»Meine sehr verehrten Herrschaften vom Anaheim Lions Club«, sagte der Mann am Mikrophon, »es erfüllt mich mit außerordentlicher Freude, daß wir dank der freundlichen Genehmigung der Behörden des Orange County heute nachmittag einen Geheimen Rauschgift-Agenten in unserer Mitte begrüßen dürfen. Nach einem einleitenden Referat unseres Gastes werden wir die einmalige Gelegenheit haben, ihn zu sich und zu seiner Arbeit zu befragen.« Oh, wie er strahlte, dieser Mann mit dem rosa Waffelfiber-Anzug, der gelben Plastikkrawatte, dem blauen Hemd und den Schuhen aus Lederimitat! Ein übergewichtiger, überalteter Mann, der pausenlos lachte, als sei er überglücklich, auch wenn es wenig oder gar nichts gab, weswegen man glücklich sein konnte.
Der Geheime Rauschgift-Agent beobachtete ihn angeekelt.
»Nun, wie Sie sicherlich bereits bemerkt haben werden«, sagte der Versammlungsleiter, »können Sie dieses Individuum, das hier direkt zu meiner Rechten neben mir sitzt, eigentlich gar nicht richtig sehen, geschweige denn erkennen. Und das liegt an einer besonderen Vorrichtung, die er trägt, nämlich dem sogenannten ›Jedermann-Anzug‹. Und eben diesen Anzug trägt unser verehrter Gast während seines unermüdlichen Einsatzes für Recht und Ordnung fast ständig. Den Grund dafür werden Sie in wenigen Minuten erfahren.«
Das Auditorium, das in jeder denkbaren Hinsicht ein Spiegelbild des Versammlungsleiters war, betrachtete interessiert das Individuum in seinem Jedermann-Anzug.
»Dieser Mann«, verkündete der Versammlungsleiter, »den wir einfach nur Fred nennen wollen, weil er unter diesem Decknamen die Informationen, die er sammelt, an seine Vorgesetzten weitergibt, dieser Mann also kann, sobald er sich einmal innerhalb seines Jedermann-Anzugs befindet, weder durch den Klang seiner Stimme noch durch einen auf technischem Wege erstellten Stimmabdruck identifiziert werden – und auch nicht durch sein Aussehen. Würden Sie nicht auch sagen, daß er nur wie ein vager Fleck und sonst nichts aussieht?« Bei diesen Worten verzog er sein Gesicht zu einem breiten Lächeln. Das Auditorium nickte und lächelte konziliant zurück. Ja, das war wirklich lustig.
Der Jedermann-Anzug stammte aus den Forschungslaboratorien des Bell-Konzerns, eigentlich eine Zufallsentdeckung, die einem Angestellten namens S. A. Powers wie durch Zauberei gelungen war. Vor einigen Jahren hatte Powers mit enthemmenden Substanzen experimentiert, die direkt auf das Nervengewebe einwirkten; eines Abends hatte er sich selbst eine als ungefährlich und nur schwach euphorisierend geltende IV-Injektion verabreicht, was wider Erwarten zu einem katastrophalen Abfall in der GABA-Flüssigkeit seines Gehirns geführt hatte. Subjektiv hatte Powers die Folgen der Injektion so erlebt, als würden pausenlos geisterhaft phosphorisierende Phänomene an die gegenüberliegende Wand seines Schlafzimmers projiziert – eine mit irrwitziger Geschwindigkeit voranschreitende Montage von Bildern, die in Powers zu diesem Zeitpunkt den Eindruck zeitgenössischer abstrakter Gemälde erweckten.
Sechs Stunden lang hatte Powers überwältigt beobachtet, wie sich Tausende von Picasso-Gemälden in einer blitzschnellen Schnittfolge vor seinen Augen ablösten, und im Anschluß daran war er mehr Bildern von Paul Klee ausgesetzt worden, als dieser Künstler überhaupt während seines ganzen Lebens geschaffen hatte. S. A. Powers, über den sich nun eine wahre Sturzflut von Modigliani-Gemälden ergoß, hatte die Hypothese aufgestellt (schließlich braucht man für alles eine wissenschaftliche Theorie), daß die Rosenkreuzler diese Bilder auf telepathischem Wege auf ihn abstrahlten, wobei die telepathischen Impulse möglicherweise noch durch hochkomplexe Mikrorelais-Systeme verstärkt werden mochten; aber als ihn dann Kandinsky-Bilder zu martern begannen, erinnerte er sich daran, daß sich das größte Kunstmuseum in Leningrad gerade auf solche nichtgegenständlichen Maler der Moderne spezialisiert hatte. Und daraus nun wieder ließ sich die Schlußfolgerung ziehen, daß die Sowjets versuchten, telepathischen Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Erst am nächsten Morgen erinnerte sich S. A. Powers daran, daß ein drastischer Abfall in der GABA-Flüssigkeit des Gehirns stets solche Phosporeszenzphänomene erzeugte; demnach hatte also niemand versucht, auf telepathischem Wege – sei es mit oder ohne Mikrowellen-Verstärker – mit ihm in Verbindung zu treten. Aber immerhin brachte S. A. Powers dieses nächtliche Erlebnis auf die Idee für den Jedermann-Anzug. Im Grunde genommen bestand Powers’ Konstruktion aus einer Quarzlinse mit einer Vielzahl von Facetten, die mit einem miniaturistischen Computer zusammengeschaltet war. Die Speicherbänke dieses Computers enthielten maximal eineinhalb Millionen enkodierter Abbilder partieller physiognomischer Charakteristika einer großen Anzahl von Menschen – Männern, Frauen und Kindern. Der Computer projizierte die gespeicherten Abbilder nach außen auf eine hauchdünne, gewandartige Membrane, die groß genug war, um einem durchschnittlichen Menschen zu passen.
Wenn der Computer sein in einer Endlosschleife gespeichertes Programm durchlaufen ließ, lieferten seine Speicherbänke nach und nach jede erdenkliche Augenfarbe, Haarfarbe, Nasenform, Gebißfiguration und Gesichtsknochenstruktur und speisten sie in die Projektionsvorrichrung ein. Die leichentuchähnliche Membrane nahm dann alle körperlichen Charakteristika an, die in jeder Nanosekunde projiziert wurden – bis auf das nächste Sample umgeschaltet wurde. Um seinen Jedermann-Anzug noch effektiver zu machen, programmierte S. A. Powers den Computer darauf, die Abfolge der körperlichen Merkmale, die bei jedem Durchlauf auf der Membrane erschienen, nach Zufallskriterien zu variieren. Und um den Kostenfaktor möglichst niedrig zu halten (den Leuten von der Regierung imponierte so etwas immer besonders), verwendete Powers als Material für die Membrane bisher unverwertbare Abfallprodukte eines großen Industrieunternehmens, das bereits Geschäfte mit Washington betrieb.
Powers’ Konzeption machte den Träger des Jedermann-Anzugs (wenngleich natürlich nur innerhalb des Limits von eineinhalb Millionen Sub-Bits, die der Computer speichern und miteinander kombinieren konnte) stündlich zu jedem Mann und zu jeder Frau. Daher war es völlig sinnlos, den Träger – oder die Trägerin – eines solchen Anzugs beschreiben zu wollen. Unnötig zu erwähnen, daß S. A. Powers natürlich auch seine eigenen, ganz persönlichen physiognomischen Charakteristika in die Speicherbänke des Computers eingespeist hatte, damit aus dem rasenden Wirbel der aufgespaltenen Gesichtszüge auch sein eigenes Gesicht manchmal an die Oberfläche tauchte, vom Computer zufällig wieder aus seinen einzelnen Bestandteilen zusammengesetzt … ein Ereignis, das nach Powers’ Berechnungen pro Anzug durchschnittlich alle fünfzig Jahre eintreten würde. Das aber natürlich nur, wenn der jeweilige Anzug lange genug in Betrieb war. Einen größeren Anspruch auf Unsterblichkeit konnte Powers nicht erheben.
»Bühne frei für den vagen Fleck!« sagte der Versammlungsleiter laut, und ein allgemeines Beifallklatschen hob an.
Im Innern seines Jedermann-Anzugs seufzte Fred – der zugleich auch Robert Arctor war – unhörbar und dachte: Das ist alles so fürchterlich.
Einmal im Monat wählte das Amt für Drogenmißbrauch des Orange County nach Zufallskriterien einen Geheimen Rauschgift-Agenten aus und beauftragten ihn damit, vor einer Versammlung von Hohlköpfen wie diesen hier zu sprechen. Heute war er, Fred, an der Reihe. Als er nun den Blick über seine Zuhörer schweifen ließ, begriff er, wie sehr er Spießer verabscheute. Sie fanden immer alles toll. Sie lächelten. Sie unterhielten sich großartig.
Vielleicht hatte der Miniaturcomputer seines Jedermann-Anzugs in diesem Augenblick aus der unendlich großen Zahl von gespeicherten Komponenten S. A. Powers zusammengesetzt und auf die Oberfläche der Membrane projiziert.
»Aber Spaß beiseite«, sagte der Versammlungsleiter, »dieser Mann hier …« Er hielt inne und versuchte krampfhaft, die richtigen Worte zu finden.
»Fred«, sagte Bob Arctor. »S. A. Fred.«
»Ja, richtig, Fred.« Der Versammlungsleiter gewann seine bisherige Sicherheit wieder zurück und nahm den Faden wieder auf, während er zugleich seine Zuhörerschaft anstrahlte.
»Wie Sie selbst hören können, ähnelt Freds Stimme einer jener Computerstimmen, die ertönt, wenn Sie drüben in San Diego am Schalter einer Bank vorfahren – sie ist vollkommen tonlos und so künstlich wie die eines Roboters. Mit dieser Stimme, die im Geist eines Zuhörers keinerlei bleibende Eindrücke hinterläßt, spricht Fred auch, wenn er seinen Vorgesetzten im Amt für Drogenmißbrauch Bericht erstattet.« Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein. »Sie müssen wissen, daß jeder Geheime Rauschgift-Agent durch seinen Einsatz ein gräßliches Risiko eingeht. Es ist wohl kein Geheimnis mehr, daß es den Kräften, die hinter dem Drogenhandel stehen, wahrscheinlich überall in unserem Land gelungen ist, die für die Bekämpfung des Drogenmißbrauchs zuständigen Behörden mit erschreckendem Geschick auf allen Ebenen zu infiltrieren. Nach Meinung der am besten informierten Experten dürfte an dieser Tatsache kein Zweifel mehr bestehen. Und eben darum ist der Jedermann-Anzug eine notwendige Schutzmaßnahme, damit das Leben dieser wagemutigen und ihrer Sache treu ergebenen Männer nicht in Gefahr gerät.«
Schwacher Applaus für den Jedermann-Anzug. Und dann erwartungsvolle Blicke, die sich auf Fred richten, der im Innern seiner Membrane lauert.
»Wenn Fred jedoch vor Ort, in der Drogenszene also, arbeitet«, fügte der Versammlungsleiter abschließend noch hinzu, als er sich vom Mikrophon entfernte, um Platz für Fred zu machen, »trägt er diesen Anzug natürlich nicht. Er kleidet sich dann wie Sie oder ich, obwohl er selbstverständlich zumeist die Hippie-Tracht anlegt, die in den verschiedenen subkulturellen Gruppen üblich ist, in denen sich ein Geheimer Rauschgift-Agent im Zuge seiner Ermittlungen bewegt.«
Er gab Fred ein Zeichen, sich zu erheben und vor das Mikrophon zu treten. Fred – Robert Arctor – hatte sich schon sechsmal zuvor dieser Prozedur unterzogen, und er wußte, was er sagen mußte und was anschließend auf ihn zukam: nämlich die ewig gleichen Arschloch-Fragen und das übliche Maß an dumpfer Beschränktheit. Es machte ihn wütend, daß er gezwungen war, hier seine Zeit zu verschwenden. Alles verlorene Liebesmüh … und das Gefühl der Nutzlosigkeit, das er empfand, wurde mit jedem Mal stärker.
»Wenn ich Ihnen auf der Straße begegnen würde«, sagte Fred ins Mikrophon, nachdem der Beifall verklungen war, »würden Sie wahrscheinlich sagen: ›Schon wieder so ein ausgeflippter Rauschgift-Freak.‹ Und Sie würden Ekel empfinden und sich von mir abwenden.«
Schweigen.
»Ich sehe nicht so aus wie Sie«, sagte er. »Ich kann mir das nicht leisten. Mein Leben hängt davon ab.« In Wirklichkeit unterschied er sich in seinem Aussehen gar nicht so sehr von ihnen. Und außerdem hätte er die Sachen, die er täglich trug, auch dann angezogen, wenn es sein Job und der Schutz seines Lebens nicht erforderlich gemacht hätten. Ihm gefiel die Kleidung, die er trug. Aber die Ansprache, die er hier abspulte, war praktisch von A bis Z von anderen Leuten geschrieben und ihm dann zum Auswendiglernen vorgelegt worden. Zwar konnte er in gewissen Grenzen improvisieren, aber letztlich mußte er sich doch an den Standardtext halten, den alle Rauschgift-Agenten verwendeten, die öffentliche Vorträge hielten. Diese Regelung war vor Jahren von einem diensteifrigen Abteilungschef eingeführt und später durch einen Erlaß zur Norm erhoben worden.
Er wartete, bis das Auditorium seine Worte verdaut hatte. »Ich möchte mein Referat nicht damit beginnen«, sagte er, »Ihnen eine Aufzählung dessen zu bieten, was ich in meiner Funktion als Geheimer Rauschgift-Agent zu tun versuche. Sie wissen ja bereits, daß ich damit befaßt bin, Dealer dingfest zu machen und besonders die Quellen aufzuspüren, aus denen die illegalen Drogen stammen, die diese Dealer auf den Straßen unserer Städte und in den Korridoren unserer Schulen hier in Orange County feilbieten. Statt dessen möchte ich Ihnen zuerst sagen« – hier legte er eine Kunstpause ein, wie man es ihm in den Public-Relations-Kursen auf der Polizeiakademie beigebracht hatte –, »wovor ich mich am meisten fürchte.«
Jetzt hatte er seine Zuhörer im Griff; sie schienen nur noch aus offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen zu bestehen.
»Was ich bei Tag und bei Nacht fürchte«, sagte er, »ist, daß unsere Kinder, Ihre Kinder und meine Kinder …« Wieder eine Kunstpause. »Ich habe zwei«, fuhr er fort. Dann, besonders ruhig und eindringlich: »Sie sind noch klein. Sehr klein.« Und dann ließ er seine Stimme anschwellen, betonte jedes Wort. »Aber das schützt sie nicht davor, süchtig gemacht zu werden, mit voller Absicht um des bloßen Profits willen süchtig gemacht zu werden, von jenen, die unsere Gesellschaft zerstören wollen.« Eine erneute Pause. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, fuhr er übergangslos fort, jetzt wieder ruhiger, »wissen wir noch nicht, wer diese Menschen – oder besser: diese Tiere! – sind, die sich unsere Kinder als Beute erkoren haben, so, als würden wir hier nicht in den Vereinigten Staaten leben, sondern in einem Dschungel irgendwo in einem fernen Land. Wir bemühen uns nach besten Kräften darum, die Identität jener Männer aufzudecken, die diese Gifte, die täglich von mehreren Millionen von Männern und Frauen eingenommen, geschossen und geraucht werden, aus gehirnzerstörendem Dreck zusammenbrauen. Sicherlich ist das eine langwierige Aufgabe, aber am Ende werden wir ihnen doch, so wahr uns Gott helfe, die Maske vom Gesicht reißen.«
Eine Stimme aus dem Auditorium: »Macht sie fertig!«
Eine weitere Stimme, ebenso enthusiastisch: »Schnappt euch die roten Schweine!«
Applaus, der in immer neuen Wogen heranrollte und gar nicht mehr zu enden schien.
Robert Arctor zögerte. Starrte sie an, starrte die Spießer mit ihren fetten Anzügen, ihren fetten Krawatten und ihren fetten Schuhen an und dachte: Substanz T kann ihre Gehirne nicht zerstören; sie haben keine.
»Los, Mann, sag’s uns, wie’s ist!« drang eine etwas weniger aufdringliche Stimme zu ihm herauf – die Stimme einer Frau. Arctor ließ seinen Blick suchend über die Zuhörer schweifen und machte schließlich die Sprecherin aus: eine mittelalterliche Dame, die nicht ganz so fett war und ihre Hände wie zum Gebet ängstlich gefaltet hatte.
»Jeder Tag«, sagte Fred (oder Robert Arctor?), »fordert diese Seuche ihren Tribut von uns. Täglich steigen die Profite – und wohin sie fließen, werden wir –« Er brach ab. Selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte, hätte er den Rest des Satzes nicht mehr aus den Tiefen seines Gehirns heraufbaggern können, obwohl er ihn doch wenigstens eine Million mal wiederholt hatte, sowohl auf der Akademie als auch während der vorangegangenen Vorträge.
In dem großen Raum war es jetzt totenstill.
»Nun«, sagte er, »irgendwie dreht sich’s eigentlich gar nicht um die Profite. Der Kernpunkt liegt woanders. Ich meine, von dem, was sich da vor Ihrer aller Augen abspielt.«
Verblüfft stellte er fest, daß die Zuhörer keinerlei Unterschied bemerkten, obwohl er doch vom vorbereiteten Text abgewichen war und jetzt völlig frei improvisierte und das sagte, was ihm gerade in den Sinn kam, ohne sich auf die Vorgaben der PR-Jungs drüben im Behördenzentrum des Orange County zu verlassen. Aber wieso sollten sie den Unterschied auch überhaupt entdecken? Was wußten sie denn von dem, was um sie herum vorging? Letztlich interessierte das alles sie doch gar nicht. Die Spießer, dachte er, die da unter dem Schutz bewaffneter Wächter in ihren riesigen, festungsgleichen Apartment-Komplexen leben, würden doch keine Sekunde zögern, das Feuer auf jeden Doper zu eröffnen, der mit einem leeren Kissenüberzug über der Schulter an ihren Mauern kratzt und versucht, ihr Piano und ihre elektrische Uhr und ihren Rasierapparat und ihr Stereogerät zu klauen – die sie ohnehin noch nicht abbezahlt haben –, damit er neuen Shit oder seinen nächsten Schuß kriegen kann. Denn wenn er den nicht kriegt, wird er möglicherweise sterben, einfach so, ka-wumm, weil er den Entzugsschock und die damit verbundenen Qualen nicht durchsteht. Aber was kümmert das einen, solange man in seiner privaten Festung sitzt und durch die Schießscharten nach draußen späht, die Mauern unter Starkstrom stehen und die Wächter genug Munition für ihre Kanonen haben?
»Stellen Sie sich einmal vor«, sagte Fred, »Sie wären ein Diabetiker und hätten kein Geld mehr für den nächsten Schuß Insulin. Würden Sie dann stehlen, um an das Geld zu kommen? Oder würden Sie sich einfach hinlegen und sterben?«
Schweigen.
Im Kopfhörer seines Jedermann-Anzugs sagte eine blecherne Stimme: »Ich glaube, Sie sollten besser zum vorbereiteten Text zurückkehren, Fred. Ich möchte Ihnen das wirklich dringend raten.«
Über sein Kehlkopfmikrophon sagte Fred (oder Robert Arctor?): »Ich hab’ den Text vergessen.« Nur sein Vorgesetzter im Hauptquartier, der nicht mit Mr. F. (alias Hank) identisch war, konnte diese Worte hören. Der anonyme Beamte am anderen Ende der Leitung war Fred nur für die Dauer dieser PR-Einsatzes zugeteilt worden.
»Verstaaanden«, schepperte die blecherne Antreiberstimme in Freds Kopfhörer. »Ich werde Ihnen den Text vorlesen. Sprechen Sie ihn mir bitte Wort für Wort nach, aber achten Sie darauf, daß die entstehenden Pausen ganz natürlich wirken.« Ein kurzes Zögern, dann das Rascheln von Papier. »Wollen wir mal schauen … Jeden Tag steigen die Profite stärker an – und wohin sie gehen, werden wir –‹ Ungefähr da haben Sie aufgehört.«
»Ich habe einen psychologischen Block gegen dieses Zeug«, sagte Arctor.
»›– schon bald herausfinden‹«, sagte sein offizieller Souffleur, ohne auf Arctors Einwand zu achten, »›und dann wird die ganze Strenge des Gesetzes die Hintermänner treffen. Und wenn es soweit ist, möchte ich um keinen Preis der Welt in ihrer Haut stecken.‹«
»Wissen Sie eigentlich, warum ich einen Block gegen dieses Zeug habe?« sagte Arctor. »Weil es genau das ist, was die Leute zur Droge treibt.« Und er dachte: Genau das ist der Grund dafür, daß man auf alles pfeift und ein Doper wird. Warum man einfach aufgibt und angewidert weggeht.
Aber dann ließ er seinen Blick einmal mehr über das Auditorium schweifen und begriff, daß das alles auf diese Menschen dort unten nicht zutraf. Nur mit einer Rede wie der, die er eigentlich hatte halten wollen, konnte man sie überhaupt erreichen. Er sprach vor einer Versammlung von Ignoranten, die in emotionaler Hinsicht so debil waren, daß man ihnen alles so erklären mußte, wie es in der ersten Grundschulklasse üblich war: A steht für Apfel, und der Apfel ist rund.
»T«, sagte er laut zu seinen Zuhörern, »steht für Substanz T. Und damit zugleich für Torheit und Trostlosigkeit und Trennung – Trennung deswegen, weil Substanz T dich von allen anderen Menschen, selbst von deinen besten Freunden, trennt und dich in einen Kosmos aus Isolation und Einsamkeit und Haß und Mißtrauen stößt. T«, fuhr er dann fort, »steht schließlich für Tod. Für Langsamen Tod, wie wir es nennen, wir –« Er stockte. »Wir, die Doper.« Seine Stimme schwankte und drohte zu versagen. »Vielleicht haben Sie das schon einmal gehört: Langsamer Tod. Vom Kopf an abwärts. Das wär’s dann wohl.« Er ging zu seinem Stuhl zurück und setzte sich schweigend.
»Sie haben alles vermasselt«, sagte sein Vorgesetzter, der Souffleur. »Ich erwarte Sie in meinem Büro, wenn Sie zurückkommen. Zimmer 430. «
»Ja«, sagte Arctor. »Ich hab’ alles vermasselt.«
Die Zuhörer schauten ihn an, als hätte er vor ihren Augen auf die Bühne gepißt. Aber Arctor war sich nicht sicher, was diese Blicke eigentlich aussagten.
Der Versammlungsleiter ging rasch zum Mikrophon. »Fred hat mich vor Beginn seines Vortrags darum gebeten, Sie darauf hinzuweisen, daß er nur ein kurzes, einführendes Statement abgeben wolle und an Stelle eines langen Referats lieber während der Diskussion ausführlicher auf Ihre Fragen eingehen möchte. Nun« – er hob die rechte Hand – »gibt es schon Fragen?«
Plötzlich kam Arctor noch einmal ungeschickt auf die Füße.
»Offenbar möchte Fred seine Ausführungen doch noch etwas ergänzen«, sagte der Versammlungsleiter und nickte Arctor zu.
Während Arctor langsam gesenkten Kopfes zum Mikrophon zurückschlurfte, sagte er mit großer Präzision: »Nur eines noch. Geben Sie ihnen keinen Tritt in den Arsch, wenn sie erst einmal an der Nadel hängen. Die User, die Süchtigen. Die Hälfte von Ihnen, sogar fast alle, besonders die Mädchen, wußten nicht, worauf sie sich da einließen oder daß sie sich da überhaupt auf etwas einließen, von dem man nicht mehr loskommt. Versuchen Sie lieber, diese Menschen, uns alle, von der Nadel fernzuhalten.« Er blickte kurz auf. »Verstehen Sie, die lösen ein paar Tabletten in einem Glas Wein auf – die Händler, meine ich –, und dann geben sie den Fusel einem Mädchen, das fast noch ein Kind ist, und in dem Glas sind acht oder zehn Tabletten, und die Kleine wird bewußtlos. Und dann spritzen sie ihr einen Mex-Hit, zur Hälfte Heroin und zur Hälfte Substanz T –« Er brach ab. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit«, sagte er.
Ein Mann meldete sich zu Wort. »Wie können wir sie aufhalten, Sir?«
»Töten Sie die Pusher«, sagte Arctor und ging zurück zu seinem Stuhl.
*
Bob Arctor war nicht danach zumute, auf dem schnellsten Wege ins Behördenzentrum zurückzukehren und sich in Raum 430 zu melden. Darum spazierte er langsam eine der Haupteinkaufsstraßen von Anaheim hinunter und schaute sich die McDonaldburger-Stände und die Wagenwaschanlagen und die Tankstellen und die Pizzerien und all die anderen amerikanischen Wunder an.
Immer, wenn er so wie jetzt ziellos dahinschlenderte und ihm dabei Leute aus allen Bevölkerungsschichten begegneten, verspürte er ein seltsames Gefühl – ein Unbehagen, das irgendwie mit seiner Identität zusammenhing. Wie er zu den Typen vom Lyons-Club gesagt hatte, sah er wie ein Doper aus, wenn er den Jedermann-Anzug ablegte; er sprach wie ein Doper, und die Menschen rund um ihn hielten ihn natürlich auch für einen Doper und reagierten dementsprechend. Andere Doper zum Beispiel – Schau mal einer an, dachte er, »andere« – warfen ihm einen »Friede, Bruder«-Blick zu, und die Spießer taten das nicht.
Zieh dir eine Bischofssoutane an und setz dir eine Mitra auf, dachte er, und spaziere darin herum, und die Leute werden ehrfürchtig das Haupt neigen, die Knie beugen und versuchen, deinen Ring zu küssen – wenn nicht sogar deinen Arsch. Und plötzlich bist du ein Bischof. Sozusagen jedenfalls. Was ist das eigentlich: Identität? fragte er sich. Wo endet die Vorstellung, die man gibt, die Rolle, die man spielt? Wahrscheinlich weiß keiner das.
Die schlimmsten Identitätskrisen machte Bob Arctor immer dann durch, wenn er wieder einmal von Dem Mann angeschissen wurde. Wenn die Bullen – ganz gleich, ob es nun gewöhnliche Beamte in Uniform, Angehörige von Spezialtruppen in paramilitärischen Kampfanzügen oder irgendwelche andere Polypen waren – mit ihrem Streifenwagen dicht am Randstein neben ihm herfuhren, dabei die Geschwindigkeit ihrer Fahrzeuge langsam seinem Schlenderschritt anpaßten, ihn durch die Seitenfenster mit gespannten, scharfen, metallischen, leeren Blicken prüfend anstarrten und dann manchmal, offensichtlich aus einer bloßen Laune heraus, anhielten und ihn zu sich winkten.
»Okay, zeig uns mal deinen Ausweis«, sagte der betreffende Bulle dann stets und streckte ihm fordernd die Hand durch das heruntergekurbelte Fenster entgegen; und dann, während Fred-Arctor-wer-auch-immer in seiner Brieftasche herumfummelte, pflegte der Bulle ihn anzuschreien: »Schon mal VERHAFTET worden?« Und um das Ritual ein wenig zu variieren, mochte er vielleicht noch hinzufügen: »ZUVOR?« Ganz so, als ob Arctor im nächsten Augenblick ins Loch wandern würde.
»Was liegt denn an?« sagte Arctor dann für gewöhnlich, falls er überhaupt etwas sagte. Natürlich versammelte sich wie von selbst eine Menschenmenge am Ort des Geschehens. Die meisten der Zuschauer nahmen wohl an, der arme Kerl sei beim Dealen an der Straßenecke erwischt worden. Sie grinsten nervös und warteten ab, was wohl weiter geschehen würde. Einige von ihnen – in der Regel Chicanos oder Schwarze oder Typen, denen man auf den ersten Blick ansah, daß sie selber zur Scene gehörten – verfolgten das Geschehen allerdings eher wütend. Aber jene, die wütend aussahen, kapierten schon nach kurzer Zeit, daß sie wütend aussahen und beeilten sich tunlichst, einen eher unbeteiligten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Weil es nämlich ein offenes Geheimnis war, daß jeder, der in Anwesenheit von Bullen wütend oder unbehaglich dreinblickte – was nun davon, war egal –, offenbar etwas zu verbergen hatte. Wenn man den Gerüchten, die so im Umlauf waren, Glauben schenken wollte, dann wußten das gerade auch die Bullen und nahmen sich ausgerechnet diese armen Teufel als nächste vor.
Heute jedoch belästigte niemand Bob Arctor. Eine Menge Scenerypen liefen hier herum; er war nur einer unter vielen.
Was bin ich eigentlich? fragte er sich. Er sehnte sich einen Augenblick lang nach seinem Jedermann-Anzug. Dann, dachte er, könnte ich als vager Fleck weitergehen, und die Passanten, das ganze Volk, würden applaudieren. Bühne frei für den vagen Fleck! dachte er und spulte die ganze Szene im Lyons-Club noch einmal in seinem Kopf ab. Was für eine Art, Anerkennung zu finden! Wie konnten sie sich zum Beispiel eigentlich sicher sein, daß er der richtige vage Fleck war und nicht ein anderer? Es könnte jemand anderes als Fred darinstecken, oder ein anderer Fred, und sie würden das nie erfahren, nicht einmal dann, wenn Fred den Mund aufmachte und redete. Sie würden es nicht einmal dann wirklich wissen. Sie würden es nie wissen. Beispielsweise könnte der Träger des Jedermann-Anzuges Al sein, der nur vorgab, Fred zu sein. Jeder Beliebige könnte darin stecken, ja, der Anzug könnte sogar leer sein. Vom Orange County-Polizeihauptquartier könnten sie per Funk eine Stimme in den Jedermann-Anzug senden, könnten ihm vom Büro des Sheriffs aus auf diese Weise Leben einhauchen. Fred könnte jeder x-beliebige sein, der zufällig an diesem Tag an seinem Schreibtisch sitzt und zufällig das Drehbuch und das Mikro findet; eine Einzelperson oder eine ganze Verschwörung von Typen an ihren Schreibtischen.
Aber ich nehme an, daß dank der Schlußworte meiner Ansprache diese Möglichkeit wohl doch nicht in Betracht kommt. Die Jungs drüben im Büro wollen ja gerade darüber mit mir sprechen. Da er nicht besonders scharf auf diese Aussprache war, trödelte er weiter herum, um so das Treffen hinauszuschieben. Sein zielloses Herumwandern führte ihn nirgendwohin und zugleich doch überallhin. In Kalifornien machte es ohnehin keinen Unterschied, wohin man ging; überall stieß man auf denselben McDonaldburger-Stand, wieder und wieder, wie bei einer gemalten, kreisförmigen Kulisse, die an einem vorbeiläuft, während man vorgibt, irgendwohin zu gehen. Und wenn man schließlich Hunger bekam, und an den McDonaldburger-Stand trat und einen Hamburger von McDonald’s kaufte, war es genau derselbe, den sie einem schon beim letzten Mal verkauft hatten und beim Mal davor und immer so weiter, bis zurück in jene Zeit, bevor man geboren worden war. Und um das Maß voll zu machen, behaupteten böse Zungen auch noch, daß er aus Truthahnmägen bestand. Was natürlich nur eine ganz üble Lüge sein konnte.
Wenn man den Reklameschildern glauben schenken wollte, dann hatten sie denselben Original-Hamburger mittlerweile fünfzig Milliarden Mal verkauft. Vielleicht sogar immer an denselben Kunden? Das Leben in Anaheim, Kalifornien, war ein einziger, verselbständigter Werbespot, der endlos wiederholt wurde. Nichts änderte sich; alles breitete sich nur weiter und weiter in Form von Neonschleim aus. Das, was diese Stadt in immer größeren Mengen überschwemmte, schien schon vor langer Zeit unabänderlich festgelegt worden zu sein; es war, als ob sich die automatische Fabrik, die diese Objekte ausspuckte, nicht mehr abschalten ließe, nachdem man einmal auf den Startknopf gedrückt hatte. Der .Aus-Schalter war blockiert. Wie aus dem Land Plastik wurde, dachte Arctor und erinnerte sich an das alte Märchen »Wie aus dem Meer Salz wurde«. Eines Tages, dachte er, wird es gesetzlich vorgeschrieben sein, daß wir alle den McDonalds-Hamburger sowohl kaufen als auch wieder verkaufen müssen; wir werden ihn in alle Ewigkeit von unseren Wohnzimmern aus hin und her verkaufen. Auf diese Weise werden wir nicht einmal mehr nach draußen gehen müssen!
Arctor schaute auf die Uhr. Halb drei: Zeit, sich ans Telefon zu hängen und sich um Nachschub zu kümmern. Donna hatte ihm gesagt, daß er über sie einen guten Deal machen könne – schätzungsweise tausend Tabletten mit Substanz T, verschnitten mit Meth.
Sobald er den Stoff hatte, würde er ihn natürlich an das Amt für Drogenmißbrauch des County weiterleiten, damit die Tabletten analysiert und dann vernichtet werden konnten – oder was immer sie damit vorhaben mochten. Sie vielleicht selber einpfeifen, wie das jedenfalls ein Gerücht behauptete. Oder sie wieder verkaufen. Aber Arctor kaufte nicht von Donna, um sie wegen Dealens hochgehen zu lassen; er hatte schon viele Male bei ihr Stoff gekauft und sie nie festgenommen. Darum ging es ihm gar nicht. Warum sollte man auch einen Gelegenheits-Dealer hopsnehmen, eine Puppe, die es cool und in fand, mit Drogen zu handeln? Die Hälfte aller Rauschgift-Agenten im Orange County wußten, daß Donna dealte, und kannten sie vom Sehen. Donna dealte manchmal auf dem Parkplatz des 7-11-Ladens, direkt vor der automatischen Holo-Kamera, die die Polizei dort installiert hatte, und sie war bisher immer damit durchgekommen. Irgendwie konnte Donna nie auf die Schnauze fliegen, ganz egal, was sie tat und wer auch immer sie dabei beobachten mochte.
Arctors sämtliche Drogenkäufe bei Donna dienten letztlich alle nur einem übergeordneten Ziel: nämlich dem, über Donna die Spur zu dem Nachschublieferanten aufzunehmen, von dem sie ihren Stoff bezog. Eben darum nahmen die Mengen, die er von ihr kaufte, immer mehr zu. Anfangs hatte er sie nur mal beschwatzt – wenn das das richtige Wort dafür war –, ihm mit zehn Tabletten auszuhelfen. Nur ein persönlicher Gefallen, so von Freund zu Freund … Später dann hatte er, sozusagen als Wiedergutmachung, ein Päckchen mit hundert Tabletten gekauft, und schließlich sogar gleich drei Päckchen auf einmal. Jetzt konnte er, wenn er Glück hatte, tausend Tabletten auf einen Schlag herausholen, was zehn Päckchen entsprach. Und bald würde er dazu übergehen, regelmäßig in solchen Mengen zu kaufen, daß Donna finanziell nicht mehr mithalten konnte; sie würde ihrem Nachschublieferanten nicht mehr so viel Geld vorschießen können, daß dieser sich noch auf das Geschäft einzulassen wagte. Deshalb würde sie in der Klemme sitzen, statt einen großen Profit zu machen. Natürlich würden sie feilschen; Donna würde darauf bestehen, daß Arctor wenigstens einen Teil des Geldes im voraus bezahlte; er aber würde ablehnen. Sie wiederum würde die Summe allein aus ihren Mitteln nicht aufbringen können, und die Zeit würde knapp werden – selbst bei einem so kleinen Deal würde das große Zittern beginnen. Alle Beteiligten würden ungeduldig werden; Donnas Nachschublieferant – wer immer das auch sein mochte – würde wie auf heißen Kohlen sitzen, seine Ware nicht loswerden können und langsam ausflippen, weil Donna nichts von sich hören ließ. Wenn alles nach Plan verlief, würde Donna schließlich aufgeben und zu Arctor und ihrem Lieferanten sagen: »Wißt ihr was? Ihr beide dealt besser direkt miteinander. Ich kenne euch beide; ihr seid beide coole Typen, für die ich die Hand ins Feuer legen würde. Ich werde einen Ort und eine Zeit festlegen, und ihr zwei könnt selber Kontakt miteinander aufnehmen. So, Bob, von jetzt an kannst du direkt kaufen, wenn du weiterhin in solchen Mengen kaufen willst.« Denn wer wie Bob Arctor so viel Stoff brauchte, wollte mit Sicherheit selbst als Profi-Dealer ins Geschäft einsteigen; die Mengen, um die es jetzt ging, näherten sich bereits dem Einkaufsvolumen der richtigen großen Dealer. Donna würde vermuten, daß Arctor den Stoff, den er von ihr bezog, mit Gewinn weiterverkaufte, da er nun immer mindestens tausend auf einmal haben wollte. Auf diese Weise konnte Arctor die nächste Sprosse der Leiter erklettern und zum nächsten Hintermann vorstoßen. War er erst einmal selbst ein Dealer wie dieser, mochte er später vielleicht noch eine Stufe höher kommen, und dann noch eine, je nachdem, wie die Mengen, die er kaufte, wuchsen.
Schließlich – und darauf lief die ganze Aktion am Ende hinaus – würde Arctor jemanden treffen, der eine so große Nummer war, daß es sich wirklich lohnte, ihn auffliegen zu lassen. Jemanden, der so dick drin war, daß er entweder selbst Kontakt zu den Herstellern hatte oder aber wenigstens Leute kannte, die den Stoff direkt vom Hersteller bezogen – Leute also, die selbst die Quelle kannten.
Im Gegensatz zu anderen Drogen stammte Substanz T offensichtlich nur aus einer einzigen Quelle. Substanz T war nämlich kein organisches Rauschgift, sondern wurde synthetisch hergestellt; deshalb mußte es aus einem Labor stammen. Die Substanz T-Synthese war in zahlreichen Experimenten unter strenger behördlicher Kontrolle nach vollzogen worden. Dabei hatte man herausgefunden, daß die wesentlichen Bestandteile selbst Derivate komplexer Substanzen waren, und diese wiederum waren fast ebenso schwer zu synthetisieren. Theoretisch konnte sie zwar jeder herstellen, der die Formel kannte und zudem über hinreichende finanzielle und technologische Mittel verfügte, eine geeignete Fabrik einzurichten; in der Praxis jedoch waren die Kosten dafür astronomisch. Auch jene, die Substanz T entwickelt hatten und sie herstellten, verkauften die Droge eigentlich viel zu billig, als daß es sich für sie hätte lohnen können. Und die Verbreitung deutete darauf hin, daß es, selbst wenn nur eine Quelle existierte, ein weitverzweigtes Netz von Endfabrikationsstätten und Auslieferungsstellen geben mußte. Vielleicht befanden sich eine Reihe von Laboratorien in mehreren Schlüsselgebieten, etwa in der Nähe eines jeden größeren städtischen Drogenzentrums in Nordamerika und Europa. Warum man bisher keines dieser Laboratorien hatte entdecken können, blieb ein Rätsel. Allerdings lag die Vermutung nahe, daß die ST-Agentur – wie die Behörden die Organisation, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Substanz T beschäftigte, mittlerweile einfach nannte – sowohl auf örtlicher als auch auf nationaler Ebene über vorzügliche Verbindungen zu den Spitzen der höchsten Polizeibehörden verfügte – eine Tatsache, über die die Öffentlichkeit lautstark und die offiziellen Stellen etwas verklausulierter lamentierten. Zudem munkelte man, daß allzu neugierige Schnüffler, die rauchbare Fakten über die Operationen der ST-Agentur in Erfahrung brachten, entweder bald wieder die Finger von diesem heißen Eisen ließen oder aber sang- und klanglos von der Bildfläche verschwanden und nie wieder auftauchten.
Arctor hatte natürlich im Moment neben Donna noch verschiedene andere Ansatzpunkte. Er drängte auch andere Dealer dauernd dazu, ihm immer größere Mengen Stoff zu besorgen. Aber weil Donna seine Puppe war – er machte sich jedenfalls Hoffnungen in dieser Richtung –, stellte sie für ihn den brauchbarsten Ansatzpunkt dar. Donna zu besuchen, mit ihr zu telefonieren, sie auszuführen oder sie flachzulegen – das war gleichzeitig auch ein persönliches Vergnügen. Indem er sich besonders auf sie konzentrierte, wählte er in gewisser Weise den Weg des geringsten Widerstandes. Wenn man schon jemanden bespitzeln und über ihn berichten mußte, dann konnten das schließlich ebensogut Leute sein, mit denen man ohnehin öfters zusammen war; das war weniger verdächtig und außerdem auch weniger umständlich. Und wenn man diese Leute noch nicht oft getroffen hatte, bevor man mit der Überwachung begann, würde man von da an sowieso intensiver mit ihnen in Kontakt treten müssen. Am Ende lief es auf das gleiche hinaus.
Fred-Arctor betrat eine Telefonzelle und wählte durch.
Klingelingeling.
»Hallo«, sagte Donna.
Alle Münzfernsprecher in der ganzen Welt waren angezapft. Und wenn irgend einer doch mal nicht angezapft war, mochten die Monteure bloß noch nicht bis dorthin vorgestoßen sein. Die abgehörten Gespräche wurden an einem zentralen Ort elektronisch gespeichert. Ungefähr jeden zweiten Tag erhielt ein Polizeibeamter einen Speicherausdruck und konnte sich nun einen Überblick über alle abgehörten Telefongespräche verschaffen, ohne überhaupt sein Büro verlassen zu müssen. Er wählte nur die Speichertrommeln an, und auf sein Signal hin spulten sie die verlangten Anrufe ab, wobei sie alle Leerstellen auf den Bändern ausließen. Die meisten Anrufe waren harmlos. Der Polizeibeamte konnte jedoch die, die nicht so harmlos waren, ziemlich schnell identifizieren. Das war seine besondere Fähigkeit. Dafür wurde er bezahlt. Und einige Beamte konnten das halt besser als ihre Kollegen.
Als Arctor und Donna jetzt miteinander sprachen, hörte niemand simultan mit. Der elektronische Mitschnitt würde frühestens am nächsten Tag zur Überprüfung abgespult werden. Wenn sie etwas eindeutig Illegales besprachen und der Überwachungsbeamte das bemerkte, würde man von ihnen Stimmabdrücke machen. Alles, was Arctor und Donna also tun mußten, war, das Gespräch so unverfänglich wie möglich zu halten. Aber auch dieser Dialog konnte immer noch als Rauschgift-Deal erkennbar sein. Hier kam ihnen aber ein gewisses regierungstypischen Effektivitätsdenken zugute: Für die Behörden lohnte es sich einfach nicht, die ganze komplizierte Prozedur mit den Stimmabdrücken und den anschließenden Nachforschungen durchzuziehen, wenn es nur um kleine Delikte ging. Davon gab es viel zu viele, die an jedem Wochentag über viel zu viele Telefone besprochen wurden. Donna und Bob Arctor wußten das natürlich. »Wie geht’s?« erkundigte er sich.
»So la la.« Ein kurzes Zögern in ihrer warmen, rauhen Stimme.
»Was macht dein Kopf heute?«
»Totale Wirrnis. Bin irgendwie down.« Pause. »Mein Boß hat mich heute morgen im Laden angefurzt.« Donna arbeitete an der Kasse einer kleinen Parfumerie in Gateside Mall in Costa Mesa. Sie fuhr jeden Morgen mit ihrem MG hin. »Stell dir mal vor, was er von mir wollte. Da war so ein Kunde, ein abgehalfteter Opa, einer von diesen Typen mit den grauen Schläfen, du kennst die Sorte ja, und der hat uns um zehn Eier beschissen. Und weißt du, was mein Chef gesagt hat? Das wär’ nur mein Fehler gewesen, und ich müßte den Schaden natürlich ersetzen. Na, jedenfalls werden mir die zehn Kröten jetzt vom Gehalt abgezogen. Und auf diese Weise bin ich zehn Kröten los, ohne überhaupt einen Scheißfehler – ‘tschuldige – gemacht zuhaben.«
Arctor sagte: »Hey, kann ich was von dir kriegen?«
Sie klang jetzt mürrisch. Als ob sie nicht wollte. Aber das war nur einer der kleinen, in diesem Geschäft üblichen Bluffs. »Wie viele – willst du? Hör mal, eigentlich –«
»Zehn«, sagte er. So, wie sie es vereinbart hatten. Eins stand für einhundert; er forderte jetzt also tausend an.
Wenn solche Geschäfte über öffentliche Kommunikationseinrichtungen abgewickelt wurden, hatte es sich als praktisch erwiesen, die wirklich großen Transaktionen als alltägliche Mini-Deals zu tarnen. Bei so geringen Mengen wie denen, von denen hier die Rede war, konnte man sogar einen Deal nach dem anderen abziehen, ohne daß sich die Behörden darum gekümmert hätten; falls die Behörden auf jeden kleinen Deal reagieren wollten, würden die Drogenfahnder pausenlos Tag und Nacht unterwegs sein müssen, um Apartments und Häuser, ja sogar ganze Straßenzüge zu durchsuchen – und dabei doch so gut wie nichts erreichen.
»Zehn«, murmelte Donna gereizt.
»Mensch, mir geht der Arsch wirklich langsam auf Grundeis«, sagte Arctor wie ein mieser kleiner Süchtiger. Nicht wie ein Dealer. »Ich werd’s dir später zurückzahlen, wenn ich mir wieder was beschafft hab. «
»Nein«, sagte sie hölzern. »Ich geb’ sie dir gratis. Zehn.«
Zweifellos dachte sie jetzt intensiv darüber nach, ob er wohl wirklich selber dealte. Vielleicht tat er’s. »Zehn. Okay, warum nicht? Sagen wir … in drei Tagen?«
»Nicht früher?«
»Die sind –«
»Okay«, sagte er.
»Ich schau’ bei dir rein.«
»Um wieviel Uhr?«
Sie rechnete nach. »Sagen wir, gegen acht Uhr abends. Hey, ich muß dir unbedingt ein Buch zeigen, das ich neu hab’. Jemand hat’s im Laden vergessen. Es ist echt irre. Hat was mit Wölfen zu tun. Weißt du, was Wölfe manchmal machen? Der Wolfsrüde? Wenn er seinen Gegner besiegt hat, macht er ihn nicht alle – er pißt einfach auf ihn drauf. Echt! Er steht da und pißt auf den besiegten Gegner und haut dann ab. Das ist alles. Hauptsächlich kämpfen sie um ihre Territorien. Und um das Recht, zu bumsen, weißt du.«
Arctor sagte: »Ich hab’ kürzlich auch’n paar Leute angepißt.«
»Ehrlich? Wie denn das?«
»Metaphorisch. «
»Nicht so, wie man’s sonst macht?«
»Ich meine«, sagte er, »ich hab’ ihnen gesagt –« Er unterbrach sich mitten im Satz. Er quatschte mal wieder zuviel, und außerdem war er hier Bob Arctor und nicht Fred. Herr im Himmel, dachte er. »Diese blöden Macker«, sagte er, »diese Motorradfreaks, du weißt schon. Die immer drüben beim Foster’s Freeze rumhängen. Ich schlendere da also nichtsahnend vorbei, und einer von den Typen schiebt ‘ne blöde Bemerkung raus. Da bin ich eben stehengeblieben und hab’ ihnen gesagt –«
»Du kannst es mir ruhig verraten«, sagte Donna, »selbst wenn’s superunanständig ist. Man muß diesen Motorradfreaks schon was Superunanständiges vor den Latz knallen, sonst checken die’s sowieso nicht.«
Arctor sagte: »Ich hab’ ihnen erzählt, ich würd’ lieber auf ‘ne Schnalle klettern als auf einen Riemen. Jederzeit sogar.«
»Du, den Witz hab’ ich jetzt aber nicht so ganz mitgekriegt. «
»Na, ‘ne Schnalle ist ‘ne Puppe, und ‘n Riemen –«
»Oh yeah. Hab’ schon kapiert. Würg kotz.«
»Wir treffen uns dann bei mir zu Hause, wie verabredet«, schloß Arctor. »Tschüss.« Er wollte auflegen.
»Kann ich dir dieses Buch über die Wölfe mitbringen und dir mal zeigen? Es ist von Konrad Lorenz. Auf dem Klappentext steht, daß er die bedeutendste Autorität für Wölfe auf der ganzen Welt war. Ach ja, und noch was. Deine Kumpel sind heute zu mir in den Laden gekommen, Ernie Wie-heißt-er-doch-gleich und dieser Barris. Sie haben dich gesucht, weil du –«
»Was wollten sie denn?«
»Dein Cephalochromoskop, für das du neunhundert Dollar hingeblättert hast und das du immer anschaltest und laufen läßt, wenn du nach Hause kommst – Ernie und Barris haben die ganze Zeit nur davon gelabert. Sie haben versucht, es heute zu benutzen, aber es wollte einfach nicht funktionieren. Keine Farben und keine Ceph-Muster, nichts. Darum haben sie Barris’ Werkzeugkasten geholt und die Bodenplatte abgeschraubt.«
»Sag mal, ich hör’ wohl nicht recht?« sagte er aufgebracht.
»Und sie haben erzählt, daß irgendwer es vermackelt hat. Regelrecht sabotiert. Zerschnittene Kabel und all so ‘n Zeug – das totale Chaos. Kurzschlüsse und kaputtgeschlagene Teile. Barris sagte, er hätte versucht –«
»Ich geh’ sofort heim«, sagte Arctor und legte auf. Mein bestes Stück, dachte er bitter. Und dieser Idiot Barris pfuscht auch noch daran herum. Aber ich kann ja jetzt gar nicht so einfach nach Hause gehen, fiel ihm plötzlich ein. Ich muß hinüber zum Neuen Pfad, um herauszufinden, was da eigentlich läuft.
Das war nun einmal seine Aufgabe. Und der konnte er sich nicht entziehen.