Da stand einmal ein Typ mitten im Raum und versuchte den ganzen Tag lang verzweifelt, sich die Wanzen aus den Haaren zu schütteln. Sein Arzt erklärte ihm, er habe überhaupt keine Wanzen in den Haaren. Nachdem er acht Stunden lang geduscht hatte, wobei er Stunde um Stunde unter dem heißen Wasserstrahl stand und unter dem Gekrabbel der Wanzen litt, trat er wieder aus der Duschkabine und trocknete sich ab, und er hatte immer noch Wanzen in seinem Haar; ja, sie hatten sich jetzt sogar über seinen ganzen Körper ausgebreitet. Einen Monat später hatte er schon Wanzen in der Lunge.
Da es sonst nichts gab, was er hätte tun oder worüber er hätte nachdenken können, machte er sich daran, den Lebenszyklus der Wanzen zu erforschen und zudem mit Hilfe der Encyclopedia Britannica genau zu bestimmen, um welche Gattung von Wanzen es sich eigentlich handelte. Jetzt waren sie schon überall in seinem Haus. Während er die umfangreiche Literatur über die zahlreichen Wanzenarten, die es auf der Welt gab, systematisch durcharbeitete, bemerkte er schließlich auch draußen im Freien Wanzen, und daraus schloß er, daß es sich wohl eher um Vertreter der Spezies Aphidina handeln müsse – also um Blattläuse. Nachdem er einmal zu dieser Erkenntnis gelangt war, ließ er sich auch davon nicht mehr abbringen, ganz gleich, was andere Leute ihm erzählen mochten … wie zum Beispiel: »Aber Jerry, Blattläuse beißen doch keine Menschen!«
Er aber wußte es besser, weil die endlosen Wanzenbisse ihm mittlerweile wahre Höllenqualen bereiteten. Im 7-11-Kolonialwarenladen, der zu einer Ladenkette gehörte, die sich über fast ganz Kalifornien erstreckte, erstand er Sprühdosen mit Razzia, Schwarzkreuz und Hofwächter. Erst sprühte er das Haus damit ein und schließlich auch sich selbst. Das Hofwächter-Spray schien am besten zu wirken.
Zugleich verfolgte er auch den theoretischen Aspekt des Problems weiter und entdeckte dabei drei Entwicklungsstadien im Lebenszyklus der Wanzen. Zunächst wurden sie von Menschen, die er fortan »Wanzenträger«, nannte, in sein Haus eingeschleppt, um ihn zu verseuchen. Diese Wanzenträger waren Personen, die sich ihrer Rolle bei der Verbreitung der Wanzen gar nicht bewußt waren. Während dieses Stadiums hatten die Wanzen noch keine Beißwerkzeuge oder Mandibeln. (Er lernte dieses Wort anläßlich seiner wochenlangen Forschungsarbeiten kennen, während der er sich immer tiefer in die Bücher vergrub – eine recht ungewöhnliche Beschäftigung für einen Typen, der in einem Bremsen- und Reifen-Schnelldienst arbeitete, wo seine Aufgabe darin bestand, Bremstrommeln zu richten.) Die Wanzenträger spürten daher nichts. Oft hockte Jerry jetzt im. hintersten Winkel des Wohnzimmers und beobachtete die Wanzenträger, die den Raum betraten. Es waren meist Leute, die er schon länger kannte, aber er entdeckte auch einige neue Gesichter darunter. Sie alle waren über und über mit Blattläusen dieses ersten Entwicklungsstadiums bedeckt. Manchmal lächelte Jerry auch schief vor sich hin, weil er als einziger wußte, daß die betreffende Person von den Wanzen benutzt wurde und das noch gar nicht geschnallt hatte.
»Warum grinst du eigentlich so, Jerry?« fragten sie ihn dann bisweilen.
Er aber lächelte nur weiter vor sich hin und antwortete nicht.
Im nächsten Stadium wuchsen den Wanzen eine Art Flügel; nun, eigentlich waren es keine richtigen Flügel, sondern eher Auswüchse, die die Funktion von Flügeln erfüllten und es den Wanzen ermöglichten, auszuschwärmen, denn nur so konnten sie von einer Person zur anderen überwechseln und sich auf einem neuen Träger niederlassen – also in erster Linie auf Jerry. Wenn die Wanzen zu schwärmen begannen, war die Luft voll von ihnen; sie hingen wie lebende Wolken in seinem Wohnzimmer, ja in seinem ganzen Haus. Während dieses Stadiums versuchte er, sie nicht einzuatmen.
Am meisten tat Jerry sein Hund Max leid, denn er konnte sehen, wie die Wanzen auf ihm landeten und sich überall in seinem Fell niederließen. Vielleicht gelangten sie auch in Max’ Lunge, so wie sie in seine eigene Lunge eingedrungen waren. Jerry glaubte zu spüren, daß der Hund ebenso stark litt wie er selbst. Deswegen überlegte er, ob er Max fortgeben sollte, um wenigstens ihm das Leben leichter zu machen. Aber schließlich entschied er sich doch dagegen, weil der Hund ja bereits versehentlich infiziert worden war und ihn die Wanzen darum überallhin begleiten würden.
Manchmal nahm er den Hund mit unter die Dusche und versuchte, ihn von den Wanzen zu säubern. Aber er hatte bei Max auch nicht mehr Erfolg als bei sich selbst. Da er ein sehr mitfühlender Mensch war, schmerzte es ihn, mit ansehen zu müssen, wie der Hund litt; daher setzte er die Versuche, ihm zu helfen, unermüdlich fort. In gewisser Weise waren die Qualen dieses hilflosen Tieres, das sich nicht einmal beklagen konnte, das Schlimmste an der ganzen Wanzenplage.
»Was, zum Teufel, machst du eigentlich den ganzen Tag lang mit dem gottverdammten Köter unter der Dusche?« fragte ihn sein Kumpel Charles Freck einmal, als er während einer dieser Duschprozeduren hereinkam.
Jerry sagte: »Ich muß irgendwie die Aphidien von ihm runterkriegen.« Er schleppte Max aus der Duschkabine und fing an, ihn trockenzurubbeln. Verwirrt schaute Charles Freck zu, wie Jerry Babyöl und Talkumpuder in das Fell des Hundes einmassierte. Überall im Haus türmten sich wild durcheinandergeworfene Sprühdosen mit Insektenspray und Flaschen mit Talkum, Babyöl und Hautpflegemitteln, die meisten davon leer; mittlerweile verbrauchte Jerry schon Dutzende von Flaschen pro Tag.
»Ich seh’ keine Aphidien«, sagte Charles. »Was ist eigentlich ‘ne Aphidie?«
»Kann manchmal tödlich sein«, sagte Jerry. »Genau das ist ‘ne Aphidie – tödlich. Die Biester sind in meinen Haaren und auf meiner Haut und in meiner Lunge, und die gottverdammten Schmerzen werden langsam unerträglich – ich werd’ wohl bald ins Krankenhaus müssen.«
»Wie kommt’s, daß ich sie nicht sehen kann?«
Jerry setzte den Hund ab, den er inzwischen in ein Badetuch eingewickelt hatte, und kniete sich auf dem Zottelteppich hin. »Paß auf, ich zeig’ dir mal eine«, sagte er. Der Teppich war dicht mit Blattläusen bedeckt; überall schnellten welche hoch und hüpften auf und nieder, wobei manche höher sprangen als ihre Artgenossen. Jerry hielt Ausschau nach einem besonders großen Exemplar, weil es den anderen Leuten so schwerfiel, die Biester zu sehen. »Hol mir mal ‘ne Flasche oder ‘n Glas«, sagte er. »Unterm Spülstein. Wir decken das Glas dann mit einem Tuch ab oder schrauben den Deckel drauf, und dann kann ich’s mitnehmen, wenn ich zum Arzt geh’, und der kann sich das Vieh mal genau ansehen.«
Charles Freck brachte ihm ein leeres Mayonnaiseglas. Jerry setzte seine Suche unverdrossen fort, und schließlich entdeckte er eine Blattlaus, die mindestens drei Zentimeter lang war und bestimmt einen halben Meter hoch in die Luft sprang. Er fing sie geschickt ein, trug sie zum Glas, ließ sie vorsichtig hineinfallen und schraubte rasch den Deckel zu. Dann hielt er die Blattlaus triumphierend hoch. »Na, siehst du sie?« erkundigte er sich.
»Jaaaaaa«, sagte Charles Freck. Seine Augen weiteten sich, als er den Inhalt des Glases musterte. »Was für ein Riesenvieh! Wow!«
»Hilf mir mal dabei, noch mehr einzufangen, die ich dem Arzt zeigen kann«, sagte Jerry, während er sich erneut auf dem Teppich hinhockte, das Glas neben sich.
»Klar«, sagte Charles Freck und machte sich an die Arbeit.
Binnen einer Stunde hatten sie drei Gläser voller Wanzen. Obwohl Charles sich heute zum ersten Mal an einer Wanzenjagd beteiligte, fand er einige der größten Exemplare.
Das war um die Mittagszeit, irgendwann im Juni 1994, irgendwo in Kalifornien, in einem heruntergekommenen Wohnbezirk mit endlosen Reihen von billigen, aber haltbaren Plastikhäusern, die die Spießer schon längst aufgegeben hatten. Jerry hatte jedoch vor einiger Zeit Metallfarbe über alle Fenster gesprüht, um das Tageslicht draußen zu halten; der Raum wurde nun von einer mehrarmigen Stehlampe erleuchtet, in die er nichts als Punktstrahler geschraubt hatte. Jerry ließ die Punktstrahler Tag und Nacht brennen, um die Zeit für sich und seine Freunde abzuschaffen. Dieser Gedanke gefiel ihm; er liebte es, sich von der Zeit zu befreien. Denn indem er das tat, konnte er sich ohne jede Störung wirklich wichtigen Dingen widmen. Und wichtig war zum Beispiel, daß jetzt zwei Männer auf dem Zottelteppich knieten und eine Wanze nach der anderen auflasen, um sie in eine endlose Batterie von Gläsern zu sperren. »Was springt dabei eigentlich für uns raus?« erkundigte sich Charles Freck später an diesem Tag. »Ich meine, bezahlt uns der Arzt so ‘ne Art Stückpreis für die Viecher? ‘ne Fangprämie? ‘n paar Flöhe?«
»Mir würd’s schon reichen, wenn dabei ein todsicheres Gegenmittel herausspränge«, sagte Jerry. Obwohl die Schmerzen stets gleich blieben, waren sie jetzt unerträglich geworden; er hatte sich nie daran gewöhnen können, und er wußte, daß er sich, verdammt noch mal, auch nie daran gewöhnen würde. Das unwiderstehliche Verlangen, schon wieder zu duschen, überwältigte ihn. »Hey, Mann«, keuchte er und richtete sich auf, »du machst weiter damit, die Viecher in die Gläser zu tun, während ich mal eben unter die Dusche gehe, ja?« Er stürzte in Richtung Badezimmer davon.
»Okay«, sagte Charles. Seine langen Beine zitterten, als er sich zu einem der Gläser herumdrehte, die Hände schalenartig zusammengelegt. Als Ex-Veteran hatte er seine Muskeln jedoch noch immer ganz gut unter Kontrolle; er schaffte es bis zum Glas, ohne umzukippen. Aber dann sagte er plötzlich: »Jerry, hey – diese Wanzen machen mich irgendwie richtig nervös. Du, mir gefällt das gar nicht, wenn ich hier so ganz alleine bin.« Er stand auf.
»Dämlicher Arschficker«, sagte Jerry. Er lehnte sich einen Augenblick lang im Badezimmer an die Wand, schwer atmend vor Schmerzen.
»Könntest du nicht …«
»Ich muß erst ‘ne Runde duschen!« Jerry knallte die Tür zu und drehte an den Reglern der Dusche. Eine Wasserlawine rauschte herab.
»Ich fürchte mich aber hier draußen.« Obwohl Charles Freck offenbar lauthals brüllte, drang seine Stimme nur schwach bis an Jerrys Ohren.
»Dann hau doch ab und fick dich selbst ins Knie!« schrie Jerry zurück und stieg unter die Dusche. Zu was sind Freunde eigentlich gut? fragte er sich verbittert. Zu gar nichts. Scheiße noch mal, wirklich zu gar nichts.
»Stechen diese Scheißviecher?« schrie Charles, der jetzt anscheinend direkt vor der Badezimmertür stand.
»Natürlich stechen sie«, sagte Jerry, während er sich Shampoo in die Haare einmassierte.
»Das hab’ ich befürchtet.« Eine Pause. »Du, kann ich mal reinkommen und mir die Hände waschen, damit ich sie wieder abkriege? Und kann ich dann auf dich warten?«
Kubikscheiße, dachte Jerry voll bitteren Zorns. Er sagte nichts; er schrubbte sich nur weiter ab. Dieser Bastard war es gar nicht wert, daß man ihm eine Antwort gab … Er kümmerte sich nicht mehr um Charles Freck, sondern nur noch um sich selbst. Kümmerte sich nur noch um seine eigenen lebenswichtigen, schrecklichen, dringenden Bedürfnisse, die ihn mit Haut und Haaren in Anspruch nahmen. Alles andere mußte eben warten. Er hatte keine Zeit, keine Zeit; solche Dinge konnten ruhig aufgeschoben werden. Alles andere war zweitrangig. Mit Ausnahme des Hundes vielleicht; Jerry machte sich immer noch Gedanken über Max, den Hund.
*
Charles Freck rief einen Typ an, von dem er hoffte, daß er einen Posten Stoff im Angebot hatte. »Kannste mir auf die schnelle zehn Ts rüberschieben?«
»Himmel, ich sitze doch selbst auf dem trockenen – ich versuch’ gerade, was ranzuschaffen. Sag mir Bescheid, wenn du welche auftreibst, ich könnte dringend ‘n bißchen Tod gebrauchen.«
»Was ist denn mit dem Nachschub los?«
»Schätze, die ham ‘n paar Lieferungen gekascht.«
Charles Freck hängte ein. Während er deprimiert aus der Telefonzelle trat – kein Doper wickelte einen telefonischen Deal über seinen eigenen Anschluß ab – und langsam zu seinem daneben abgestellten Chevy trottete, spulte er in seinem Kopf eine Phantasienummer ab. In dieser Phantasienummer fuhr er gerade an einer Discount-Drogerie vorbei, und die Discount-Macker hatten das ganze Schaufenster mit Langsamem Tod dekoriert: Langsamer Tod in Flaschen, Langsamer Tod in Dosen, Langsamer Tod in Gläsern und Badewannen und Bottichen und Schüsseln, Millionen von Kapseln und Tabletten und Fixen mit Langsamem Tod, Langsamer Tod gemixt mit Speed und Junk und Barbituraten und psychedelischen Drogen, eben alles, was das Herz erträumt. Und über der Auslage prangte ein gigantisches Schild: HIER HABEN SIE KREDIT. Und vom Rest des Textes ganz zu schweigen: NIEDRIGE NIEDRIGE PREISE, DIE NIEDRIGSTEN IN DER GANZEN STADT!
Aber in Wirklichkeit hatte die Discount-Drogerie für gewöhnlich nur nutzloses Zeug in der Auslage: Kämme, Flaschen mit ätherischen Ölen, Sprühdosen mit Deodorants, immer den gleichen Schund. Aber ich möchte darauf wetten, daß diese Macker in den Hinterzimmern ihrer Läden Langsamen Tod unter Verschluß halten, ungepanschten, reinen, unverfälschten, unverschnittenen Langsamen Tod, dachte Charles Freck, während er aus der Parklücke setzte und sich in den Nachmittagsverkehr auf dem Harbor Boulevard einfädelte. Mindestens ein Päckchen mit zwanzig Kilo drin.
Er hätte für sein Leben gerne gewußt, wann und wie sie jeden Morgen das Zwanzig-Kilo-Päckchen mit Substanz T bei der Discount-Drogerie ausluden und woher der Stoff eigentlich kam – aus der Schweiz vielleicht oder von einem fernen Planeten, auf dem eine weise Rasse lebte. Vielleicht wußte das auch nur der liebe Gott. Vielleicht lieferten sie den Stoff in aller Herrgottsfrühe aus, unter dem Schutz bewaffneter Wächter – unter dem Feuerschutz Des Mannes, der da mit einem Lasergewehr rumlungert und so finster und drohend dreinschaut, wie es Der Mann immer tut. Wenn irgendwer mir meinen Langsamen Tod abklaut, dachte Charles Freck, wobei er sich in den Kopf Des Mannes versetzte, dann werde ich ihn auslöschen.
Vielleicht ist Substanz T ein fester Bestandteil aller Arzneimittel, die irgendwas taugen, dachte er. Eine kleine Prise hier und da, gemäß der geheimen, exklusiven Formel, die von den Herstellern, die Substanz T entwickelt haben, in einem Tresor in ihrem Stammhaus in Deutschland oder in der Schweiz wie ein Staatsgeheimnis gehütet wird. Aber in Wirklichkeit wußte Charles Freck es besser; die Behörden vernichteten alle (oder sperrten sie zumindestens ein), die Substanz T verkauften oder transportierten oder konsumierten. Folglich würde auch die Discount-Drogerie – ja, die Millionen und Abermillionen von Discount-Drogerien! – auf der Flucht erschossen oder unsanft aus dem Geschäft gedrängt oder wenigstens eingesperrt werden. Vermutlich doch nur eingesperrt. Discount war eine einflußreiche Ladenkette. Und überhaupt, wie erschießt man eigentlich eine Kette großer Drogerien? Oder wie sperrt man sie in den Knast?
Dann haben die wohl doch nur den üblichen Kram, dachte er, während er über den Boulevard dahinkreuzte. Er fühlte sich lausig, weil er nur dreihundert Tabletten Langsamer Tod für Notzeiten wie diese zurückgelegt hatte, sorgfältig im Hinterhof unter der Kamelie vergraben – unter der Hybridkamelie mit den kühlen, großen Blättern, die auch im Frühling nicht braun wurden. Ich hab’ nur noch eine Wochenration, dachte er bestürzt. Was mach’ ich bloß, wenn ich auf dem trockenen sitze? Scheißdreck!
Mal angenommen, daß allen Dopern in Kalifornien und in einem Teil Oregons der Arsch am selben Tag auf Grundeis geht, dachte er. Wow.
Das war der absolute Hit unter den Horrorvisionen, die er manchmal in seinem Kopf abspulte. Und nicht nur er, sondern jeder Doper. Der ganze Westen der Vereinigten Staaten sitzt plötzlich zur gleichen Zeit auf dem trockenen, und alle Doper gehen am selben Tag auf Turkey, vielleicht so gegen sechs Uhr an einem Sonntagvormittag, während sich die Spießer gerade fein machen, um eine Runde beten zu gehen.
Ort: Die First Episcopal Church von Pasadene, um 8.30 Uhr vormittags am Grundeis-Sonntag.
»Liebe Pfarrgemeinde, so lasset uns nun Gott den Herrn anrufen und Ihn darum anflehen, daß Er Seine Gnade leuchten lasse über jenen, die sich zu dieser Zeit mit Entzugssymptomen in Todesqualen auf ihren Betten winden.«
»Sein Wille geschehe.« Die Gemeinde bekräftigt die Worte des Priesters.
»Doch bevor Er nun gnädiglichst eingreift und unsere Brüder und Schwestern mit einer größeren Lieferung von –«
Offenbar hatte die Besatzung eines Streifenwagens etwas an Charles Frecks Fahrstil bemerkt, was ihm selbst noch gar nicht aufgefallen war; jedenfalls hatte die Schmiere ihren Standplatz verlassen und folgte dem Chevy nun dichtauf, bisher noch ohne Blaulicht oder Sirene, aber …
Vielleicht fahr’ ich ja Schlangenlinien oder was, dachte Charles Freck. Scheiß Viehtransport, der klebt mir ja direkt an der Stoßstange. Bin gespannt, was die mir anhängen wollen.
BULLE: »All right, Ihren Namen bitte.«
»Meinen Namen?« (MIR FÄLLT KEIN NAME EIN.)
»Sie wissen Ihren eigenen Namen nicht mehr?« Bulle gibt dem anderen Bullen im Streifenwagen ein Handzeichen. »Der Typ hier ist anscheinend ausgeklinkt.«
»Bitte, erschießen Sie mich nicht hier!« Charles Freck in seiner Horrorvision, die der Anblick des Streifenwagens im Rückspiegel ausgelöst hat. »Nehmen Sie mich doch bitte wenigstens mit zur Wache und erschießen Sie mich da, wo’s nicht alle Leute sehen.«
Um in diesem faschistischen Polizeistaat zu überleben, dachte er, mußt du immer einen Namen parat haben. Deinen Namen. Jederzeit. Das ist das erste, worauf sie achten. Wenn du deinen eigenen Namen nicht mehr zusammenkriegst, dann wissen sie, daß du total breit bist.
Am besten, entschied er, schere ich aus, sobald ich eine Parklücke sehe, und fahre freiwillig rechts ran, bevor die Schmiere das Blaulicht blitzen läßt oder sonstwas unternimmt, und dann, wenn die Bullen neben mir anhalten, werde ich sagen, ich hätte wohl ‘n loses Rad oder sonst ‘n Defekt.
Das finden die immer toll, dachte er. Wenn du auf diese Weise aufgibst, weil dir nichts anderes mehr übrigbleibt. Das ist so, als würdest du dich wie ein Tier zu Boden werfen und ihnen deine ungeschützte Bauchseite hinhalten. Ja, genau das werde ich tun.
Er scherte nach rechts aus und brachte den Wagen zum Stehen, als die Vorderreifen gegen den Bordstein stießen. Der Streifenwagen fuhr vorbei, ohne anzuhalten.
Für nichts und wieder nichts rausgefahren, dachte Charles Freck. Jetzt werde ich meine liebe Mühe damit haben, wieder rückwärts rauszusetzen, weil der Verkehr so dicht ist. Er stellte den Motor ab. Vielleicht sollte ich einfach ein Weilchen hier sitzenbleiben, beschloß er, und Alphameditation machen oder mich in einige höhere Bewußtseinszustände versetzen. Vielleicht, indem ich mir die Puppen anschaue, die so vorbeispazieren. Möchte wissen, ob’s irgendwo eine Firma gibt, die Geiloskope herstellt. Statt Alpha-Bioskopen. Geilheitswellen, erst sehr kurz, dann länger, größer, größer, bis sie schließlich geradewegs über die Skala hinausschnellen.
Das bringt alles nichts, begriff er plötzlich. Ich sollte unterwegs sein, um herauszufinden, ob irgendwo Stoff auf der Scene ist. Ich muß unbedingt Nachschub kriegen, sonst klinke ich wirklich bald aus, und dann werd’ ich überhaupt nicht mehr in der Lage sein, was geregelt zu kriegen. Wenn’s mal soweit ist, werd’ ich nicht mal mehr am Bordstein sitzen können, so wie jetzt. Ich werde dann nicht nur nicht mehr wissen, wer ich bin, ich werde nicht mal wissen, wo ich bin oder was eigentlich um mich herum läuft.
Was läuft hier eigentlich? fragte er sich selbst. Was für einen Tag haben wir heute? Wenn ich nur wüßte, welcher Tag heute ist, würde mir auch alles andere wieder einfallen. Es würde nach und nach wieder in mein Gehirn sickern.
Mittwoch, im Einkaufsviertel von L. A. irgendwo im Westwood-Bezirk. Direkt vor Charles Freck eine dieser riesigen Einkaufsarkaden, von einer Mauer umgeben, an der man wie ein Gummiball abprallt – außer wenn man eine Kreditkarte dabei hat, mit der man durch den elektronischen Sperrgürtel gelangen kann. Da Charles Freck für keine der Arkaden eine Kreditkarte besaß, kannte er das Innere der Läden nur vom Hörensagen. Offenbar gab es in den Arkaden eine ganze Reihe von Läden, die Qualitätsprodukte an die Spießer verkauften – besonders natürlich an die Spießerehefrauen. Er schaute zu, wie die uniformierten und bewaffneten Wächter am Haupttor die eintretenden Kunden einer gründlichen Überprüfung unterzogen. Die Wächter achteten darauf, daß der Mann oder die Frau auch wirklich zu seiner oder ihrer Kreditkarte paßte und daß die Kreditkarte nicht geklaut, verkauft, gekauft oder in betrügerischer Absicht benutzt worden war. Eine Menge Leute strömten durch das Tor hinein, aber Charles Freck vermutete, daß viele davon nur einen Schaufensterbummel machen wollten. So viele Leute können doch gar nicht das Moos oder das unaufschiebbare Verlangen haben, um diese Zeit einkaufen zu gehen, überlegte er. Es ist schon spät, kurz nach zwei. Zwei Uhr nachts, ja. Die Läden sind alle beleuchtet. Wie alle seine Freak-Brüder und -Schwestern, die in dieser Nacht unterwegs waren, konnte Charles Freck die Lichter von draußen sehen, Lichter wie bunte Funkenkaskaden. Wie ein Vergnügungspark für große Kinder, dachte er.
Auf dieser Seite der Mall gab es nicht viele Geschäfte, die keine Kreditkarten verlangten und sich nicht von bewaffneten Wächtern schützen ließen. Nur ein paar Läden für alltägliche Besorgungen: ein Schuhgeschäft, einen TV-Shop, eine Bäckerei, einen Schlüsseldienst, eine Schnellwäscherei. Charles Freck schaute zu, wie ein Mädchen, das ein kurzes Plastikjäckchen und eine Stretchhose trug, von Geschäft zu Geschäft schlenderte. Die Kleine hatte hübsche Haare, aber von hier aus konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, und man mußte schon das Gesicht sehen, um beurteilen zu können, ob eine Puppe wirklich scharf war. Keine schlechte Figur, dachte er. Das Mädchen blieb eine Zeitlang vor einem Schaufenster stehen, in dem Lederwaren ausgestellt waren. Es schien sich für einen mit Quasten verzierten Geldbeutel zu interessieren; Charles Freck konnte verfolgen, wie die Kleine sich die Nase an der Schaufensterscheibe plattdrückte und hin und her gerissen den Geldbeutel anstarrte. Wetten, daß sie gleich reingeht und ihn sich zeigen läßt? dachte Freck.
Im nächsten Augenblick tänzelte das Mädchen tatsächlich in den Laden, ganz wie Charles Freck es erwartet hatte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf eine andere Puppe, die jetzt den stark belebten Bürgersteig entlanggeschlendert kam. Sie trug eine gekräuselte Bluse und hatte hohe Absätze, silberne Haare und zu viel Make-up. Versucht, älter auszusehen, als sie ist, dachte er. Vielleicht geht sie sogar noch zur Oberschule.
Nach dieser Puppe kam nichts mehr, was der Rede wert gewesen wäre. Freck machte den Bindfaden los, der die Klappe des Handschuhfachs an ihrem Platz hielt, und holte ein Päckchen Zigaretten heraus. Während er sich eine ansteckte, schaltete er mit der anderen Hand das Autoradio ein, eine Rock-Station. Früher einmal hatte er sogar einen Stereo-Cassettenrecorder besessen, aber als er eines Tages mal wieder total abgefüllt gewesen war, hatte er nicht daran gedacht, den Recorder mit ins Haus zu nehmen, als er den Wagen abschloß; bei seiner Rückkehr war das ganze Stereosystem verschwunden gewesen. Das hat man nun von seiner Schusseligkeit, hatte er gedacht. Und darum hatte er jetzt eben nur noch ein mickriges Radio. Irgendwann würden sie ihm das wohl auch noch wegnehmen. Na egal, er wußte ja, wo er praktisch umsonst ein neues Radio kriegen konnte, besser gesagt: ein gebrauchtes Radio. Im übrigen war sein Chevy sowieso praktisch reif für den Schrottplatz; die Dichtungsringe waren porös und die Kompression im Keller. Wahrscheinlich hatte er ein Ventil zu Klumpatsch gefahren, als er eines Abends mit einer ganzen Ladung guten Stoffs über den Freeway nach Hause raste; manchmal, wenn er eine wirklich große Partie gemacht hatte, wurde er paranoid – nicht so sehr wegen der Bullen, sondern vielmehr, weil er befürchtete, daß andere Leute aus der Scene ihm den Stoff abklauen könnten. Irgend so ein Scenetyp, halb meschugge vor Turkey und dopegeil wie ‘n Weltmeister.
In diesem Moment ging ein Mädchen vorbei, das sofort Charles Frecks Aufmerksamkeit erregte: schwarzes Haar, hübsch, und ein aufreizend langsamer Schlenderschritt. Es trug eine offene Bolerobluse und eine oft gewaschene, weiße Baumwollhose. Hey, die kenne ich doch, dachte er. Das ist doch Bob Arctors Mädchen. Klar, das ist Donna!
Er stieß die Wagentür auf und schwang sich aus seinem Chevy. Das Mädchen warf ihm einen kurzen, mißtrauischen Blick zu und ging weiter, ohne langsamer zu werden. Er folgte ihr.
Denkt bestimmt, ich will ihr an die Wäsche, dachte Charles Freck, als er sich zwischen den anderen Passanten einen Weg bahnte. Wie leichtfüßig sie einen Zahn zulegte; er konnte sie jetzt kaum noch sehen, als sie jetzt einen flüchtigen Blick über die Schulter zurückwarf. Ein festes, ruhiges Gesicht … Er sah große Augen, die ihn abschätzig musterten. Bestimmt versuchte sie jetzt, seine Geschwindigkeit zu kalkulieren und festzustellen, ob er sie würde einholen können. Nicht, wenn sie weiter so ein Tempo vorlegt, dachte Charles Freck. Mann, die bewegt sich ja wie ‘ne Katze!
An der Ecke waren die Leute stehengeblieben und warteten darauf, daß die Fußgängerampel GEHEN statt NICHT GEHEN anzeigte; Autos bogen mit quietschenden Reifen nach links ab. Aber das Mädchen ging einfach weiter, schnell, aber würdevoll, und schlängelte sich zwischen den dahinschießenden Wagen hindurch. Die Fahrer starrten sie aufgebracht an. Sie schien die wütenden Blicke nicht einmal zu bemerken.
»Donna!« Als das Zeichen auf GEHEN umsprang, stürzte Charles Freck über die Straße hinter ihr her und holte sie ein. Trotzdem fing sie nicht an zu laufen, sondern ging nur einfach so zügig weiter wie bisher. »Bist du nicht Bobs Alte?« sagte er. Irgendwie schaffte er es, sich ihr in den Weg zu stellen, um endlich ihr Gesicht genauer mustern zu können.
»Nein«, sagte sie. »Nein.« Sie kam auf ihn zu, kam genau auf ihn zu; er wich rückwärtsgehend vor ihr zurück, weil er plötzlich bemerkte, daß sie ein kurzes Messer in der Hand hielt und dieses Messer genau auf seinen Magen gerichtet war. »Hau ab«, sagte sie, wobei sie unbeirrt weiterging, ohne langsamer zu werden oder auch nur einen Augenblick lang zu zögern.
»Bestimmt bist du’s«, sagte Charles Freck. »Wir haben uns mal auf seiner Bude kennengelernt.« Er konnte das Messer kaum sehen, nur ein winziges Stückchen der Klinge, aber er wußte, daß es da war. Sie würde ihn einfach niederstechen und dann weitergehen. Er wich immer weiter zurück, die Hände in einer abwehrenden Geste erhoben. Das Mädchen verbarg das Messer so geschickt in ihrer Hand, daß vielleicht keiner der anderen Passanten es bemerken würde. Aber er, Charles Freck, bemerkte es nur zu gut; die Klinge zielte genau auf ihn, als das Mädchen ohne zu zögern näher kam. Im letzten Augenblick trat er zur Seite, und das Mädchen ging einfach schweigend weiter.
»Mensch, hör doch mal!« sagte er zu ihrem Rücken. Ich bin mir doch ganz sicher, daß es Donna ist, dachte er. Sie kommt bloß im Moment nicht drauf, wer ich bin und daß wir uns kennen. Hat wohl Angst, daß ich ihr an den Arsch will. Heutzutage muß man verdammt vorsichtig sein, wenn man auf der Straße ‘ne fremde Puppe anquatscht. Die sind jetzt alle auf der Hut. Na ja, kein Wunder, wenn man bedenkt, was denen schon alles passiert ist!
Heißes kleines Messer, dachte Freck. Wäre besser, wenn die Puppen nicht mit so was ‘rumspielten; jeder Macker könnte ihr das Handgelenk rumdrehen und die Klinge auf sie selbst richten, wenn er’s wirklich darauf anlegen würde. Ich hätt’s auch tun können. Wenn ich sie wirklich hätte anmachen wollen. Er stand einfach nur da und ärgerte sich. Ich weiß doch ganz genau, daß das Donna war, dachte er.
Gerade als er zu seinem Wagen zurückgehen wollte, bemerkte er plötzlich, daß das Mädchen am Rand des sich dahinwälzenden Fußgängerstroms stehengeblieben war und schweigend zu ihm herüberstarrte.
Er ging vorsichtig auf sie zu. »Eines Abends«, sagte er, »hatten ich und Bob und noch so ‘ne Puppe ein paar uralte Simon-und-Garfunkel-Bänder aufgetrieben, und du saßest da –« Sie hatte die ganze Zeit über Kapseln mit astreinem Tod gefüllt, eine Kapsel nach der anderen, ganz systematisch. Stundenlang. El Primo. Numero Uno: Tod. Und als sie damit fertig gewesen war, hatte sie jedem eine Kapsel angeboten, und sie hatten sie eingeworfen. Alle, nur Donna nicht. Ich deale nur mit dem Zeug, hatte sie gesagt. Wie soll ich denn noch ‘n Schnitt machen, wenn ich die Dinger alle selber schlucke?
Das Mädchen sagte: »Ich dachte, du wolltest mir eins überziehen und mich dann durchbumsen. «
»Nein«, sagte er. »Ich hab’ nur gedacht, ich könnte dich …« Er zögerte. »Na ja, ich könnt’ dich ein Stück im Wagen mitnehmen … Auf dem Bürgersteig?!?« erkundigte er sich ungläubig, als er begriff, was sie eigentlich gesagt hatte. »Am hellichten Tage?!?«
»Vielleicht in einem Hauseingang. Oder du würdest mich in einen Wagen schleifen.«
»Aber wir kennen uns doch«, protestierte Freck. »Und Arctor würde mich allemachen, wenn ich das täte.«
»Du, ich hab’ dich gar nicht erkannt.« Sie kam drei Schritte auf ihn zu. »Ich bin ‘n bißchen kurzsichtig.«
»Dann solltest du Kontaktlinsen tragen.« Ihm fiel auf, daß sie klare, große, dunkle, warme Augen hatte. Was bedeutete, daß sie nicht auf Dope war.
»Hatte ich ja früher mal. Aber dann ist mir eine rausgefallen, direkt in ‘ne Bowlenschüssel. Du weißt schon, Acid-Bowle, auf ‘ner Party. Das Ding ist direkt bis auf den Boden gesunken, und wahrscheinlich hat sie wer rausgeschöpft und mitgetrunken. Hoffentlich hat’s ihm geschmeckt; ich hab’ immerhin fünfunddreißig Dollar dafür hinlegen müssen.«
»Kann ich dich denn nun irgendwohin mitnehmen?«
»Du willst mich ja doch nur im Wagen durchbumsen.«
»Nein«, sagte Freck. »Ich krieg’ im Moment sowieso keinen hoch, schon seit ‘n paar Wochen nicht mehr. Muß an was liegen, womit die den Stoff strecken. Irgendwas Chemisches.«
»Mann, das ist ja ‘ne heiße Ausrede, aber damit ist mir schon mal einer gekommen. Alle bumsen mich nur durch.« Sie verbesserte sich sofort. »Jedenfalls versuchen sie’s. So läuft’s nun mal, wenn man ‘ne Puppe ist. Ich hab’ jetzt gerade ‘nem Typen ein Gerichtsverfahren angehängt, wegen Belästigung und handgreiflicher Beleidigung. Mein Anwalt verlangt 40 000 Schadensersatz. «
»Wie weit ist er denn gekommen?«
Donna sagte: »Der hat mir mit seinen Schmierfingern die Möpse betatscht.«
»Das ist aber keine 40 000 wert.«
Gemeinsam gingen sie den Weg zu Charles Frecks Wagen zurück.
»Hast du was zu verkaufen?« erkundigte sich Freck. »Ich brauch’ wirklich dringend was. Ehrlich gesagt, ich bin praktisch auf Null runter, stell’ dir das mal vor, total auf Null! Ich war’ schon mit ein paar zufrieden, wenn du welche lockermachen könntest.«
»Ich kann dir welche besorgen.«
»Tabletten«, sagte er. »Ich schieße nicht.«
»Ja.« Donna nickte bestimmt, den Kopf leicht gesenkt. »Aber, hör mal, die Dinger sind im Moment Mangelware – die Nachschubquelle ist zeitweilig ausgetrocknet. Wahrscheinlich hast du das schon selbst mitgekriegt. Ich kann dir nicht sehr viele besorgen, aber …«
»Wann?« unterbrach er sie. Sie hatten mittlerweile den Wagen erreicht; Charles Freck blieb stehen, öffnete die Tür und stieg ein. Auf der anderen Wagenseite stieg auch Donna ein. Und dann saßen sie da, Seite an Seite.
»Übermorgen«, sagte Donna. »Aber nur, wenn ich den einen Typ irgendwie erwischen kann. Ich nehme an, es wird klappen.«
Scheiße, dachte Charles Freck. Übermorgen erst. »Geht’s nicht eher? Nicht bis, sagen wir mal, heute abend?«
»Allerfrühestens morgen.«
»Wie viel?«
»Sechzig Dollar pro Hunderterpack.«
»O Mann«, sagte Charles Freck. »Das ist aber ‘n stolzer Preis.«
»Dafür sind sie auch echt Spitze. Ich hab’ schon früher welche von dem Typen bekommen; die sind wirklich nicht so wie das Zeug, was einem sonst angedreht wird. Mein Wort darauf, der Stoff ist echt sein Geld wert. Wenn’s eben geht, kaufe ich immer bei dem Typen. Aber er hat nicht immer welche. Weißt du, der Typ hat gerade eine Tour in den Süden runter gemacht, denke ich mir. Er ist gerade erst zurückgekommen. Er hat den Stoff selbst rangeschafft, ohne Zwischenhändler, darum weiß ich, daß die Tabletten mit Sicherheit gut sind. Und du mußt mir nichts im voraus bezahlen. Erst, wenn ich sie habe. Okay? Ich vertraue dir.«
»Ich leg’ nie Geld hin, bevor ich die Ware sehe«, sagte er.
»Manchmal muß man’s aber. «
»Okay«, sagte er. »Kannst du mir dann mindestens ein Hunderterpack besorgen?« Er versuchte rasch durchzukalkulieren, wie viele er sich leisten konnte; vielleicht konnte er binnen zwei Tagen 120 Dollar flüssig machen und zweihundert Tabletten von ihr kaufen. Und wenn er in der Zwischenzeit irgendwo einen besseren Deal abschließen konnte, mit anderen Leuten, die Stoff anboten, dann konnte er den Deal mit Donna ja wieder vergessen und bei denen kaufen. Das war der Vorteil dabei, wenn man nie Geld vorstreckte – das und die Tatsache, daß man nie abgelinkt werden konnte.
»Da hast du aber mächtig Glück gehabt, daß wir uns getroffen haben«, sagte Donna, als er den Wagen anließ und rückwärts auf die Straße setzte. »Ich treff mich in ungefähr ‘ner Stunde mit so einem Macker, der mir vielleicht alles abkaufen würde, was ich eben ranschaffen könnte … du scheinst ja ‘ne ziemliche Pechsträhne gehabt zu haben, aber jetzt geht’s wieder bergauf.« Sie lächelte, und er erwiderte ihr Lächeln.
»War’ nur toll, wenn du sie eher kriegen könntest«, sagte Freck.
»Wenn’s klappen sollte …« Donna öffnete ihren Geldbeutel und holte einen kleinen Notizblock und einen Stift mit dem Aufdruck SPARKS AUTO-ELEKTROSERVICE heraus. »Wie kann ich dich erreichen? Und dein Name ist mir übrigens immer noch nicht wieder eingefallen.«
»Charles B. Freck«. sagte er. Er gab ihr seine Telefonnummer – eigentlich war es gar nicht seine, sondern die eines Spießerfreundes, über die er solche Kontakte immer laufen ließ –, und sie schrieb die Nummer sorgfältig auf. Wie schwer ihr das Schreiben doch fällt, dachte Freck. Malt einen Buchstaben nach dem anderen hin … Die bringen den Puppen in der Schule auch nur noch Scheiß bei, dachte er. Hat wohl immer unter der Schulbank gesessen. Aber ‘ne heiße Puppe ist sie ja. Na ja, dann kann sie eben kaum lesen und schreiben; was soll’s? Was bei ‘ner Puppe wichtig ist, das sind handliche Titten.
»Ich glaube, ich erinnere mich jetzt wieder an dich«, sagte Donna. »Vage jedenfalls. Es ist alles irgendwie verschwommen, der ganze Abend; ich war richtig weggetreten. So richtig weiß ich eigentlich nur noch, wie ich das Pulver in diese kleinen Kapseln getan hab’ – richtig, Librium-Kapseln … wir hatten den Originalinhalt weggeschüttet. Ich muß die Hälfte runtergekippt haben. Auf den Boden, meine ich.« Sie blickte ihn nachdenklich an, wie er so am Steuer saß und fuhr. »Du scheinst ja ganz okay zu sein«, sagte sie. »Vielleicht können wir öfters miteinander ins Geschäft kommen? Du willst doch hinterher bestimmt noch mehr von dem Zeug, oder nicht?«
»Sicher«, sagte Charles Freck. Zugleich überlegte er, ob es ihm wohl gelingen würde, den Preis zu drücken, wenn sie sich das nächste Mal sahen; er hatte so das Gefühl, als ständen seine Chancen gar nicht mal so schlecht. Aber auch wenn er Donna nicht herunterhandeln konnte, hatte er es wieder einmal geschafft. Was hieß: Er hatte wieder eine neue Nachschubquelle auf getan.
Glücklichsein ist, dachte er, wenn du weißt, daß du ein paar Pillen kriegen kannst.
Draußen, außerhalb des Wagens, strömten der Tag und all die geschäftigen Menschen, das Sonnenlicht und das pulsierende Leben der Stadt unbemerkt vorbei; Charles Freck war glücklich.
Irre, was er da durch Zufall entdeckt hatte – und das nur, weil sich eine Polizeistreife ohne jeden besonderen Grund an seine Fersen geheftet hatte. Eine unerwartete neue Quelle für Substanz T! Was konnte er mehr vom Leben verlangen? Er konnte jetzt vielleicht damit rechnen, daß zwei Wochen vor ihm lagen, nahezu ein halber Monat, bevor er krepierte oder wenigstens beinahe krepierte – was bei einem Entzug von Substanz T praktisch das gleiche war. Zwei Wochen! Charles Freck wurde es wunderbar leicht ums Herz, und für einen winzigen Augenblick roch er die erregenden Düfte des Frühlings, die durch das offene Fenster des Wagens hereinwehten.
»Möchtest du mitkommen, wenn ich Jerry Fabin besuche?« fragte er das Mädchen neben sich.« Ich bring’ ihm eine Ladung Klamotten rüber in die Staatliche Nervenklinik Nummer Drei, wo sie ihn letzte Nacht hingebracht haben. Ich schaffe jedesmal nur ein bißchen rüber, weil’s ja immer noch möglich wäre, daß er bald wieder rauskommt, und ich habe keine Lust, dann alles zurückkarren zu müssen.«
»Ich möchte ihn lieber nicht besuchen«, sagte Donna.
»Du kennst ihn? Jerry Fabin?«
»Jerry Fabin denkt, daß ich es gewesen bin, der ihn zuerst mit diesen Wanzen verseucht hat.«
»Blattläusen.«
»Nun, damals wußte er noch nicht, was das für Viecher waren. Ich halte mich besser von ihm fern. Als ich ihn zum letzten Mal sah, wurde er richtig bösartig. Es sind die Wahrnehmungszentren, in seinem Gehirn … glaube ich wenigstens. Es scheint mit den Wahrnehmungszentren zusammenzuhängen, das steht wenigstens neuerdings in den Regierungsinfos.«
»Das läßt sich doch wieder in Ordnung bringen, nicht wahr?« sagte Freck.
»Nein«, sagte Donna. »Das ist für immer im Arsch.«
»Die Leute in der Klinik haben mir gesagt, daß ich ihn besuchen dürfte und daß sie glauben würden, daß er wieder …« Er machte eine hilflose Geste. »Verstehst du, daß er nicht …« Wieder bewegte er seine Hände hilflos hin und her; es war schwierig, das in Worte zu fassen, was er über seinen Freund sagen wollte.
Donna blickte ihn besorgt an. »Du hast doch nicht etwa einen Schaden am Sprachzentrum?« erkundigte sie sich. »Eine Schädigung der – wie nennt man die Dinger doch gleich – der Hinterhauptslappen?«
»Nein«, sagte er. Mit Nachdruck.
»Hast du überhaupt irgendwelche Schäden?« Sie tippte sich an den Kopf.
»Nein, es ist nur … verstehst du das denn nicht? Ich habe immer Schwierigkeiten dabei, wenn ich über diese Scheiß-Kliniken spreche; ich hasse diese Kliniken für neurale Aphasie. Einmal war ich in einer, um so einen Typ zu besuchen. Weißt du, der hat die ganze Zeit versucht, den Fußboden zu bohnern – die Pfleger sagten, er würd’s nie schaffen, ich meine, er konnt’s einfach nicht mehr auf die Reihe kriegen, wie man’s machen muß … Was mich so unheimlich geschockt hat, war, daß er’s immer weiter versucht hat. Ich meine, nicht nur so ‘ne Stunde lang oder so; er hat’s immer noch versucht, als ich einen Monat später wieder hingefahren bin. So, als ob er’s immer wieder versucht hätte, wieder und wieder, wie da, wo ich ihn zuerst gesehen hab’, bei meinem ersten Besuch. Er konnte einfach nicht kapieren, warum er’s nicht auf die Reihe bekam. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war sich so sicher, daß er’s richtig hinkriegen würde, wenn er nur endlich rausbekommen würde, was er eigentlich falsch machte. ›Was mache ich denn bloß falsch?‹ fragte er die Pfleger immer wieder. Und es gab keinen Weg, es ihm begreiflich zu machen. Ich meine, sie haben’s ihm erklärt – verdammt noch mal, sie haben’s ihm erklärt –, aber er konnte es trotzdem immer noch nicht auf die Reihe kriegen.«
»Ich hab’ gelesen, daß die Wahrnehmungszentren im Gehirn meist zuerst den Bach runtergehen«, sagte Donna gelassen. »Wenn sich zum Beispiel einer ‘nen miesen Schuß gesetzt hat. ‘ne zu große Dosis oder so.« Sie musterte den Wagen, der direkt vor ihnen fuhr. »Sieh mal, da ist einer von diesen neuen Porsches mit den zwei Motoren.« Sie zeigte aufgeregt nach vorn. »Wow!«
»Ich kannte mal einen Typ, der sich einen dieser neuen Porsches frisiert hatte«, sagte Charles Freck, »und dann damit auf den Riverside Freeway rausfuhr und ihn auf 280 hochjagte – Filmriß.« Er gestikulierte wild mit den Händen. »Geradewegs in den Arsch von einem Sattelschlepper. Hat ihn gar nicht gesehen, nehme ich an.« In seinem Kopf ließ er eine Phantasienummer abspulen: er, Charles Freck, hinter dem Steuer eines Porsche, aber er bemerkte den Sattelschlepper rechtzeitig – alle Sattelschlepper. Und jedermann auf dem Freeway – dem Hollywood Freeway zur Hauptverkehrszeit – bemerkte ihn, Charles Freck. Schließlich konnte man diesen schlaksigen, breitschultrigen, gutaussehenden Macker, der da mit 320 Stundenkilometern über den Freeway brauste, auch gar nicht übersehen. Und den Bullen hing der Unterkiefer bis runter auf die Schuhe.
»Du zitterst ja«, sagte Donna. Sie beugte sich zu ihm herüber und legte ihre Hand auf seinen Arm. Eine ruhige Hand, auf die er sofort ansprach. »Langsamer.«
»Ich bin müde«, sagte er. »Ich war zwei Tage und zwei Nächte auf den Beinen und habe Wanzen gezählt. Hab’ Wanzen gezählt und sie in Flaschen getan, bis ich vor Müdigkeit aus den Latschen gekippt bin. Und als wir dann am nächsten Morgen aufgestanden sind und uns fertiggemacht haben, um die Flaschen in den Wagen zu laden und sie zum Doktor zu bringen, weil wir ihm die Wanzen zeigen wollten, da war nichts in den Flaschen drin. Leer.« Er konnte das Zittern jetzt selber spüren, konnte es in seinen Händen spüren, die auf dem Lenkrad ruhten, konnte die zitternden Hände auf dem Lenkrad sehen, bei dreißig Stundenkilometern. »Alle«, sagte er. »Die ganzen Scheiß-Flaschen. Nichts drin. Keine Wanzen. Und dann hab’ ich’s endlich begriffen. Scheiße noch mal, ich hab’ begriffen, was mit seinem Gehirn los war. Mit Jerrys Gehirn.«
Die Luft roch nicht mehr länger nach Frühling, und übergangslos begriff Charles Freck, daß er dringend einen neuen Hit Substanz T brauchte, weil es vielleicht schon später am Tag war, als er bisher bemerkt hatte. Oder war die letzte Dosis, die er eingepfiffen hatte, geringer gewesen, als er dachte? Nun, zum Glück hatte er immer einen Notvorrat dabei, ganz hinten im Handschuhfach. Er spähte aus dem Fenster und hielt Ausschau nach einer freien Parkbucht, wo er anhalten konnte.
»Manchmal macht einem das Gehirn was vor«, sagte Donna wie aus großer Entfernung; sie schien sich in sich selbst zurückgezogen zu haben, schien sehr weit weggegangen zu sein. Charles Freck fragte sich, ob ihr seine ziellose Fahrerei wohl auf die Nerven ging. Vielleicht lag es daran.
Ein weiterer Phantasie-Film spulte sich plötzlich in seinem Kopf ab, ganz ohne seine Zustimmung: Zuerst sah er einen großen Pontiac, aufgebockt auf einem plötzlich kippelnden Wagenheber, und ein Jüngelchen von vielleicht dreizehn Jahren mit langen, strohigen Haaren, das sich verzweifelt gegen den wegrollenden Wagen zu stemmen versuchte und dabei zugleich gellend um Hilfe schrie. Er sah sich selbst zusammen mit Jerry Fabin aus dem Haus – Jerrys Haus – stürzen und die mit Bierdosen übersäte Auffahrt hinunterstürmen. Er, Charles Freck, griff nach der Wagentür auf der Fahrerseite, um sie aufzuwuchten, damit er das Bremspedal treten konnte. Aber Jerry Fabin, der nur eine Hose trug und nicht einmal Schuhe anhatte – er hatte gerade geschlafen, und sein Haar war wirr und zerwühlt –, dieser Jerry Fabin also rannte am Wagen entlang zum Fahrzeugheck und drängte den Jungen mit seiner bloßen, bleichen Schulter, die nie das Licht des Tages sah, in letzter Sekunde vom Wagen weg. Der Wagenheber rutschte endgültig ab und fiel um, das Heck des Wagens krachte runter, die Felge und das Rad rollten davon – aber dem Jungen war nichts passiert.
»Zu spät für die Bremse«, keuchte Jerry und versuchte, sich seine häßlichen, schmierigen Haare aus den Augen zu streichen. Er blinzelte. »Zu knapp.«
»Is’ er okay?« rief Charles Freck. Sein Herz hämmerte immer noch.
»Ja.« Jerry stand schwer atmend neben dem Jungen. »Scheiße!« schrie er ihn an, um sich Luft zu machen. »Hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst warten, bis wir’s zusammen machen? Und wenn ein Wagenheber wegrutscht – Scheiße, Mann, du kannst doch keine fünftausend Pfund zurückhalten!« Sein Gesicht zuckte. Der Junge, der von allen nur Rattenarsch genannt wurde, blickte ihn wie ein Häufchen Elend an und wand sich schuldbewußt. »Mensch, ich hab’s dir doch wieder und wieder gesagt!«
»Ich wollte die Bremse treten«, erklärte Charles Freck, der plötzlich begriff, wie idiotisch er sich verhalten hatte, begriff, daß er einen Fehler gemacht hatte, der genauso schwerwiegend und tödlich gewesen war wie der des Jungen. Er, ein erwachsener Mann, hatte versagt, weil er unfähig gewesen war, richtig zu reagieren. Aber genau wie der Junge suchte er nun nach Worten, um sein Versagen zu rechtfertigen. »Klar, ich seh’ jetzt ein –«, setzte er kläglich an, und dann brach die Phantasie-Nummer ab; eigentlich war sie nur eine exakte Widergabe realer Ereignisse gewesen, denn Charles Freck erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sich dieser Zwischenfall abgespielt hatte, damals, als sie noch alle zusammenlebten. Jerrys guter Instinkt … ohne den hätte Rattenarsch eine Sekunde später unter dem Heck des Pontiac gelegen, mit zerschmettertem Rückgrat! Alle drei trotteten in düsterer Stimmung zum Haus zurück, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die Felge und den Reifen einzufangen, die immer noch die Straße hinunterrollten.
»Ich war eingeschlafen«, murmelte Jerry, als sie das abgedunkelte Innere des Hauses betraten. »Zum ersten Mal seit Wochen haben mich die Wanzen lange genug in Ruhe gelassen, daß ich’s geschafft hab’. Ich hab’ seit fünf Tagen keinen Schlaf mehr gekriegt – bin immer nur rumgelaufen und rumgelaufen. Ich hab’ schon gedacht, sie wären vielleicht weg; und sie sind weggegangen, wirklich. Ich hab’ gedacht, sie härten endlich aufgegeben und wären woandershin gegangen, nach nebenan vielleicht, ganz aus dem Haus weg. Jetzt kann ich sie wieder spüren. Der zehnte Anti-Wanzen-Strip, den die mir verkauft haben – oder vielleicht war’s der elfte – die haben mich wieder reingelegt, wie sie’s mit allen anderen gemacht haben.« Aber seine Stimme klang jetzt gedämpft, nicht wütend, sondern nur leise und irgendwie verwundert. Er legte seine Hand auf Rattenarschs Kopf und versetzte ihm einen kurzen, scharfen Schlag. »Du blöder Kerl – wenn ein Wagenheber wegrutscht, dann nimm gefälligst die Beine in die Hand. Vergiß den Wagen. Stell dich bloß nicht hinter ihn, und versuch ja nicht, dich einer solchen Masse entgegenzustemmen und sie mit deinem Körper aufzuhalten.«
»Aber Jerry, ich hatte Angst, daß die Achse …«
»Scheiß was auf die Achse. Scheiß was auf den Wagen. Dein Leben ist doch wichtiger.« Sie gingen durch das dunkle Wohnzimmer, alle drei, und die Vision eines längst vergangenen Augenblicks verschwamm und erlosch dann für immer.