III

Auch Charles Freck hatte schon daran gedacht, sich der Obhut des Neuen Pfades anzuvertrauen. Jerry Fabins Ausflippen hatte ihn ganz schön fertiggemacht.

Freck saß mit Jim Barris in Fiddlers Kaffeestube Nummer Drei in Santa Ana und spielte mürrisch mit seinem zuckerglasierten Doughnut herum. »Das ist wirklich eine schwierige Entscheidung«, sagte er. »Die lassen dich doch voll auf Cold Turkey gehen. Sie bleiben nur Tag und Nacht bei dir und passen auf, daß du dich nicht selbst allemachst oder dir den Arm abbeißt, aber sie geben dir nie was. Ich meine, was ein Doktor verschreiben würde. Valium zum Beispiel.«

Kichernd inspizierte Barris sein Sandwich, das auf der Speisekarte unter dem hübschen Namen Patty Melt – Schmelzpastetchen – firmierte und aus zerlaufenem Käseimitat und einem steinharten Klumpen Syntho-Rind­fleisch auf speziellem organischen Brot bestand. »Was für eine Brotsorte ist das?« fragte er.

»Schau auf die Speisekarte«, sagte Charles Freck. »Da steht’s.«

»Wenn du reingehst«, sagte Barris, »werden sich bei dir eine Reihe von Symptomen einstellen, die aus Abwehrreaktionen bestimmter basischer Körperflüssigkeiten – besonders jener, die im Gehirn lokalisiert sind – herrühren. Damit meine ich natürlich die Katecholamine wie etwa Noradrenalin und Seratonin. Sieh mal, das funktioniert so: Substanz T – eigentlich alle suchtbildenden Rauschgifte, aber Substanz T steht da an erster Stelle – interagiert mit den Katecholaminen, und zwar auf subzellularer Ebene, so daß es zu einer biostrukturellen Anpassung der Katecholamine an Substanz T und damit schlußendlich zu einer Abhängigkeit kommt, die sich im Prinzip nie mehr rückgängig machen läßt.« Er nahm einen großen Bissen von der rechten Hälfte seines Patty Melt. »Früher glaubten die Wissenschaftler, daß so etwas nur bei den Alkaloid-Narkotika wie etwa Heroin eintreten könne.«

»Ich hab’ mir nie Smack geschossen. Das bringt dich echt runter.«

Die Kellnerin, aufregend und hübsch anzuschauen in ihrer Uniform, kam herüber zu ihrem Tisch. Ihre Titten wippten keck bei jedem Schritt. »Hi«, sagte sie. »Alles in Ordnung?«

Charles Freck blickte erschrocken auf.

»Heißt du Patty?« fragte Barris sie und gab gleichzeitig Freck ein Zeichen, daß alles cool sei.

»Nein.« Sie wies auf das Namensschild auf ihrer rechten Titte. »Beth.«

Ich möchte zu gerne wissen, wie die linke heißt, dachte Charles Freck.

»Die Kellnerin, die uns beim letzten Mal bedient hat, hieß Patty«, sagte Barris und musterte die Kellnerin mit einem unanständigen Blick. »Genauso wie das Sandwich.«

»Die kann wohl kaum was mit dem Sandwich zu tun gehabt haben. Ich glaube, sie schreibt sich mit einem i.«

»Mensch, ich finde heute alles super dufte«, sagte Barris. Über seinem Kopf konnte Charles Freck eine Denkblase sehen, in der Beth zuerst einen aufreizenden Striptease aufs Parkett legte und dann lüstern ihr Becken kreisen ließ. Ihr Bär schien ihnen geradezu zuzuwinken.

»Hat sich was mit super dufte«, sagte Charles Freck. »Ich hab’ ‘ne Menge Probleme, die außer mir niemand hat.« Mit schwermütiger Stimme sagte Barris: »Du würdest gar nicht glauben, wie viele Leute die gleichen Probleme haben wie du. Und es werden mit jedem Tag mehr. Unsere Welt ist krank, und es wird immer schlimmer mit ihr.« Die Bilder in der Denkblase über seinem Kopf wurden ebenfalls immer schlimmer.

»Möchten Sie nicht vielleicht ein Dessert bestellen?« fragte Beth und lächelte auf die beiden hinab.

»Was gibt’s denn?« erkundigte sich Charles Freck mißtrauisch.

»Wir haben frischen Pflaumenkuchen und frische Pfirsichtörtchen«, sagte Beth lächelnd. »Die machen wir hier selbst.«

»Nein, wir möchten keinen Nachtisch«, sagte Charles Freck. Die Kellnerin ging wieder. »Das ist was für alte Omas«, sagte er zu Barris, »diese Obstkuchen.«

»Der Gedanke, dich freiwillig zur Entziehung zu melden«, sagte Barris, »macht dich sicher kribbelig. Du hast eine panische Angst davor, daß dich dort nur endlose negative Symptome erwarten. Das ist die Einflüsterung der Droge, die sich meldet, um dich vom Neuen Pfad fernzuhalten, und dich daran hindern will, dich von ihr zu lösen. Du siehst, alle Symptome haben eine Bedeutung, ganz gleich, ob sie nun positiv oder negativ sind.«

»Echt?« murmelte Charles Freck.

»Die negativen Symptome manifestieren sich als blanke Gier, die gezielt vom gesamten Körper erzeugt wird, um den Besitzer dieses Körpers – in diesem Falle also dich – dazu zu zwingen, verzweifelt –«

»Wenn du zum Neuen Pfad kommst«, sagte Charles Freck, »schneiden sie dir als erstes den Pimmel ab. Eine pädagogische Maßnahme zur Einstimmung auf dein zukünftiges Leben. Und dann machen sie in dem Stil weiter.«

»Als nächstes kommt die Galle dran«, sagte Barris.

»Wieso denn das? Was macht so eine Galle eigentlich?«

»Hilft dir dabei, dein Essen zu verdauen.«

»Und wie?«

»Indem sie die Zellulose daraus entfernt.«

»Und danach kriegt man vermutlich –«

»Genau. Nur noch Nahrungsmittel ohne Zellulosegehalt. Keine Blätter und kein Häcksel mehr.«

»Und wie lange kann man auf die Art am Leben bleiben?«

Barris sagte: »Das kommt auf deine körperliche Konstitution an.«

»Wie viele Gallen hat der Durchschnittsmensch?« Freck wußte, daß jeder Mensch für gewöhnlich zwei Nieren hatte.

»Scheint ganz vom Alter abzuhängen. Ich vermute, daß ihre Anzahl mit der Zeit zunimmt.«

»Wieso?«

In Charles Freck keimte ein schlimmer Verdacht.

»Tja, je älter die meisten Menschen werden, desto verbitterter werden sie auch. Wenn einer erst mal achtzig ist –«

»Sag mal, du willst mich wohl verarschen?«

Barris lachte. Charles Freck hatte Barris’ Lachen schon immer seltsam gefunden. Ein unwirkliches Lachen, dachte er, ganz so, als ob etwas zerbricht. »Wieso hast du dich eigentlich so plötzlich entschlossen«, sagte Barris übergangslos, »dich freiwillig zu einer stationären Behandlung in ein Zentrum für Drogenrehabilitation zu begeben?«

»Jerry Fabin«, sagte Freck.

Barris winkte mit der Hand ab und sagte: »Jerry war ein besonderer Fall. Ich hab’ einmal beobachtet, wie Jerry Fabin herumtorkelte und dann hinfiel und sich von oben bis unten vollschiß. Er wußte nicht mehr, wo er war, und er versuchte, mich dazu zu kriegen, nachzuschauen und herauszufinden, welches Gift er erwischt hatte; höchstwahrscheinlich Thaliumsulfat … das wird in Insektiziden verwendet und bei der Rattenbekämpfung. Muß ein Racheakt gewesen sein – jemand wollte ihm was heimzahlen. Ich kenne mindestens zehn verschiedene Toxide und Gifte, die diese Wirkung –«

»Es gibt noch einen anderen Grund«, sagte Charles Freck. »Mein Vorrat geht schon wieder zur Neige, und ich kann’s nicht mehr aushalten, ewig auf dem letzten Loch zu pfeifen und nicht zu wissen, wie ich jemals wieder neuen Stoff in die Finger kriegen soll. Scheißdreck.«

»Tja, wer kann schon sicher sein, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben?«

»Ach Scheiße – ich bin jetzt so abgebrannt, daß es praktisch nur noch eine Sache von Tagen ist. Und außerdem … ich glaube, daß ich dauernd beklaut werde. Ich kann die Dinger doch nicht soooo schnell nehmen; irgend ein Scheißer muß sich hinter meinem Rücken von meinem Stash bedienen.«

»Wie viele Tabletten pfeifst du eigentlich jetzt jeden Tag ein?«

»Schwer zu sagen. Aber jedenfalls nicht soooo viele.«

»Du weißt, daß sich ein Gewöhnungseffekt einstellt und man hinterher immer mehr braucht.«

»Sicher, richtig, aber doch nicht in einem solchen Ausmaß. Ich kann das nicht mehr ertragen, dieses ewige auf dem trockenen sitzen und all das. Andererseits …« Er überlegte einen Augenblick lang. »Ich glaube, ich hab’ da ‘ne neue Quelle. Diese Puppe, Donna. Donna Irgendwas.«

»Ach, Bobs Mädchen.«

»Seine Alte«, sagte Charles Freck nickend.

»Nein, er hat’s noch nie geschafft, ihr zwischen die Beine zu kommen. Er versucht’s nur immer wieder …«

»Ist sie zuverlässig?«

»In welcher Hinsicht? Beim Ficken oder –« Barris führte zur Verdeutlichung die Hand zum Mund und schluckte.

»Was für ‘ne Art von Sex is’n das?« Dann dämmerte es Freck. »Oh, yeah, letzteres.«

»Ziemlich zuverlässig. Vielleicht ein bißchen flatterhaft. Wie man das halt bei einer Puppe erwarten kann, besonders bei denen, die nicht so helle sind. Die hat ihr Gehirn zwischen den Beinen, wie die meisten. Vielleicht bewahrt sie da auch ihren Stash auf.« Er kicherte. »Und dazu vielleicht auch noch den ganzen Stoff, mit dem sie dealt, wer weiß?«

Charles beugte sich zu ihm hinüber. »Arctor hat Donna nie gebumst? Er redet aber über sie, als hätt’ er’s getan.«

Barris sagte: »Das ist typisch Bob Arctor. Der redet viel, wenn der Tag lang ist. Aber da stimmt nichts von, überhaupt nichts.«

»Woran liegt’s, daß er sie nie flachgelegt hat? Kriegt er keinen hoch?«

Barris dachte angestrengt nach, wobei er immer noch mit seinem Patty Melt herumspielte; er hatte ihn mittlerweile in kleine Stücke gerissen. »Donna hat Probleme. Vielleicht schießt sie Junk. Sie hat eine Aversion gegen jede Art von körperlichem Kontakt – du weißt doch bestimmt, daß Junkies das Interesse am Sex verlieren, weil ihre Sexualorgane durch Gefäßverengung anschwellen. Und bei Donna zeigt sich, wie ich beobachten konnte, ein widernatürlicher Mangel an sexueller Erregbarkeit. Und das nicht nur, wenn sie mit Arctor zusammen ist, sondern auch …« Er unterbrach sich verdrießlich. »Auch mit anderen Männern.«

»Scheiße, du meinst einfach, daß es bei ihr nicht richtig losgeht?«

»Oh, sie würde schon auf Touren kommen«, sagte Barris, »wenn man sie richtig anheizen würde. Zum Beispiel …« Er blickte Freck mit einem geheimnisvollen Augenaufschlag an. »Ich kann dir zeigen, wie man sie für 98 Cent dazu kriegen kann, die Beine breit zu machen.«

»Ich will sie gar nicht flachlegen. Ich will nur bei ihr kaufen.« Freck fühlte sich unbehaglich. Barris hatte eine Art an sich, die ihm stets ein flaues Gefühl bescherte. »Wieso gerade für 98 Cent?« sagte er. »Sie würde kein Geld dafür nehmen; so eine ist sie nicht. Und überhaupt, schließlich ist sie Bobs Puppe.«

»Nun, es wäre nicht im eigentlichen Sinne eine finanzielle Transaktion«, sagte Barris in seinem präzisen, gelehrten Stil. Er beugte sich zu Charles Freck hinüber. Seine haarigen Nasenlöcher zuckten vor heimtückischem Vergnügen. Und nicht nur das – auch seine Sonnenbrille schien plötzlich in einem intensiveren Grün zu leuchten. »Donna schnieft Coke. Sie würde ganz unzweifelhaft die Beine für jeden breitmachen, der ihr ein Gramm Coke gibt – besonders, wenn diesem Coke durch streng wissenschaftliche Prozeduren ganz bestimmte, exorbitant seltene chemische Substanzen beigemengt worden wären. Und meine gewissenhaften Grundlagenforschungen haben mich zu einem Spezialisten für eben diese raren Stoffe werden lassen.«

»Ich wäre froh, wenn du nicht so reden würdest«, sagte Charles Freck. »Über Donna, meine ich. Und überhaupt wird ein Gramm Coke derzeit für über hundert Dollar gehandelt. Wer hat schon so viele Flöhe?«

Barris unterdrückte ein Niesen und verkündete triumphierend: »Ich kann ein Gramm reines Kokain derivieren, ohne daß die Gesamtkosten für die Ingredienzien, die ich dazu benötige – die Apparaturen in meinem Labor nicht eingerechnet – mehr als einen Dollar betragen.«

»Du tickst wohl nicht mehr richtig. «

»Ich kann es dir auf der Stelle vorführen.«

»Und woher kommen diese Bestandteile?«

»Aus dem 7-11-Kolonialwarenladen«, sagte Barris und kam stolpernd auf die Füße. In seiner Erregung wischte er ein Stückchen vom Patty Melt vom Tisch. »Bezahl die Rechnung«, sagte er, »und ich werd’s dir zeigen. Ich hab’ mir zu Hause ein provisorisches Laboratorium eingerichtet, mit dem ich arbeite, bis ich mir ein besseres leisten kann. Du kannst mir dabei zusehen, wie ich ein Gramm Kokain aus gesetzlich erlaubten Stoffen extrahiere, die im 7-11-Laden für weniger als einen Dollar öffentlich feilgeboten werden.« Er marschierte auf den Durchgang los. »Komm.« Seine Stimme klang drängend.

»Okay«, sagte Charles Freck. Er nahm die Rechnung und folgte Barris. Der Knabe hat ja ‘n Schlag schräg, dachte er. Oder etwa doch nicht? Schließlich macht er dauernd chemische Experimente – und was er so alles in der Bezirksbücherei liest … Vielleicht ist ja doch etwas an der Sache dran? Stell dir mal den Profit vor, sagte er sich. Stell dir vor, wie wir absahnen könnten!

Er eilte an der Kassiererin vorbei hinter Barris her, der im Gehen die Schlüssel für seinen Karmann Ghia aus den Taschen seines modischen Anzugs holte.


*


Sie stellten den Wagen auf dem Parkplatz des 7-11 ab, stiegen aus und gingen hinein. Wie gewöhnlich stand ein großer, schweigsamer Bulle an der vorderen Theke und tat so, als sei er in die Lektüre eines Sportmagazins vertieft; Charles Freck wußte, daß der Bulle natürlich in Wirklichkeit alle Eintretenden genau musterte, um abzuschätzen, ob sie vielleicht vorhaben mochten, den Laden zu überfallen.

»Was willst du hier eigentlich kaufen?« fragte er Barris, der scheinbar ziellos durch die Korridore zwischen den Bergen von Konservendosen schlenderte.

»Eine Sprühdose«, sagte Barris. »Solarcaine.«

»Ein Sonnenschutzspray?« Charles Freck glaubte nicht wirklich daran, daß diese ganzen Ereignisse Realität waren. Aber andererseits, was wußte er schon? Wer konnte sich da sicher sein? Er folgte Barris zur Kasse; dieses Mal bezahlte Barris.

Sie kauften die Dose Solarcaine, schlängelten sich an dem Bullen vorbei und gingen zurück zum Wagen. Barris steuerte den Karmann rasch vom Parkplatz und lenkte ihn die Straße hinunter. Er fuhr fast pausenlos mit Vollgas, ohne sich um die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu kümmern, bis er schließlich den Wagen auf der Auffahrt vor Bob Arctors Haus ausrollen ließ, wo unzählige alte Zeitungen, die nie jemand gelesen hatte, im hohen Gras des Vorhofes herumlagen.

Als sie ausstiegen, nahm Barris einige Gegenstände, von denen Kabel herabbaumelten, vom Rücksitz, um sie nach drinnen mitzunehmen – Voltmeter, andere elektronische Prüfgeräte und dazu einen Lötkolben, wie Charles Freck erkannte. »Wofür brauchst du denn das?« erkundigte er sich.

»Ich muß einen langwierigen und mühseligen Job erledigen«, sagte Barris, während er die verschiedenen Gerätschaften und das Solarcaine den Weg hinauf zur Eingangstür trug. Er gab Charles Freck den Türschlüssel. »Und wahrscheinlich werde ich dafür nicht mal bezahlt. Wie das so üblich ist.«

Charles Freck schloß die Tür auf, und sie betraten das Haus. Zwei Katzen und ein Hund stürmten auf sie zu und begrüßten sie mit hoffnungsvollem Miauen und Bellen. Freck und Barris schoben sie sorgfältig mit ihren Stiefeln beiseite.

Im hintersten Winkel der Eßecke hatte Barris sich im Laufe der Zeit ein irres Laboratorium zusammengebaut, das hauptsächlich aus Flaschen und allem möglichen Schrott bestand, der ohne jede erkennbare Ordnung herumlag – aus lauter auf den ersten Blick wertlos wirkenden Objekten, die Barris aus den verschiedensten Quellen zusammengeklaubt hatte. Charles Freck wußte (denn er hatte sich das oft genug anhören müssen), daß Barris keinen Wert darauf legte, alles möglichst effektiv durchzuorganisieren, sondern vielmehr auf Spontaneität und Kreativität vertraute. Du solltest jederzeit in der Lage sein, dein Ziel mit dem ersten Ding zu erreichen, das dir in die Hand kommt, predigte Barris immer. Eine Heftzwecke, eine Büroklammer, ein Stück einer Apparatur, deren andere Teile kaputt oder verlorengegangen waren … Charles Freck kam es so vor, als ob sich hier eine Ratte häuslich eingerichtet hätte und nun dabei wäre, mit Materialien, wie Ratten sie eben schätzen, Experimente durchzuführen.

Der erste Schritt in Barris’ Arbeitsplan sah vor, einen Plastikbeutel aus der Rolle beim Ausguß zu holen und den Inhalt der Sprühdose in diesen Beutel hineinzuspritzen, bis die Kanne leer oder zumindestens das Treibgas erschöpft war.

»Das ist alles so unwirklich«, sagte Charles Freck. »Super unwirklich.«

»Die Hersteller«, sagte Barris fröhlich, während er arbeitete, »haben absichtlich das Kokain mit dem Öl gemischt, damit es nicht extrahiert werden kann. Aber meine chemischen Kenntnisse sind so weit vorangeschritten, daß ich exakt weiß, wie man das Coke vom Öl separiert.« Jetzt kippte er wie wild Salz in die klebrige, schleimige Masse im Innern des Beutels. Anschließend goß er alles in ein Glasgefäß. »Ich lasse es gefrieren«, kündigte er grinsend an, »und dadurch steigen die Kokain-Kristalle nach oben, weil sie leichter als Luft sind … äh, ich meine, leichter als das Öl. Den abschließenden Arbeitsschritt behalte ich natürlich für mich, aber ich kann dir immerhin verraten, daß es sich dabei um einen methodologisch hochkomplizierten Filtrierungsprozeß handelt.« Er öffnete den Gefrierschrank oberhalb des Eisschranks und stellte das Gefäß vorsichtig hinein.

»Und wie lange muß es da drin bleiben?« fragte Charles Freck.

»Eine halbe Stunde.« Barris holte eine seiner selbstgedrehten Zigaretten heraus, zündete sie an und schlenderte dann zu der Ansammlung elektronischer Meßgeräte. Gedankenversunken blieb er davor stehen und rieb sich sein bärtiges Kinn.

»Yeah«, sagte Charles Freck, »aber … hör mal, selbst wenn du ein ganzes Gramm puren Kokains herstellst, kann ich es doch nicht dazu benutzen, Donna zu … du weißt schon, sozusagen im Austausch dafür, daß ich ihr das Kokain gebe, zwischen ihre Beine zu kommen. Ich hätte dabei das Gefühl, sie zu kaufen; und darauf läuft’s doch letztlich auch hinaus.«

»Ein Austausch«, korrigierte Barris. »Du machst ihr ein Geschenk, und sie macht dir auch eins. Das kostbarste Geschenk, das eine Frau überhaupt machen kann.«

»Sie wird wissen, daß sie gekauft wurde.« Er kannte Donna immerhin gut genug, um das zu schnallen; Donna würde den Schwindel auf der Stelle entdecken.

»Kokain ist ein Aphrodisiakum«, murmelte Barris halb zu sich selbst; er baute gerade die Meßgeräte neben Bob Arctors Cephalochromoskop auf, Bobs teuersten Besitz. »Nachdem sie eine gute Prise davon geschnieft hat, wird sie auf Wolke Neun schweben, wenn du so gnädig bist, ihr einen reinzuschieben.«

»Scheiße, Mann«, protestierte Charles Freck. »Du sprichst über Bob Arctors Mädchen. Er ist schließlich mein Freund, und außerdem wohnen Luckman und du mit ihm zusammen.«

Barris hob für einen Moment seinen zottigen Kopf und ließ seine Augen nachdenklich auf Charles Freck ruhen. »Da gibt’s eine ganze Menge, was du nicht über Bob Arctor weißt«, sagte er. »Was keiner von uns weiß. Deine Sichtweite ist simplifizierend und naiv. Du glaubst ihm doch alles, was er dir erzählt.«

»Er ist schwer in Ordnung.«

»Sicher«, sagte Barris, nickend und grinsend. »Ohne jeden Zweifel. Einer der edelsten Menschen auf dem ganzen Erdenrund. Aber mir – oder besser: uns, und damit meine ich alle, die Arctor scharf und ohne Scheuklappen beobachtet haben – sind an ihm gewisse Widersprüche aufgefallen. Sowohl in seiner Persönlichkeitsstruktur als auch in seinem Benehmen. In der gesamten Art, wie er sein Leben lebt. Oder, um es mal so auszudrücken, in seinem angeborenen Stil.«

»Könntest du dich nicht mal konkreter ausdrücken?«

Barris’ Augen tanzten runter den grünen Gläsern seiner Sonnenbrille.

»Dein wildes Augenrollen sagt mir gar nichts«, murrte Charles Freck. »Was ist eigentlich mit dem Cephskop los, an dem du da arbeitest?« Er trat näher, um selbst nachzuschauen.

Barris verkantete das Zentralchassis und sagte: »Fällt dir was an der Verdrahtung hier an der Unterseite auf?«

»Ich sehe zerschnittene Drähte«, sagte Charles Freck. »Und eine ganze Reihe von Stellen, die wie absichtlich herbeigeführte Kurzschlüsse wirken. Wer hat das getan?«

Immer noch tanzten Barris’ fröhliche, wissende Augen, ganz so, als freue er sich über etwas, von dem nur er Kenntnis hatte.

»Langsam gehst du mir mit dieser abgewichsten Geheimnistuerei ganz schön auf den Sack«, sagte Charles Freck. »Wer hat denn nun das Cephskop beschädigt? Wann ist das passiert? Und wann hast du den Schaden entdeckt? Arctor sagte nichts davon, als ich ihn vorgestern das letzte Mal sah.«

Barris sagte: »Vielleicht wollte er noch nicht darüber sprechen.«

»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte Charles Freck. »Von mir aus kannst du ruhig weiter so in bescheuerten Rätseln reden, aber ich jedenfalls werde jetzt in eines der Aufnahmeheime des Neuen Pfades gehen und mich freiwillig zum Entzug melden. Da stehen mir zwar ein ganz übler Turkey und dieses therapeutische Zerstörungsspiel bevor, das sie da mit einem spielen, und ich werde Tag und Nacht mit diesen ausgeflippten Typen Zusammensein, aber dann muß ich wenigstens nicht solche Blödmänner wie dich ertragen, die dauernd einen auf geheimnisvoll machen und sinnloses Zeug schwafeln, von dem ich nicht die Bohne verstehe. Ich kann erkennen, daß dieses Cephskop hier zerdeppert worden ist, aber du sagst mir überhaupt nichts. Du willst doch nicht etwa andeuten, daß Bob Arctor das getan hat, daß er sein eigenes, teures Cephskop zerstört hat? Oder vielleicht doch? Was willst du eigentlich? Ich wünschte mir, ich würde schon drüben im Neuen Pfad leben, wo ich nicht diesen bedeutungsschweren Scheiß ertragen müßte, den ich absolut nicht abkann. Tag für Tag dasselbe, und wenn’s nicht von dir kommt, dann von einem anderen ausgeklinkten Freak, der genauso nervtötend ist wie du.« Seine Augen blitzten.

»Ich habe die Sendeeinheit nicht beschädigt«, sagte Barris in einem seltsamen Tonfall; sein Backenbart zuckte. »Und ich hege auch ernsthafte Zweifel daran, daß Ernie Luckman es getan hat.«

»Und ich glaube, daß Ernie Luckman nie in seinem Leben was kaputtgemacht hat, abgesehen von dem einen Mal, als er von schlechtem Acid ausflippte und den Kaffeetisch und den Rest der Wohnzimmereinrichtung aus dem Fenster des Apartments, in dem er damals mit dieser Puppe Joan zusammenlebte, auf den Parkpklatz runterwarf. Aber das ist was ganz anderes. Normalerweise hat Ernie alles besser im Griff als wir alle. Nein, Ernie würde nie jemandem das Cephskop kaputtmachen. Und Bob Arctor – es ist doch seines, nicht wahr? Würde er so etwas tun? Würde er heimlich mitten in der Nacht aufstehen, ohne sich dessen bewußt zu werden, und sich selbst so ins Knie ficken? Das hier hat jemand getan, um Bob eins reinzuwürgen. Verdammt noch mal, das steckt dahinter, und sonst nichts.« Vielleicht hast du’s ja auch gemacht, du blöder Arschficker, dachte Freck. Du verfügst über das technische Know-how, und dein Geist ist böse. »Denjenigen, der das hier getan hat«, sagte Freck, »sollte man in eine staatliche Klinik für sensorische Aphasie verfrachten – oder dahin, wo er sich die Radieschen von unten anschauen kann. Vorzugsweise letzteres. Bob führ immer richtig auf dieses Altec-Cephskop ab. Man muß das echt mal miterlebt haben, wie er sich die Haube aufsetzte, jedesmal, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Er war kaum durch die Tür, da hat er das Ding schon angeschaltet. Jeder Typ hat irgendein Ding, daß er wie einen Schatz hütet. Und das hier war sein Schatz. Und deshalb ist es Scheiße, ihm so was anzutun, Mann, Scheiße!«

»Genau das meine ich auch.«

»Was meinst du auch?«

»Jedesmal, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam‹«, erwiderte Barris. »Ich stelle nun schon seit geraumer Zeit Mutmaßungen darüber an, von wem Bob Arctor wirklich bezahlt wird und was an der Organisation, die ihn beschäftigt, eigentlich so ungewöhnlich ist, daß er uns nicht mal ihren Namen sagen will.«

»Bob arbeitet in so einer beschissenen Briefmarkensammelstelle des Blauen Chip in Placentia«, sagte Charles Freck. »Er hat’s mir mal erzählt.«

»Ich möchte zu gerne wissen, was er da macht.«

Charles Freck seufzte. »Die Briefmarken blau färben vermutlich.« Ihm wurde klar, daß er Barris eigentlich noch nie gemocht hatte. Freck wünschte sich, woanders zu sein. Vielleicht unterwegs, um mir Stoff zu beschaffen, dachte er, und die erste Person, der ich begegne oder die ich anriefe, hat gerade einen größeren Posten im Angebot. Vielleicht sollte ich mich wirklich auf die Socken machen … Aber dann erinnerte er sich an das Gefäß mit Öl und Kokain, das im Gefrierschrank abkühlte: Kokain im Wert von hundert Dollar, und das für nur 98 Cent. »Hör mal«, sagte er, »wann ist das Zeug eigentlich endlich fertig? Ich glaube, du willst mich sowieso nur verarschen. Wie können die Solarcaine-Leute es so billig verkaufen, wenn es ein Gramm puren Kokains enthält? Wie können sie da noch einen Gewinn machen?«

»Sie kaufen«, erklärte Barris, »in großen Mengen.«

In seinem Kopf spulte Charles Freck eine Phantasienummer ab: 30tonner, voll mit Kokain, fuhren rückwärts an die Solarcaine-Fabrik heran – wo auch immer sie auch liegen mochte … vielleicht in Cleveland? – und luden tonnenweise pures, unverschnittenes, hochgradiges Kokain ab, das mit Öl und Treibgas und anderem Dreck vermischt und dann in kleine, bunte Spraydosen abgefüllt wurde, die dazu bestimmt waren, zu Tausenden in 7-11-Läden und Drogerien und Supermärkten aufgestapelt zu werden. Eigentlich, überlegte er, sollten wir einfach einen dieser 30tonner überfallen und uns die ganze Ladung schnappen, sieben- oder achthundert Pfund vielleicht – Hölle, bestimmt noch viel, viel mehr! Was faßt eigentlich so ein 30tonner?

Barris holte jetzt die leere Solarcaine-Spraydose, um sie ihm zu zeigen; er deutete auf das Etikett, auf dem alle Bestandteile aufgeführt waren. »Siehst du? Benzocain. Nur wissenschaftlich gebildete Leute wissen, daß das ein Handelsname für Kokain ist. Wenn sie auf dem Etikett ›Kokain‹ schreiben würden, würden das alle möglichen Leute sofort spitzkriegen und vielleicht genau das tun, was ich hier mache. Aber den meisten fehlt es einfach an der notwendigen Bildung, um den Trick zu durchschauen. Schließlich haben sie nicht die gleiche wissenschaftliche Ausbildung wie ich genossen.«

»Wie willst du denn deine Kenntnisse verwerten?« fragte Charles Freck. »Außer dazu, Donna Hawthorne geil zu machen?«

»Ich beabsichtige, vielleicht einen Bestseller zu schreiben«, sagte Barris. »Ein Handbuch für jedermann, wie man sauberes Dope in seiner eigenen Küche herstellen kann, ohne geltendes Recht zu verletzen. Sieh mal, diese Methode zur Kokaingewinnung verstößt gegen kein Gesetz. Benzocain ist legal. Ich habe eine Apotheke angerufen und nachgefragt. Viele frei verkäufliche Substanzen enthalten Benzocain.«

»Irre«, sagte Charles Freck beeindruckt. Er blickte auf seine Armbanduhr, um festzustellen, wie lange sie noch warten mußten.


*


Bob Arctor hatte von Hank (der eigentlich den offiziellen Decknamen »Mr. F.« trug) den Auftrag erhalten, das örtliche Zentrum des Neuen Pfades einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen, um einen großen Dealer ausfindig zu machen, den er schon seit längerem überwachte und der nun urplötzlich von der Bildfläche verschwunden war.

Wenn ein Dealer merkte, daß man ihn bald hochnehmen würde, suchte er manchmal Zuflucht in den Rehabilitationszentren für Drogenabhängige, also etwa in Syanon, Center Point und X-Kalay oder auch beim Neuen Pfad. Er gab sich dann als Süchtiger aus, der Hilfe suchte, War er erst einmal drinnen, nahm man ihm alles ab, was ihn hätte identifizieren können, von seiner Brieftasche bis zu seinem Namen. Das war eine flankierende Maßnahme, um den Aufbau einer neuen, nicht drogenorientierten Persönlichkeit zu erleichtern. Im Zuge dieses Auslöschungsprozesses verschwand vieles, was die Polizeibehörden brauchten, um eine gesuchte Person ausfindig zu machen. Später dann, wenn die unmittelbare Gefahr vorüber war, tauchte der Dealer wieder draußen auf und ging erneut seinen üblichen Beschäftigungen nach.

Wie oft dies geschah, wußte niemand. Zwar versuchten die Angestellten der Rehabilitationszentren, dahinterzukommen, wenn sie auf diese Weise ausgenützt wurden, aber das gelang ihnen nur in den seltensten Fällen. Einem Dealer, dem draußen vierzig Jahre Haft drohten, fiel schnell eine gute Geschichte ein, die er den Leuten in den Zentren, die die Macht hatten, darüber zu entscheiden, ob er eingelassen werden sollte oder nicht, verklickern konnte. Schließlich litt er wirklich unter Todesangst, wenn er nur an die vierzig Jahre im Knast dachte.

Während er langsam den Katella-Boulevard hinauffuhr, hielt Bob Arctor Ausschau nach dem Schild, das auf das hölzerne Gebäude – ein ehemaliges Privathaus – hinwies, in dem jetzt die energischen Leute vom Neuen Pfad ihr regionales Zentrum unterhielten. Es machte ihm keinen Spaß, sich durch einen Bluff Zugang zu dieser Institution zu verschaffen, indem er vortäuschte, er sei ein Drogenkranker, der dringend Hilfe brauchte. Aber das war der einzige Weg, um hineinzukommen. Wenn er sich als Agent des Amtes für Drogenmißbrauch zu erkennen gab, der jemanden suchte, würden die Leute vom Neuen Pfad – jedenfalls die meisten davon – ganz automatisch ein Ausweichmanöver einleiten. Sie wollten nicht, daß Der Mann Mitgliedern ihrer Familie auf die Zehen trat. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, und eigentlich konnte er es ihnen nicht einmal verübeln. Alle ehemaligen Süchtigen sollten im Rehabilitationszentrum sicher sein; und es hatte sich eingebürgert, daß sich das Personal der Zentren offiziell für die Sicherheit derer verantwortlich fühlten, die sich vertrauensvoll in ihre Obhut begaben. Andererseits war der Dealer, hinter dem Arctor her war, ein mit allen Wassern gewaschener Ganove, und wenn er ein Rehabilitationszentrum in dieser Weise mißbrauchte, lief das den berechtigten Interessen aller Beteiligter zuwider. Weder Arctor noch Mr. F. der ihn ursprünglich auf Spade Weeks angesetzt hatte, hatten angesichts dieser Sachlage anders entscheiden können. Weeks war schon seit Ewigkeiten die Nummer Eins auf Arctors Liste gewesen, bisher allerdings ohne greifbare Ergebnisse. Und nun war Weeks spurlos verschwunden – und das seit vollen zehn Tagen.

Arctor entdeckte das Hinweisschild, stellte seinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz ab, den sich der Neue Pfad mit einer Bäckerei teilte, und ging schwankend den Weg zur Pforte hinauf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben: das heulende Elend in Person, offensichtlich bis zum Stehkragen voll mit schlechtem Dope und down wie ‘n Weltmeister.

Wenigstens machte ihm die Abteilung keine Vorwürfe, daß er Spade Weeks verloren hatte. Das bewies nur, wie aalglatt Weeks war. Eigentlich war Weeks eher ein Runner als ein Dealer; er brachte in unregelmäßigen Zeitabständen Lieferungen mit harten Drogen von Mexiko herauf bis irgendwo kurz vor L. A. wo die Käufer sich trafen und die Ware aufteilten. Weeks’ Methode, die Lieferungen heimlich über die Grenze zu bringen, war wirklich clever: Er befestigte den Stoff mit Klebestreifen an der Unterseite des Wagens irgendeines Spießertypen, der vor ihm am Grenzübergang wartete, verfolgte den Macker dann bis auf die US-Seite und schoß ihn bei der ersten passenden Gelegenheit nieder. Wenn die US-Grenzer das Rauschgift an der Unterseite des Wagens des Spießers entdeckten, dann wurde eben der Spießer einkassiert und nicht Weeks. Rauschgiftbesitz ist in Kalifornien ein Kapitalverbrechen. Pech für den Spießer, seine Frau und seine Kinder.

Kein anderer Geheimer Rauschgift-Agent im ganzen Orange County hätte Weeks so sicher auf den ersten Blick erkannt wie Arctor: ein fetter schwarzer Macker in den Dreißigern mit einem einzigartig langsamen und eleganten Sprachstil, der den Eindruck erweckte, als hätte Weeks ihn sich in irgendeiner Snobby-Schule in England angewöhnt. In Wirklichkeit kam Weeks aus den Slums von L. A. Er hatte seine besondere Diktion wahrscheinlich von Sprachlehrbändern, die er sich aus irgendeiner College-Bibliothek geliehen hatte.

Weeks liebte es, sich dezent, aber gediegen zu kleiden, etwa so, als sei er ein Arzt oder Rechtsanwalt. Oft hatte er einen teuren Diplomatenkoffer aus Alligatorenhaut bei sich und trug eine Brille mit Horngestell. Auch war er für gewöhnlich bewaffnet – mit einer Schrotflinte, für die er extra einen italienischen Pistolengriff in Maßanfertigung in Auftrag gegeben hatte. Wirklich sehr smart und stilvoll. Aber im Neuen Pfad würde man ihm all diese auserlesenen Stücke eins nach dem anderen weggenommen haben, und jetzt würde er wie jeder andere Patient hier in Klamotten aus der letzten Altkleidersammlung herumlaufen, während sein Diplomatenköfferchen in einem Schrank verstaubte.

Arctor öffnete die massive Holztür und trat ein.

Ein düster wirkendes Foyer, zu seiner Linken eine Sitzecke, in der ein paar Burschen herumlungerten und lasen. Eine Tischtennisplatte im Hintergrund, dann eine Küche. Slogans an den Wänden, einige handgemalt und einige gedruckt: DAS EINZIGE WIRKLICHE VERSAGEN IST, SICH ANDEREN ZU VERSAGEN und so weiter. Wenig Lärm, wenig Aktivität. Der Neue Pfad unterhielt eigene Werkstätten und kooperierte auch mit normalen Firmen; wahrscheinlich waren die meisten der Insassen, sowohl die Jungs als auch die Puppen, derzeit an ihren Arbeitsstellen in den Perückenmachereien, Tankstellen und Kugelschreiberfabriken. Arctor stand da und wartete müde.

»Ja?« Ein hübsches Mädchen erschien. Sie trug ein extrem kurzes blaues Baumwollhemd und ein T-shirt, auf dem zwischen den Brustwarzen DER NEUE PFAD aufgedruckt war.

Mit einer krächzenden und kraftlosen Stimme sagte Arctor: »Ich bin … total down. Ich krieg’s nicht mehr zusammen. Kann ich mich irgendwohin setzen?«

»Klar.« Das Mädchen winkte, und zwei farblose, unbeteiligt wirkende Burschen tauchten auf. »Bringt ihn irgendwohin, wo er sich hinsetzen kann. Und holt ihm einen Kaffee.«

Was für eine Horrorshow, dachte Arctor, während er sich von den beiden Typen zu einer schäbig aussehenden Couch schleifen ließ. Deprimierende Wände, dachte er. Häßliche Farben. Wahrscheinlich eine Spende. Der Neue Pfad konnte sich jedoch nur auf der Grundlage solcher Spenden überhaupt über Wasser halten, weil es schwierig war, Unterstützung von der öffentlichen Hand zu erhalten. »Danke«, röchelte er zittrig, als ob es eine überwältigende Erleichterung sei, hier zu sein und zu sitzen. »Wow«, sagte er und versuchte, sein Haar glattzustreichen; er tat so, als könnte er das nicht und gab auf.

Das Mädchen, das jetzt direkt vor ihm stand, sagte: »Sie sehen wie ausgekotzt aus, Mister.«

»Yeah«, stimmten die beiden Burschen in einem überraschend lebhaften Tonfall zu. »Wie ein Haufen Scheiße. Was haben Sie eigentlich gemacht? In Ihrer eigenen Scheiße gelegen?«

Arctor blinzelte.

»Wer sind Sie?« fragte einer der Typen.

»Du kannst doch sehen, was er ist«, sagte der andere. »Abschaum von einer beschissenen Müllhalde. Sieh dir das mal an.« Er zeigte auf Arctors Haare. »Läuse. Darum juckt’s dir, Jack.«

Das Mädchen, ruhig und über allem stehend, sagte nicht eben herzlich: »Warum sind Sie hierhergekommen, Mister?«

Im stillen dachte Arctor: Weil ihr hier drinnen einen ganz dicken Fisch habt. Und ich bin Der Mann. Und ihr seid blöde, ihr alle. Aber er sprach das nicht laut aus, sondern murmelte statt dessen kriecherisch das, was offensichtlich von ihm erwartet wurde: »Sagten Sie nicht –«

»Ja, Mister, Sie können Kaffee haben.« Das Mädchen ruckte mit dem Kopf, und einer der Burschen lief los zur Küche.

Eine Pause. Dann beugte sich das Mädchen zu ihm nieder und berührte sein Knie. »Sie fühlen sich ziemlich mies, was?« sagte sie sanft.

Er konnte nur nicken.

»Sie empfinden Scham und Ekel vor dem Ding, das Sie jetzt sind«, sagte sie.

»Yeah«, pflichtete er bei.

»Und Sie ekeln sich vor der Umweltverschmutzung, die Sie in sich selbst angerichtet haben. Sie sind eine Jauchegrube geworden. Stecken sich Tag für Tag die Nadel in den Arsch, pumpen ihren Körper voll mit –«

»Ich konnte nicht mehr so weitermachen«, sagte Arctor. »Dieser Ort ist die einzige Hoffnung, an die ich denken konnte. Ich hatte einen Freund, der auch hierherkommen wollte. Jedenfalls hat er mir das erzählt. Ein schwarzer Macker, in den Dreißigern, gebildet, sehr höflich und –«

»Sie werden die Familie später kennenlernen«, sagte das Mädchen. »Wenn Sie sich für die Aufnahme qualifizieren. Zuerst müssen Sie unseren Anforderungen genügen, Sie verstehen. Und die erste ist Ihr aufrichtiges Bedürfnis.«

»Das habe ich«, sagte Arctor. »Ein aufrichtiges Bedürfnis.«

»Sie müssen schon übel dran sein, um hier eingelassen zu werden.«

»Das bin ich«, sagte er.

»Wie schlimm hat es Sie denn schon erwischt? Bei welcher Dosis sind Sie mittlerweile angelangt?«

»Dreißig Gramm am Tag«, sagte Arctor.

»Pur?«

»Yeah.« Er nickte. »Ich habe immer eine Zuckerdose voll davon auf dem Tisch.«

»Dann wird es unheimlich rauh werden. Sie werden die ganze Nacht über Ihr Kissen zernagen, bis die Federn nur so fliegen; überall werden Federn sein, wenn Sie aufwachen. Und Sie werden Anfälle haben und Schaum vor dem Mund. Und sich beschmutzen, so, wie kranke Tiere es tun. Sind Sie dazu bereit? Sie wissen doch: Wir geben Ihnen hier nichts.«

»Dagegen hilft sowieso nichts«, sagte er. Mann, war das hier ein Horrortrip! Er fühlte sich gereizt und unbefriedigt. »Mein Kumpel«, sagte er, »der schwarze Kerl. Hat er’s geschafft, hierherzukommen? Ich will nur hoffen, daß ihn die Schweine nicht auf dem Weg hierher gekascht haben – er war so weggetreten, daß er kaum noch navigieren konnte. Er dachte –«

»Es gibt keine einzelnen Zweierbeziehungen im Neuen Pfad«, sagte das Mädchen. »Aber das werden Sie noch lernen.«

»Yeah, aber hat er’s bis hierhin geschafft?« sagte Arctor. Er begriff, daß er nur seine Zeit verschwendete. Herr im Himmel, dachte er, das ist ja noch schlimmer als in unserer Clique. Blödes Spiel. Und sie wird den Teufel tun, mir was zu sagen. Das ist ihre Politik, erkannte er. Wie ein eiserner Vorhang. Wenn jemand erst mal in eines dieser Zentren hineingeht, dann ist er für die Welt draußen tot. Spade Weeks könnte gerade jetzt, in diesem Augenblick, hinter der Trennwand sitzen, uns zuhören und sich den Arsch ablachen. Oder vielleicht ist er überhaupt nicht hier. Sogar mit einem Haftbefehl ließe sich hier gar nichts erreichen. Die Leute vom Neuen Pfad haben den Dreh raus, wie sie mit ihrer Verzögerungstaktik die Polizisten so lange hinhalten konnten, bis der Gesuchte durch eine Seitentür verschwunden war oder sich sonstwie dünne gemacht hatte. Schließlich setzte sich das Personal selbst aus ehemaligen Süchtigen zusammen. Und keine Polizeibehörde würde riskieren, eine regelrechte Razzia in einem der Rehabilitationszentren durchzuführen. Das wäre ein Stich in ein Wespennest gewesen – und die Behörden hätten sich vor den Beschwerden der Öffentlichkeit kaum mehr retten können.

Zeit, Spade Weeks endgültig abzuhaken, entschied Arctor, und mich zu verdünnisieren. Kein Wunder, daß meine Chefs mich noch nie zuvor hierhergeschickt haben; mit den Leuten hier kommt man einfach nicht klar. Und dann dachte er: Und für mich heißt das, daß ich meinen derzeitigen Hauptjob verloren habe; Spade Weeks existiert nicht mehr.

Ich werde Mr. F. Bericht erstatten, sagte er sich, und einen neuen Auftrag abwarten. Zur Hölle damit. Er erhob sich steifbeinig und sagte: »Ich mach ma’ lieber wieder ‘n Abflug.« Die beiden Typen waren jetzt zurückgekommen, einer von ihnen mit einem Becher Kaffee, der andere mit so ‘ner Art Traktätchen, wahrscheinlich einer vom Neuen Pfad herausgegebenen Informationsbroschüre.

»Mann, du willst dich echt verpissen?« sagte das Mädchen hochmütig und voller Verachtung. »Hast wohl die Hosen so voll, daß du nicht mal bei deiner Entscheidung bleiben kannst, aus dem ganzen Dreck rauszukommen? Du willst echt wieder auf dem Bauch hier rauskriechen?«

Alle drei starrten ihn zornig an.

»Vielleicht ‘n andermal«, sagte Arctor und bewegte sich auf die Vordertür zu. Er wollte bloß noch hier raus.

»Du beschissener Doper«, schleuderte ihm das Mädchen nach. »Kein Mumm in den Knochen, ‘n ausgelutschtes Gehirn, sonst nichts. Kriech raus, ja, kriech nur; das ist einzig und allein deine Entscheidung.«

»Ich werde später zurückkommen«, sagte Arctor verärgert. Die Atmosphäre hier bedrückte ihn, und sie war noch schlimmer geworden, weil er jetzt abhaute.

»Wir wollen dich dann vielleicht hier gar nicht mehr haben, du Schwächling«, sagte einer der Typen.

»Du wirst betteln müssen«, sagte der andere. »Du wirst betteln und winseln müssen. Und sogar dann wollen wir dich vielleicht nicht mehr haben.«

»Eigentlich wollen wir dich jetzt schon nicht mehr haben«, sagte das Mädchen.

An der Tür blieb Arctor stehen und wandte sich zu seinen Anklägern um. Er wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein. Sie hatten seinen Geist leer gemacht.

Sein Gehirn wollte nicht mehr funktionieren. Keine Gedanken, keine Erwiderung, keine passende Antwort auf ihre Anklagen, nicht mal eine lausige oder läppische, kam ihm in den Sinn.

Seltsam, dachte er und war verblüfft. Und er verließ das Gebäude und ging zu seinem geparkten Wagen.

Soweit es mich betrifft, dachte er, ist Spade Weeks für immer verschwunden. Mich kriegen keine zehn Pferde mehr in eines dieser Zentren. Nie im Leben.

Zeit, entschied er übellaunig, um einen neuen Auftrag zu bitten. Sich jemand anderem an die Fersen zu heften.

Sie sind zäher als wir.


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