KAPITEL ELF UNERWARTETE WENDUNGEN

Die Sonnenschreiter schoß aus dem Hyperraum und stürzte direkt in die Atmosphäre des Planeten Shandrakor. Rauch und Feuer quollen aus dem zerschundenen Schiff, während es durch die dichter werdende Luft nach unten taumelte. Der Bug war nur noch ein ausgefranstes Loch, und Bruchstücke der Außenhülle lösten sich und taumelten auf ihrer eigenen Bahn zur Oberfläche hinab, als das Schiff sich in der turbulenten Atmosphäre aufbäumte. Die Sonnenschreiter hatte eine Menge höllisch schwerer Treffer durch die beiden Imperialen Sternenkreuzer einstecken müssen, die ihr im Orbit von Nebelwelt aufgelauert hatten, und als Folge davon fiel sie jetzt wie ein Stein der unbekannten Oberfläche Shandrakors entgegen. Was von ihrer Außenhülle übriggeblieben war, glühte in wütendem Rot von der Hitze des Wiedereintritts. Die gesamte Innenhülle war verbogen und verdreht. Die Jacht war nicht dazu konstruiert worden, ohne funktionierende Schutzschilde auf einem Planeten zu landen. Sie war auch nicht konstruiert worden, einen derart heftigen Beschuß durch Imperiale Sternenkreuzer auszuhalten, und es schien beinahe wie ein kleines Wunder, daß das Schiff so lange durchgehalten hatte.

Aber jetzt fiel die Sonnenschreiter, und ihre Maschinen stotterten, als ein System nach dem anderen endgültig durchbrannte.

Im Innern des sterbenden Schiffs hielt sich Owen Todtsteltzer verzweifelt an einem in die Wand eingelassenen Haltegriff fest, während er durch den unsanften Abstieg hin und her geworfen wurde. Die Klimaanlage der Lounge hatte ihre liebe Mühe, den dichten, erstickenden Rauch abzusaugen, der in der Luft hing, und die Notbeleuchtung flackerte unregelmäßig auf und erlosch wieder. Hazel d’Ark und ihre Freundin Ruby Reise hatten sich zwischen dem Barschrank und der Innenhülle eingekeilt und kämpften darum, nicht weggeschleudert zu werden. Zumindest bot der Platz ihnen ein wenig Schutz vor ungesichertem Mobiliar und Einrichtungsgegenständen, die durch den Raum flogen wie sperrige Schrapnellgeschosse.

Jakob Ohnesorg hatte einen relativ ruhigen Platz gefunden und glich das Rütteln und die plötzlichen Durchsacker des Schiffs mit geübter Leichtigkeit aus, ganz der berufsmäßige Rebell, der nicht zum ersten Mal in einem abstürzenden Schiff unterwegs war. Neidisch blickte Owen durch den treibenden Rauch zu ihm hinüber und dann zu dem Hadenmann.

Tobias Mond hatte einen Stuhl in eine Ecke der Lounge gekeilt und hatte es sich darauf bequem gemacht. Er schien vollkommen entspannt und ruhig, und Owen verspürte das Bedürfnis, ihm dafür an die Kehle zu springen. Seine Wut war alles, was ihn noch aufrecht hielt und dafür sorgte, daß seine letzte Mahlzeit dort blieb, wo sie hingehörte.

»Oz, rede mit mir! Was ist los?«

»Wir stürzen ab, Owen. Aber das muß dir doch bereits aufgefallen sein!«

Das laute Knistern von Feuer schien mit einem Mal viel

näher zu sein als noch Augenblicke zuvor, und die Luft wurde ungemütlich warm. Etwas Großes, Gezacktes krachte durch die Decke und fuhr in den Boden wie ein massiver Metallspeer. Als das Deck für eine Sekunde einen Satz unter Owens Füßen machte, klammerte er sich mit beiden Händen an den Haltegriff.

»Das weiß ich. Ich will wissen, was du dagegen unternimmst! Gib mir einen Statusbericht!«

»Also gut. Aber er wird dir nicht gefallen, Owen. Im Augenblick scheint die Mehrzahl aller Systeme alles in ihren Kräften Stehende zu unternehmen, um das Schiff am endgültigen Auseinanderfallen zu hindern. Wir haben schwere Schäden erlitten, sowohl innen als auch außen, und es wird ständig schlimmer. Die Außenhülle hat eine Vielzahl von Brüchen, genau wie die Innenhülle auch, und der gesamte Bug ist davongeflogen. In drei Sektoren sind Feuer ausgebrochen, doch ich habe sie unter Kontrolle. Wir verlieren verdammt schnell Luft, und der Kabinendruck sinkt ständig. Aber bei unserer augenblicklichen Absturzgeschwindigkeit krachen wir auf die harte, unnachgiebige Oberfläche des Planeten, bevor der Verlust an Atemluft zu einem echten Problem werden kann.«

Owen zuckte zusammen. »Wie stehen unsere Chancen, den Aufprall zu überstehen?«

»Nicht so gut, Owen. Die Kraftfelder sind alle zusammengebrochen, und wir besitzen nicht genügend Energie, um sie wieder einzuschalten. Die Sonnenschreiter ist nicht dafür ausgelegt, einen derart schweren Beschuß zu verdauen. Sie ist eine Vergnügungsjacht, kein Schlachtschiff. Die meisten Automatikfunktionen sind inzwischen ausgefallen, und die Reservesysteme haben nichts anderes mehr zu tun, als sich in eine Ecke zu setzen und die Augen auszuweinen.

Ich muß alles selbst regeln und die Energie zwischen den Systemen verteilen, je nachdem, welches gerade wieder mal für ein paar Sekunden läuft. Aber es gibt auch eine gute Nachricht, Owen. Die Rumpfstruktur der Sonnenschreiter ist noch immer halbwegs intakt. Ich weiß zwar nicht, was das nützen soll, weil weder ich noch du auch nur den kleinsten Hauch einer Ahnung haben, wie man das Schiff repariert. Wenn es nach der Landung überhaupt noch zu reparieren ist.«

»Haben wir keine Rettungskapseln an Bord?« fragte Hazel.

»Oder wenigstens Gravschlitten? Könnten wir irgendwie aussteigen, wenn es sein muß?« schrie sie.

»Es muß sein, ja, aber wir können nicht, nein«, erwiderte Ozymandius. Die Stimme der KI klang ganz eindeutig angewidert. »Niemand hätte sich je träumen lassen, daß ein derartiger Notfall eintreten könnte, als das Schiff gebaut wurde.

Die Sonnenschreiter besitzt unglaublich starke Maschinen und so viele Sicherheitssysteme. Uns bleibt immer noch das Wasserbett in Owens Eignerkabine. Wir könnten es hinauswerfen und hoffen, daß du weich darauf landest, Hazel d’Ark.«

Ohnesorg blickte hinüber zu Owen. »Interessanter Sinn für Humor, den Eure KI da entwickelt.«

»Ja«, erwiderte Owen gedehnt. »Und wenn ich je herausfinde, wer ihn einprogrammiert hat, werde ich seine Eier in einen Schraubstock klemmen.«

Das Schiff zuckte konvulsivisch, und die Insassen wurden von einer Seite der Lounge auf die andere geschleudert. Der Barschrank kippte einfach um, und überall flogen Glassplitter umher. Eine hohes Kreischen von irgendwo aus dem Heckbereich ertönte, und dann richtete die Sonnenschreiter sich wieder auf. Die Ventilatoren hatten den meisten Rauch aus der Lounge abgesaugt, doch das Feuer nebenan klang näher als je zuvor. Die Wand, an der Owen lehnte, wurde allmählich ungemütlich heiß.

»Also gut«, sagte er schließlich laut. »Was zur Hölle war das gerade?«

»Wir haben die Heckeinheit verloren«, antwortete Ozymandius. »Ich werfe jetzt alles über Bord, das für uns nicht absolut lebensnotwendig ist. Natürlich macht es nicht viel Unterschied, aber mir fällt sonst einfach nichts mehr ein, Owen.«

»Warte einen Augenblick«, befahl Owen. »Was meinst du damit, du wirfst alles über Bord? Willst du etwa sagen, du wirfst all die entsetzlich teuren Sachen aus dem Schiff? Hast du eigentlich eine Ahnung, wieviel mich diese Jacht gekostet hat?«

»Ja. Und sie wußten auch, daß du jeden Preis zahlen würdest. Sie haben dich ganz schön übers Ohr gehauen, Owen.

Wenn wir das hier überleben, kannst du ja immer noch hingehen und dein Geld zurückverlangen. Oder du meldest den Schaden einfach deiner Versicherung.«

»Die verdammte Jacht ist nicht versichert!«

Jakob Ohnesorg wechselte einen Blick mit dem Hadenmann. »Habt Ihr nicht auch gewußt, daß er genau das jetzt sagen würde?«

»Owen«, wandte sich Hazel an den Todtsteltzer. »Halt endlich die Klappe und laß die KI ihre Arbeit tun. Ozymandius kann am besten von uns allen beurteilen, was notwendig ist.«

»Also gut«, gab Owen schmollend nach. »Angenommen, wir überleben durch irgendein Wunder die Landung – was erwartet uns dort unten? Können Menschen überhaupt auf dem Planeten überleben?«

»Atmosphärenzusammensetzung, Luftdruck und Gravitation liegen innerhalb akzeptabler Toleranzen«, antwortete die KI brüsk. »Nichts, mit dem ihr nicht klarkommen würdet. Aber es ist verdammt heiß.«

»Das macht nichts«, sagte Jakob Ohnesorg. »Außerdem haben wir in dieser Angelegenheit ja wohl keine Wahl. Beschreibung der Landmassen, bitte.«

»Hast du das gehört?« sagte Ozymandius. »Er hat ›Bitte‹

gesagt! Ich bin ja so froh, daß wenigstens einer an Bord mit einem Mindestmaß an guten Manieren ausgestattet ist! Landmassen gibt es jedenfalls nur eine einzige: Sie erstreckt sich von Pol zu Pol, und es existiert eine Handvoll von Inlandseen.

Unüblich, wie ich erwähnen möchte. Das gesamte Land ist von Dschungel überzogen, verschiedene Vegetationsdichten.

Überall Anzeichen von Leben, in allen Größen, aber keine Hinweise auf intelligente Bewohner. Kein Raumhafen, keine Städte, keine Ansammlungen künstlicher Bauwerke. Genaugenommen überhaupt keine Strukturen, die ich erkennen könnte. In meinen Datenspeichern befindet sich ein Hinweis auf die Koordinaten eines einzelnen Gebäudes, dank deinem Vater, Owen. Die exakten Koordinaten der Fluchtburg des ursprünglichen Todtsteltzers. Allerdings kann ich nichts dergleichen an der angegebenen Position entdecken. Ich kann nur vermuten, daß sie irgendwie abgeschirmt oder getarnt ist.«

»Die Fluchtburg«, sagte Owen leise. »Das ist der Ort, zu dem er sich zurückzog, als er sich auf das letzte Gefecht gegen die Schattenmänner vorbereitete. Eine alte Legende in meiner Familie, die seit Generationen weitergegeben wird.«

»Und was geschah, als die Schattenmänner schließlich eintrafen?«

»Niemand weiß etwas darüber«, erwiderte Owen. »Keiner von ihnen wurde je wieder gesehen, weder der Erste Todtsteltzer noch seine Gegner. Halte auf die Koordinaten zu, Ozymandius. Bring uns so dicht heran, wie nur irgend möglich.«

Das Schiff schüttelte sich erneut, dann stabilisierte es sich wieder. »Das waren die letzten Überreste der Außenhülle, Owen«, meldete Ozymandius. »Jetzt bleibt uns nur noch die Basiskonstruktion. Ich habe uns in einen Gleitflug versetzt und den Abstieg ein wenig stabilisiert, aber unglücklicherweise gibt es ein neues Problem, Owen.«

»Sag schon!« forderte Owen die KI auf.

»Ich kann nicht weiterhin das Schiff zusammenhalten und gleichzeitig für eine sichere Landung sorgen. In dem Augenblick, wo ich die Schiffssysteme vernachlässige, um eine Landung zu berechnen, wird alles so schnell auseinanderfallen, daß dir davon schwindlig wird. Aber wenn ich andererseits keinen exakten Plan für die Landung ausrechne, werden wir uns quer über den Dschungel verteilen. Ich bin offen für Vorschläge, Owen. Vielleicht sollten wir alle beten.«

Owen bemerkte, daß sich alle Blicke auf ihn gerichtet hatten. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, meine Damen und Herren. Ich bin lediglich der Eigentümer der Sonnenschreiter.

Ich habe keinen Schimmer, wie man sie steuert. Das war schließlich Ozymandius’ Aufgabe. Hazel, Ihr seid doch Pilotin. Warum übernehmt Ihr nicht das Steuer?«

»Weil ich nicht qualifiziert bin, diesen Trümmerhaufen hier zu manövrieren. Und in einer Situation wie dieser ist zu wenig Wissen gefährlicher als gar keines. Wie steht’s mit dir, Ruby?«

Die Kopfgeldjägerin schüttelte den Kopf. »Genau das gleiche. Wir benötigen einen Experten.«

»Dann schätze ich, daß ich an der Reihe bin«, meldete sich Jakob Ohnesorg. »Wie immer. Ich habe zu meiner Zeit alles geflogen, was sich irgendwie bewegen konnte. Warum sollte die Sonnenschreiter anders sein? Also gut, dann wollen wir uns mal drangeben, den Tag zu retten.«

»Das wird nicht nötig sein«, widersprach Tobias Mond mit seiner nichtmenschlichen, summenden Stimme. »Ich bin ein Hadenmann. Ich besitze Erfahrung als Pilot, und ich kann über mein Interface direkt mit den Schiffssystemen kommunizieren. Ihr habt seit Jahren kein Schiff mehr geflogen, Jakob, und Ihr seid nicht mehr der, der Ihr einmal wart – ohne Euch beleidigen zu wollen. Folglich bin ich von uns beiden eher geeignet als Ihr.«

»Ich soll mein Leben einem verdammten Hadenmann anvertrauen, der glaubt, er könnte mit Maschinen reden?« kreischte Hazel. »Großartig! Wunderbar! Warum schieße ich mir eigentlich nicht direkt in den Kopf? Dann ist es wenigstens vorbei!«

»Hört auf, Euch ständig zu beschweren, oder ich helfe Euch noch dabei!« sagte O wen. »Mond, wir sind in Euren Händen.«

Der Hadenmann nickte kurz. Auf seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Er schloß die leuchtendgoldenen Augen, und sein Atem verlangsamte sich, bis er kaum noch wahrnehmbar war. Owen beobachtete ihn genau. Es drängte ihn verzweifelt danach, etwas zu unternehmen, aber außer Stillhalten und Hoffen gab es nichts, das er hätte tun können. Plötzlich erklang die Stimme des Hadenmanns in ihren Kommimplantaten.

»Ich habe mich in die Navigationslektronen eingeklinkt. Haltet Euch an irgend etwas fest! Der Ritt könnte ein wenig unruhig werden.«

Das Schiff krängte schwer von einer Seite zur anderen, als die Maschinen plötzlich röhrend wieder zum Leben erwachten. Die Kabinenbeleuchtung flackerte kurz und wurde dunkel; dann barst eine Seitentür. Im benachbarten Abteil tobte ein Inferno, und sengende Stichflammen zuckten durch die Tür. Owen warf sich zur Seite, trotzdem versengte die Hitze der Flammen sein ungeschütztes Gesicht und seine Hände.

Jakob Ohnesorg versuchte die Tür zuzuwerfen, aber die Hitze trieb ihn zurück. Hazel und Ruby hoben den Barschrank auf und benutzten ihn als Schild, als sie gegen die Flammen vorrückten, doch keine der beiden konnte den Schrank lange genug loslassen, um den Türgriff zu erreichen. Owen stürzte vor und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie fiel krachend zu. Hazel und Ruby verkeilten den Barschrank, damit die Tür nicht wieder auffliegen konnte. Dann fielen alle drei zu Boden, als das Schiff sich erneut aufbäumte.

Owen musterte besorgt seine Hände. Sie waren gerötet und schmerzten, aber sie schienen nicht wirklich verbrannt zu sein. Glück gehabt. Sein Kopf ruckte hoch, als aus dem Brüllen der Maschinen ein unregelmäßiges Stottern wurde, bevor sie ganz erstarben. Die Sonnenschreiter fiel wie ein Stein vom Himmel. Owens Magen machte einen Satz, und er suchte nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Die plötzliche Stille war gespenstisch. Der Sturz schien bis in alle Ewigkeit zu dauern. Dann erwachten die Maschinen wieder zum Leben und verlangsamten den Fall mit der Sanftheit eines Trittes in den Unterleib. Die Sonnenschreiter wurde langsamer und langsamer, und dann fielen die Antriebe erneut aus. Owen wußte, daß jetzt der letzte Rest von Energie verbraucht war.

Aber bevor der freie Fall wieder einsetzen konnte, krachte die Sonnenschreiter in das Blätterdach des Dschungels von Shandrakor, brach durch die Wipfel der Bäume und prallte schließlich am Boden auf. Die Kollision riß Owen in die Luft und warf ihn schwer gegen die Kabinenwand. Das war das letzte, was er von der Landung mitbekam.

Sein Kopf schmerzte. Ganz in der Nähe hörte er das Prasseln von Flammen, und irgendwie wurde ihm bewußt, daß das von Bedeutung war. Owen öffnete mühsam die Augen und verschwendete seinen Atem mit ein paar ausgiebigen Flüchen, dann zwang er sich auf die Beine. Der Kabinenboden lag ruhig unter ihm, vielleicht ein wenig schief, aber dafür hatte er jetzt wacklige Knie. Er stampfte mit den Füßen auf und schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Owen blickte sich um und hustete krampfhaft, als der dichte Qualm seine Lungen reizte. Die Tür zum Nachbarabteil war erneut aufgesprungen, und die Überreste des Barschranks lagen auf der gegenüberliegenden Wand am Boden. »Oz! Rede mit mir! Statusbericht!«

Oz antwortete nicht. Es herrschte Totenstille, wenn man vom Prasseln der hungrigen Flammen einmal absah. Owen hörte, wie jemand dicht neben ihm hustete. Er stolperte durch den Rauch vorwärts, bis er auf Hazel stieß. Sie war damit beschäftigt, die halb bewußtlose Ruby Reise aufzurichten. Owen packte Ruby an ihrer Ledermontur und half Hazel, sie zum Ausgang zu schleppen. Mit einem Tritt öffnete er die Tür. In dem dahinter liegenden Korridor brannte eine spärlich flackernde Notbeleuchtung, und die Luft schien ein wenig sauberer.

»Immer geradeaus, und Ihr kommt zur Hauptschleuse«, sagte Owen und unterdrückte mühsam seinen Hustenreiz. »Ihr bringt Eure Freundin nach draußen, und ich hole die anderen. Beeilt Euch!«

Hazel schnarrte eine Antwort, aber Owen hatte sich bereits wieder umgedreht. Er zog seinen Umhang vor Mund und Nase und stürzte sich zurück in den Qualm, der inzwischen bereits so dick geworden war, daß er kaum noch seine Hand vor Augen sehen konnte. Owen fand Jakob Ohnesorg, indem er beinahe über ihn gestürzt wäre. Der alternde Rebell kroch über das Deck, weil unten am Boden der Rauch weniger dicht war. Er hatte anscheinend jeglichen Orientierungssinn verloren. Owen half ihm auf die Beine und führte ihn zum Ausgang. Er schickte Jakob hinter Hazel und Ruby her und zögerte, als er wieder vor dem dichten Vorhang aus Qualm stand, der in die Kabine führte. Tobias Mond war noch immer dort drin, doch Owen wußte nicht, ob er es schaffen würde, sich noch einmal durch den Rauch zu kämpfen. Seine Lungen schmerzten, und sein Kopf stand kurz davor zu platzen. Wenn er sich noch einmal in die Kabine wagte, dann bestand die nicht geringe Chance, daß er es nicht mehr zurück nach draußen schaffen würde. Und Mond war schließlich nur ein Hadenmann. Genau wie Owen nur ein Gesetzloser war. Er fluchte leidenschaftlich und stürzte sich erneut in den Qualm.

Den Hadenmann zu finden war leichter, als Owen gedacht hatte. Er war noch immer dort, wo Owen ihn zuletzt gesehen hatte: eingekeilt in seiner Ecke sitzend. Owen versuchte ihn hochzuheben, doch das Gewicht des Mannes war wirklich enorm. Er konnte ihn kaum bewegen. Aufrüstungen und Implantate, ganz ohne Zweifel. Der Todtsteltzer versuchte es erneut – und schaffte es wieder nicht. Owen kämpfte mit der reglosen Gestalt und verfluchte sie, wenn er nicht gerade gegen seinen Husten kämpfte. Die Luft wurde allmählich knapp.

Aber er war nicht bis hierher gekommen, um den Hadenmann dann doch zurückzulassen und allein zur Tür zu fliehen. Er war schließlich ein Todtsteltzer, oder? Der Zorn durchflutete ihn, und neue Kraft strömte in seine Muskeln. Owen zog Mond auf die Beine, legte sich seinen Arm um die Schulter und schleppte sich mit seiner Last in die Richtung, in der er den Ausgang vermutete. Der Rauch war inzwischen überall, dick und undurchdringlich. Es war, als würde er über den Grund eines großen grauen Meeres waten. Owen spürte die Hitze der Flammen rechts und links von sich mehr, als daß er sie sah. Und dann war Hazel plötzlich bei ihm, half ihm mit seiner Last, und gemeinsam schafften sie den bewußtlosen Hadenmann durch die Tür und den engen Korridor nach draußen, wo die Luft klarer wurde, und von dort in die Hauptschleuse der Sonnenschreiter. Hinter ihnen krachte die Tür ins Schott. Owen mußte sich an die Wand stützen, als der Zorn aus ihm wich, und das letzte Quentchen Kraft schien aus seinen Beinen zu schwinden. Er ließ Mond unsanft zu Boden fallen und setzte sich für eine Weile neben ihn, während er sich die Seele aus dem Leib hustete. Ein paar Minuten später hatte er sich ausreichend erholt, um den Kopf zu heben und sich umzusehen. Owen war nicht überrascht, als er Hazel direkt neben sich am Boden erblickte. Sie sah beinahe so schlecht aus, wie er sich fühlte. Ruby Reise und Jakob Ohnesorg saßen ein Stück weiter weg. Sie hielten ihre Disruptoren in den Händen, und obwohl beide ein wenig blaß wirkten, hielten sie die Außentür der Schleuse mißtrauisch im Auge.

Tobias Mond lag flach auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Owen schniefte.

»Nette Landung, Mond. Seid Ihr sicher, daß Ihr uns nicht noch ein wenig mehr schütteln konntet?«

Er brach ab, als ihm zu Bewußtsein kam, wie rauh der Klang seiner Stimme war. Seine Kehle fühlte sich an, als hätte jemand sie mit Stahlwolle abgerieben. Hazel warf ihm einen spöttischen Blick zu.

»Wir sind unten und leben noch. Alles andere ist purer Luxus. Hast du eine Idee, wieso der Hadenmann noch außer Gefecht ist? Er scheint keinerlei Verletzungen zu haben.«

»Fragt mich nicht«, erwiderte Owen. »Auch Ozymandius gibt keine Antwort. Möglicherweise haben beide das Bewußtsein verloren, als die Computersysteme endgültig zusammenbrachen?«

»Genaugenommen spare ich Energie«, meldete sich die KI durch Owens Komm-Implantat. »Mond hat die Brennstoffzellen der Sonnenschreiter ziemlich geleert, um das Schiff zu landen. Ich muß mich für eine Weile abschalten, Owen. Das Schiff ist ein einziges Chaos, und ich fühle mich auch nicht besser. Die Sonnenschreiter wird nirgendwo mehr hinfliegen, bevor sie nicht in einer Werft überholt und repariert wurde.

Wir sitzen hier fest. Du solltest lieber beten, daß jemand in der Todtsteltzer-Fluchtburg gastfreundliche Gefühle für uns hegt – es sei denn, du hast dich in diesen Planeten verliebt und planst, dich hier niederzulassen.«

»Wie schlimm sind deine Beschädigungen?« fragte Owen.

»Frag mich nicht. Du wirst es nicht wissen wollen. Aber ihr seid nicht weit von der Fluchtburg entfernt. Einen dreiviertel Kilometer in nord-nordwestlicher Richtung. Normalerweise nicht mehr als ein Spaziergang, aber hier ist nichts normal.

Für den Fall, daß du es noch nicht bemerkt hast: Dort draußen ist es heiß wie in einem Backofen, und der Tag ist noch jung.

Will sagen, daß es noch heißer wird.«

»Was ist mit der Luft?« fragte Hazel.

»Eure Lungen werden ganz schön weh tun, aber die Luft wird niemanden töten. Da draußen gibt es eine Menge andere Dinge, die sich darum kümmern werden. Im Augenblick nimmt die ortsansässige Fauna noch keine Notiz von euch, aber niemand kann sagen, wie lange noch. Ich empfange von überall Signale von Lebewesen in jeder nur vorstellbaren Größe. Aber ich kann euch nicht mit Einzelheiten versorgen; die Sensoren sind ziemlich mitgenommen.«

»Irgendwelche Empfehlungen?« fragte Jakob Ohnesorg.

»Ja. Erschießt euch selbst, und ihr habt es hinter euch. Dort draußen herrscht ein erbarmungsloser Kampf jeder gegen jeden. Der ganze verdammte Planet scheint ein riesiges Schlachthaus zu sein. Keinerlei Anzeichen von Intelligenz oder Kooperation. Es gibt offenbar nur ein einziges Gesetz: Wenn es sich bewegt, dann friß es. Erinnert mich irgendwie an imperiale Politik, nur in kleinerem Maßstab als gewöhnlich.«

»Netter Planet, zu dem du uns da gebracht hast, Todtsteltzer«, sagte Ruby Reise.

Owen dachte angestrengt nach. Der einzig sinnvolle Weg lag auf der Hand, aber er hoffte irgendwie, daß ihm etwas weniger Selbstmörderisches einfallen würde. Unglücklicherweise schien er sich in eine Ecke manövriert zu haben, taktisch gesehen. Er blickte nacheinander seine Begleiter an und fragte sich dabei, ob sein Gesichtsausdruck genauso grimmig war wie der ihre.

»Wir können jedenfalls nicht hierblieben«, sagte er schließlich unverblümt. »Die Sonnenschreiter fällt auseinander, und ich schätze, es liegt in unserem eigenen Interesse, einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen uns und das Schiff zu bringen, bevor es kritisch wird. Und in Anbetracht der unfreundlichen und ausgemacht mörderischen Kreaturen ringsum denke ich, daß unsere einzige Chance darin besteht, so schnell wie möglich zur Fluchtburg aufzubrechen und zu sehen, ob wir dort Zuflucht finden können.«

»Warte mal, hab’ ich dich richtig verstanden?« unterbrach ihn Ruby mit ihrer kalten, leidenschaftslosen Stimme. »Wir sollen uns den Weg durch einen Kilometer feindlicher Kreaturen hin zu einer Ruine bahnen, die seit Jahrhunderten verlassen ist? Wenn sie überhaupt noch existiert! Das ist unser Plan?«

»Genau. Ihr habt ihn verstanden«, erwiderte Owen.

»Also gut«, sagte Ruby. »Ich bin dabei. Ein wenig Übung kann nicht schaden.«

Owen bedachte sie mit einem strengen Blick, aber die Kopfgeldjägerin hatte ihre Worte anscheinend ernst gemeint.

»Vielleicht gibt es doch eine gute Nachricht«, fuhr er fort.

»Nach den Aufzeichnungen der Familie ist die Todtsteltzer-Fluchtburg ein massives Gebilde mit beträchtlichen Verteidigungsanlagen. Angenommen, wir schaffen es, an diesen Anlagen vorbeizukommen, dann sollten wir meinen Vorfahren dort finden. Er liegt in einem Stasisfeld. Wenn es uns gelingt, ihn zu wecken, bin ich sicher, daß er uns helfen wird.«

»Eine ganze Menge von ›wenn‹ und ›angenommen‹ in deinen Worten«, sagte Hazel. »Ich hab’ kein Vertrauen mehr in Legenden. Als wir das letzte Mal nach einer gesucht haben, fanden wir den hier…« Sie warf einen scharfen Blick zu Jakob Ohnesorg, der beleidigt zurückfunkelte. Hazel rümpfte die Nase und wandte sich wieder zu Owen. »Komm schon, Todtsteltzer! Wie stehen unsere Chancen, ehrlich?«

»Nicht besonders gut«, gestand Owen. »Aber die Alternativen sind noch schlechter.«

»Irgendwie hab’ ich das in letzter Zeit ziemlich oft gehört«, sagte Hazel. »Genaugenommen, seitdem ich mit dir zusammen bin. Ich hätte zu Hause bleiben und Buchhalterin werden sollen, wie Mutter es wünschte. Es gibt immer Arbeit für Buchhalter, und man schießt nur selten auf sie. Oder setzt sie auf wilden Planeten aus, deren einheimische Lebensformen keine Tischmanieren besitzen.«

»Oh? Ich weiß nicht so recht«, fiel ihr Ruby Reise ins Wort.

»Ich kenne eine ganze Menge Buchhalter, die ich mit Vergnügen auf einem Planeten wie diesem ausgesetzt hätte. Genau wie die meisten Rechtsanwälte.«

Owen warf einen Blick zu Tobias Mond, der noch immer flach auf dem Rücken lag und sich nicht rührte. »Er sollte besser bald zu sich kommen«, sagte er tonlos. »Ich will nämlich verdammt sein, wenn ich diesen schweren Kerl durch einen Kilometer mörderischen Dschungel schleppe.«

»Wir könnten ihn als Schild benutzen«, schlug Ruby vor.

»Oder vielleicht als Rammbock.«

»Wenn ich nicht so verdammt gutmütig wäre, dann würde ich einfach bewußtlos bleiben und mich von Euch tragen lassen«, sagte Tobias Mond, ohne den Kopf zu heben oder die Augen zu öffnen.

Owen sah streng zu dem Hadenmann hinab. »Der Lauscher an der Wand…«

»Ich glaube, es geht wieder«, sagte Mond und richtete sich auf. »Alles scheint soweit zu funktionieren. Ich hoffe nur, wir finden in der Fluchtburg ein paar Energiekristalle. Ich habe den größten Teil meiner Reserven bei meinen Bemühungen aufgebraucht, die Sonnenschreiter in einem Stück zu landen.

Keine schlechte Landung, wie ich übrigens bemerken möchte.«

»Ich hasse die Vorstellung, bei einer deiner schlechteren an Bord zu sein«, erwiderte Ruby Reise sarkastisch.

»Ihr seid am Leben, oder nicht?« fragte Mond.

»Genug geschwatzt«, unterbrach Owen die zynische Unterhaltung. »Es wird Zeit, daß wir uns in Bewegung setzen. Oz, wieviel Zeit bleibt uns noch, bevor die Reaktoren der Sonnenschreiter schmelzen?«

»Ich würde mich schleunigst aus dem Staub machen«, sagte die KI. »Ich muß mich jetzt allmählich abschalten, Owen. Ihr müßt ohne mich zurechtkommen. Wenn du kompatible Rechner in der Fluchtburg findest, dann überspiele mich bitte in das System, ansonsten bist du alleine, Owen. Versuch, dich nicht umbringen zu lassen.«

»Ich werde mein Bestes geben«, erwiderte Owen. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber ihm fehlten plötzlich die Worte.

Ozymandius war seit seiner frühen Kindheit immer bei ihm gewesen. Er hatte noch nie ohne die Hilfe der KI zurechtkommen müssen. »Ich komme zurück, Oz. Auf die eine oder andere Weise, ich komme zurück.«

»Wenn wir mit der rührseligen Verabschiedungszeremonie fertig sind, können wir dann vielleicht endlich aufbrechen?« fragte Ruby Reise zynisch. »Schließlich bist du derjenige, der gesagt hat, daß das Schiff in die Luft fliegen wird, oder?«

Owen nickte kurz angebunden und trat vor die Außentür der Schleuse. »Oz, kannst du erkennen, ob uns draußen eine häßliche Überraschung erwartet?« Keine Antwort. Owen biß sich auf die Unterlippe. Jetzt war er wirklich auf sich allein gestellt. Er zog seine Disruptorpistole und legte das Ohr an die metallene Luke. Die Oberfläche war unangenehm warm. Das Feuer schien offensichtlich näher zu kommen. Er konnte nichts hören. Das Metall war zu dick. Ein vorbeikommender Investigator hätte eine ganze Blaskapelle abschlachten können, und man hätte nichts gehört. Owen sah zu den anderen.

»Haltet Euch bereit. Hazel, stellt Euch dort drüben hin, neben die manuellen Kontrollen. Wenn ich Euch zunicke, dann öffnet die Luke.«

Hazel ging zu den Kontrollen, und jeder zog seine Pistole oder sein Schwert, je nachdem, womit er besser umgehen konnte. Sie sahen müde aus; trotzdem waren sie gespannt und vorbereitet auf alles, was dort draußen warten mochte. Owen wünschte sich, bei Gelegenheit schwere Kampfanzüge und Waffen an Bord der Sonnenschreiter geschafft zu haben, aber jetzt war es zu spät, und damals hatte er nicht die Notwendigkeit eingesehen. Sein Schiff war schließlich nur eine Vergnügungsjacht gewesen. Es war ein Fehler, der ihm mit Sicherheit nie wieder unterlaufen würde – vorausgesetzt, er würde dieses Chaos halbwegs intakt überleben. Das Universum war kein freundlicher Ort. Owen hob den Disruptor und warf einen letzten Blick zu seinen Kameraden.

»Alles bereit? Gut. Denkt daran, niemand stürzt nach draußen, wenn die Schleuse sich öffnet. Wir werden die Sache langsam und mit größter Vorsicht angehen, bis wir wissen, was uns draußen erwartet.«

»Ist er immer so?« fragte Ruby Hazel.

»Meistens«, erwiderte Hazel. »Immerhin war er mal ein Lord. Ich schätze, er hat seine Großspurigkeit zusammen mit den abstehenden Ohren geerbt.«

Owen entschloß sich, so zu tun, als hätte er nichts gehört.

»Hazel, öffnet die Luke.«

Ein besorgniserregendes Knirschen ertönte, und eine Weile geschah gar nichts. Dann glitt die Tür zur Seite, und blendend purpurnes Licht flutete in die Schleusenkammer, gemeinsam mit der schweren Feuchte der Dschungelatmosphäre. Es roch nach verwesendem Fleisch. Und plötzlich schien der gesamte Planet zugleich durch die Schleusentür zu drängen. Große, wilde Gestalten mit furchterregenden Zähnen und Klauen und funkelnden Augen, die um das Vorrecht kämpften, als erste in die Schleuse der Sonnenschreiter zu stürmen. Kleinere Wesen, die anscheinend nur aus Zähnen und Klauen bestanden, strömten in wahren Wogen über die Schwelle der Schleuse.

Fliegende Ungeheuer, peitschende Tentakel von Pflanzen, mit bösartigen, wahrscheinlich giftigen Stacheln – und alle, wirklich alle versuchten gleichzeitig, in die Schleuse einzudringen.

Schreie und Kreischen und markerschütterndes Heulen erfüllte die Luft und warf sein ohrenbetäubendes Echo in die beengte Kammer der Luftschleuse.

Ein langes Tentakel stürzte sich auf Owen, und er schoß in einem Reflex. Der Energiestrahl traf das Wesen aus allerkürzester Distanz. Sein Kopf explodierte und überschüttete den Todtsteltzer mit faulig riechendem Blut. Eine Kreatur mit riesigen, klauenbewehrten Händen und einem Maul, das größer war als Owens Kopf, zog den Tentakelleichnam aus der Kammer und warf sich selbst auf Owen. Er begegnete ihr mit dem Schwert in der Hand, und noch mehr Blut spritzte, als die Klinge tief in das ledrige Fleisch eindrang.

»Schließt die Luke«, kreischte er. »Schließt die verdammte Luke!«

Mehrere Disruptoren feuerten beinahe gleichzeitig, aber die Bestien stürmten ohne Unterlaß auf die Schleuse an, geifernd in ihrer Gier nach neuer Beute. Die Schleuse war plötzlich voll von schrecklichen Lebewesen und blitzenden Schwertklingen. Hazel kämpfte sich zum Kontrollpaneel zurück. Ein langes Tentakel peitschte durch die Luft, ringelte sich um Tobias Mond und riß ihn am Boden liegend nach draußen in die Wildnis.

»Laßt die Schleuse offen!« kreischte Owen. »Sie haben Mond erwischt! Jemand muß ihm helfen!«

»Soll er sich selbst helfen«, schnappte Jakob Ohnesorg, während er geschickt eine schleimige Kreatur zerhackte, die anscheinend zu dumm war zu erkennen, daß sie eigentlich schon tot sein müßte. »Ich hab’ hier meine eigenen Probleme!«

Hazel schaffte es, den Kontrollhebel mit dem Ellbogen umzulegen, und die Tür glitt zu. Das schwere Stahlschott bewegte sich gnadenlos in seiner Führung voran und schnitt langsam, aber unaufhaltsam durch alles hindurch, das nicht rechtzeitig aus dem Weg kam. Der Durchgang wurde immer enger, und die größeren Räuber waren gezwungen, sich nach draußen zurückzuziehen. Schließlich war die Luke dicht, und die kleineren Kreaturen saßen im Innern in der Falle. Owen und Ohnesorg kämpften Rücken an Rücken und mähten die Bestien reihenweise nieder, die sich noch immer in besinnungsloser Wut auf sie stürzten. Ohnesorg kämpfte verdammt gut.

Jedenfalls für einen alten Mann, dachte Owen. Auch Hazel und Ruby standen Rücken an Rücken und machten blutiges Hackfleisch aus allem, was sich zu nah an die beiden heranwagte. Eine Kreatur nach der anderen fiel den blitzenden Klingen zum Opfer, und schließlich war das Gemetzel vorbei.

Owen senkte zögernd das Schwert und lehnte sich nach Luft ringend an die Schotte. Plötzlich war es in der Schleuse totenstill. Die Luft dick war vom Geruch von Blut und Tod. Überall lagen Kadaver, und überall klebte Blut. Hinter Owen erbrach sich Jakob Ohnesorg. Hazel und Ruby lehnten sich stützend gegeneinander und blickten gehetzt mit noch immer erhobenen Waffen um sich.

»Mond«, sagte Owen mit rauher Stimme. »Er ist noch immer draußen!«

»Dann ist er tot«, entgegnete Hazel. »Und wir sind es ebenfalls, wenn wir dumm genug sind und rausgehen, um nach ihm zu suchen.«

»Nicht unbedingt«, widersprach Ruby. »Er ist immerhin ein Hadenmann.«

Ihre Köpfe ruckten scharf herum, als von irgendwo ganz in der Nähe das Geräusch von Energiestrahlen an ihre Ohren drang.

»Kann es sein, daß das Imperium uns schon aufgestöbert hat?« fragte Hazel ungläubig.

»Das ist nicht das Imperium«, erwiderte Owen. »Oz hat berichtet, daß wir auf dem Planeten ganz allein sind. Ich schätze, das sind unsere eigenen Kanonen. Die Kanonen der Sonnenschreiter. Deshalb können wir sie auch bei geschlossener Schleusenluke hören!«

»Aber – wer feuert sie denn ab?« fragte Ohnesorg. »Euer Lektron hat sich doch abgeschaltet, oder nicht? Kann es sein, daß Ihr uns etwas verheimlicht, Todtsteltzer?«

»Ozymandius, bist du das?« Owen wartete auf eine Antwort, aber in seinem Komm-Implantat blieb alles still. Plötzlich verstummten die Bordgeschütze wieder, und eine unheimliche Stille breitete sich aus. »Ich werde draußen nachsehen«, entschied Owen.

»Meinst du, daß das eine gute Idee ist?« fragte Hazel.

»Nach dem, was beim letzten Mal geschehen ist, als ich die Luke geöffnet habe?«

»Die Geschütze haben sicher ein wenig freien Raum rings um das Schiff geschaffen«, widersprach Owen.

»Und wenn nicht?«

»Ist mir verdammt noch mal egal. Mond ist da draußen. Ein Todtsteltzer läßt seine Leute nicht im Stich!«

Er legte den Kontrollhebel für die Außentür um, bevor jemand weitere Einwände erheben konnte, und sie richteten ihre Waffen auf den sich vergrößernden Spalt. Erneut flutete purpurnes Licht in die Kammer, zusammen mit dem Gestank des Dschungels. Selbst das Licht hat die Farbe von Blut, dachte Owen. Zu was für einem schrecklichen Ort habe ich uns nur geführt?

Sie bereiteten sich auf eine neuerliche Invasion blutrünstiger Raubtiere und Pflanzen vor, aber zu ihrer Überraschung blieb alles ruhig. Die Luke öffnete sich in ihrer gesamten Breite, und Owen spähte wachsam nach draußen. Wohin er auch sah, überall lagen tote Kreaturen, zerrissen und verbrannt und am Ort ihres Todes übereinander gefallen, und nirgendwo auch nur das kleinste Anzeichen von Leben oder Bewegung. Der umgebende Dschungel bildete eine kompakte Masse sich stechender Farben, meist jedoch dunkler Rottöne, und der Himmel war zum größten Teil hinter einem dichten Blätterdach verborgen. Überall wuchsen mächtige Bäume, und schwere Ranken versperrten die Zwischenräume, dornenstarrend und überzogen mit prachtvollen Blüten. Owen bemerkte aus den Augenwinkeln eine Bewegung zwischen den Leichenhaufen.

Instinktiv riß er seinen Disruptor hoch, bevor er erkannte, wer es war. Tobias Mond. Der Hadenmann lehnte am Rumpf der Sonnenschreiter, bis zu den Hüften in niedergemetzelten Feinden, von oben bis unten blutbesudelt und ganz offensichtlich höchst zufrieden mit sich und der Welt.

Owen sprang auf den Boden unter dem Schiff und kletterte über Haufen von Kadavern aller Größen und Formen zu dem Hadenmann. Die schweren Bordgeschütze der Sonnenschreiter hatten die Wesen buchstäblich in Fetzen geschossen. Auf so kurze Entfernung hatten die Bestien nicht die Spur einer Chance gehabt, aber Owen konnte sich trotzdem nicht dazu hinreißen, auch nur einen Hauch von Mitleid zu empfinden.

Der Gestank war entsetzlich. Owen gab sich die größte Mühe, nur durch den Mund zu atmen. Schließlich kam er bei Mond an, und der Hadenmann nickte ihm gelassen zu.

»Wurde auch allmählich Zeit für ein wenig Frühsport. Ich schätze, mir gefällt die Gegend.«

»In Ordnung«, sagte Owen. »Was ist hier draußen geschehen?«

»Ich habe mich über mein Komm-Implantat in die Schiffssysteme geschaltet, die Lektronen überbrückt und den Feuerleitstand unter meine Kontrolle gebracht. Und dann habe ich die Kanonen alles abschießen lassen, was sich nur bewegte, während ich mich unter den Leichen versteckte. Wirklich nicht besonders schwierig, wißt Ihr?«

Owen blickte dem Hadenmann in die Augen. »Das ist vollkommen unmöglich! Selbst ohne Ozymandius hätten die Sicherheitssysteme der Sonnenschreiter Euch abwehren müssen!«

»Ich habe sie abgeschaltet«, entgegnete Mond. »Es war wirklich nicht besonders schwierig. Ich bin ein Hadenmann, vergeßt das nicht.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß Hadenmänner zu so was fähig sind!«

»Es gibt noch eine ganze Menge anderer Dinge, von denen Ihr keine Ahnung habt.«

Owen fiel keine Antwort ein, und so wandte er sich um und gestikulierte den anderen, herbeizukommen. Sie näherten sich langsam und zögernd durch die Haufen von Leichen, während sie den umgebenden Dschungel wachsam im Auge hielten.

Owen konnte sie gut verstehen. Er selbst spürte die gierigen Blicke unzähliger unsichtbarer Kreaturen auf sich ruhen. Die Schiffsgeschütze hatten die Bestien vorsichtig werden lassen, doch niemand konnte sagen, wie lange dieser Zustand anhalten würde.

»Was hast du gesagt, wie sich dieses Höllenloch schimpft?« fragte Hazel.

» Shandrakor«, erwiderte Owen geistesabwesend. Seine Blicke streiften noch immer wachsam über den Dschungel ringsum.

»Hierher floh mein Vorfahre, als sich das Imperium gegen ihn wandte und die Schattenmänner auf seine Spur setzte.«

»Wer waren die Schattenmänner?« fragte Ohnesorg, noch immer ein wenig außer Atem nach der Klettertour über die herumliegenden Kadaver.

»Das weiß niemand mehr«, antwortete Owen. »Es scheint, als hätten die Menschen damals nicht viel über sie gesprochen, weil sie wußten, daß es ihnen nicht guttun würde. Die Schattenmänner waren die Bluthunde des Imperators: unaufhaltsam, tödlich und niemals besiegt. Sie waren ziemlich widerlich und auch noch stolz darauf. Sie verfolgten meinen Vorfahren bis hierher, ganz am Rand des Imperiums, und dann hörte man nie wieder etwas von ihnen. Keiner kehrte jemals von Shandrakor zurück, egal wie viele Truppen der Imperator hinterhersandte. Schließlich gab er auf und wandte sein Interesse anderen Planeten zu, und der Name Shandrakor wurde von niemandem je wieder öffentlich ausgesprochen.

Seine Koordinaten gerieten in Vergessenheit, genau wie alle anderen Einzelheiten auch, und am Ende überlebte nur noch der Name in Form des Schlachtrufes meiner Familie. Mehr wußten wir auch nicht, und für lange, lange Zeit war Shandrakor nichts weiter als eine Legende, die hier am äußersten Ende des Imperiums, am Rand des Abgrunds, versteckt lag.

Vergessen von jedermann, mit Ausnahme einiger weniger hartnäckiger Historiker wie mir selbst. Wir befinden uns hier so weit vom Imperium entfernt, wie man nur kommen kann, ohne die Dunkelwüste zu durchqueren.«

»Vor einiger Zeit fand ich das ja noch tröstlich«, sagte Hazel. »Aber das hat sich inzwischen geändert. Das ist ein verdammt brutaler Planet, zu dem du uns geführt hast, Todtsteltzer. Menschen haben hier nichts zu suchen.«

»Mir gefällt’s«, widersprach Ruby Reise ihrer Freundin.

»Es hat irgendwie Stil.«

»Wir sollten uns zur Fluchtburg aufmachen, solange es noch ruhig ist«, sagte Ohnesorg. »Ihr habt nicht rein zufällig transportable Schutzschirme an Bord, Owen?«

»Nur einen einzigen. Er ist groß genug, um uns allen Deckung zu geben, während wir uns durch den Dschungel bewegen, aber wenn ich mich recht entsinne, sind seine Energiezellen bereits ziemlich erschöpft.«

»Du steckst aber wirklich voller guter Neuigkeiten, was?« maulte Ruby Reise. »Reichen die Zellen nicht aus, um uns bis zu dieser Fluchtburg zu decken?«

Owen zuckte unglücklich die Schultern. »Keine Ahnung. Es ist nur ein Kilometer, aber wer weiß schon, wie lange wir durch diesen dichten Dschungel dazu benötigen? Vielleicht reicht die restliche Energie, vielleicht auch nicht.«

Mond grinste. »Gut. Noch mehr Übungen.«

Owen warf ihm einen bösen Blick zu. Ihn beschlich das entnervende Gefühl, daß der Hadenmann meinte, was er sagte. Gegen ihn und Ruby Reise fühlte er sich allmählich entschieden unterlegen. Und außerdem kam ihm nach und nach der Verdacht, daß er der letzte in der Gruppe war, der noch nicht den Verstand verloren hatte. »Ich hole den Schirm, und dann sehen wir besser zu, daß wir aufbrechen. Die Sonnenschreiter wird irgendwann in die Luft fliegen, und außerdem haben wir keine Ahnung, wie lang die Tage hier dauern.

Ich habe das dumpfe Gefühl, daß es wirklich keine gute Idee ist, noch im Dschungel zu stecken, wenn die Dämmerung einbricht. Ich hasse den Gedanken daran, welche Kreaturen hier erst in der Dunkelheit umherstreifen.«

»Vielleicht gehen einfach alle nur schlafen?« sagte Hazel.

Owen hob eine Augenbraue. »Würdet Ihr das tun?«

Das wenige Licht, das durch das hohe Blätterdach bis auf den Boden drang, war von einem düsteren Ziegelrot, als würde die Luft selbst von der aufsteigenden Hitze des Tages zu glühen beginnen. Schweiß strömte Owen aus allen Poren, während er sich einen Weg durch das Unterholz zwischen den dicht an dicht stehenden Urwaldriesen des Dschungels von Shandrakor bahnte. Er hätte sich auch zurückfallen und dem Hadenmann die Aufgabe überlassen können. Mond schien die Hitze überhaupt nichts auszumachen. Sein Schwertarm hob und senkte sich wie eine Maschine, ohne das geringste Anzeichen von Ermüdung. Aber Owen hatte seinen Stolz und bestand darauf, seinen Teil zu übernehmen. Allmählich begann er sowieso, sich wie das schwächste Glied der Gruppe zu fühlen.

Jeder der anderen war entweder ein erstaunlicher Kämpfer, ein Psychopath oder eine lebende Legende. Oder eine beliebige Kombination davon. Owen war daran gewöhnt, immer der Beste zu sein. Er war ausgebildet und erzogen worden, Herr jeder beliebigen Situation zu sein, Anführer und Inspiration jeder Gruppe. Aber keiner seiner aristokratischen Lehrmeister hatte ihn auf ein Leben als Gesetzloser vorbereitet, ständig auf der Flucht und von allen gejagt. Also ignorierte er nach Kräften die Hitze, den Schweiß und seine schmerzenden Muskeln und hielt durch. Owen hackte einen Weg durch das dichte Gestrüpp und versuchte nicht daran zu denken, was das Holz mit seiner Klinge anstellte.

Die anderen blieben dicht hinter ihm. Ruby und Hazel hielten ihre Schwerter bereit, und Jakob Ohnesorg trug in jeder Hand einen Disruptor. Der Hadenmann bildete die Nachhut.

Er schlenderte unbeteiligt hinter den anderen her, als sei dies alles nichts weiter als ein vergnüglicher Spaziergang im Park.

Owens Mund verzog sich mürrisch. Vielleicht mochte es für Mond ja sogar zutreffen. Alle hielten den umgebenden Dschungel wachsam im Auge. Sie konnten hören, wie sich hinter dem undurchdringlichen Wust aus Blättern Kreaturen mit ihnen voranbewegten, aber einen sicheren Abstand einhielten. Der transportable Schirm trug ein gut Teil dazu bei.

Er war nicht so stark wie ein richtiger Energieschild, doch sein Feld verursachte jedem, der es zu durchdringen versuchte, gewaltige Schmerzen. Die Kreaturen hatten schnell aus den ersten Unfällen gelernt, aber hin und wieder versuchte es die eine oder andere Bestie trotzdem und warf sich aus dem Schutz der Dunkelheit der umgebenden Bäume auf Owen und seine Kameraden. Es geschah gerade häufig genug, um alle wachsam und gespannt bleiben zu lassen, und nach einer Weile lagen ihre Nerven blank. Unschuldige Bemerkungen nahmen nach und nach einen beleidigenden Tonfall an, mit dem Ergebnis, daß bald alle schwiegen und nur noch die unbedingt notwendigen Informationen ausgetauscht wurden. Was Owen im übrigen gerade recht war. Er hatte sowieso nicht genug Atem, geschweige denn das Verlangen, sich an der Konversation zu beteiligen, und es gab eine Menge Dinge, über die er nachzudenken hatte.

In den Familienarchiven hatte er nicht viel an Informationen über den Gründer des Clans gefunden. Der Vorfahre war ein großer Kämpfer und ein noch besserer Staatsmann gewesen, Erster Krieger des Imperiums und Vater des Dunkelwüsten-Projektors – des geheimnisvollen, rätselhaften Dings, das innerhalb eines einzigen Augenblicks tausend Sonnen ausgeschaltet und ihre Planeten in ewiger Finsternis zurückgelassen hatte. Die Dunkelwüste. Die ewige Finsternis hinter dem Rand.

Der Todtsteltzer hatte den Projektor und alle Aufzeichnungen darüber bei seiner Flucht mit sich genommen, und als der Dunkelwüsten-Projektor zusammen mit ihm verschwand, da hatten die Bewohner des Imperiums insgeheim aufgeatmet.

Niemand war so recht glücklich gewesen mit einer derartigen Bedrohung, die ständig wie ein Damoklesschwert über all ihren Köpfen gehangen hatte. Der Dunkelwüsten-Projektor war als Waffe viel zu gefährlich gewesen, und er hatte dem Imperator viel zuviel Macht in die Hand gegeben.

Die Archive hatten nichts zutage gefördert, aus dem man einen Hinweis hätte ableiten können, was für ein Mensch der Erste Todtsteltzer gewesen war. Sicher, tapfer war er gewesen. Ehrenhaft auch, ganz offensichtlich. Aber was mochte das für ein Mann gewesen sein, der einen Horror wie den Dunkelwüsten-Projektor erschaffen hatte? Und ihn sogar eingesetzt hatte? Was war mit seinen Freunden geschehen? Was mit der Familie und seinen Anhängern, die er alle zurückgelassen und der Gnade eines vor Wut wahrscheinlich rasenden Imperators ausgesetzt hatte? Keine Aufzeichnungen. Kein Hinweis auf das, was aus ihnen geworden war. Doch Owen konnte sich ziemlich lebhaft ausmalen, was die Archive verschwiegen.

Also angenommen, der Todtsteltzer befand sich noch immer in der Fluchtburg in seinem Stasisfeld, und weiter angenommen, sie hatten Erfolg mit ihren Bemühungen, ihn aufzuwecken – wie würde er sich ihnen gegenüber verhalten? Würden sie ihn überzeugen können, sich ihrer Rebellion gegen das Imperium anzuschließen? Gegen ein Imperium, das wahrscheinlich kaum noch Ähnlichkeit hatte mit dem, das er hinter sich gelassen hatte? Und wenn sich der Dunkelwüsten-Projektor noch in seinem Besitz befand – würden sie genug Entschlossenheit aufbringen, um ihn ein weiteres Mal einzusetzen und den Tod weiterer Milliarden unschuldiger Menschen zu verursachen…?

Owen hackte mit neuer Wut auf das Gehölz vor sich ein.

Sein Kopf schmerzte, aber nicht wegen der Hitze. Vor ihm erstreckte sich der Dschungel, so weit das Auge reichte; dicht, undurchdringlich und feindselig. Er hätte nur zu gerne seinen Disruptor eingesetzt und eine Schneise in den Wald gebrannt, aber das Risiko schien zu groß, daß er damit ein Feuer entfachen könnte. Schließlich konnte niemand wissen, wie leicht die Bäume in Brand gerieten oder in welche Richtung der Wind das Feuer treiben würde. Es wäre jedenfalls ein verdammt dummer und ekelhafter Weg zu sterben.

Die Bäume gefielen ihm immer weniger, je länger er sie betrachtete. Ihre Stämme maßen im Schnitt etwa eineinhalb Meter im Durchmesser, und sie waren von einer furchigen, zernarbten purpurnen Rinde überzogen. Die Äste bewegten sich, obwohl nicht der leiseste Windhauch zu spüren war. Die purpurnen Blätter waren lang und gezackt und scharf wie Rasierklingen. Jeder aus der Gruppe hatte schnell gelernt, seine Finger bei sich zu behalten.

Die Farben der restlichen Vegetation waren heller. Leuchtendes Gelb, Blau oder Rosa, das sich mit dem überall vorherrschenden Purpur biß. Entweder hatte die Natur auf diesem Planeten die Vorteile von Mimikry und Tarnfarben niemals entdeckt, oder sie gab einfach einen Dreck darauf. Owen zog die letztere Erklärung vor. Shandrakor erschien ihm nicht im geringsten als subtiler Planet. Hoch über sich konnte er hören, wie sich irgendwelche Kreaturen durch das Geäst schwangen und mit seiner Gruppe zogen, aber bis jetzt hatte sich nichts genähert, um die Fremdlinge in diesem Territorium genauer in Augenschein zu nehmen. Was die Biester allerdings nicht davon abhielt, ihre Blasen auf Owen und seine Freunde zu entleeren. Wenigstens schützte der Schirm sie vor einem Angriff von oben genauso wie an den Seiten.

Hinter der Energieglocke ging die eingeborene Fauna des Planeten ihrer üblichen Beschäftigung nach. Jeder fraß jeden, und zwar so schnell es ging, bevor man selbst gefressen oder einem die Beute abgejagt werden konnte. Die damit einhergehenden Geräusche waren ziemlich widerlich. Zwischendurch erklangen immer wieder Schreie, Kreischen und Brüllen, das allerdings nie lange anhielt, bevor es auf die eine oder andere Weise verstummte. Vielleicht gewöhnten sie sich auch allmählich daran. Owen dachte, daß der Mensch sich wahrscheinlich an alles gewöhnte, wenn er mußte. Er fragte sich allerdings immer häufiger, was die Dschungelkreaturen einen so respektvollen Abstand zu ihnen einhalten ließ. Der Schirm und die Disruptoren hatte eine ganze Menge getötet, sicher – aber die Kreaturen waren Owen nicht so schlau erschienen, als daß sie sich von ihrer Freßgier hätten abhalten lassen. Eigentlich hätten sie in immer neuen Wellen gegen den Schirm anrennen und die Gruppe von Abenteurern angreifen müssen, bis sie allein durch ihre große Zahl am Ziel angekommen wären, genauso, wie sie es an der Luftschleuse der Sonnenschreiter getan hatten. Statt dessen wichen sie jedoch zurück und verschwanden in der Deckung des Dschungels, sobald irgend jemand seinen Disruptor abfeuerte. Sie schienen genau zu wissen, welchen Waffen sie gegenüberstanden, und hatten einen Heidenrespekt vor ihnen. Was natürlich vollkommen unmöglich war. Offiziell jedenfalls hatte seit Jahrhunderten niemand mehr Shandrakor besucht. Nicht zuletzt deshalb, weil niemand mehr auch nur ahnte, wo der Planet lag.

Außer natürlich, die Imperatorin wußte Bescheid.

Vielleicht hatte sie die ganze Zeit über Bescheid gewußt.

Ein Geheimnis vielleicht, das ein Herrscher an den nächsten weitergab. Etwas, auf das man sehr genau achten mußte. Es ergab einen Sinn. Owen sah keinen Grund, aus dem ein Herrscher den Ort hätte vergessen sollen, an dem die machtvollste Waffe versteckt war, die das Imperium je besessen hatte.

Konnte es vielleicht sein, daß Imperiale Truppen auf Shandrakor gelandet waren, bevor er mit der Sonnenschreiter hergekommen war? Owen runzelte die Stirn. Es schien ihm nicht sehr wahrscheinlich, aber er konnte den Gedanken auch nicht einfach so von der Hand weisen. Wenn das Imperium tatsächlich vor ihnen hiergewesen sein sollte, dann wurden die Dinge wirklich kompliziert. Es bedeutete nicht, daß alles verloren war. Owen wußte, wo sich die Todtsteltzer-Fluchtburg befand; er besaß die genauen Koordinaten, dank der Dateien, die sein Vater in Ozymandius’ Gedächtnis versteckt hatte. Aber wenn die Imperatorin freilich schon seit geraumer Zeit auf Shandrakor war und nach der Burg gesucht hatte… Owen hackte wie besessen auf das Gestrüpp vor sich ein. Nichts mehr würde jemals wieder einfach sein.

Irgendwo ganz in der Nähe brüllte etwas ziemlich Großes in blindem Schmerz, als es von irgend etwas noch Größerem gerissen wurde. Der Boden erzitterte unter dem Gewicht der kämpfenden Riesen, und Owen blickte sich erschreckt um.

Der Energieschirm würde die meisten Bedrohungen von ihnen fernhalten, aber Owen hatte keine Ahnung, ob er auch gegen derart große Bestien wirksam war, wenn sie sich einfach mit ihrem ganzen Gewicht darauf warfen. Der Schirm konnte sich überladen und einfach zusammenbrechen. Großartig, dachte Owen. Einfach großartig. Noch etwas, um das man sich Sorgen machen muß. Die Bewohner des Dschungels näherten sich ganz eindeutig wieder ihrer Gruppe. Entweder überwanden sie nach und nach ihre Furcht vor dem Schirm und den Pistolen, oder es war ihnen einfach egal.

»Mach mal ‘ne Pause«, sagte Hazel. Owen folgte dankbar ihrem Vorschlag. Er wischte mit dem Ärmel den Schweiß von seiner Stirn und blickte auf den Rest seiner Begleiter. Hazel sah beinahe so mitgenommen aus, wie er sich fühlte. Ruby Reise atmete schwer, aber sie hielt sich noch immer gerade und den Kopf hoch erhoben. Jakob Ohnesorg nutzte die Gelegenheit, um sich hinzusetzen. Er ignorierte die insektenartigen Wesen einfach, die um ihn herumschwirrten. Seine Schultern waren nach vorn gesunken, sein Kopf hing auf der Brust, und Schweiß tropfte von seiner Nase zu Boden, wo die Insektenwesen darum kämpften. Mond wirkte als einziger erholt und ruhig, als wäre das alles nur ein Spaziergang und als könne er noch kilometerlang so weitermarschieren. Owen haßte den Hadenmann dafür. Ein großer, unförmiger Schatten sprang durch die Bäume auf sie zu und heulte überrascht und schmerzerfüllt auf, als er den Schirm berührte. Im ersten Augenblick schien die Kreatur den Schock zu ignorieren, doch dann wich sie geschlagen zurück. Owen bemerkte sorgenvoll, daß es jedesmal länger dauerte, bis der Schirm wirkte. Entweder wurde das Feld schwächer, oder die Angreifer wurden stärker und entschlossener. Owen wußte, daß die Wahrscheinlichkeit zugunsten der ersten Theorie sprach, aber er war viel zu erschöpft, um sich deswegen zu sorgen. Er setzte sich auf den Waldboden, und einen Augenblick später gesellten sich Hazel und Ruby zu ihm.

»Habt Ihr so etwas schon je zuvor gesehen, Hazel?« fragte Owen leise.

»Auf Loki gibt es ein paar Städte, die für einen Fremden beinahe genauso gefährlich sind«, erwiderte sie. »Aber um deine Frage zu beantworten: Nein, einen so brutalen Planeten habe ich noch nie gesehen. Hören sie eigentlich jemals auf zu fressen? Man sollte wirklich meinen, daß sie innerhalb kürzester Zeit alles Eßbare aufgefressen haben, aber es scheint sie nicht zu kümmern. Wahrscheinlich machen sie nur Pausen zum Schlafen und Verdauen.«

»Vielleicht fressen sie in Schichten?« schlug Owen vor, und Hazel brachte ein schwaches Lächeln zustande.

»Du bist doch der mit dem eingebauten Kompaß, oder? Wie weit ist es noch bis zur Fluchtburg?«

»Vielleicht einen halben Kilometer. Wir haben höchstens die Hälfte der Strecke zurückgelegt.«

»Was? Mehr nicht?« Hazel schüttelte müde den Kopf. »Mir kommt es vor, als würde ich schon mein ganzes Leben durch diesen Dschungel laufen. Hast du vielleicht noch mehr schlechte Nachrichten, die du mir mitteilen möchtest?«

»Wir erschöpfen die Energiekristalle in unseren Disruptorpistolen, der Schirm ist noch leerer, als ich befürchtet hatte, es wird von Minute zu Minute heißer, und wir haben noch lange nicht Mittag. Ich hasse diesen verdammten Planeten.«

»Oh?« sagte Hazel. »Jedenfalls danke für deinen moralischen Beistand. Ich weiß gar nicht, wie ich je auf den dummen Gedanken kommen konnte, dich zu retten, Todtsteltzer.

Du bist verhext, und in deiner Nähe geht alles schief, weißt du das eigentlich?«

»Ja, ja, ja. Ihr hört nicht auf, mich daran zu erinnern. Wie sollte ich es also vergessen? Aber anstatt nur zu jammern, könntet Ihr ruhig ein wenig dankbarer sein, daß ich soviel Abwechslung und Abenteuer in Euer langweiliges Leben bringe. Würdet Ihr lieber den ganzen Tag in irgendeinem Büro sitzen und auf einen Monitor starren?«

»Ehrlich gesagt – ja.«

»Ich denke, wir sollten uns wieder in Bewegung setzen.«

Owen versuchte, Zuversicht in den Klang seiner Stimme zu legen. »Nur noch ein halber Kilometer.«

»Laßt uns lieber noch ein wenig rasten«, meldete sich Jakob Ohnesorg. »Wir sollten mit unseren Kräften haushalten, sonst kommen wir nie dort an. Wir müssen langsam machen.«

Owen blickte ihn überrascht an. Der alte Rebell klang viel frischer und erholter als noch ein paar Minuten zuvor. Ohnesorg bemerkte den Blick und grinste leichthin. »Für mich ist das nichts Neues, junger Todtsteltzer. Ich kann Euch gar nicht sagen, durch wie viele Dschungel auf wie vielen Planeten ich mir schon einen Weg gehackt habe. Ihr müßt lernen, Eure Kräfte zu schonen, damit sie Euch zur Verfügung stehen, wenn Ihr sie benötigt. Macht Euch keine Gedanken wegen des Schirms und der Pistolen. Entweder sie halten durch oder nicht, aber es gibt nichts, das Ihr deswegen unternehmen könntet. Also spart Euch Eure Energie für die Probleme, die lösbar sind. Zum Beispiel, daß der Weg, den Ihr durch den Dschungel schlagt, so gerade verläuft wie möglich. Selbst eine kleine Kurve kann uns meilenweit am Ziel vorbeilaufen lassen.«

»Ich achte auf den Kompaß«, erwiderte Owen. »Wir sind genau auf Kurs. Hört mal, wenn Ihr noch mehr Weisheiten auf Lager habt, dann scheut Euch nicht, sie mitzuteilen. Ich bin neu in diesem Geschäft, und ich kann wirklich jede Hilfe gebrauchen.«

»Nicht schlecht für einen Anführer«, sagte Ohnesorg anerkennend. »Ihr haltet Euch wacker, junger Todtsteltzer. Geht nur voraus, und wir folgen Euch.«

»Sprich gefälligst nur für dich alleine!« fuhr Ruby Reise Ohnesorg an. »Ich würde diesem inzestuösen Aristo nicht mal ein Schaf anvertrauen, um es zur Schlachtbank zu führen.«

»Interessante Bildersprache, derer Ihr Euch da bedient, meine Liebe«, sagte Ohnesorg. »Aber vielleicht könntet Ihr das Beispiel in Anbetracht unserer Situation noch ein wenig verfeinern?«

»Nein, könnte ich nicht. Und ich bin auch nicht deine Liebe, merk dir das!«

»Da hat sie recht«, fiel Hazel ein. »Du warst nie irgend jemandes Liebe, nicht wahr?«

»Und ich war auch nie irgend jemandes Hanswurst!« Ruby funkelte ihre Kameraden wütend an. »Ich hätte mich nie breitschlagen lassen sollen, bei diesem Haufen mitzumachen! Ich hätte ein Vermögen machen können, wenn ich euch einfach nur an die Behörden ausgeliefert hätte. Statt dessen stecke ich hier mitten in einem verdammten Höllendschungel, Lichtjahre von allem entfernt, was auch nur halbwegs zivilisiert ist, ohne Vorräte und ohne ein verdammtes Schiff, um je wieder von hier wegzukommen. Ich hätte euch alle erschießen sollen, gleich im ersten Augenblick, als ihr mir unter die Augen gekommen seid.«

»Versucht habt Ihr es jedenfalls«, erinnerte sie Owen.

»Du würdest nicht auf mich schießen, Ruby«, sagte Hazel.

»Ich bin deine Freundin!«

Ruby starrte sie mißmutig an. »Die Belohnung auf eure Köpfe hätte ausgereicht, um mir eine ganze Menge Freunde zu kaufen.«

»Aber keine von der Sorte, auf die es ankommt«, sagte Ohnesorg leise. »Dieses verdammte Imperium ist ein sehr einsamer Ort ohne Freunde, die einem den Rücken decken.«

»Freunde sind purer Luxus«, widersprach Ruby kalt. »Genauso wie Vertrauen, Familie und Politik. Am Ende fällst du immer auf die Nase damit. Ich hätte wirklich geglaubt, daß du das selbst weißt, Ohnesorg, nachdem du so oft in den Arsch getreten worden bist. Deine großartige Rebellion ist vorüber, alter Mann.«

»Sie ist erst dann vorüber, wenn ich es sage«, erwiderte Ohnesorg. »Solange ich mich weigere aufzugeben, solange haben sie mich nicht geschlagen. Die Kraft der Rebellion liegt im Herzen, nicht in Armeen und Waffen.«

»Wie rührend«, sagte Ruby sarkastisch. »Ich bin sicher, sie werden diesen Spruch auf deinen Grabstein schreiben.«

»Ich danke Euch, Ruby«, lächelte Ohnesorg. »Ihr seid wirklich zu freundlich. Es wird Zeit, daß wir uns wieder in Bewegung setzen, junger Todtsteltzer. Wenn wir Kraft haben zu streiten, dann haben wir lange genug gerastet und können weitergehen.«

Der alte Rebell erhob sich ohne sichtbare Anstrengung. Er schien tatsächlich vollkommen ausgeruht und entspannt zu sein. Owen stellte beim Aufstehen überrascht fest, daß auch er während der kurzen Unterhaltung wieder Kraft geschöpft hatte. Er streckte die Hand aus, um Hazel auf die Beine zu ziehen, sie ignorierte seine Geste und kam aus eigener Kraft hoch. Er versuchte erst gar nicht, Ruby Reise Hilfe anzubieten. Die Kopfgeldjägerin sprang so elastisch und mühelos auf, wie sie sich hingesetzt hatte. Ihr Gesicht war kühl und beherrscht wie immer, ohne jede Spur von Leidenschaft oder den durchgemachten Strapazen. Owen grinste in sich hinein, hob das Schwert und wandte sich wieder der Vegetation zu, die ihren Weg versperrte. Wenn er schon auf einer ungastlichen Welt gestrandet war, so beruhigte ihn wenigstens das Gefühl, von erfahrenen Kämpfern umgeben zu sein und nicht von Schwächlingen. Ganz besonders freute er sich über die Fortschritte, die Jakob Ohnesorg zu machen schien. Das war schon eher der legendäre Rebell, von dem sich die Leute so viel erzählt hatten.

Ruby schloß zu ihm auf, um zu helfen. Owen war nicht gerade glücklich, daß die Kopfgeldjägerin so dicht neben ihm herging, mit gezückter Klinge in der Hand. Sie machte ihn irgendwie nervös. Ruby Reise war so kaltblütig wie ein Investigator, und sie besaß auch die entsprechende Boshaftigkeit.

Er bezweifelte keine Sekunde, daß sie ihn auf Nebelwelt getötet hätte, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätte. Genauso, wie er sicher war, daß sie sich im gleichen Augenblick gegen ihn wenden würde, in dem sie daraus einen persönlichen Vorteil ziehen konnte. Sie hätte eine verdammt gute Aristokratin abgegeben. Er behielt sie jedenfalls wachsam im Auge, bis sie zu der Überzeugung gelangt war, genug geholfen zu haben, und sich wieder zu den anderen zurückfallen ließ. Owen atmete beinahe erleichtert auf, obwohl seine Nackenhaare sich noch immer ein wenig sträubten. Nach ein paar Augenblicken erschien Hazel an seiner Seite.

»Was hast du eigentlich für Probleme mit Ruby?« wollte sie wissen.

»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, erwiderte er.

»Jetzt hör schon auf! Ich hab’ genau gesehen, wie mißtrauisch du sie die ganze Zeit über angestarrt hast! Vertraust du ihr nicht?«

»Selbstverständlich nicht! Sie ist eine Kopfgeldjägerin, und ich bin ein Gesetzloser, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt ist.«

»Wir sind alle zusammen Gesetzlose, Aristo.«

»Aber einige von uns sind anscheinend gesetzloser als andere.«

»Sie ist meine Freundin, Mann! Sie hat mir ihr Wort gegeben«, sagte Hazel kühl. »Du kannst ihr genauso vertrauen wie mir auch.«

»Ganz genau das tue ich«, erwiderte Owen.

Hazel dachte einen Augenblick über die Bedeutung seiner Worte nach, dann musterte sie ihn mit einem vernichtenden Blick und schloß sich mit mürrischem Gesicht wieder den anderen an. Owen seufzte und ließ seine Wut an der wehrlosen Vegetation aus, die ihm den Weg versperrte. Es half nicht viel. Er mochte Hazel. Er bewunderte ihren Mut und ihren aufrechten Charakter, aber es schien, als könnte er mit ihr keine zwei Worte wechseln, ohne sich zu streiten. Schließlich schloß Jakob Ohnesorg zu ihm auf, und für eine Weile arbeiteten sie schweigend nebeneinander. Das einzige Geräusch war das Schneiden soliden Stahls durch dichtes Gestrüpp.

»Wenn ich Euch einen Rat geben darf«, begann Ohnesorg schließlich, »streitet Euch nie mit einer Frau. Und wenn Ihr Euch streitet, dann laßt sie wenigstens gewinnen. Sie verzeihen alles, nur nicht das.«

»Aber ich hab’ doch recht!« beschwerte sich Owen.

»Und was hat das damit zu tun?«

»Wir kommen gut voran«, wechselte Owen das Thema.

»Würdet Ihr vielleicht für eine Weile die Führung übernehmen?«

»Nein danke, junger Freund. Meiner Erfahrung nach hat der Mann an der Spitze immer die gefährlichste Arbeit, und meine Zeit ist vorüber. Macht nur ruhig weiter, wo Ihr seid.«

»Im Grunde genommen solltet Ihr der Anführer dieser Gruppe sein. Ich meine, immerhin seid Ihr Jakob Ohnesorg, oder?«

»Ich war einmal Jakob Ohnesorg, junger Freund. Vielleicht werde ich es wieder sein, wenn ich genügend Zeit finde. Aber im Augenblick bin ich nichts weiter als ein müder alter Mann, den man für einen letzten Kampf aus dem Ruhestand zurückgerufen hat. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir, bis ich wieder weit genug bin, um etwas anderes als ein Selbstmordkommando anzuführen. Ihr macht weiter, Freund. Ihr seid ein guter Anführer.«

»Ich? Hazel und ich giften uns bei jeder Gelegenheit an, Mond jagt mir eine Heidenangst ein, und ich wage nicht, dieser Ruby Reise den Rücken zuzudrehen.«

»Und trotzdem haltet Ihr sie alle irgendwie beieinander, oder nicht? Ihr gebt ihrem Dasein einen Sinn, und Ihr zeigt ihnen, in welche Richtung es weitergeht. Mehr kann niemand von einem Anführer erwarten, wirklich nicht. Ich muß es schließlich wissen, junger Mann, glaubt mir.«

Ohnesorg grinste Owen aufmunternd zu, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und schloß sich wieder den anderen an. Owen wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus der Stirn und drückte das Kreuz ein wenig mehr durch. Wenn Ohnesorg sagte, daß er seine Arbeit gut machte, dann war das wohl so. Er wollte sich gerade mit dem Gedanken anfreunden, als Mond neben ihm auftauchte.

»Ich habe eine Frage an Euch, Todtsteltzer. Wie wollt Ihr mich nach Haden bringen, wenn Ihr kein Schiff mehr besitzt?

Ihr habt versprochen, mich dorthin zu bringen. Ich habe Euer Wort.«

»Ich werde Euch nach Haden bringen.«

»Wie?«

»Ich denke darüber nach.«

Mond nickte und ließ ihn wieder alleine. Owen fluchte unterdrückt vor sich hin und zerhackte ein Geflecht aus herabhängenden Ranken. Er hatte das Gefühl, ein wenig Zeit zum Nachdenken zu benötigen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund zeigten die Kreaturen im umgebenden Dschungel eine ganze Menge mehr Respekt als zu Beginn. Owen kam es noch immer verdächtig vor, aber er konnte damit leben.

Einige Zeit später wich der Dschungel unvermittelt vor der kleinen Gruppe zurück und gab den Blick auf eine gewaltige steinerne Burg frei, die sich im Zentrum einer riesigen Lichtung erhob. Owen hob den Arm vor die Augen. Das grelle Licht der Sonne schmerzte. Die Hitze hier draußen, außerhalb des schützenden Blätterdachs, war kaum zu ertragen, aber er wich nicht zurück. Er war einen weiten Weg gegangen, um hierherzugelangen, und außerdem tat es zur Abwechslung einmal gut, sich keine Gedanken machen zu müssen, aus welcher Richtung der nächste Angriff beginnen würde. Die Dschungelkreaturen waren immer in der Nähe, beobachteten sie und folgten ihnen. Owens Rücken schmerzte von der fortwährenden Anstrengung und der ständigen Drohung eines erneuten Überfalls. Er senkte sein Schwert und stützte sich dankbar auf die Waffe, während er die Burg in der Mitte der Lichtung musterte.

Es war ein enormes Bauwerk, hoch genug, um den Dschungel auf der gegenüberliegenden Seite zu verdecken, und es schien ganz aus beunruhigend großen, eintönig grauen Steinblöcken errichtet worden zu sein. Die Burg besaß schmale, hohe Türme mit spitzen Dächern, und auf den Mauern befanden sich Zinnen. Es gab keinerlei Anzeichen von Bewohnern oder auch nur Licht hinter den schmalen Fensterschlitzen. Das schwere Tor, der einzige erkennbare Zugang, war geschlossen. Außerdem schien die Burg ein wenig vor seinen Augen zu verschwimmen – ein Schutzschirm hüllte sie ein. Lange Zeit sprach niemand aus der kleinen Gruppe ein Wort. Owen blickte hinauf in den Himmel. Die Sonne war blutrot und bewegte sich zunehmend in Richtung der Baumwipfel. Es würde nicht mehr lange dauern bis zum Einbruch der Dunkelheit, und mit ihr würden sich neue Raubtiere auf sie stürzen.

»Das also ist die sagenhafte Todtsteltzer-Fluchtburg deines Vorfahren«, sagte Hazel schließlich. »Ich muß schon sagen – ich bin beeindruckt. Wie zur Hölle hat er es nur geschafft, so eine Burg auf einem Höllenplaneten wie diesem zu errichten?«

»Ehrlich gesagt – das habe ich nicht erwartet«, gestand Owen. »Er muß irgendwelche Hilfe gehabt haben.«

»Richtig«, meldete sich Jakob Ohnesorg. »Für den Fall, daß Ihr es noch nicht bemerkt habt: Die Ränder dieser Lichtung sind scharf umrissen. Was die Vermutung nahelegt, daß sie durch den Einsatz von Energiewaffen zustande gekommen sind. Aber das liefert noch immer keine Erklärung dafür, wo er all die Steine herhat.«

»Vielleicht gibt es irgendwo einen Steinbruch?« vermutete Owen.

»Und wer soll in diesem Steinbruch gearbeitet haben?«

Sie fielen wieder in Schweigen und starrten die Fluchtburg an.

»Den Schutzschirm habe ich ebenfalls nicht erwartet«, sagte Owen nach einer Weile. »Das macht die Sache noch schwieriger. Er kann nur von innen abgeschaltet werden, und wir haben keine Garantie, daß dort drinnen eine Menschenseele lebt. Aber da die Schilde noch arbeiten, können wir wohl davon ausgehen, daß zumindest die Maschinen noch arbeiten.

Und ein paar Lektronen, die die Wartung und Instandhaltung überwachen.«

»Die Burg muß eine ganz erstaunliche Energiequelle besitzen«, sagte Hazel, »wenn die Schilde nach all den Jahren noch immer arbeiten.«

»Oder jemand anderes ist uns zuvorgekommen«, brummte Ruby Reise.

Sie fielen wieder in Schweigen, während sie über Rubys Worte nachdachten.

»Die Dschungelbiester haben sich jedenfalls so verhalten, als hätten sie schon früher Bekanntschaft mit Energiewaffen gemacht«, sagte Mond. »Und sie griffen immer seltener an, je weiter wir uns der Burg genähert haben. Wenn das Imperium vor uns hier angekommen ist…«

»… dann stecken wir in großen Schwierigkeiten«, vollendete Ohnesorg den Satz.

»Nichts hätte die Sonnenschreiter auf dem Weg hierher überholen können«, widersprach Owen.

»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir es herausfinden können«, sagte Ruby und trat auf die Lichtung hinaus, in einer Hand den Disruptor, in der anderen das Schwert. Zwei helle Lichtpunkte erschienen in zwei Lichtschächten rechts und links des Tors. Hazel stürzte vor und warf sich auf Ruby. Die beiden Frauen gingen zu Boden, und zwei Disruptorstrahlen fuhren knisternd durch die Luft, wo die Kopfgeldjägerin einen Augenblick zuvor noch gestanden hatte. Hinten im Wald fing eine Reihe von Bäumen Feuer. Ihre Blätter flackerten lichterloh auf, bevor die Flammen langsam kleiner wurden und schließlich ganz erloschen. Das vernarbte Holz rauchte leicht, und die Blätter waren verschwunden, aber sonst schienen die Bäume keinen Schaden genommen zu haben.

»Ziemlich widerstandsfähige Gewächse«, kommentierte Mond den Zwischenfall.

»Wie alles andere auf diesem Planeten auch«, sagte Owen.

»Sind unsere Damen in Ordnung?«

»Hier gibt’s keine Damen«, murrte Hazel.

»Da stimme ich Euch voll und ganz zu«, sagte Ohnesorg.

Hazel zog Ruby zurück in den Schutz der Bäume am Rand der Lichtung und half ihr auf die Beine. Die Kopfgeldjägerin hielt es nicht einmal für nötig, sich zu bedanken. Ihre kalten Augen waren unverwandt auf die Burg gerichtet. Die beiden hellen Punkte in den Fenstern leuchteten noch immer. Ruby hob ihren Disruptor; doch dann senkte sie ihn wieder, ohne gefeuert zu haben.

»Ein Bruttofeldschirm« stellte Owen fest. »Läßt Energiestrahlen von innen nach außen durch, ohne daß man zuerst den Schild herunterfahren oder öffnen muß. Diese Schirme verbrauchen Unmengen an Energie, erst recht, wenn sie ein derart großes Bauwerk einhüllen. Wir besitzen jedenfalls keine Waffe, die diesem Schirm auch nur andeutungsweise gefährlich werden könnte.«

»Ich denke, wir können davon ausgehen, daß die Bewohner dieser Burg, wer auch immer sie sein mögen, keinerlei freundlichen Gefühle für uns hegen«, brummte Hazel, während sie Gras und Insekten aus ihrer mitgenommenen Kleidung klopfte.

»Ich weiß nicht«, widersprach Ohnesorg. »Das sah mir eher nach Warnschüssen aus. Ein lektronengestütztes Verteidigungssystem hätte Euch im Visier behalten, ganz gleich, wie schnell Ihr Euch auch bewegt haben mögt, und es hätte außerdem weitergefeuert, bis das Ziel mit hundertprozentiger Sicherheit vernichtet wäre.«

»Schön. Und was machen wir als nächstes?« wollte Hazel wissen. »Ich meine, mit Ausnahme von Selbstmordtaktiken?«

Sie funkelte Ruby an, die sie noch immer ignorierte.

»Kommunizieren«, meldete sich Tobias Mond. »Ob Menschen oder Maschinen – sie antworten vielleicht auf einen Kontaktversuch.«

»Es könnte ihnen genausogut auch die Richtung verraten, in die sie zielen müssen«, wandte Hazel ein.

»Da hat sie nicht ganz unrecht«, stimmte Ohnesorg ihr zu.

»Wir können jedenfalls nicht die ganze Zeit über hier stehen bleiben und Wurzeln schlagen«, sagte Owen. »Für den Fall, daß Ihr es vergessen habt: Wir können nirgendwo anders hin.

Uns bleibt nur die Burg. Entweder wir finden einen Weg hinein, oder wir leben im Dschungel. Was mir persönlich nicht sonderlich behagt. Ich werde unbewaffnet nach vorn gehen und zu reden versuchen. Wenn das die Lektronen meines Vorfahren sind, reagieren sie vielleicht auf mich. Ich bin

schließlich ein Todtsteltzer, oder?«

»Mach nur, was du nicht lassen kannst«, sagte Hazel. »Ich suche mir solange eine sichere Deckung.«

Owen grinste ihr zu und bemerkte, daß sie sich entgegen ihren Worten nicht bewegte, als er vorsichtig auf die Lichtung trat. Er steckte Schwert und Pistole ein und streckte die leeren Hände vor, um zu zeigen, daß keine Waffen in ihnen versteckt waren. Vorsichtig räusperte er sich. Er wollte schließlich nicht, daß man ihn mißverstand.

»Ich bin Owen, das Oberhaupt des Todtsteltzer-Clans. Ich komme in Not und Gefahr zu dir und deinem Zufluchtsort. Ich trage den Ring meiner Familie zum Beweis.«

Er streckte die Hand noch weiter vor, damit die Sensoren der Burg einen klaren Blick darauf werfen konnten. Schweiß strömte über sein Gesicht, aber diesmal nicht so sehr von der knisternden Hitze in der ungeschützten Lichtung. In einem weiteren Fenster erschien ein Licht. Owen mußte dagegen ankämpfen, kein Fersengeld zu geben. Dann gingen plötzlich alle Lichter aus, und in einem kleinen Bereich direkt vor dem großen Tor, das in die Festung führte, erlosch der Energieschirm.

Owen blinzelte ungläubig und blickte zu seinen Kameraden zurück.

»Ich denke, das ist eine Einladung. Kommt schon, bevor sie dort drinnen ihre Meinung ändern. Und steckt Eure Waffen weg, ja?«

Die restlichen Mitglieder der Gruppe folgten zögernd seinen Anweisungen. Sie traten vorsichtig auf die Lichtung hinaus und näherten sich der Bresche im Energieschild.

»Das ist doch nicht möglich«, sagte Jakob Ohnesorg. »Man kann nicht einfach nur einen Teil eines Schildes öffnen! Das gesamte Feld müßte zusammenbrechen!«

»Unmöglich oder nicht, Ihr seht es ja«, sagte Hazel. »Darf ich vielleicht vorschlagen, daß wir den Durchgang benutzen, bevor er sich wieder schließt und wir gestrandet hier zurückbleiben?«

»Selbstverständlich«, stimmte Owen ihr zu. »Nach Euch, Hazel.«

»Es ist deine Familie und dein Schloß, Aristo«, erwiderte Hazel fest. »Also gehst du auch zuerst.«

Owen grinste kurz und ging über die Lichtung auf die Lücke im Schild zu. Er konnte den mächtigen Energieschild förmlich spüren, und er schien so nahe, daß er ihn mit ausgestreckten Armen hätte berühren können. Statische Wellen liefen durch seine Kleidung und ließen Funken auf seinen Haaren tanzen. Er atmete tief ein und hielt die Luft an, während er weiterging. Nach dem Geräusch zu urteilen, hielten seine Freunde sich dicht hinter ihm. Owen verzichtete darauf, sich nach ihnen umzusehen. Es hätte ihn vielleicht nervös erscheinen lassen, und er hatte das sichere Gefühl, daß dies ein denkbar ungeeigneter Zeitpunkt war, um Schwäche zu zeigen. Die Burg wuchs immer höher vor ihm aus dem Boden, und als er schließlich dicht vor dem mächtigen Tor stand, ragte sie über ihm auf wie ein Gebirge. Schon der bloße Anblick dieses Ortes, die massive Größe der Steinquader, aus denen die Festung errichtet worden war, ließ seinen Kopf schmerzen. Er konnte sich nicht vorstellen, welch eine Armee von Arbeitern, Robotern und Ingenieuren erforderlich gewesen sein mußte, um die Todtsteltzer-Fluchtburg zu errichten, noch dazu auf einem vollkommen unbewohnten, von wilder Natur überwucherten Planeten. In den Fenstern waren noch immer keine neuen Lichter und kein Zeichen von Leben zu erkennen. Owen hatte das Gefühl, weiterhin scharf beobachtet zu werden, aber er konnte nicht sagen, von wo oder von wem oder was. Nachdenklich starrte er das Tor an: drei Meter hoch, zwei Meter breit, aus solidem Holz gezimmert und mit purpurfarbenen Metallnägeln beschlagen, die aussahen wie Blutstropfen. Ein Disruptorstrahl würde sich wahrscheinlich ohne weiteres hindurchbrennen, aber das Tor erweckte ganz den Eindruck, als könnte es alles andere auf der Welt stoppen.

Die anderen kamen herbei und sammelten sich um ihn.

»Und was machen wir jetzt?« fragte Ruby Reise.

»Wir klopfen«, erwiderte Ohnesorg. »Ganz einfach. Und ganz höflich.«

»Das werden wir wohl auch müssen«, stimmte Owen ihm zu. »Ich kann keinen Türgriff oder Sensor erkennen.«

»Wahrscheinlich haben sie hier draußen nicht so häufig Besuch«, sagte Ohnesorg.

»Ich will ja niemanden beunruhigen«, meldete sich Hazel plötzlich. »Aber der Schild hat sich hinter uns wieder geschlossen. Wir sitzen in der Falle.«

»Für jemanden, der keinen beunruhigen will, habt Ihr Euch aber ziemlich viel Mühe gegeben«, sagte Owen.

»Ich könnte die Tür aufbrechen«, meldete sich Tobias Mond mit seiner summenden Stimme zu Wort.

»Danke für den Vorschlag, aber ich schätze, das werden wir bleiben lassen«, erwiderte Owen. »Wir wollen doch keinen schlechten Eindruck erwecken, oder? Diese Energiewaffen sind ganz bestimmt noch immer auf uns gerichtet, und ich habe keine Lust, wen auch immer an den Kontrollen nervös zu machen. Wenn Ihr Euch nützlich machen wollt, Mond, dann versucht doch mit der Burg in Kontakt zu treten. Wenn es im Innern so etwas wie Lektronen gibt, könnt Ihr vielleicht mit ihnen reden.«

Mond nickte und legte die Stirn in leichte Falten, als er sich konzentrierte. In diesem Augenblick verschwand fast alles Menschenähnliche aus dem von den blitzenden goldenen Augen beherrschten Gesicht des Hadenmanns. Owen kämpfte gegen den unwillkürlichen Impuls zu erschauern. Dann wurde Monds Gesicht wieder klar, und er blickte Owen an. »Nichts.

Wenn es dort drinnen Lektronen gibt, dann hören sie entweder nicht zu, oder sie antworten einfach nicht.«

»Zeig den Sensoren doch einfach noch mal deinen Ring«, schlug Hazel vor. »Letztes Mal haben sie ja auch darauf reagiert.«

Owen hob seine Hand in Richtung der Fenster über der Tür und versuchte, selbstbewußt dreinzuschauen. Kein Licht zeigte sich, und er stand eben im Begriff, seine Hand resignierend zurückzuziehen, als er sich plötzlich woanders wiederfand. Es hatte keine Warnung gegeben, kein Gefühl von Bewegung, nichts: Im einen Augenblick hatte er noch vor dem verschlossenen Tor gestanden, und im nächsten befand er sich in einer großen Halle, höchstwahrscheinlich im Innern der Burg. Die Halle erstreckte sich vor ihm, unglaublich lang und breit und vollkommen leer. Hier hätte eine ganze Armee üben können oder ein Clan eine Vollversammlung einberufen, aber es gab keinerlei Zeichen von Leben, mit Ausnahme der Beleuchtung, die hoch oben an der Decke brannte. Der gewaltige marmorne Kamin war kalt, doch der Fußboden konnte erst vor kurzem gebohnert und poliert worden sein, denn nirgendwo fand sich auch nur eine Spur von Staub. Ganz plötzlich waren auch die anderen in der Halle bei ihm, und sie blickten genauso verwirrt drein, wie er sich fühlte.

»Was zur Hölle war das?« fragte Hazel ungläubig. Ihre Hand fiel in einem Reflex auf die Pistole an ihrer Hüfte.

»Ein Transferportal«, erwiderte Owen. »Ich habe davon gehört, aber ich hätte niemals erwartet, ein funktionierendes Portal vorzufinden. Sie wurden vor Jahrhunderten geschaffen; Teleportation von einem Ort zum anderen, um der Aristokratie die Mühen und Strapazen körperlicher Bewegung zu ersparen. Aber sie setzten sich nicht durch, weil sie so unglaublich viel Energie verbrauchten. Und weil sie ein Alptraum waren, was die Sicherheit anging. Dann tauchten die ersten Esper auf und ersetzten die Portale. Keine Energiequelle war mehr nötig, und sie waren viel billiger. Das Imperium zieht seit jeher Sklavenarbeit Maschinen vor. Jedenfalls muß diese Burg eine unglaubliche Energiequelle besitzen, wenn das Transferportal nach all den Jahren noch funktioniert.«

»Neunhundertvierzig«, sagte Ohnesorg. »Neunhundertvierzig Jahre! Wer immer diese Burg errichtet hat, sie wurde gebaut, um eine Ewigkeit zu überdauern.«

»Mir kommt da gerade ein ziemlich übler Gedanke«, mischte sich Hazel leise ein. »Wenn diese Burg von Lektronen gewartet wird – kann es dann nicht sein, daß die KIs von Shub sie übernommen haben? Sie sollen eine Menge Technologie besitzen, die wir nicht haben.«

»Ihr habt recht«, sagte Owen. »Das ist wirklich ein schlimmer Gedanke. Wenn Ihr noch mehr davon habt, behaltet sie ruhig für Euch, Hazel d’Ark. Auch ohne Eure Schwarzmalerei ist es in Anbetracht unserer Situation schon schwer genug, keine chronische Paranoia zu entwickeln. Wir sind ziemlich weit von Shub weg, und nach dem, was mir zu Ohren gekommen ist, hat man die Feinde der Menschheit sicher hinter einer Imperialen Blockade isoliert. Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich vorschlagen, daß wir uns lieber auf unsere aktuellen Probleme konzentrieren.«

»Du hast uns hergebracht, Todtsteltzer«, sagte Ruby Reise.

»Was hältst du davon, wenn du uns jetzt zu deinem Vorfahren führst? Mir brennen ein paar Fragen auf der Zunge, die ich ihm liebend gern stellen würde.«

»Also gut«, antwortete Owen und tat sein Bestes, um Zuversicht auszustrahlen. »Dann folgt mir bitte.«

Er stapfte durch den gewaltigen Saal davon, und das Echo seiner Schritte hallte laut und unnatürlich durch die Stille. Die anderen beeilten sich, ihm zu folgen. Keiner verspürte den Wunsch zurückzubleiben, und alle gaben sich die größte Mühe, lässig und unbeeindruckt zu erscheinen. Owen hakte die Hand unauffällig hinter seiner Pistole in den Gürtel. Er war nicht sicher, was er in der legendären Fluchtburg seines Vorfahren zu finden erwartet hatte, aber das hier jedenfalls nicht.

Diese gewaltige Burg sah ganz und gar nicht nach der letzten Zuflucht eines verzweifelten Mannes aus, der von allen gejagt und bis zu diesem Planeten fernab jeder Zivilisation verfolgt worden war. Das hier war ein Stützpunkt, eine Machtbasis, wie geschaffen, um selbst gegen die größte Übermacht zu bestehen; ein Platz, von dem aus man zurückschlug. Aber der Erste Todtsteltzer hatte es nie getan. All diese Macht in seinen Händen, doch er hatte beschlossen, sich in ein Stasisfeld zu begeben und auf ein Erwachen zu warten, das niemals kam.

Owen runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war das Imperium auch damals schon ein so übermächtiger Gegner gewesen wie heute; andererseits bemächtigte sich seiner allmählich das Gefühl, auch nicht die Hälfte der Geschichte zu kennen, trotz all seiner Nachforschungen. Er stapfte weiter, bemüht,

gegenüber seinen Kameraden zuversichtlich und gleichzeitig für keinen unerkannten Beobachter bedrohlich zu wirken. Owen war sich verdammt sicher, daß die Todtsteltzer-Fluchtburg in ihrem Innern mindestens genauso viele Sicherheitseinrichtungen besaß wie nach außen hin.

Ohne Zwischenfall erreichte er das andere Ende der Halle, trat durch eine offene Tür und fand sich an einem Ort wieder, der ganz sicher nicht an die Empfangshalle grenzte. Anscheinend war er durch ein weiteres Transferportal gegangen. Es dauerte nicht lange, bis Owen und seine Kameraden zwei wichtige Details über diese Portale erkannten: Erstens, jede Tür und jeder Durchgang in dieser Burg war ein Portal, das einen an einen unerwarteten Ort beförderte. Und zweitens, man kam, wenn man das gleiche Portal in umgekehrter Richtung betrat, nicht wieder am Ausgangsort heraus. Also blieb der Gruppe nichts weiter übrig, als orientierungslos von Raum zu Raum zu gehen und sich immer tiefer im Labyrinth der Burg zu verirren. Owen behielt eine grobe Übersicht durch seinen inneren Kompaß, aber er hatte wirklich keine Ahnung, wo innerhalb der Burg er sich zu einem gegebenen Zeitpunkt eigentlich aufhielt. Oder wie er wieder nach draußen gelangen konnte. Alle Räume befanden sich in perfektem Zustand und waren hell erleuchtet, aber absolut überhaupt nichts deutete darauf hin, daß jemals Menschen in ihnen gelebt hatten. In Owen wuchs die Überzeugung, daß sie die ganze Zeit über unter Beobachtung standen, doch er entdeckte nichts, das er als Sensor identifizieren konnte. Wer auch immer die Portale kontrollierte – er hatte ganz sicher einen Plan, zu welchem Ort er Owen und seine Kameraden führen wollte. Aber warum und wohin blieb ihnen verborgen.

Owen marschierte immer weiter und gab sich die größte Mühe, seine Zuversicht nicht zu verlieren. Er hatte den starken Verdacht, daß es keinen Unterschied machte, selbst wenn er in Panik ausgebrochen wäre. Er befand sich in den Händen einer unbekannten Gewalt, ob gut oder böse, und daran war nichts zu ändern. Owen versuchte, seine Hand in der Nähe der Pistole zu halten, ohne allzuviel Verdacht zu erwecken.

Sie passierten Raum um Raum, alle gleich uninteressant und bar jeder persönlichen Note. Keinerlei Mobiliar oder Ausstattung, kein Komfort, nichts. Owen gelangte nach und nach zu der Überzeugung, daß in dieser Burg niemals ein Mensch gelebt hatte.

Bis sie am Ende in einem Saal herauskamen, der Owen sofort an ein Trophäenzimmer erinnerte. Im Gegensatz zu den anderen besaß dieser hier eine halbwegs beruhigende Größe, aber andererseits war sein Inhalt alles andere als beruhigend.

Ein großer Glaskasten von vielleicht drei Meter Kantenlänge nahm die gesamte Mitte des Raums ein, und in diesem Glaskasten standen wie Trophäen auf ihrem Sockel drei Männer in antiken, gepanzerten Kampfanzügen. Sie standen so regungslos da, daß Owen im ersten Augenblick glaubte, Modelle vor sich zu haben – doch als er vortrat und seine Nase an den Glaskasten preßte, gelangte er rasch zu der Überzeugung, daß es echte Menschen waren. Ihre Posen waren steif, ihre Gesichter leer, und in ihren Rüstungen fanden sich blutige Einschüsse.

»Sie sind tot, oder nicht?« fragte Hazel nach einer Weile.

»Ich dachte zuerst, sie befänden sich in Stasis, aber ich finde keine Spur von einem Projektor.«

»Sie wurden anscheinend auf irgendeine Art konserviert«, vermutete Ohnesorg. »Ich würde über Leichen gehen, um einen genaueren Blick auf sie zu werfen.«

»Kein Problem«, sagte Tobias Mond und zerschmetterte mit der Faust eine der Seiten wände des Kastens. Owen wirbelte herum, die Waffe in der Faust, jeden Muskel gespannt in Erwartung eines Angriffs, der nie kam. Als er erkannte, was geschehen war, entspannte er sich wieder und funkelte den Hadenmann zornig an.

»Mein lieber Mond, wenn ich unbedingt einen Herzanfall haben möchte, dann spiele ich mit einer voll geladenen Disruptorpistole russisches Roulett. Macht so etwas bitte nie wieder, ohne mich vorher zu warnen. Ihr hättet ein Sicherheitssystem auslösen können!«

»Wir benötigen Informationen«, erwiderte Mond ungerührt.

Der Ärger in Owens Stimme schien ihn vollkommen kalt zu lassen. Er trat durch die zerschmetterte Glaswand, und Splitter knirschten unter seinen Stiefeln. Dann untersuchte er die reglosen Gestalten aus der Nähe. Ohnesorg beeilte sich, dem Hadenmann zu folgen, und dahinter stritten sich Ruby und Hazel um die besseren Plätze. Owen beschloß, daß es wahrscheinlich sicherer war, wenn er nicht als einziger draußen stehen blieb, schüttelte resignierend den Kopf und trottete hinter den anderen her.

Aus der Nähe betrachtet sahen die drei Gestalten noch beunruhigender aus. Mond schubste eine mit dem Finger an. Sie wankte leicht.

»Was zur Hölle ist das?« fragte Hazel leise, als hätte sie Angst, die Statuen könnten sie hören. »Es ist jedenfalls kein Stasisfeld, soviel steht fest.«

»Sie sind konserviert«, sagte Mond. »Sie starben allem Anschein nach einen gewaltsamen Tod. Anschließend wurden ihre Innereien entfernt und ein konservierendes Material hineingepumpt.«

»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Ohnesorg mit Faszination in der Stimme.

»Ich kann die Chemikalien riechen«, erwiderte Mond. »Außerdem finden sich auf der Haut verräterische Spuren, wenn man weiß, wonach man suchen muß.«

Owen beschloß, den Hadenmann nicht zu fragen, wie diese Spuren aussahen. Er dachte nicht, daß er es wirklich wissen wollte.

»He, Todtsteltzer! Wer waren diese Männer deiner Meinung nach?« fragte Ruby.

»Nach den Familienchroniken«, begann Owen langsam, »wurde mein Vorfahr, der Erste Todtsteltzer, von dreien der gefürchtetsten Kopfgeldjäger und Mörder aller Zeiten hierher verfolgt, den berüchtigten Schattenmännern. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört oder gesehen. Anscheinend haben sie ihre vermeintliche Beute gestellt.«

»Du meinst, er hat sie umgelegt und anschließend als Trophäen für die Nachwelt konserviert, sozusagen als abschreckendes Beispiel?« Hazel verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ekelhafter Sinn für Humor, den dein Vorfahr da an den Tag gelegt, hat, Owen. Oder war es vielleicht damals üblich, daß man besiegte Feinde ausstopfte?«

»Nein«, antwortete Owen. »Ganz und gar nicht.« Sie ließen den eingeschlagenen Glaskasten zurück und bewegten sich weiter, immer tiefer in die Burg hinein. Nach diesem Zwischenfall hatten alle ihre Waffen gezogen. Die Leere der Räume schien eine geheimnisvolle Bedeutung zu gewinnen, ja, bedrohlich zu werden. Es war, als würden sie durch eine gigantische Falle stapfen und darauf warten, den Auslöser zu aktivieren. Von Zeit zu Zeit tauchten jetzt mechanische Drohnen auf, schweigsame Apparate verschiedener Größen, die mit unbekannten Aufträgen durch die Stille der Säle glitten.

Sie ignorierten die menschlichen Eindringlinge völlig, welche ihnen ihrerseits geflissentlich aus dem Weg gingen. Die Drohnen variierten in ihrer Gestalt; jede Form war vertreten, von der einfachen Kugel, die auf scheinbar zufälligem Kurs über den makellosen Boden rollte, bis hin zu verblüffend menschenähnlichen Apparaten, die mit unmenschlicher Anmut einherschritten. Owen hatte inzwischen so häufig überrascht die Augenbrauen hochgezogen oder die Stirn gerunzelt, daß er mittlerweile Kopfschmerzen hatte, aber er konnte nicht anders. Niemand produzierte heutzutage noch Maschinen in menschlicher Gestalt. Nicht mehr seit der Rebellion der KIs.

Also mußten diese Androiden schon mehr als neunhundert Jahre durch diese Hallen wandeln und ihren jahrhundertealten Programmen folgen. Niemand konnte Maschinen herstellen, die so lange hielten. Es war eine vergessene Kunst. Zuerst die Portale und dann das hier. Wie viele verborgene Geheimnisse mochten im Herzen der Fluchtburg noch auf sie warten?

Die kleine Gruppe marschierte weiter, immer vorsichtiger, während die Portale sie von Saal zu Saal teleportierten.

Schließlich kamen sie in einer Halle voller Spiegel heraus.

Die Spiegel erstreckten sich vom Boden bis an die Decke und bildeten ein undurchdringliches Labyrinth. Sie bewegten sich ununterbrochen, bogen und drehten sich und reflektierten Licht in jede nur erdenkliche Richtung. Spiegelungen von Spiegelungen von Spiegelungen, und einige von ihnen schienen bis in die Unendlichkeit weiterzugehen. Andere schienen sich unabhängig von den Menschen zu bewegen, die sie verursachten. Owen machte ein paar zögernde Schritte vorwärts, ließ sich zwischen den Spiegeln dahintreiben und folgte Hinweisen und geflüsterten Worten und winkenden Gestalten. Er glaubte, seinen Vater zu sehen und seine lange tote Mutter, andere Gestalten aus seiner Vergangenheit und schließlich sich selbst, alt und gebeugt. Er beobachtete seine Hochzeit, neben sich eine verschleierte Braut, und dann wieder sah er sich kämpfend auf einem von Leichen und Blut übersäten Schlachtfeld. Owen schritt weiter durch das Labyrinth, getrieben von dem Wunsch, mehr zu erfahren, und plötzlich war Hazel neben ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Los, komm weg hier, Owen. Hier sind wir nicht sicher.

Die Spiegel sind eine Falle; sie zeigen dir alles, was du sehen möchtest. Komm mit.«

Widerstrebend ließ Owen sich von ihr wegziehen, und die Gruppe blieb dicht beisammen, bis sie die Spiegelhalle durchquert hatten und auf der anderen Seite an einer weiteren Tür angelangt waren. Jeder hatte Dinge in den Spiegeln gesehen, über die er mit niemand anderem sprechen wollte. Sie betraten das nächste Portal und verschwanden, und niemand vermochte zu sagen, ob oder wie lange ihre Bilder noch in den Spiegeln spukten.

Owen kam als erster auf der anderen Seite hervor und fand sich in einer Welt aus Eis. Zehn Zentimeter hoher Schnee bedeckte den Boden, und lange Eiszapfen hingen von der Decke herab. Dicker Rauhreif bedeckte die Wände mit rätselhaft verschlungenen Mustern. Es war bitter kalt, und Owen erschauerte unwillkürlich. Er wickelte seinen Umhang fest um sich, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie sein Atem in der Luft kondensierte, während er versuchte, sein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Hinter ihm trafen die anderen ein, und drängten sich auf der Suche nach Wärme dicht zusammen. Mit Ausnahme von Tobias Mond. Die Kälte schien ihn völlig unberührt zu lassen.

Langsam stieg in Owen die Erinnerung wieder hoch, aus welchem Grund er eigentlich hier war. Der Schock der unerwarteten Kälte hatte ihn einen Augenblick lang aus der Fassung gebracht, aber jetzt blickte er sich wachsam um. Die Luft war eisig, und ein wenig Dunst hing in ihr. Die Halle war im Vergleich zu einigen anderen, durch die sie bereits gekommen waren, nicht allzu groß, aber sie erweckte trotzdem den Eindruck von Riesenhaftigkeit, beinahe als wären die Wände nicht dick genug, um alles zu bewachen, was sich in ihr befand.

Mitten im Saal schien ein helles Licht von der Decke herab bis zum Boden, eine silberne Säule aus Helligkeit, und in dieser Säule stand ein Mann. Er stand unnatürlich still, wie die drei Schattenmänner in der zerschmetterten gläsernen Vitrine, festgehalten vom Licht, wie ein Schmetterling von Nadeln durchbohrt in seinem Glaskasten festgehalten wurde.

Owen setzte sich in Bewegung, angetrieben zum Teil von Neugier, zum anderen von Ehrfurcht. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, und ihm kam zu Bewußtsein, daß er der erste Mensch war, der über diesen Schnee ging, seit er vor mehr als neunhundert Jahren gefallen war. Owen fühlte sich auf eigenartige Weise, als wäre er in der Zeit zurückgereist, seit er diesen Raum betreten hatte, zurück in ein Zeitalter, in dem das Imperium noch jung und neu war, ein Produkt großer Männer und Frauen, mutig und verwegen geschnitzt aus der gefühllosen Leere des Weltalls. Schon in jenen Tagen hatte es Helden und Bösewichter gegeben – als die Ereignisse noch größer gewesen waren als das Leben selbst und alles eine andere Dimension besessen hatte. Damals wandelten Giganten auf der Bühne des Imperiums, und dieser hier war einer von ihnen gewesen. Owen blieb dicht vor der silbernen Säule stehen und musterte den Mann darin.

Er war so groß wie Owen, aber schmaler gebaut, obwohl seine Arme vor Muskeln nur so strotzten. Er schien Anfang Fünfzig zu sein, besaß ein hartes, zerfurchtes Gesicht, trug einen silbernen Kinnbart und langes, graues Haar, das hinter dem Nacken von einem Band gehalten wurde. Der Mann war in abgetragene, formlose Felle gekleidet, die ein breiter Ledergürtel vor der Brust hielt. Seine Füße steckten in ledernen Stiefeln, die sich an den Nähten auflösten. An den Handgelenken trug er dicke goldene Armbänder, und an den Fingern steckten schwere Ringe. Auf seinem Rücken hing ein langes Schwert in einer Lederscheide, und an dem breiten Ledergürtel baumelte in ihrem Halfter eine Pistole, wie sie Owen noch nie zu vor gesehen hatte. Die Gestalt vermittelte ganz den Eindruck gelassener Ruhe. Trotz ihrer geschlossenen Augen schien es beinahe, als würde sie nur für einen Augenblick nachdenken und könnte jederzeit wieder wach um sich blicken.

»Das ist er also«, sagte Hazel plötzlich neben ihm, und Owen machte einen erschrockenen Satz zur Seite. Er hatte nicht gehört, wie sie von hinten herangetreten war. Die anderen versammelten sich jetzt ebenfalls um die silberne Säule aus Licht, aber in gebührendem Abstand – nur für den Fall.

Sie schienen sehr beeindruckt von der Umgebung und erst recht von der Gestalt des Ersten Todtsteltzers. Owen zog in Gedanken unwillkürlich einen Vergleich mit einem in Bernstein eingeschlossenen Insekt.

»Das ist er«, antwortete er schließlich, sorgfältig darauf bedacht, seine Stimme ruhig und gleichgültig klingen zu lassen.

»Der Todtsteltzer. Der ursprüngliche Todtsteltzer. Der Gründer meines Clans. Wir singen noch immer Lieder über seine Tapferkeit und Heldentaten, obwohl das Imperium ihn damals verbannt hatte. Er ruht seit über neunhundert Jahren hier und wartet darauf, daß jemand kommt und ihn weckt. Wartet, während sich das Rad der Geschichte weiterdrehte und das Imperium sich ohne ihn entwickelte.«

»Er macht jedenfalls nicht besonders viel her«, brummte Ruby Reise. »Ich würde es jederzeit mit ihm aufnehmen.«

»Wollen wir ihn wirklich aufwecken?« fragte Jakob Ohnesorg. »Ich meine, er schläft schon seit so langer Zeit, und die Dinge haben sich geändert. Vielleicht würde es ihm schwerfallen, sich daran zu gewöhnen.«

»Er war ein Krieger«, erwiderte Owen. »Und einige Dinge ändern sich nie. Familie. Loyalität. Betrug und Verrat. Ich schätze, er wird sich ziemlich schnell anpassen. Und außerdem brauchen wir ihn.«

»Du hast recht«, stimmte ihm Hazel zu. »Manche Dinge ändern sich nie.«

Owen schwieg. Er trat einen weiteren Schritt vor und schob die Hand mit dem Ring seines Vaters in die silbern schimmernde Säule aus Licht. Plötzlich umgab ihn blendende Helligkeit, und er mußte den Kopf zur Seite drehen. Owen versuchte zurückzuweichen, doch seine Hand war unverrückbar in der Säule gefangen. Ein leises Brummen erfüllte den Raum, als würden unbekannte, uralte Maschinen zu neuem Leben erwachen, und der Boden schüttelte sich. Eiszapfen brachen von der Decke herab und krachten wie schwere Dolche zu Boden. Dann erlosch das blendende Licht mit einem Schlag, als hätte es nie existiert. Owen blickte wieder zu seinem Vorfahren und sah mit Erstaunen, wie sich die Brust des Mannes hob und senkte. Dann hob er den Kopf und öffnete die Augen.

Sie leuchteten in einem überraschend sanften Grau, doch sein Blick war fest und direkt. Er musterte Owen eine Weile, dann schüttelte er den Kopf.

»Ich kenne dich nicht, aber du trägst meinen Ring.« Seine Stimme klang ruhig und selbstsicher, die Stimme eines Mannes, der an Macht gewöhnt war. »Gehörst du zur Familie, Junge?«

»Jawohl, Sir. Mein Name ist Owen Todtsteltzer. Ich bin Euer Nachfahre. Ich bin das Oberhaupt des Todtsteltzer-Clans, obwohl die gegenwärtige Imperatorin mich ausgestoßen und für vogelfrei erklärt und versucht hat, mir meinen Titel zu nehmen. Ich brauche Eure Hilfe, Verwandter. Das Imperium hat sich gegen mich gewandt, genau wie es sich gegen Euch gewandt hat. Es ist an der Zeit, daß Ihr Euer Schwert wieder aufnehmt.«

»Vielleicht, Sohn, vielleicht«, sagte der Erste Todtsteltzer.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Neunhundertdreiundvierzig Jahre, Verwandter.«

»Und haben sich die Dinge seit meinen Tagen sehr verändert?«

»Überraschend wenig, Verwandter. Im Grunde genommen ist immer noch alles wie zu Eurer Zeit. Ich habe die Vergangenheit des Imperiums studiert. Ich bin Historiker, müßt Ihr wissen.«

Der ältere Todtsteltzer musterte den jüngeren mit hartem Blick. »Was soll das denn für ein Beruf für einen Todtsteltzer sein? In welchen Schlachten hast du gekämpft? In wie vielen Kriegen?«

»Ehrlich gesagt, in keinem«, gestand Owen. »Ich bin kein Kämpfer, wißt Ihr?«

Der alte Todtsteltzer schüttelte langsam den Kopf. »Ich war wohl zu lange weg. Das Blut scheint dünn geworden zu sein.

Aber jetzt laß uns zusehen, daß wir hier rauskommen, Junge.

Mir wird allmählich kalt. Erinnert mich zu sehr an ein Grab. – Du kannst mich über den Stand der Dinge unterrichten, während wir gehen. Und noch etwas: Nenn mich Giles. So lautete mein Name, bevor ich den Clan der Todtsteltzer gründete.«

Er ging in Richtung des Ausgangs und ließ dem Rest von Owens Begleitern eben genug Zeit, zur Seite auszuweichen.

Owen beeilte sich, ihm zu folgen, und seine Kameraden hasteten hinter den beiden Todtsteltzern her.

»Historiker!« brummte Giles nachdenklich. »Jetzt erzähl mal, wie weit ist die Wissenschaft während meiner Abwesenheit fortgeschritten? Benutzt ihr immer noch Disruptoren?«

»Jawohl, Sir, äh… Giles. Das Imperium hat Wissenschaft und Forschung all die Jahrhunderte sorgfältig unter Kontrolle gehalten. Es trägt zur Stabilisierung bei und reserviert allen Fortschritt für die herrschende Klasse. Eigentlich ein recht primitiver Weg, um die Macht zu erhalten. Wir benutzen noch immer Disruptorpistolen. Die Nachladezeiten haben sich allerdings auf zwei Minuten verringert.«

Giles rümpfte die Nase. »Ich schätze, das ist wirklich ein Fortschritt. Energiepistolen. Kleine Blitzwerfer. Mächtige Waffen, aber von eingeschränktem Nutzwert. Projektilwaffen sind viel flexibler, aber sie waren schon damals dabei, sie im gesamten Imperium zu verbannen, als ich in aller Eile verschwinden mußte. Die Aristokratie wollte, daß man sie ausrottet. Sie waren zu einfach herzustellen, zu einfach zu benutzen, und sie bedeuteten viel zuviel Macht in den Händen der niederen Stände. Energiewaffen sind anders. Ihre Produktion kostet viel Geld, und ihre Herstellung ist alles andere als einfach. Also ersetzt man einfach Projektilwaffen durch Energiewaffen, und schon befinden sich die einzig nützlichen Waffen ganz automatisch in den Händen der herrschenden Klassen und ihrer Schergen. Gut gedacht. Aber ich persönlich hielt nie etwas von dieser Idee, und das ist mindestens zum Teil der Grund, warum ich hier geendet bin.«

Er blieb vor dem Portal stehen und befahl »Waffenkammer!« Dann trat er hindurch und verschwand. Owen warf seinen Begleitern einen Blick zu.

»Und? Was denkt Ihr darüber? Folgen wir ihm?«

»Er ist schließlich dein Vorfahre«, brummte Hazel. »Können wir ihm vertrauen?«

»Ich weiß es nicht. Er ist nicht gerade das, was ich erwartet habe.«

»Seht es einmal so«, meldete sich Jakob Ohnesorg. »Welche andere Wahl bleibt uns? Ohne seine Hilfe finden wir nicht einmal den Ausgang.«

Er trat durch das Portal, und der Rest der Gruppe folgte ihm.

Owen ging als letzter. Als er auf der anderen Seite wieder herauskam, fiel ihm vor Staunen die Kinnlade herab. Er befand sich in einer weiteren gewaltigen Halle, die sich, so weit das Auge reichte, vor ihm ausdehnte. Die Wände waren mit mehr verschiedenen Arten von Waffen bedeckt, als er je zuvor in seinem Leben zu sehen bekommen hatte. Handwaffen und Gewehre aller Größen und Kaliber, einschließlich einiger, deren Gewicht alleine bestimmt zwei Mann zur Bedienung und zum Transport erforderte. Und was das bemerkenswerteste war: keine einzige schien eine Energiewaffe zu sein.

»Was zur Hölle ist das?« flüsterte Hazel neben ihm.

»Projektilwaffen?« vermutete Owen. »Ich habe Holos in einigen älteren Archiven gesehen. Sie sind effektiv und einfach zu bedienen, aber verdammt nutzlos gegen EnergieSchilde.

Sie schießen ungenauer und besitzen eine viel geringere Reichweite als Energiewaffen, deswegen wurden sie ja auch gegen Disruptoren ausgetauscht. So lautet jedenfalls die offizielle Version der Geschichte.«

»Sie ist nicht ganz unwahr«, erklärte Giles. »Ein Disruptor ist jeder Projektilwaffe überlegen, aber auf der anderen Seite benötigen Projektilwaffen keine zwei Minuten, um nachzuladen. Man kann Schuß auf Schuß abgeben, solange die Munition ausreicht. Ihr wärt überrascht, wenn ihr sehen könntet, wieviel Schaden eine Salve von tausend Schuß pro Minute anrichten kann. Ich lagere hier Waffen für jede Einsatzmöglichkeit, kleine und große. Ich besitze Waffen, mit denen man einen einzelnen Mann aus einer Entfernung von mehr als drei Kilometern mitten aus einer Gruppe heraus niederschießen kann, und andere, die ganze Städte dem Erdboden gleichmachen können.«

»Außer, wenn sie durch Energieschirme geschützt sind«, warf Owen ein.

Giles grinste ihn an. »Schon besser, Junge. Wenigstens denken kannst du wie ein Krieger. Energieschilde sind eine feine Sache, aber auch sie besitzen eine eingebaute Schwachstelle.

Sie halten nur so lange wie die Energiekristalle, die sie versorgen. Und wenn die Kristalle erst mal erschöpft sind, dauert es eine Ewigkeit, sie wieder aufzuladen. Also muß man lediglich einen konstanten Beschuß durchhalten und geduldig warten, und dann…«Er gestikulierte großartig in Richtung von Owens Kameraden. »Seht Euch nur um. Seht nach, ob nicht auch etwas Passendes für Euch dabei ist. Du nicht, junger Todtsteltzer. Du bleibst bei mir, mein Junge.«

Er wartete, bis die anderen weg waren, dann wandte er sich wieder zu Owen und senkte die Stimme zu einem Flüstern.

»Jetzt erzähl mal. Wie groß ist deine Armee? Wie viele Leute muß ich mit Waffen ausrüsten?«

Owen sah seinen Vorfahren verblüfft an. »Genaugenommen besitze ich keine Armee. Es gibt nur mich selbst und meine Partner hier. Unser Schiff ist nicht weit von der Burg entfernt in den Dschungel gestürzt. Es ist nur noch ein Wrack. Wir sind alle, und wir sind allein.«

Giles schürzte die Lippen und nickte langsam. »Todtsteltzerglück. Typisch. Immer im Pech. Zum Glück für dich besitze ich ein Schiff, Junge. Wie stark sind die Truppen auf deinen Fersen? Ich gehe doch recht in der Annahme, daß das Imperium dicht auf deinen Fersen war, als du hierhergekommen bist?«

»Jawohl Sir, äh… Giles. Zwei Imperiale Sternenkreuzer.«

Giles blickte ihn zum ersten Mal mit einem gewissen Respekt an. »Gar nicht schlecht. Aber mach dir keine Sorgen Wir werden von hier verschwunden sein, lange bevor sie uns finden können. Erzähl mir von deinen Freunden, Junge. Sind sie gute Kämpfer? Verläßlich?«

»Sie sind die besten. Hazel d’Ark ist eine ehemalige Piratin und Klonpascherin. Ruby Reise ist eine berüchtigte Kopfgeldjägerin, Jakob Ohnesorg ist ein Berufsrebell, und der beunruhigend aussehende Mann dort ist Tobias Mond. Er ist ein aufgerüsteter Mensch.«

»Ein Kyborg? Als ich verschwinden mußte, waren Kyborgs noch im Experimentalstadium. Taugt er etwas im Kampf?«

Owen grinste. »Mond nimmt es mit jedem auf. Wirklich jedem. Aber ich an deiner Stelle würde ihm nicht zu häufig den Rücken zukehren. Aufgerüstete Männer haben oft ihre eigenen, geheimen Pläne.«

»Kann ich mich denn auf deine Kameraden verlassen? Folgen sie Befehlen?«

»Vielleicht. Schließlich sind sie Gesetzlose wie ich. Und wie du, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Wenn du sie überzeugst, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, mit dir zusammenzuarbeiten, dann folgen sie dir auch. Aber wenn du meinst, du müßtest ihnen nur Befehle erteilen und schon würden sie vor dir in Habacht springen, dann täuschst du dich. Sie haben für Autoritäten im allgemeinen und Aristokraten im besonderen keinerlei Sympathien übrig. Aber sie sind gute Leute. Meistenteils.«

»Und was ist mit dir, Owen Todtsteltzer? Du bist Historiker? Kannst du wenigstens kämpfen?«

»Ich schlage mich ganz gut«, erwiderte Owen mit fester Stimme. »Ich wurde von den besten Lehrern ausgebildet, und ich habe den Zorn. Ich kann alleine auf mich aufpassen.«

»Du hast den Zorn? Das ist noch so eine Sache, mit der meine Leute herumexperimentierten, als ich verschwand. Du steckst voller Überraschungen, Junge. Unglücklicherweise habe ich aber auch eine für dich. Nach meinen Lektronen zu urteilen ist in diesem Augenblick ein Imperialer Sternenkreuzer in einen Orbit um Shandrakor eingeschwenkt. Die Burg ist vor ihren Sensoren abgeschirmt, es sei denn, sie haben ihre Ortungstechnologie seit meinen Tagen radikal verbessert - aber dein Wrack ist es nicht. Sie werden sicher nicht lange brauchen, um es zu entdecken. Anschließend werden sie schwerbewaffnete Truppen landen und nach Überlebenden suchen. Ich habe deine KI inzwischen in die Systeme der Burg überspielt; ziemlich fortgeschrittenes System übrigens, aber bei weitem nicht so schlau, wie sie meint.«

»Oz!« sagte Owen erleichtert. »Bist du da?«

»Wo soll ich denn deiner Meinung nach sonst sein, Owen?« erklang Ozymandius’ Stimme aus verborgenen Lautsprechern. »Du solltest dir mal dieses antiquierte System ansehen, in das man mich gesteckt hat! Würde mich kein bißchen überraschen, wenn die Lektronen hier mit Dampf betrieben werden. Gib mir eine Woche oder zwei, und ich bringe die ganze Anlage auf Vordermann, Owen.«

»Du wirst dich zurückhalten. Wir sind hier nur zu Gast. Wir reden später weiter, Oz. Für jetzt möchte ich nur, daß du Augen und Ohren offenhältst und dich nützlich machst, wo es geht.«

»Verstanden, Boß.«

Owen blickte zu Giles. »Er begleitet mich seit meiner Kindheit. Er ist ziemlich gut in allem, was er unternimmt, aber er nervt manchmal wie Hämorrhoiden.«

»Das habe ich gehört!« »Halt die Klappe, Oz!«

»Sag mir, Junge«, begann Giles. »Aus welchem Grund bist du hergekommen?« Giles Blicke durchbohrten Owen förmlich, und der jüngere Todtsteltzer dachte keinen Augenblick daran, seinen Vorfahren zu belügen.

»Meine einzige Hoffnung zu überleben besteht darin, eine Rebellion gegen das Imperium anzustiften. Und dazu benötige ich den Dunkelwüsten-Projektor. Hast du ihn noch?«

»Nein. Aber ich weiß, wo er ist. Ich habe ihn nur ein einziges Mal benutzt, und tausend Sonnen verschwanden von einem Augenblick zum andern und hinterließen nichts als endlose Finsternis. Die Dunkelwüste. Tausende bewohnter Planeten verloren plötzlich ihre Sonnen, und Milliarden von Menschen starben. Das sind eine ganze Menge Geister, die ein Mann nach einer solchen Tat mit sich herumschleppt. Ich habe viele fragwürdige Dinge in meiner Zeit als Oberster Krieger des Imperiums getan und bin immer wieder mit mir ins reine gekommen, aber das war zuviel, selbst für jemanden wie mich.

Ich hatte einen Eid geschworen, das Imperium zu schützen und zu bewahren, und nicht, es zum puren Vergnügen anderer Stück für Stück zu zerstören, Junge. Der Dunkelwüsten-Projektor entstand rein zufällig, während ich an etwas anderem arbeitete. Ich war der einzige Mensch, der ihn bedienen konnte, und so war ich für ihn verantwortlich. Und ich tat das einzig Verantwortliche, das mir geblieben war: Ich nahm den Projektor und floh. Ich versteckte mich hier, wo mich niemand außer meiner Familie finden konnte. Und nur um ganz sicherzugehen, versteckte ich den Projektor an einem anderen Ort. Ich ließ ihn im Herzen des Labyrinths des Wahnsinns, auf dem kalten Leichnam der Wolflingswelt tief innerhalb der Dunkelwüste.«

Owen musterte seinen Vorfahren schweigend, während er nach Worten suchte. Die Wolflinge waren ein Teil der Legende: die ersten gentechnologisch erzeugten menschlichen Wesen. Sie sollten lebende Mordmaschinen gewesen sein, die vollkommenen Soldaten; unglücklicherweise hatten die Forscher des Imperiums ihre Aufgabe ein wenig zu gut gelöst.

Die Wolflinge waren unschlagbar. Das Imperium machte sich schließlich Sorgen wegen seiner eigenen Geschöpfe und löschte die Wolflinge aus, solange sie noch auf ihrer Welt gefangen waren. Und dann, als die Wolflingswelt Teil der Dunkelwüste wurde, verloren sich ihre Spuren in der Geschichte. Kein Wunder, daß niemand jemals den Dunkelwüsten-Projektor gefunden hatte und zurückgekommen war, um davon zu berichten.

»Wir brauchen den Projektor«, sagte Owen schließlich.

»Unsere Rebellion hat nicht den Hauch einer Chance ohne ihn.«

Giles blickte seinem Nachfahren fest in die Augen. »Und deine Rebellion – ist sie wirklich so wichtig?«

»Du hast ziemlich lange geschlafen, alter Mann«, sagte Hazel in ihrer respektlosen Art. Sie stand plötzlich neben Owen.

»Du hast überhaupt keine Ahnung, wie schlecht die Dinge stehen. Wenn man reich ist und Beziehungen hat, kann man alles haben, was das Herz begehrt, kann sich alles erlauben und alles tun, und niemand stellt sich einem in den Weg. Man kann nach Belieben Leben vernichten, und es gibt niemanden, der einen zur Rechenschaft zieht.«

»Sie benutzen uns und werfen uns anschließend weg«, sagte Mond. »Und kein Schwein kümmert sich darum.«

»Ich kämpfe gegen das Imperium, seit ich erwachsen bin«, sagte Jakob Ohnesorg. »Ich habe auf mehr als hundert Welten gekämpft und mein Blut und das meiner Männer gelassen, nur um an Ende mit anzusehen, daß der Kampf um Recht und Gesetz umsonst war. Das Imperium besitzt die Schiffe und die Waffen und die Armeen, und wir haben nichts als unseren gerechten Zorn. Aber das reicht einfach nicht.«

Giles blickte zu Ruby Reise. Sie stand ein wenig abseits und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie schien sich zu langweilen. »Und was ist mit Euch, Kopfgeldjägerin? Habt Ihr auch etwas zu diesem Thema zu sagen? Keine Appelle an mein Gewissen?«

Ruby blickte ihn kühl an. »Ich habe nicht schlecht davon gelebt, die Feinde der Imperatorin zu jagen und zur Strecke zu bringen. Alles Banditen und Gesetzlose. Und jetzt bin ich selbst eine. Ist doch lustig, wie die Dinge sich manchmal ändern, nicht wahr?«

»Und was hat Euch geändert?«

Ruby lächelte. »Hazel hier ist meine Freundin. Sie hat normalerweise genug Verstand, um aus dem Regen zu bleiben, aber manchmal kommt einem der Regen hinterher, ganz egal, wohin man geht. Die Imperatorin will sie tot, und ich will sie lebend. Also zur Hölle mit dem Imperium. Außerdem hat man mir soviel Beute versprochen, wie ich nur tragen kann, wenn unsere Seite gewinnt. Du würdest staunen, Todtsteltzer, wenn du sehen könntest, wieviel ich tragen kann, wenn ich mich wirklich anstrenge.«

Hazel lächelte ihr dankbar zu. »Ruby! Ich wußte gar nicht, daß du dir Sorgen um mich machst!«

»Bilde dir ja nichts darauf ein! Wenn die Belohnung auf deinen Kopf nur ein klein wenig höher gewesen wäre, hätten sich die Dinge vielleicht ganz anders entwickelt…«

Giles wandte sich wieder zu Owen. »Gesetzt den Fall, ich führe dich zum Versteck des Projektors – was würdest du damit anfangen? Er ist keine besonders subtile Waffe, weißt du? Mit seiner Hilfe könntest du jeden Planeten zerstören, den die Imperatorin zur Zeit als Heimatwelt benutzt – aber nur, indem du tausend andere Welten mit ins Verderben reißt.

Könntest du das? Könntest du eine weitere Dunkelwüste schaffen, mitten im Herzen des Imperiums?«

»Du hast ihn eingesetzt«, sagte Owen kleinlaut.

»Und? Siehst du, was meine Tat aus mir gemacht hat? Ich dachte, ich hätte einen guten Grund, so zu handeln. Ich habe mich geirrt. Wie steht es mit dir, Junge? Welchen Preis bist du bereit, für deinen Sieg zu zahlen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe schon genug Morden und Töten gesehen, und nichts davon hatte einen › guten Grund ‹, wie du es nennst.« Das junge Mädchen lag schreiend vor Schmerz im Schnee von Nebelwelt. Seine Klinge hatte sie für immer verkrüppelt. »Vielleicht will ich nur sehen, daß der Projektor vernichtet wird, bevor die Imperatorin ihn in ihre Hände kriegen kann. Sie würde jedenfalls keinen Augenblick zögern, ihn einzusetzen. Ich weiß es nicht, Giles. Ich kann eine Entscheidung wie diese nicht treffen. Ich bin nur ein Historiker. Ich verkrieche mich hinter alten Büchern und Aufzeichnungen.

Ich bin kein Krieger oder Revoluzzer. Frag Jakob. Oder Hazel. Frag jeden, nur nicht mich.«

»Genau das meine ich«, erwiderte der alte Todtsteltzer.

»Aber am Ende tat ich dann doch, was ich tun zu müssen glaubte, und genau das wirst auch du tun, wenn die Zeit reif ist.

Ich werde dich zum Dunkelwüsten-Projektor führen. Und laßt uns alle beten, daß wir vor der Imperatorin dort ankommen.«

»Du hast ein Schiff?« fragte Hazel.

»O ja, natürlich«, erwiderte Giles. »Natürlich besitze ich ein Schiff.«

»Und wie lange wird es dauern, das Schiff einsatzbereit zu machen?« zweifelte Hazel. »Es ist sicher in einem hundserbärmlichem Zustand, nachdem es so viele Jahrhunderte in Mottenkugeln verbracht hat.«

»Meine Lektronen haben im gleichen Augenblick damit begonnen, das Schiff in einen einsatzbereiten Zustand zu versetzen, in dem ich erwachte«, erwiderte der alte Todtsteltzer.

»Außerdem wurde es die ganze Zeit über gut gewartet. Ich habe irgendwie immer geahnt, daß ich eines Tages in Eile abreisen würde.«

»Es sollte besser ein schnelles Schiff sein«, sagte Ruby.

»Eine Menge wildentschlossener Leute sind uns auf den Fersen, ganz besonders die im Orbit.«

»Und ich muß Passage von Euch erbitten«, sagte Mond. Giles blickte den Kyborg interessiert an. In seiner fremdartigen, nichtmenschlichen Stimme lag ein ungewohntes Drängen.

»Mein Volk wurde auf der verlorenen Welt Haden geschaffen. Sie ist verloren, weil niemand ihren wirklichen Namen kennt und weil sie in der Dunkelwüste liegt. Aber bevor meine Ahnen sie fanden und ihr Inneres umwandelten, nannte man sie die Wolflingswelt.«

»Wenn das kein Zufall ist!« rief Hazel. »Der Dunkelwüsten-Projektor und die schlafende Armee von Hadenmännern, und beide auf dem demselben Planeten! Wie groß stehen die Chancen für einen derartigen Zufall?«

»Zu verdammt klein für meinen Geschmack«, sagte Owen.

»Wenn ich es nicht besser wüßte, dann könnte ich schwören, daß mein Vater dahintersteckt. Es würde jedenfalls hervorragend zu ihm passen.«

»Aber wahrscheinlicher ist, daß ich meine Spuren nicht so gut verwischt habe, wie ich eigentlich wollte«, sagte Giles.

»Und wenn jemand anderes die Wolflingswelt finden konnte, dann kann ein Dritter sie jederzeit auch finden. Ich denke, es wird höchste Zeit, daß wir uns in Bewegung setzen.«

»Klingt nach einem guten Vorschlag«, sagte Jakob Ohnesorg. Er blickte sich reumütig in der Waffenkammer um. »Ihr habt ein paar wundervolle Spielzeuge hier, Todtsteltzer. Ich hätte eine Sammlung wie diese hier verdammt oft dringend gebrauchen können, aber Waffen sind immer der teuerste Teil einer Rebellion. Gegen wen sollten die Euren eigentlich eingesetzt werden?«

»Gegen die gleichen Leute, gegen die ich den Projektor einsetzte. Es hatte eine Rebellion gegen das Imperium gegeben.

In großem Maßstab, bestens vorbereitet, mit Unmengen von Waffen und Männern, die damit umgehen konnten. Ich tötete sie alle in einem einzigen Augenblick. Man bot ihnen nicht einmal eine Gelegenheit, sich zu ergeben.«

»Moment mal!« unterbrach ihn Owen. »Das steht in den offiziellen Aufzeichnungen aber ganz anders! Der Projektor wurde erst eingesetzt, nachdem jedes andere Mittel versagt hatte. Das Imperium selbst war in Gefahr. Deshalb haben sie den Projektor eingesetzt.«

»Nicht sie, Junge«, sagte Giles. »Ich. Mein Mund war es, der den Befehl erteilte. Es gab keine Warnung, keine Verhandlungen, nichts. Und vor allen Dingen bestand keinerlei Gefahr für das Imperium.«

»Und warum hast du es dann getan?« wollte Hazel wissen.

»Er war mein Imperator.« Giles verstummte. Eine ganze Weile herrschte Schweigen, und niemand wagte, als erster das Wort zu ergreifen. Schließlich zuckte der alte Todtsteltzer die Schultern und lächelte Owen zu. »Die Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben, Junge. Das solltest du eigentlich wissen.«

An Bord des Imperialen Sternenkreuzers Unerschrocken im Orbit von Shandrakor betrachtete Kapitän Johan Schwejksam nachdenklich den Sichtschirm auf der Brücke. Nach den Ergebnissen der ersten Sondierungen zu urteilen war der gesamte Planet von mörderischen Lebensformen bevölkert. Keine Zivilisationen, auch keine vergangenen. Keinerlei Anzeichen von intelligentem Leben mit Ausnahme einer gewissen abgestürzten Raumjacht, deren Wrack im Augenblick auf dem großen Schirm zu sehen war. Investigator Frost stand neben dem Kommandositz, schweigend und mißgelaunt. Sie hätte zu gerne das Landungsunternehmen angeführt, das gerade dabei war, das gestrandete Schiff zu untersuchen; und sie schmollte noch immer, weil Schwejksam nein gesagt hatte. Es war ihm nicht leichtgefallen. Wenn jemand wie geschaffen war, dieses Schlachthaus dort unten zu überleben, dann Frost. Aber wenn die Vogelfreien irgendwie an ein anderes Schiff kommen sollten, dann hätte die Unerschrocken in größter Eile hinterherjagen müssen, selbst auf die Gefahr hin, daß das Landungsteam zurückblieb. Und das bedeutete, er konnte nur Leute nach unten schicken, die entbehrlich waren. Schwejksam seufzte leise und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stimme, die die Bilder auf dem großen Sichtschirm kommentierte.

»Das Schiff… es ist nur noch ein Wrack. Ausgedehnte Schäden, die meisten bereits vor der Landung entstanden.

Keine Spur von der Besatzung. Hier und da menschliches Blut… nicht genug für eine ernsthafte Verletzung. Der Hyperraumantrieb ist verschwunden. Einfach herausgeschnitten.

Professionell. Jemand war vor uns da, Kapitän.«

»Verstanden, Leutnant. Fahrt fort mit Eurer Untersuchung.

Schwejksam Ende.« Er wandte sich vom Schirm ab und sah zu Frost. »Was meint Ihr, Investigator? Könnte es sein, daß auf diesem Planeten Menschen leben oder sogar Stützpunkte existieren, von denen das Imperium nichts weiß?«

»Möglich wäre es, Kapitän.« Ihre Stimme klang kalt und unbeteiligt wie immer. »Sie könnten sich gegen unsere Sensoren abgeschirmt haben. Allerdings würde das eine Menge Energie kosten. Vielleicht leben sie unter der Oberfläche. Das würde Sinn machen, jedenfalls wenn man bedenkt, wie es oben aussieht.«

»Kapitän!« rief eine aufgeregte Stimme. »Ortungszentrale hier. Wir empfangen Signale von der Planetenoberfläche! Sie haben ihren Schirm fallen gelassen!«

Frost und Schwejksam blickten wieder auf den Bildschirm.

Das Schiffswrack war dem Bild einer gewaltigen steinernen Burg gewichen.

»Was zur Hölle ist das?« fragte Schwejksam.

»Eine Burg. Genauer gesagt, eine Fluchtburg. Ähnlich denen, wie sie die Aristokratie vor vielleicht neunhundert Jahren benutzt hat«, antwortete Frost. »Allen anderen war es bei Strafe eines schmerzhaften Todes verboten, eine solche Burg zu errichten. Ich schätze, damit ist klar, wo die Banditen und ihr Hyperraumantrieb abgeblieben sind.«

»Wie weit ist die Burg vom Wrack entfernt?«

»Vielleicht einen Kilometer, Kapitän«, antwortete der Offizier an den Sensoren. »Die wilden Kreaturen im Dschungel würden die Landungsmannschaft ohne spezielle Ausrüstung schlachten, bevor sie auch nur die Hälfte des Weges zurückgelegt hätte.«

»Er hat recht«, sagte Frost. »Ihr werdet eine volle Kompanie von Marineinfanteristen benötigen, bewaffnet und gepanzert bis an die Zähne, und außerdem einen extrem umsichtigen Anführer…«

»Also gut, Investigator. Ihr habt gewonnen.« Schwejksam mußte gegen seinen Willen grinsen. »Ihr könnt die zweite Landungstruppe anführen. Trefft alle notwendigen Vorbereitungen.«

»Es wird Zeit zu verschwinden«, sagte Giles. »Ich habe die Schirme der Burg heruntergefahren, weil wir die zusätzliche Energie für den Start benötigen. Ich hätte nie geglaubt, daß ich diesen Planeten noch einmal verlasse, aber ich hatte es gehofft. Tja, man soll die Hoffnung eben nie aufgeben.«

»Wie weit ist es bis zu deinem Schiff?« fragte Owen schnell. In ihm regte sich der schreckliche Verdacht, daß sein Vorfahr einen sentimentalen Anfall erlitt, und er war nicht sicher, ob er Sentimentalitäten im Augenblick ertragen konnte. »Besser nicht zu weit. Mit den abgeschalteten Tarnschilden sind wir für den Sternenkreuzer im Orbit ein leichtes Ziel.«

»Es ist nicht weit«, erwiderte Giles und lächelte schwach.

»Überhaupt nicht. Lektronen, Startprozeduren einleiten!«

Owen blickte mit leerem Gesicht zu seinem Vorfahren, als der Raum ringsumher sich zu schütteln und zu rumpeln begann. Tief unter seinen Füßen konnte er das anwachsende Brüllen mächtiger Maschinen hören. »Moment mal! Einen verdammten Augenblick! Das Schiff ist ein Teil der Burg?

Sind wir etwa schon drin?«

»Nein, nicht Teil«, korrigierte ihn Giles. »Die Burg ist das Schiff. Und umgekehrt natürlich.«

»Wir springen mit einer Burg aus Steinen, die seit über neunhundert Jahren auf einem Fleck gestanden hat, in den Hyperraum??!«

»In meinen Tagen wurde noch für die Ewigkeit gebaut«, erwiderte Giles ungerührt. »Frag deinen Lektron, wenn du mehr Einzelheiten möchtest.«

»Oz? Bist du da? Melde dich!«

»Ja, ich bin da. Wo sollte ich denn deiner Meinung nach sonst sein? Du würdest nicht glauben, wie eng es hier ist! Einige dieser Systeme sind ganz eindeutig prähistorisch. Ich kann nicht glauben, daß man mir zumutet, in so einem beengten System zu wohnen. Hier gibt es nicht einmal genügend Platz, um ein Neuron zu schwingen!«

»Erzähl mir von dieser Burg, Oz, oder ich verspreche dir, ich reprogrammiere dich mit einem stumpfen Löffel! Ist die Burg wirklich ein Raumschiff?«

»O ja! Ein wenig langsam und behäbig, aber es bringt dich voran. Paß auf, daß du dir nirgendwo den Kopf anstößt, Owen. Der Start wird ein wenig holprig sein.«

Auf der Brücke der Unerschrocken beobachteten Kapitän Johan Schwejksam und Investigator Frost mit heruntergeklappten Kinnladen, wie die Fluchtburg des Ersten Todtsteltzers sich aus ihrem Fundament löste und in die Luft schoß. Unfaßbar kraftvolle Maschinen schoben die Burg immer weiter in die Höhe. Der Antriebsstrahl drückte den Dschungel mitsamt seinen mächtigen Bäumen im Umkreis von vielen Kilometern platt, doch die Burg schob sich so sanft und sicher in den Himmel wie ein ganz gewöhnliches Raumschiff. »Ich glaube das einfach nicht!« sagte Frost. »Ein steinernes Raumschiff!?«

»Wir haben den Kontakt zum Landungstrupp verloren, Kapitän!« meldete der Überwachungsoffizier aufgeregt.

»Richtschütze, Feuer frei!« befahl Schwejksam. »Blast dieses Ding zu Asche!«

»Unmöglich, Kapitän! Es besitzt mit Abstand die stärksten Energieschilde, die ich jemals gesehen habe! Wir besitzen nichts, um sie auch nur zu kratzen!«

»Verdammt!« entfuhr es Schwejksam.

»Ja, verdammt«, stimmte Frost ihm zu. »Die Imperatorin wird gar nicht erfreut sein, was?«

Schwejksam lehnte sich in seinem Kommandantensitz zurück und versuchte, ohne Panik nachzudenken. »Vielleicht glauben sie, sie wären uns entwischt«, sagte er nach einer Weile. »Aber es ist noch nicht vorbei. Schließlich wissen wir, wohin sie flüchten.«

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