten verließ«, erinnerte Reinhold. »Jetzt haben wir zumindest eine Geisel in der Hand. Außerdem haben die Friesen so viele Schiffe verloren, daß sie kaum einen Angriff auf dem Rhein wagen werden.«
»Dann werden sie über Land kommen«, brummte Severin. »Wo ist der Unterschied?«
»Im Schiffskampf sind die Friesen erfahrener als wir«, erklärte der Kriegsherr. »Auf dem Land haben wir gute Aussichten, sie zu schlagen.«
In der Versammlung begann ein heftiger Streit über die Frage zu entbrennen, ob Reinhold recht gehandelt hatte. Einige forderten seine Absetzung als Kriegsherr, andere schlugen sich auf seine Seite.
Sieglind stand auf, woraufhin alle Anwesenden verstummten. Sie rief mit fester Stimme: »Ich habe Graf Reinhold zum Kriegsherrn der Niederlande ernannt. Er hat mit König Siegmund gefochten und genoß sein bedingungsloses Vertrauen. Deshalb habe ich meinen Sohn Siegfried in seine Zucht gegeben, und deshalb weiß ich, daß er der beste Mann ist, die Friesengefahr von uns abzuwenden.«
Damit war es entschieden, und plötzlich fanden alle, daß es die richtige Entscheidung war. Nur Severin murmelte unwillig vor sich hin, während er seinen massigen Körper auf den von einem Diener aufgerichteten Stuhl zurücksinken ließ.
»Wo haltet Ihr Amke gefangen?« fragte Siegfried, der sich durch die Rede seiner Mutter ein wenig beruhigt hatte.
»Hier in der Burg«, antwortete Reinhold. »In der Kemenate, die sie bis heute morgen als Gast bewohnt hat.« Er sagte es ohne jedes erkennbares Gefühl und fuhr mit langem Blick auf seinen Schützling fort: »Es wird für sie gesorgt, aber sie steht unter strenger Bewachung.«
Siegfried hielt dem Blick stand und erklärte: »Ich möchte zu ihr.«
»Nein«, lehnte Reinhold ab. »Sie darf nur mit den Dienern verkehren.«
»Warum?« fragte Siegfried.
»Ich muß meine Befehle nicht begründen!« versetzte Reinhold scharf.
Sieglind lächelte ihren Kriegsherrn an. »Eurer Königin gegenüber würdet Ihr sie aber gewiß erklären, nicht wahr, Graf Reinhold?«
»Gewiß«, sagte Reinhold. »Ich will verhindern, daß Prinzessin Amke zuviel von unseren Plänen erfährt. Falls wir sie gegen ein anderes Pfand an die Friesen zurückgeben, könnte uns alles, was sie aufgeschnappt hat, in große Schwierigkeiten bringen.«
»Ich bin kein Verräter!« rief Siegfried voller Zorn.
»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber du stehst der Prinzessin nahe, wie man wohl sagen darf. Du könntest unabsichtlich etwas ausplaudern.« Reinholds Blick glitt von Siegfried zur Königin. »Außerdem wüßte ich im Augenblick nicht, was für einen Vorteil uns ein Besuch Siegfrieds bei der Gefangenen bringen könnte.«
»Ihr habt recht«, erklärte Sieglind nach kurzem Nachdenken und wandte sich an ihren Sohn. »Siegfried, du wirst Amke nicht sehen, bis Reinhold es dir gestattet. In allen Fragen, die den bevorstehenden Kampf gegen die Friesen betreffen, ist seinen Anordnungen unbedingt Gehorsam zu leisten!«
Der letzte Satz betraf nicht Siegfried allein, sondern die ganze Versammlung.
Siegfried fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Die Worte seiner Mutter empfand er als Verrat; sie vertraute Reinhold mehr als ihrem eigenen Fleisch und Blut! Und auch von Reinhold war er enttäuscht. Der Mann, der fast eines Vaters Stelle bei Siegfried eingenommen hatte, war ihm auf einmal fremd. Es mußte der Krieg sein, der Reinhold so veränderte. Schlimmer als alles andere aber wog die Erkenntnis, Amke als Gefangene zu wissen. Er konnte an nichts anderes mehr denken, konnte der Diskussion der Edelleute über die Kriegsvorbereitungen nicht folgen und bat seine Mutter, sich auf seine Kammer zurückziehen zu dürfen.
Im halbdunklen Gang vor dem Festsaal blieb er stehen, preßte die pochende Stirn gegen die wohltuend kühle Steinmauer und dachte nach. Er mußte mit Amke sprechen, möglichst rasch, um ihr zu erklären, daß er nichts von dem Überfall auf die Friesenflotte gewußt hatte. Und daß er Harkos Tod nicht gewollt hatte, nicht wirklich, nur in diesem einen, verhängnisvollen Augenblick seiner Raserei.
Aber noch war es zu früh. Zu viele Menschen waren noch auf den Beinen, und zu aufmerksam waren die Wächter. Er würde es spät in der Nacht versuchen, wenn auch gute Soldaten müde wurden. Mit diesem halbwegs beruhigenden Gedanken zog er sich auf seine Kammer zurück - und hielt plötzlich inne, als er ein säuberlich gefaltetes Pergament sah. Es lag auf dem Tisch unter dem bronzenen Kandelaber, dessen vier Kerzen brannten. Ein Diener hatte die Kerzen in Siegfrieds Abwesenheit entzündet. Hatte er auch das Pergament unter den Kandelaber geschoben? Oder war es einer der vielen anderen Menschen in der Burg gewesen?
Siegfried fand den Gedanken plötzlich erschreckend, wie viele Menschen Zugang zu seiner Kammer hatten. Er lief zu der großen Eichentruhe mit seinen besten Kleidern und anderen Kostbarkeiten. Das Schloß war unversehrt. Trotzdem öffnete Siegfried die Truhe und war erst beruhigt, als seine Hand über das Runenschwert glitt. Und über das Wehrgehänge, das Reinhold ihm geschenkt hatte.
Der Gedanke an Reinhold, der ihm den Zugang zu Amke verweigerte, entfachte plötzlich große Wut in Siegfried. Seine Rechte umklammerte den Schwertgriff, während er daran dachte, mit der Waffe zurück in den Festsaal zu stürmen und Reinhold zum Zweikampf zu fordern. Sollte der blanke Stahl entscheiden, ob Siegfried zu Amke durfte oder nicht!
Kaum hatte seine Hand das Schwert losgelassen, erkannte er, wie närrisch der Gedanke war. So handelte kein Mann, nur ein dummer Junge. Er gab sich einen Ruck und klappte den schweren Deckel der Truhe wieder zu. Aber er verschloß die große Kiste nicht. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß er das Runenschwert in dieser Nacht noch brauchen würde.
Das Pergament!
In seinem plötzlich aufgewallten Haß gegen Reinhold hatte er es fast vergessen. Er ging zum Tisch und zog es unter dem Kandelaber hervor. Es war glatt und doch recht fest, fast ein wenig wie Samt. Wahrscheinlich aus Kalbshaut hergestellt und daher sehr teuer. Dunkle Tinte schimmerte im Kerzenlicht. Wer immer ihm eine Botschaft sandte, mußte eine wohlhabende, hochstehende Persönlichkeit sein.
Als Siegfried das Pergament auseinanderfaltete, blickte er auf lateinische Wörter, fehlerfrei geschrieben. Die Nachricht war knapp und nüchtern:
Nur Du kannst einen Krieg mit dem Königreich Friesland verhindern, Siegfried. Ich helfe Dir dabei. Komme um Mitternacht in den »Blauen Schwan«. Zu niemandem ein Wort. Und bringe das Runenschwert mit. - Vagabundus.
Voller Erstaunen starrte Siegfried auf die dürren Worte. So kurz und einfach die Botschaft war, so sehr verwirrte sie ihn. Wer war dieser Vagabundus, daß er den Prinzen von Xanten so vertraulich ansprach? Was wußte er von dem Runenschwert? Wie sollte Siegfried den drohenden Krieg verhindern können? Und was machte dieser mysteriöse Vagabundus im »Blauen Schwan«? Die Kaschemme lag in der verrufensten Gegend des Xantener Hafens. Das paßte überhaupt nicht zu dem feinen Pergament, der gestochen scharfen Schrift und dem perfekten Latein.
Natürlich dachte Siegfried an eine Falle. Aber was trieb den Unbekannten, ihn so offensichtlich in einen Hinterhalt zu locken?
Unwillkürlich wanderte Siegfrieds Blick durch den Raum und blieb an der mit Bronze verzierten Truhe hängen. Und bringe das Runenschwert mit.
Gab es jemanden, der sich das magische Schwert aneignen wollte? Aber wenn er von dem Schwert wußte, warum hatte er es nicht gestohlen?
Nur kurz zog Siegfried in Erwägung, seine Mutter oder Reinhold einzuweihen. Wieder sah er auf das Pergament. Zu niemandem ein Wort.
Siegfried wollte nichts verderben. Er mußte jede noch so kleine Möglichkeit nutzen, einen Krieg zwischen den Niederlanden und Friesland zu verhindern. Seit dem blutigen Handstreich auf dem Rhein traute Siegfried seinem Zuchtmeister alles zu. Auch daß Reinhold Amkes Leben opferte, um die Friesen zu besiegen. Für Siegfried gab es nur einen Weg, wenn er auch riskant war: Er mußte der geheimnisvollen Einladung dieses Vagabundus folgen - mit dem Runenschwert!
»Wer seid Ihr? Und wohin des Wegs?«
Der Wachhabende an dem kleinen Nordtor, das nur Lieferanten und Dienstboten benutzten, schnarrte es monoton heraus, fast ohne nachzudenken. Er war ein hagerer, triefäugiger Mann mit stoppeligem Kinn. In gänzlich unsoldatischer Haltung lehnte er mit dem Rücken am dicken Mauerwerk. Seine beiden Kameraden lungerten ähnlich gelassen herum, unterhielten sich leise und stießen hin und wieder ein heiseres Lachen aus. Die Unterhaltung drehte sich offenbar um Huren, die vor einiger Zeit nach Xanten gekommen waren.
»Ich muß in die Stadt«, erklang eine Stimme hinter dem Umhang, den die Gestalt kapuzenartig um den Kopf gelegt und so weit über das Kinn gezogen hatte, daß nur die Augen zu sehen waren.
»Das müßte ich auch«, kicherte der Wachhabende. »Hab’ dort eine hübsche Maid, die Tochter eines Korbflechters. Die wird zwischen ihren drallen Schenkeln feucht wie’n Wasserfall, wenn sie einen Mann nur vor’m Haus vorbeigeh’n hört, was?« Er blickte seine Kameraden an, und sie fielen in sein Gekicher ein. Der Wachhabende räusperte sich und fuhr fort: »Aber ich kann leider nicht weg. Wachverstärkung, wegen dieser fischfressenden Friesenbande, die uns den Krieg erklärt hat. Höchste Aufmerksamkeit hat Graf Reinhold geboten. Und die wird Euch jetzt zuteil, Euer Merkwürden. Also nennt Euren Namen und zeigt Euer Gesicht, oder seid Ihr gar ein friesischer Spion?«
»Wohl kaum«, erwiderte leise der Vermummte und ließ den Umhang so weit fallen, daß sein Gesicht zu sehen war.
Sofort verschwand der spöttische Ausdruck aus dem unrasierten Gesicht des Wachhabenden. Er bemühte sich um eine stramme Haltung, wäre dabei fast gestürzt und konnte gerade noch von einem Kameraden aufgefangen werden. Der unerwartete körperliche Einsatz führte bei dem Wachhabenden zu einem lauten, langen Rülpser, der stark nach gewürztem Met roch.
»Prinz Siegfried!« stieß der Mann überrascht hervor. »Was tut Ihr hier zu so später Stunde?«
»Wie ich gerade sagte, ich will in die Stadt.«
»Ich... ich weiß nicht, ob... ich das gestatten kann«, stammelte der Hagere.
»Wieso nicht?« fragte Siegfried streng. »Seit wann bedarf der Sohn der Königin der Erlaubnis einfacher Wachen, wenn er seine Burg verlassen will?«
Der Wachhabende rieb verlegen sein spitzes Kinn. »Vielleicht, seitdem wir Krieg mit den Friesen haben. Ich sollte wohl besser Graf Reinhold fragen.«
»Graf Reinhold schläft und will nicht gestört werden«, erwiderte Siegfried. »Es war ein anstrengender Tag für ihn. Man vernichtet nicht jeden Tag eine feindliche Flotte.«
»Nein, gewiß nicht«, meinte der Hagere in dem leutseligen Ton, in dem auch der Prinz von Xanten zuletzt gesprochen hatte.
»Die ganze Stadt hat gefeiert. Ihr wohl auch, wie?«
»Was meint Ihr, Herr?« fragte der Wachhabende.
»Na, den Met, den ihr intus habt. Riecht ja, als würde das für eine ganze Armee reichen.«
»Ja, ich habe ein wenig getrunken«, ging der Hagere auf Siegfrieds vertraulich klingende Worte ein. »Das haben ja alle heute.«
Siegfried nickte verständnisvoll, aber dann erklärte er mit schneidender Stimme, ganz wie ein Befehlshaber: »Nur haben heute nicht alle Wache! Ihr wißt doch, daß es verboten ist, betrunken Wache zu stehen, oder?«
»J-ja.«
»Und ihr kennt auch die Strafe, die darauf steht?«
»Die... Stäupe«, kam die zögerliche Antwort. »Fünfzig Schläge auf den nackten Rücken.«
»Das gilt nur in Friedenszeiten«, erwiderte Siegfried und lächelte den Hageren maliziös an. »Im Kriegsfall sind es hundert Schläge, in besonders schweren Fällen auch nur einer: mit dem Richtschwert auf den Nacken. Ich finde schon, daß es sich bei der Wache an der Königsburg um einen besonders schweren Fall handelt. Ihr nicht, Soldat?«
»Ich...« Der Mann schwitzte plötzlich und wischte mit dem Handrücken über seine Stirn. »Prinz Siegfried, ich wollte nicht... Ich meine, es war nicht meine Absicht...« Er schien nicht mehr in der Lage, einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. Dicke Schweißperlen traten auf seine Stirn.
»Ich schlage Euch eine Abmachung vor, Soldat. Ihr laßt mich passieren und vergeßt, daß ich hiergewesen bin. Zu niemandem ein Wort, versteht Ihr? Das gilt auch für Eure Kameraden. Dann vergesse ich, in welchem Zustand ich Euch angetroffen habe.«
Der Wachhabende brauchte nicht zu überlegen. Er nickte dankbar. Auch die anderen beiden Wächter schienen einverstanden. Längst lungerten sie nicht mehr herum, sondern standen aufrecht vor ihrem Prinzen, bemüht, ein würdevolles soldatisches Bild abzugeben.
Siegfried beachtete sie nicht weiter und schritt über die schmale Zugbrücke. Erst als er den tiefen Wassergraben überquert hatte und in das Häusergewirr der Stadt eintauchte, blieb er stehen, lehnte sich gegen eine Wand und wischte mit der Kapuze den Schweiß aus seinem Gesicht. Zum Glück hatte der Wachhabende in seiner Angst nicht bemerkt, daß Siegfried kaum weniger aufgeregt gewesen war als er. Er gönnte sich nur eine kurze Pause. Der »Blaue Schwan« lag im Südhafen. Er mußte sich beeilen, wenn er um Mitternacht dort sein wollte. Je näher er dem Hafenviertel kam, desto belebter wurden die engen Gassen. Schiffer, Gaukler, Bettler und jede Menge Hübschlerinnen trieben sich herum. Immer wieder wich Siegfried ausgestreckten Bettlerklauen aus oder schamlosen Huren, die sich ihm in den Weg stellten. Einige der Dirnen waren so unansehnlich, daß er nicht verstand, wie sie überhaupt etwas verdienten.
Der »Blaue Schwan«!
Das Haus war groß, mit mehreren Anbauten, das Hauptgebäude mit einem Obergeschoß. Ein großes Schild mit einem langhalsigen blauen Holzvogel schepperte leise im Nachtwind, der über Xantens Dächern mit den Wolken spielte. Die Fenster waren unverhüllte Löcher, und die Tür unter dem Holzschwan stand weit auf. Es war trotz der Wolken und der sanften Brise eine schwüle Nacht. Gelächter, Geschrei, Gesang und Musik drangen herüber, ein wüstes, lautes Stimmengewirr.
Siegfried schob sich in die Kaschemme hinein. Unter der niedrigen Decke des großen Schankraums stauten sich die widerwärtigsten Gerüche. Bier, Wein, Met und Essensdämpfe gehörten noch zu den angenehmsten. Siegfried wurde von der Enge und dem Gestank beinahe übel, als er sich zum Tresen vordrängte. Immer wieder mußte er die Hände zudringlicher Hübschlerinnen abstreifen. Eins dieser Weiber riß ihm mit einer schnellen Bewegung die Kapuze vom Kopf. Siegfried stockte der Atem, weil er befürchtete, erkannt zu werden. Aber die Dirne lachte rauh und ließ ihre Hand durch sein Haar fahren. »Was für ein hübscher Bursche! Und noch so jung! Du solltest dein schönes Gesicht nicht verstecken. Ich wette, du hast auch sonst einiges zu bieten.«
Sie stand dicht vor ihm, zeigte schwarze Zahnstummel und stank nach Fäulnis und billigem sauren Wein. Siegfried stieß die Frau unsanft von sich. Sie stolperte, stürzte zu Boden und rief ihm wüste Beschimpfungen nach. Einiges kannte er schon von den Dienstboten auf der Schwertburg, aber vieles hätte ihn in anderer Umgebung zum Erröten bringen können. Hier bemühte er sich, ruhig zu bleiben, wie ein Mann, der an so etwas gewöhnt war.
Ein heftiger Stoß brachte ihn ins Taumeln. Wäre er nicht von zwei Schiffern aufgefangen worden, hätte er sich neben der Hübschlerin am Boden wiedergefunden.
»Gut so, Arko!« keifte die grobknochige Dirne. »Zeig’s dem feinen Herrn, der sich zu gut für die feurige Framgard dünkt!«
Siegfried fuhr herum und starrte in ein von Eiterbeulen übersätes Gesicht. Arko war ein Hüne wie Siegfried. Seine felsgroße Rechte war zur Faust geballt. Die linke Hand fehlte. Am Armstumpf steckte eine hölzerne Manschette, aus der eine unterarmlange Klinge mit scharfen, gebogenen Zacken ragte.
Der Lärm in der Kaschemme verstummte abrupt. Um Siegfried und Arko zogen sich die Gäste des »Blauen Schwans« zurück. Niemand schien Lust zu verspüren, sich von Arko aufschlitzen zu lassen, schon gar nicht grundlos.
»Was fällt dir ein, milchgesichtiger Bastard!« kreischte Arko mit einer Stimme, die für seinen mächtigen Körper viel zu schrill wirkte. »Niemand stößt meine Framgard zu Boden, verstanden? Ich werde dir schon feines Benehmen beibringen!«
Zur Bekräftigung seiner Worte spuckte Arko im weiten Bogen aus. Dann machte er auch schon einen Satz nach vorn und schlug mit der scharfzahnigen Klinge nach Siegfried. Der Prinz entging der ungewöhnlichen, aber bedrohlichen Waffe, indem er auf einen niedrigen Tisch sprang.
Arko zeigte sich nur für einen Augenaufschlag verblüfft. Dann krachte seine Rechte unter die Tafelplatte und warf sie von den hölzernen Böcken. Siegfried stürzte zu Boden, zusammen mit unzähligen Karaffen, Tellern und Bechern. Als ein Schatten auf ihn fiel, rollte er sich flink zur Seite. Arkos Armmesser zerhieb eine Tonkaraffe. Bier spritzte nach allen Seiten.
Siegfried sprang auf und schleuderte dem erneut angreifenden Kuppler seinen Umhang entgegen. Arko verfing sich darin wie in einem Fischernetz. Das grobe Wolltuch, das Siegfried eigens für dieses Unternehmen ausgewählt hatte, tat ihm gute Dienste. Arko tapste einen Moment wie ein blinder Tanzbär umher. Mehr als diesen kurzen Moment brauchte Siegfried nicht. Als Arko das Tuch endlich mit wütendem Schnauben abgestreift hatte, spürte er Siegfrieds Klinge an seiner Kehle. Das Runenschwert lag sicher in der Hand. Der Prinz von Xanten fühlte sich plötzlich überlegen und vollkommen Herr der Lage. Es bedurfte nur einer Handbewegung, und Arko hatte seinen letzten Atemzug getan. Alles in Siegfried gierte danach, dem Kuppler das Leben zu nehmen!
Arko stand vollkommen reglos da und wagte kaum zu atmen. Das wütende Feuer in seinen Augen war erloschen. Pure Angst glänzte in ihnen, wie bei einem Tier, das erkannt hatte, daß man es zur Schlachtbank führte.
»Genug Unfug!« rief eine dünne Stimme dicht neben Siegfried. »Hört doch auf zu streiten, Freunde. Baut die Tafel wieder auf und zecht weiter!«
Anfangs sah Siegfried niemanden, als er sich aus den Augenwinkeln umblickte. Dann erst bemerkte er eine kleine Gestalt, die ihm noch nicht einmal bis zu den Ellbogen reichte. So ähnlich mußten die Zwerge ausgesehen haben, von denen sich die Alten erzählten.
»Gebt endlich Ruhe, junger Freund«, bat das Männchen, das flehend zu Siegfried aufschaute. »Ich bin sicher, Arko wird sich bei Euch entschuldigen und Euch eine Karaffe vom besten Met spendieren.«
»Eine ganze Karaffe?« brummte der Kuppler. Als der warnende Blick des Kleinen ihn traf, meinte er: »Also gut, eine Karaffe. Aber nicht mehr!«
»Ich will gar nichts trinken!« sagte Siegfried, während er Arko weiterhin mit dem Runenschwert bedrohte.
»Nichts trinken?« Der Kleine schaute verwundert drein. »Ja, was sucht Ihr dann in meiner Kaschemme?«
»Du bist der Wirt?«
»In ganzer Lebensgröße«, gackerte der Kleine. »Magnus ist mein Name.« Er gackerte noch lauter. »Das kommt aus dem Lateinischen und heißt...«
»Ich weiß, was es heißt«, unterbrach Siegfried den redseligen Kerl und nahm zögernd das Schwert herunter. »Kommst du mir noch einmal zu nahe, Arko, verlierst du auch deine andere Hand - und deinen Kopf!«
Der Kuppler zog sich taumelnd zurück. Die feurige Framhild war inzwischen aufgestanden, aber sie begann zu keifen und wollte sich offenbar nicht damit zufriedengeben, daß Siegfried so straflos ausging. Arko versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, die sie erneut zu Boden schickte. Die Menge lachte, und die Hübschlerin hatte genug.
»Ich suche jemanden«, sagte Siegfried zu Magnus, während er das Schwert zurück in die Scheide steckte. Ihm fielen die begehrlichen Blicke auf. Sie galten dem prächtigen Schwert und dem reichverzierten Wehrgehänge. Schnell nahm er seinen Umhang auf und legte ihn um die Schultern, um den Prunk vor den gierigen Augen zu verbergen.
»Hier verkehren keine reichen Herren«, erklärte der Wirt.
»Ich weiß nicht, ob er reich ist.«
»Ihr kennt ihn nicht?«
»Nur seinen Namen. Er nennt sich Vagabundus.«
Magnus riß die Augen auf und fragte: »Seid Ihr ein Freund oder ein Feind von Vagabundus?«
»Das wird sich herausstellen. Du kennst ihn also, Wirt?«
Magnus nickte. »Ihr müßt der junge Bursche sein, den ich zu ihm bringen soll. Ich hätte Euch eher erkennen sollen, aber durch den kleinen Streit war ich zu aufgeregt. Kommt mit, ich führe Euch zu ihm!«
Der Wirt wieselte so flink durch die Gästeschar, daß Siegfried Mühe hatte, ihm zu folgen. Magnus schlug eine dicke Flechtmatte beiseite und tauchte in einen engen, düsteren Durchgang ein. Siegfried mußte sich bücken. Vorsichtshalber legte er die Rechte auf den Schwertgriff.
Sie kamen auf einen kleinen Hinterhof, auf dem es nach Viehmist stank. Über eine enge, morsche Außentreppe ging es zum Obergeschoß. Ein dickes Tuch hing vor einer Fensteröffnung, und nur schwacher Lichtschein drang nach draußen. Magnus stieß eine quietschende Tür auf, deutete eine Verbeugung an und sagte: »Vagabundus wartet auf Euch, junger Herr.«
Siegfried nickte knapp und ging an ihm vorbei. Kaum hatte er die kleine Kammer betreten, da schlug Magnus auch schon die Tür von außen zu. Siegfried hörte seine trippelnden Schritte auf der knarrenden Stiege.
Auf einem kleinen Tisch brannte ein klobiger Kerzenrest, dessen gelblicher Schein nicht bis in die hintersten Ecken reichte. Auch nicht bis zu der verhüllten Gestalt, die dort saß und sich mit etwas beschäftigte, das leise klackernde Geräusche verursachte. Siegfried nahm an, es seien Spielwürfel.
Er hielt sich ebenfalls außerhalb des Lichtscheins, weiterhin die Rechte am Schwertknauf, und sagte mit bemüht fester Stimme: »Hier bin ich, Vagabundus. Was habt Ihr mir zu sagen?«
»Ich freue mich, daß du gekommen bist, mein Sohn«, erwiderte eine tiefe Stimme.
Siegfried trat zum Tisch, nahm die Kerze auf und hielt sie so, daß ihr Schein auf die schattenhafte Gestalt fiel. »Ihr?« fragte er kopfschüttelnd. »Ihr seid Vagabundus?«
»Setz ab, Tiedo! Sauf uns nicht alles weg!« krähte der rotbärtige Imbert und streckte seine Hand nach dem ledernen Schlauch aus. Er reckte das bartumwucherte Kinn vor und sah seinen Kameraden böse an.
Der hagere Tiedo setzte den Metschlauch ab, stieß einen scharfen Rülpser aus und leckte die klebrigen Reste von seinen dünnen Lippen. Selig blickten seine Triefaugen auf den Schlauch. Der Ausdruck wechselte zu Bedauern, als er den Met an den Kameraden weiterreichte, der so gierig trank, daß er sich verschluckte und in lautes Husten und Prusten ausbrach.
Osbern, der dritte Wachtposten am Nordtor, griff nach dem Schlauch, während Tiedo dem zusammengekrümmten Rotbärtigen kräftig auf den Rücken klopfte. »Schon gut, Imbert, nicht jedem bekommt der Würzmet.«
»Vielleicht ist er Imbert nicht gut genug«, kicherte der spitznäsige Osbern, nachdem er sich am Met gütlich getan hatte. »Unser Freund verträgt vielleicht nur ganz teuren Wein, wie ihn die edlen Herren trinken.«
»Der junge Prinz trinkt bestimmt keinen Met«, meinte Imbert, der sich wieder gefangen hatte. »Dazu müßte er nicht heimlich in die Stadt schleichen.«
Osbern nickte zustimmend. »Wundert mich auch, was er dort sucht.«
»Na, was wohl?« Tiedo stieß ein heiseres Lachen aus. »Das, was er auf der Burg nicht haben kann, weil ihm da die Königin und sein Zuchtmeister auf die Finger sehen. Das, was jeder gesunde Mann braucht: kräftigen Würzmet und die großen Brüste einer Hübschlerin!«
»Hauptsache, groß!« griente Imbert und starrte sehnsüchtig über den Burggraben hinweg auf die Häuser Xantens.
Osbern blickte den Wachhabenden ungläubig an. »Meinst du wirklich, Tiedo, ein feiner Herr wie unser Prinz gibt sich mit Hafenmetzen ab?«
»Auch ein feiner Herr ist ein Mann.« Wieder lachte Tiedo. »Minnesang und Liebesgedichte allein können einen Mann auf die Dauer nicht befriedigen.«
Die anderen beiden fielen in sein meckerndes Gelächter ein, so laut, daß sie den Mann nicht hörten, der im Schatten der Burgmauer zum Nordtor kam. Erst als er in den Schein der beiden am Torbogen hängenden Fackeln trat und dicht vor den lässig an die Wand gelehnten Wachen stand, bemerkten sie ihn. Osbern ließ vor Schreck den Metschlauch fallen.
»Wenn der Witz gut war, so möchte ich ihn hören!« sagte Graf Reinhold von Glander mit einem unechten, eher bedrohlich wirkenden Lächeln. »Vielleicht heitert mich das so weit auf, daß ich davon absehe, euch dem Scharfrichter zu überantworten.«
»Dem Scharfrichter?« Tiedos Augen weiteten sich. »Aber wieso denn, Herr?«
»Deshalb!« Reinholds Fuß, der in einem schwarzglänzenden Lederstiefel steckte, schnellte vor und traf den Metschlauch. Der Schlauch flog durch das offene Tor, schlitterte über das Holz der Zugbrücke und fiel in die Tiefe. Es dauerte einen Moment, bis ein leises Platschen an die Ohren der Männer drang. »Damit wäre das Beweisstück für euren Suff vernichtet«, fuhr der Kriegsherr fort. »Jetzt müßt ihr nur noch den Zeugen bestechen!«
»Welchen Zeugen?« fragte der vom Met verwirrte Wachhabende.
»Mich!« antwortete Reinhold.
Tiedo hob hilflos die Hände, es wirkte wie ein Flehen. »Aber, Herr! Wie... wie könnten wir Euch bestechen? Niemand von uns besitzt soviel Geld, daß es Euch lohnenswert erschiene!«
»Ich rede nicht von Geld. Gebt mir eine Auskunft, und ich werde eure Vergehen nicht weiter ahnden.«
»Was wollt Ihr wissen, Herr?« Tiedo keuchte wie ein Ertrinkender, der im letzten Augenblick aus dem Rhein gezogen wurde.
»Hat Prinz Siegfried die Burg durch dieses Tor verlassen?«
Tiedo erschrak und bemühte sich, sein Entsetzen vor dem Kriegsherrn zu verbergen. Er wechselte kurze Blicke mit Imbert und Osbern, aber auch die beiden wirkten ratlos. Tiedo blickte zu Boden, auf seine matten, fleckigen Stiefelspitzen. Er wagte nicht, dem hohen Herrn in die Augen zu sehen.
Die Lage war mehr als vertrackt! Gab er Reinhold die gewünschte Auskunft nicht, würde der Kriegsherr Tiedo und seine beiden Kameraden dem Scharfrichter übergeben. Verriet Tiedo aber Siegfried, würde der Prinz sie ebenso grausam bestrafen. Tiedo begann zu schwitzen und lockerte mit dem Finger die Halsberge seines Kettenhemdes.
»Was ist, Soldat?« fragte Reinhold barsch. »Hat der Met dir die Sprache verschlagen?«
Tiedo schüttelte matt den Kopf und fragte mit vor Angst bebender Stimme: »Versprecht Ihr, uns vor Strafe zu bewahren, wenn wir Euch die erwünschte Auskunft geben?«
Reinholds Rechte zuckte vor und versetzte Tiedos Wange einen schmerzhaften Streich. Der Wachhabende zog erschrocken sein Haupt zurück und prallte mit dem Hinterkopf gegen die Steinmauer.
»Du Hund wagst es, mir, deinem Kriegsherrn, ein Ehrenwort abzuverlangen?« brüllte Reinhold. »Für was hältst du dich? Wenn du nicht mit der Sprache herausrückst, werden die Folterknechte deine Zunge lösen!«
»Ich bitte Euch um Vergebung, Herr«, keuchte Tiedo rasch. »Prinz Siegfried ist tatsächlich durch das Tor gegangen. Aber er trug uns auf zu schweigen. Nur deshalb habe ich Euch nicht gleich geantwortet, Graf Reinhold.«
»Wann ist Siegfried durch das Tor gegangen?«
»Es ist noch keine halbe Stunde her.«
»War der Prinz allein?«
»Ja.«
»Beritten?«
»Nein, Herr.«
»Was war sein Ziel?«
»Das hat er uns nicht genannt.«
»Ist euch sonst etwas aufgefallen?«
Tiedo überlegte kurz und sagte dann: »Der Prinz wollte wohl nicht erkannt werden. Er hatte einen Umhang um seinen Kopf gewickelt.«
Reinhold schaute nachdenklich durch den Torbogen auf das Häusermeer Xantens. Ruckartig wandte er sich zum Gehen um. Tiedo wollte schon aufatmen. Da blieb der Kriegsherr abrupt stehen, drehte den Kopf und rief: »Die nächste betrunkene Wache, auf die ich stoße, bekommt von mir eigenhändig zu trinken, und zwar Rheinwasser bis zum Verrecken!«
Mit schnellen Schritten in Richtung Palas entfernte sich der Graf und wurde schließlich eins mit den Schatten der Nacht. Wie ein böser Traum, der in den dunklen Abgründen verschwand, aus denen er emporgestiegen war. Oder wie ein Teufel, der zurück in die Hölle fuhr.
Heißes Wachs tropfte von dem Kerzenstummel auf seine Hand und erlöste Siegfried aus der Starre, die ihn beim Anblick des geheimnisvollen Vagabundus befallen hatte. Er stellte die tropfende Kerze auf die Anrichte mit den kleinen Stäben, die er für Würfel gehalten hatte. Aber es waren keine Würfel. Ähnliches hatte er schon einmal gesehen, in jener Nacht am Rhein, in Reinholds Lederbeutel: Runenstäbe.
Das Kerzenlicht glitt auf die Runen und auf den Mann, der auf einer schmalen Pritsche saß und Siegfrieds erstaunten Blick ruhig erwiderte. Sogar im Sitzen fiel sein hoher Wuchs auf. Doch war er nicht ganz so groß wie Siegfried, weniger sehnig, dafür etwas kräftiger gebaut, wie es das zunehmende Alter mit sich brachte. Aber so alt, wie er mit den grauen Haaren und dem grauen Vollbart wirkte, war er noch nicht. Als Siegfried ihn das letztemal gesehen hatte, waren die Haare noch dunkler gewesen und das Gesicht rasiert. Grau war die beherrschende Farbe an dem Mann. Grau waren seine Augen und die buschigen Brauen. Grau war auch der Umhang, der lose um seine Schultern lag.
»Deine Augen erkennen mich, Siegfried, aber dein Verstand scheint sich zu sträuben.«
»Kein Wunder«, erwiderte der Prinz mit belegter Stimme. »Manche hielten Euch schon für tot, für eine Legende oder einen Geist. Weshalb seid Ihr dann zurückgekehrt?« Siegfrieds Stimme klang aggressiv. Er spielte das Spiel des anderen, notgedrungen, aber es gefiel ihm nicht. Jahrelang war der Mann, der sich Vagabundus nannte, verschollen gewesen. Und jetzt tauchte er aus dem Nichts auf und bestellte Siegfried zu nachtschlafender Zeit in diese schmutzige Kaschemme!
»Ich kam her, um dich und das ganze Reich vor größerem Schaden zu bewahren«, erklärte Vagabundus und fügte leise hinzu: »Falls es noch möglich ist.«
»Ihr meint den Krieg mit Friesland?«
»Ganz recht.«
»Ich glaube nicht, daß Ihr noch etwas ändern könnt. Zu schwer wiegen Prinz Harkos Tod und Prinzessin Amkes Entführung.«
»Vielleicht können wir König Hariolf doch umstimmen, wenn wir den wahren Übeltäter überführen.«
»Ich verstehe Euch nicht«, bekannte Siegfried.
»Daß du Prinz Harko getötet hast, geschah nicht durch Zufall, Siegfried. Deine Wut, die dich mit dem Schwert zuschlagen ließ, mag dir angeboren sein, aber entfacht und verstärkt wurde sie durch den bösen Zauber des Runenschwertes.«
»Ihr wißt, daß ich...«
»Daß du in der Wolfsburg und in der Schlangenhöhle gewesen bist, tapferer Recke.« Vagabundus nickte. »Ich war stets in der Nähe.«
»Der Graue Geist!« entfuhr es Siegfried.
Vagabundus blickte ihn fragend an, und Siegfried berichtete von der geisterhaften Gestalt, die er den Grauen Geist genannt hatte. »Jetzt weiß ich, daß Ihr es wart.«
Vagabundus nickte. »Ich ahnte das Unheil schon lange. In letzter Zeit mehrten sich die bösen Zeichen und die schlechten Nachrichten, die mich erreichten. Ich beobachtete den Verräter und griff nicht ein, um seine Pläne gänzlich zu erfahren. Wie es aussieht, habe ich zu lange gezögert. Aber zumindest ist er nicht im Besitz des Runenschwertes. Gut, daß du es mitgebracht hast!«
»Woher wißt Ihr das?« wollte Siegfried wissen. Zwar mochte ein guter Beobachter unter seinem Umhang die Umrisse der Waffe erkennen, aber nicht, daß es sich um das magische Schwert der Götter handelte.
»Ich fühle es«, erklärte Vagabundus, während er die Runenstäbe in einen Leinenbeutel strich. »Und die Runen haben es angekündigt.« Er seufzte schwer. »Leider sprechen sie nicht immer eine so deutliche Sprache, sonst ließe sich viel Böses verhindern.«
»Ihr sprecht auch keine deutliche Sprache«, entgegnete Siegfried mit wachsendem Zorn. »Je mehr Ihr erklärt, desto weniger verstehe ich. Von welchem Verräter sprecht Ihr? Und warum soll das Runenschwert meine Wut entfacht haben?«
Die grauen Augen blickten Siegfried eindringlich an. »Ich sehe dir an, daß du es spürst, Siegfried. Tief in dir wachsen die Zweifel. Hast du noch nicht daran gedacht, daß mit dem Runenschwert das Unglück über die Niederlande gekommen ist? Spürst du es nicht, wenn du das Schwert trägst, wenn du es berührst? Fühlst du nicht die böse Macht, die sich deiner bemächtigt, das Gute in dir unterdrückt und das Böse, das Schlechte zum Vorschein holt? Ich meine Haß und Zorn, die Quellen der Zerstörung!«
In den Worten lag viel Wahrheit. Tatsächlich fühlte sich Siegfried unbesiegbar, wenn er das Runenschwert in Händen hielt. So, als könne er es mit der ganzen Welt aufnehmen. Aber war es nicht der Wille Wodans, daß seine Abkömmlinge die mächtigsten Herren wurden?
»Was dachtest du dir nur dabei, das Schwert zu bergen und zusammenzusetzen?« fragte Vagabundus kopfschüttelnd. »Hältst du deinen Vater für einen Narren, daß er das Runenschwert zerbrach? Meinst du, ich hätte es an so unzugänglichen Orten verborgen, wenn ein Knabe es führen sollte?«
»Ich bin kein Knabe mehr!« rief Siegfried zornig.
»Ein Mann hätte überlegter gehandelt«, spottete Vagabundus und schüttelte sein graues Haupt.
Siegfried reagierte blitzschnell. Er warf den Umhang ab, zog das Schwert aus der Scheide und stieß die Klinge vor, gegen den Leib des anderen. Er verspürte große Lust, den Leib seines Gegenüber zu durchbohren.
»Da siehst du, welche Macht das Runenschwert über dich besitzt«, stellte Vagabundus triumphierend fest. »Oder glaubst du wirklich, du hättest eine andere Waffe gegen deinen Oheim erhoben?«
Siegfrieds Rechte zitterte.
Sein Oheim!
Siegfried hatte ihn in Gedanken weiterhin Vagabundus genannt, vielleicht weil es so unglaublich war, daß er Grimbert gegenüberstand. Grimbert dem Verschollenen. Grimbert dem Wunderlichen. Grimbert dem Runenzauberer. Grimbert dem Wanderer. Vagabundus!
Erschrocken darüber, fast den Bruder seiner Mutter getötet zu haben, steckte Siegfried das Schwert zurück in die Scheide. »Es tut mir leid«, flüsterte er.
»Ich hätte eher eingreifen sollen, bevor du das Schwert zusammengeschmiedet und den bösen Zauber neu entfacht hast. Aber ich ahnte nicht, daß das Unheil so rasch über uns kommen würde.«
»Aber warum ein böser Zauber? Reinhold hat mir erzählt, Wodan habe das Runenschwert meinen Ahnen geschenkt, um Gutes damit zu tun.«
»So war es auch, bis jemand auf dem Friesenfeldzug den Zauber ins Böse wendete. Er veränderte die Runen. Dein Vater bemerkte es zu spät, als er schon blutige Schandtaten mit der Klinge verübt hatte. Zum Glück besann er sich und zerstörte das Schwert.«
Siegfried hatte das Gefühl, ein großer Schwindel erfasse ihn und lasse seine Gedanken tanzen. So viele Dinge schienen nicht so zu sein, wie es auf den ersten Blick aussah. »Wenn Ihr soviel wißt, Oheim, erklärt mir doch eins: Weshalb hat Reinhold mir das nicht gesagt, als er mir vom Runenschwert erzählte und mir half, aus dem zerbrochenen Schwert wieder ein ganzes zu machen?«
»Bei Wodan, Donar und der ganzen Götterschar, hast du das wirklich noch nicht begriffen? Hast du dich nicht gefragt, wie Harko wissen konnte, daß du auf der Haselwiese warst?«
»Nein«, gestand Siegfried ein. »So vieles geschah in kurzer Zeit...«
»Dann frage dich jetzt!«
»Einer lügt«, sprach Siegfried laut seine Gedanken aus. »Entweder Ihr, Grimbert, oder Reinhold.«
»Richtig erkannt, mein Sohn. Einer von uns hat dich belogen und betrogen, um dich für seine Zwecke auszunutzen.«
»Nein«, sagte Siegfried und schüttelte heftig den Kopf. Alles in ihm wehrte sich gegen die Erkenntnis, all die Jahre getäuscht worden zu sein. »Ihr seid der Lügner, Grimbert! Reinhold kenne ich viel zu gut. Ihr seid es, der mich betrügen will!«
»So? Und aus welchem Grund?«
»Warum sollte Reinhold es tun?«
»Vielleicht wird er dir die Antwort selbst geben«, sagte Grimbert und sprang auf. Er zog den Wollvorhang vor dem Fenster ein wenig zur Seite. Weit genug, um nach draußen zu sehen. Geschrei klang dumpf zu den beiden Menschen in der kleinen Kammer herauf. Laute Schritte vieler Menschen, harte Stiefeltritte. Das Klirren von Waffen.
Grimbert stieß einen Fluch aus. »Sie sind schon an der Treppe! Wirst du mit mir oder gegen mich kämpfen, Siegfried?«
»Mit Euch zu kämpfen heißt, gegen Reinhold zu sein.«
Grimbert nickte und zog ein Schwert mit schmaler Klinge. »Gegen das Böse!«
Schwere, eilige Schritte erklangen auf der Treppe. Die Tür flog auf, und Bewaffnete stürmten herein. Sie trugen die Rüstungen niederländischer Soldaten.
»Bleibt stehen!« rief Grimbert und nannte seinen Namen. »Ich bin der Bruder der Königin. Ihr habt mir zu gehorchen!«
»Wir gehorchen nur Graf Reinhold!« erwiderte einer der Eindringlinge, über dessen rechte Wange eine fingerlange Narbe lief. »Und der Graf hat befohlen, euch Galgenvögel gefangenzunehmen.«
Siegfried postierte sich vor den Soldaten: »Erkennt Ihr mich etwa nicht?«
»Natürlich erkenne ich dich, Hochstapler. Du bist der dreiste Kerl, der in unsere Stadt gekommen ist, um sich für den Prinzen auszugeben.«
»Jetzt begreife ich«, knurrte Grimbert. »Der schlaue Fuchs Reinhold hat uns als Hochstapler angeschwärzt!«
»Ihr gebt es also zu?« fragte der Soldat mit der Narbe. »Ist schon ein dreistes Stück von euch friesischen Agenten, daß ihr euch als Bruder und Sohn unserer Königin ausgeben wollt, um in Xanten Verwirrung zu stiften!«
»Aber ich bin der Prinz!« schrie Siegfried.
Der Narbige lachte schrill. »Der Prinz würde nicht in solchen Lumpen herumlaufen und in so einer üblen Spelunke verkehren!«
Der Soldat war einen Moment unaufmerksam, und Grimbert, der alte Kämpe, wußte den Vorteil für sich zu nutzen. Er zog mit einer schnellen Bewegung seine Klinge und bohrte sie in das Gesicht seines Kontrahenten. Als der Soldat auf die Knie sank, hieb Grimbert schon auf die nächsten Gegner ein und drängte zwei Mann zugleich in die Ecke. Er mochte gealtert sein, aber er war noch immer ein furchteinflößender Recke.
Siegfried hatte die Wahrheit erkannt. So schwer es auch fiel, alles sprach für Grimbert - und gegen Reinhold.
Der Prinz zog das Runenschwert und durchstieß die Halsberge eines Soldaten. Dem nächsten zerfetzte er Brünne und Leib. Ein weiterer Soldat zog sich zur Tür zurück und hob schützend seinen länglichen Schild. Siegfrieds Schlag spaltete ihn in zwei Hälften. Mit einem entsetzten Schrei ließ der Mann den Schild fallen und lief so hastig zur Treppe, daß er stolperte und in die Arme seiner Kameraden fiel. Er riß mehrere Männer mit, als er in den Hof stürzte.
»Grimbert, die Treppe ist frei!« rief Siegfried.
Mit einer schnellen, geschickten Drehung brachte sich Grimbert in den Rücken seiner beiden Gegner. Einem hieb er den Schwertknauf zwischen die Schultern, der andere erhielt einen Tritt in den Rücken. Während die beiden stöhnend zu Boden gingen, lief Grimbert auch schon aus der Kammer und folgte seinem Neffen die Treppe hinunter.
Aus allen Türen stürzten die Soldaten. Reinhold hatte offenbar seine ganze Armee aufgeboten. Siegfried und Grimbert ließen ihre Klingen kreisen, um sich den Weg freizukämpfen. Aber für einen gefällten Gegner tauchten zwei neue auf.
»Das Schwert beiseite, Rasender!« hörte Siegfried eine schneidende Stimme. »Sonst stirbt der Alte!«
Er wandte den Kopf und sah Grimbert waffenlos am Boden liegen, niedergehalten von einem halben Dutzend Soldaten. Einer drückte seinen Dolch gegen Grimberts Kehle.
Sollte Siegfried das Runenschwert sprechen lassen, um seinen Oheim zu befreien? Doch falls er zu langsam war, würde Grimbert sterben.
Diese bittere Erkenntnis zwang Siegfried, dem Soldaten zu gehorchen. Er ließ das Götterschwert sinken, und ein Soldat riß es aus seiner Hand. Ein anderer nahm das kostbare Wehrgehänge an sich. Als seine Hände brutal auf den Rücken gerissen wurden, um sie dort zu binden, wollte Siegfried protestieren. Er hatte kaum den Mund aufgemacht, da erhielt er einen Schlag gegen die Stirn. Er sah einen Schwertknauf in einer haarigen Hand, dann nur noch Schwärze, dunkler als die Nacht...
Übelkeit drohte ihn zu übermannen. Mit jedem Schaukeln, jedem Schlingern stieg sie in ihm hoch. Im ersten Augenblick meinte Siegfried, auf einem Pferd zu liegen oder auf einem Maultier. Aber er lag mit der Seite auf hartem, splittrigem Holz, die Hände so fest auf den Rücken gebunden, daß es schmerzte. Unablässig dieses Schaukeln. Er würgte, doch er brachte nichts aus sich heraus.
»Tu dir keinen Zwang an, Siegfried. Wir sind hier nicht in feiner Gesellschaft.« Die Stimme drang aus der Dunkelheit, ganz in seiner Nähe.
»Grimbert?« fragte er zögernd.
»Ja«, knurrte die Stimme mürrisch. »Der Tor Grimbert liegt ganz dicht neben dir.«
»Warum nennt Ihr Euch einen Tor?«
»Weil wir dem Verräter Reinhold in die Falle gegangen sind, der kluge Grimbert und der tapfere Siegfried. Du warst der Lockvogel für mich und ich der deine. Und jetzt hat er uns beide!«
»Wo sind wir?«
»Im Frachtraum eines Schiffes. Da wir keinen Riemenschlag hören und trotzdem rasch vorankommen, wie du an dem starken Schaukeln merkst, wird die Fahrt wohl flußabwärts gehen. Ich kam wieder zu mir, als mich Reinholds Schergen wie einen Sack Rüben unter Deck warfen.«
»Flußabwärts«, sagte Siegfried. »Da liegt die Schwertburg.«
»Daran dachte ich auch schon. Zumindest leben wir noch, und das bedeutet Hoffnung!«
Siegfried versuchte vergeblich, sich zu bewegen. Er war mit mehreren Riemen oder Stricken zusammengeschnürt. »Hoffnung worauf?«
»Darauf, Reinhold und damit das Böse zu besiegen.«
»Eure Zuversicht scheint größer als Eure Klarheit, was die Einschätzung unserer Lage betrifft, Oheim.«
»Ja, leider. Wäre ich Reinhold schon früher auf die Spur gekommen, wäre Siegmund und mir vieles erspart geblieben, und wir wären nicht zu ruhelosen Wanderern geworden.«
»Wieso nennt Ihr meinen Vater einen Wanderer?«
»Nur eine unüberlegte Bemerkung«, erwiderte Grimbert schnell.
Siegfried spürte, wie die Erregung in ihm aufstieg. »Was ist mit meinem Vater?«
»Er büßt für seine Sünden.«
»Ihr meint, im Fegefeuer?«
»Ich meine auf dieser Welt, wenn sie auch manchmal dem Fegefeuer ähnelt.«
»Das... das bedeutet...« Es war so ungeheuerlich, daß die Worte nicht über Siegfrieds Lippen dringen wollten.
»Ja«, erwiderte Grimbert mit fester Stimme. »König Siegmund ist nicht im Kampf gegen die Friesen gefallen. Wir, Reinhold und ich, täuschten seinen Tod nur vor. Siegmund selbst befahl es uns. Einem lebenden König der Niederlande hätte König Hariolf die Untaten niemals verziehen. Nur mit einem toten Siegmund hatte unser Land Aussicht auf Frieden.«
»Weiß meine Mutter...«
»Nein, niemand sollte es wissen. Mag sein, daß sie es ahnt. Vielleicht hat sie deshalb keinen neuen Gemahl erwählt.«
»Wo ist mein Vater?«
»Das weiß ich nicht. Seit damals, als er das Runenschwert zerbrach, habe ich nichts von ihm gehört. Er wollte als einfacher Wanderer durch die Lande ziehen, bis er ein Zeichen der Vergebung erhält.«
»Vergebung - von wem?«
»Von Gott vielleicht. Oder von Wodan.« Grimbert seufzte schwer, als wisse er es selbst nicht.
»An wen glaubt Ihr, Grimbert? An Gott und Jesus Christus? Oder an Wodan, den Göttervater?«
»Das geht nur mich etwas an«, brummte Siegfrieds Oheim.
Für eine Weile herrschte Schweigen. Man hörte nur das Plätschern der Wellen, das Ächzen und Knarren der Spanten und Planken. Gewiß war die Nachricht über König Siegmund eine unglaubliche Eröffnung. Aber in den letzten Tagen war soviel Unglaubliches geschehen, daß Siegfried nicht an Grimberts Worten zweifelte. Es gab auch keinen Grund dazu. Reinhold hatte sich als Verräter erwiesen, Grimbert hingegen als Freund, zumindest als Verbündeter. Aber wirkliche Freude, daß sein Vater noch lebte, wollte in Siegfried nicht aufkommen. Schuld daran war vielleicht seine Lage, die ihm, Grimberts Worten zum Trotz, wenig hoffnungsvoll erschien. Vielleicht war es auch das Gefühl, den Vater verraten zu haben, als Siegfried seinem Zuchtmeister zu dem Runenschwert verhalf.
»Will Reinhold das Runenschwert für seine Zwecke benutzen?« fragte der junge Xantener, auch um das düstere Schweigen zu durchbrechen.
»Ja. Erst diente es ihm, indem du es gegen Harko führtest. Jetzt wird es in Reinholds Händen noch mehr Friesen töten - und nicht nur Friesen.«
»Warum hat er es nicht selbst geholt? Er wußte doch die ganze Zeit über, wo es war.«
»Anfangs mußte er befürchten, von mir dabei ertappt zu werden. Später, als ich mich zurückzog, um meine Kenntnis der Runen zu vertiefen, bewachten Wodans Tiere das Schwert. Es war ungefährlicher für Reinhold, dich auszuschicken. Außerdem brauchte er dich als Sündenbock, um mit Harkos Tod einen Krieg auszulösen.«
»Wodans Tiere«, flüsterte Siegfried. Er dachte an die lautlose Stimme, die er in der Wolfsburg und in der Schlangenhöhle gehört hatte. In wenigen Worten berichtete er Grimbert von seinen Abenteuern.
Grimbert starrte den Prinzen finster an. »Du hast Wodans Warnungen mißachtet und die Wächter getötet, die er geschickt hatte, das Runenschwert zu behüten. Weißt du denn nicht, daß Wodan nur ein Auge hat? Das andere opferte er, um die Weisheit der Runen zu erlangen.«
»Welches Auge ist ihm geblieben?« Siegfried dachte an den großen Wolf und an die Wasserschlange. »Das linke?«
»Ja, das linke.«
»Dann habe ich tatsächlich Wodans Wächter getötet! Aber wer sandte den großen roten Falken?«
»Ich sandte ihn!« Mit einem lauten Quietschen wurde die Luke geöffnet, und diffuses Nachtlicht waberte in den Frachtraum. Helleres Licht folgte, als Reinhold mit einer Laterne in der Hand nach unten stieg. Er verschloß die Luke wieder über sich. Der Graf von Glander trug das Wehrgehänge, das er Siegfried geschenkt hatte. In der Scheide steckte das Runenschwert. »Ich schickte den Falken aus, dir zu helfen, mein Sohn. Schließlich wollte ich dich wohlbehalten zurückhaben.«
»Mich oder das Runenschwert?«
»Damals war mir sehr an dir gelegen. Jetzt allerdings ist mir das Schwert der Götter wichtiger.«
»Ich hatte solch einen Falken noch nie gesehen«, rief Siegfried ungläubig aus.
»Ich auch nicht«, erwiderte Reinhold kühl. »Bis ich eines Nachts wieder vom Feuergott träumte. Als ich erwachte, saß der Falke auf meinem Fenstersims. Ohne daß es mir jemand sagen mußte, wußte ich, daß er kommen würde, wann immer ich ihn rief.«
»Ihr seid also wirklich ein Diener des Feuergottes!« Grimbert spie vor Reinhold aus. »Ein Gott, der die anderen Götter verrät. Und ein Niederländer, der sein Reich, sein Volk und seine Königin verrät.«
»Nicht ich bin der Verräter«, entgegnete Reinhold. »All jene sind es, die dem Christengott dienen oder helfen, seine Macht zu stützen. Es führt zu nichts Gutem. Wer sich auf einen schwachen Gott verläßt, der ist verlassen!«
Er sprach mit wachsendem Grimm. Seine Augen flackerten unstet, die Stimme vibrierte.
»Wie kommt Ihr darauf, der Christengott sei schwach?« fragte Siegfried.
»Ich habe es selbst erfahren.« Reinhold klang jetzt düster. »Früher tauften wir unsere Kinder im Namen der alten Götter, um ihren Schutz zu erflehen. Aber was hat der Christengott mit meinem Sohn gemacht, obwohl der Bischof selbst ihn taufte?«
»Deshalb Euer ganzer Haß?« fragte Grimbert ungläubig. »Weil Euer Sohn im Kindbett starb?«
»Vergeßt nicht, daß seine Mutter ihm folgte, Grimbert«, rief Reinhold. »Ich jedenfalls verstand, als mir kurz darauf der Feuergott erschien und mich aufforderte, die Macht des Christengottes auf die Probe zu stellen. Sie war nichts gegen das Feuer, das sein Haus vernichtete. Nichts gegen den Stahl, der seinen Diener fraß!«
»Das Bild fügt sich zusammen«, sagte Grimbert ohne jede Freude über diese Erkenntnis. »Reinhold der Verräter ist zugleich der Brandstifter und der Priestermörder!«
»Und der Rächer!« schrie der Graf von Glander. »An der Spitze der niederländischen Recken werde ich die Friesen schlagen. Der Feuergott wird über die beiden Länder herrschen. Und dann werde ich den Christengott bekämpfen, bis die Welt aus seinen Klauen befreit ist!«
»So einfach wird das nicht gehen«, preßte Siegfried wütend hervor. »Meine Mutter, die Königin, wird das nicht zulassen.«
»Die Königin wird nicht mehr lange Königin sein«, lachte Reinhold. »Ich werde ihr berichten, die Friesen hätten ihren geliebten Sohn entführt. Und sobald es in meine Pläne paßt, werde ich ihr auch deine Leiche präsentieren. Nach dem vorgeblichen Tod ihres Mannes wird ihr dieser neuerliche Verlust das Herz brechen. Sie wird mir vollkommen freie Hand lassen und gar nicht merken, daß ich der eigentliche Herrscher der Niederlande bin.«
»Und welchen Platz habe ich in Euren finsteren Plänen?« erkundigte sich Grimbert.
»Vielleicht kann ich Euch noch für die eine oder andere Intrige gebrauchen. Bis ich darüber entschieden habe, genießt Ihr meine Gastfreundschaft.«