KAPITEL FÜNF FEINDE, FREUNDE, ALLIIERTE

Nebelwelt war der Planet der Rebellen! Der einzige Rebellenplanet im gesamten Imperium. Eine Welt, geschaffen von Renegaten, Verrätern, Aufständischen und Unruhestiftern.

Wer nirgendwo sonst einen sicheren Ort gefunden hatte, der kam nach Nebelwelt. Gesetzlose, Vogelfreie, abtrünnige Esper, Kriminelle, Abschaum und Schmutz, sie alle endeten auf dem Planeten des ewigen Winters, wenn das Imperium ihrer nicht vorher habhaft wurde. Die Welt, die sie sich geschaffen hatten, war weder besonders zivilisiert noch besonders schön. Aber sie war frei, und jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf Nebelwelt würde bis zum Tod kämpfen, damit es auch dabei blieb. Pläne für Rebellionen und Aufstände gegen das Imperium kamen und gingen, ohne viel zu bewirken, weil die Rebellen nur sicher waren, solange sie auf Nebelwelt blieben. Der Planet lag unter einem starken psionischen Schutzschirm, der allem ebenbürtig war, was das Imperium gegen die Nebelwelt schicken konnte. Die einzige Stadt, Nebelhafen, war übersät von Verrätern und Spionen, und nicht wenige davon arbeiteten für das Imperium. Die Herrscherin liebte es zu wissen, was auf sie zukam.

Und zu diesem letzten Refugium, dieser letzten Hoffnung, diesem letzten Wurf der Schicksalswürfel kamen Hazel d’Ark und Owen Todtsteltzer, die ehemalige Klonpascherin und der vogelfreie Lord, um eine Rebellion anzuzetteln, die sich bis weit über die Grenzen der Welt erstrecken sollte, auf der alles begann.

Die Sonnenschreiter schoß aus dem Hyperraum wie eine Kugel aus einer Kanone, und dann senkte sie sich beinahe zögernd in einen weiten Orbit um Nebelwelt. Die Schilde fuhren hoch, und die Sensorfühler glühten heiß. Aber nirgendwo fand sich eine Spur der beiden Imperialen Sternenkreuzer, die sie im Virimonde-System angegriffen hatten. Mit einem erleichterten Seufzen sank Owen zurück in den komfortablen Sessel in der Hauptkabine der Sonnenschreiter. Hazel blinzelte respektvoll.

»Ich bin beeindruckt«, sagte sie schließlich. »Wir sind in einem einzigen Sprung quer durch das ganze verdammte Imperium bis hierher gekommen. Normalerweise benötigt man mindestens sieben Hyperraumsprünge, und selbst das funktioniert nur mit einem Heißsporn von Navigator. Wieviel Energie hat uns das gekostet?«

»Kaum irgendwelche«, entgegnete Owen selbstgefällig.

»Ich habe Euch doch gesagt, daß dies ein völlig neuartiger Antrieb ist. Dagegen ist alles andere veraltet.«

»Und wie arbeitet er?«

Owen zuckte die Schultern. »Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung. Ich habe das Schiff nicht entwickelt, sondern gekauft. Meine KI hat sich mit den Handbüchern auseinandergesetzt und kann das Ding fliegen. Ich bin nicht sonderlich begabt in technischen Dingen. Ich hatte immer meine Leute für so etwas.«

Hazel rümpfte die Nase. »Das ist eine Angewohnheit, die du schleunigst ablegen solltest. Ein Gesetzloser kann sich nicht leisten, sich auf jemand anderen als sich selbst zu verlassen.«

»Ich werd’s mir merken«, erwiderte Owen freundlich. »Also gut. Und was machen wir als nächstes?«

»Wir werden ganz höflich um Landeerlaubnis bitten. Wenn wir erst unten sind, schützen uns die Esper des Planeten. Hier draußen sind wir eine leichte Beute für das erste Imperiale Schiff, das aus dem Hyperraum kommt. Ich glaube nicht, daß es lange dauert, bis sie herkommen und nach uns suchen.

Dein Schiff mag zwar schnell sein, aber es besitzt keinerlei schwere Waffen.«

»Nun, Ihr habt recht«, stimmte Owen zu. »Die Sonnenschreiter war als Vergnügungsjacht gedacht und nicht als Kriegsschiff.«

»Das nächste Mal blätterst du ein wenig weiter in deinem Bestellkatalog. Ich werde mit dem Raumhafen Verbindung aufnehmen. Es gibt nur einen einzigen Raumhafen auf Nebelwelt. Und auch nur eine einzige Stadt. Nebelwelt ist nicht gerade dicht besiedelt, und wenn du erst für eine Weile hier gelebt hast, dann weiß du auch, warum. Verdammt trostlose Gegend. Alles ist voller Eis und Schnee und Nebel. Ich hoffe nur, daß ich einige Fäden ziehen und ein paar alte Schulden einfordern kann. Ist schon eine Weile her, daß ich auf dieser Welt war, und ich bin nicht sicher, ob noch Freunde in Nebelhafen auf mich warten.«

Hazel verstummte stirnrunzelnd. Owen betrachtete sie nachdenklich. Irgendwie faszinierte ihn diese Frau, und wenn es nur daran lag, daß er noch nie zuvor jemanden wie Hazel d’Ark getroffen hatte. Er war in dem Glauben aufgewachsen, daß nur ein toter Rebell ein guter Rebell sei, und nun gehörte er selbst zu den Ausgestoßenen. Sein Leben hatte sich von Grund auf geändert, und er würde Hazels Welt sehr rasch begreifen müssen, wenn er darin überleben wollte.

»Was hat Euch denn beim letzten Mal hergeführt?« fragte er beiläufig.

Hazel schreckte aus ihren Gedanken hoch, dann zuckte sie selbstbewußt die Schultern. »Ich habe einige Zeit damit verbracht, mich von meiner Arbeit als Söldner auf Loki zu erholen. Die Erbfolgekriege, weißt du? Wie üblich hatte ich dank meiner natürlichen Geistesgegenwart und meiner massiven Erfahrung keinerlei Schwierigkeiten, mich in die Lohnliste der falschen Seite einzuschreiben. Sie haben uns mächtig in den Arsch getreten und in alle Winde zerstreut. Ich bin anschließend hier gelandet, weil ich dachte, das wäre der einzige Ort, an dem meine Feinde nicht nach mir suchen würden. Wie sich später herausstellte, habe ich mich auch darin getäuscht.

Aber das ist eine andere Geschichte.«

»Was werden wir unternehmen, nachdem wir gelandet sind?« fragte Owen. »Sicher suchen verdammt viele Leute nach mir. Der Preis auf meinen Kopf würde wahrscheinlich sogar eine Nonne in Versuchung führen.«

» Wir? Was meinst du mit wir? Ich hab’ deinen Arsch aus der Feuerlinie gezogen, weil ich nicht dabeistehen und zusehen konnte, wie sie dich umbringen, aber ich bin nicht deine Adoptivmutter. Wenn ich vorher gewußt hätte, daß du ein Aristo bist, dann hätte ich wahrscheinlich auch auf dich geschossen. So wie du aussiehst, trennen sich unsere Wege nach der Landung. Das letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein ahnungsloser Grünschnabel wie du, der mich aufhält und überall die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Ich muß mein Leben wieder in Ordnung bringen, Todtsteltzer. Das wird auch ohne deine Begleitung schwer genug.«

»Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen«, beschwerte sich Owen mit rotem Kopf. »Ich bin von den besten Lehrern des Imperiums als Kämpfer ausgebildet worden!«

»Nach dem zu urteilen, was ich auf Virimonde gesehen habe, solltest du dir dein Geld zurückgeben lassen. Du bist eine Belastung, Owen. Ich habe meine eigenen Probleme. Dir wird schon nichts geschehen. Verkauf dein Schiff, und du bist wahrscheinlich einer der wohlhabendsten Bewohner von Nebelwelt. Wenn sie dich nicht übers Ohr hauen.«

»Ich soll die Sonnenschreiter verkaufen? Seid Ihr noch zu retten? Sie ist meine einzige Chance, diesen Planeten wieder zu verlassen!«

»Owen, du wirst gar nichts verlassen. Dieser Planet hier ist das Ende der Fahnenstange für Leute wie dich und mich. Nebelwelt ist der einzige Planet im gesamten Imperium, wo du vielleicht überleben kannst. Woanders schneiden sie dir den Kopf im gleichen Augenblick ab, in dem du aus deinem Loch kommst. Es wird dir bestimmt nicht leichtfallen, dich hier einzugewöhnen, aber du hast wenigstens die Chance, dich zur Wehr zu setzen. Und das ist das Beste, auf was du als Gesetzloser hoffen kannst.«

Owen dachte angestrengt nach. Er haßte es, sich das einzugestehen, doch er brauchte Hazel d’Ark. Sie war laut, herrisch und definitiv ordinär, aber sie verstand seine neue Welt von Gesetzlosen und Kriminellen, und er nicht. Jedenfalls bis jetzt.

»Ihr könnt mich nicht einfach fallenlassen!« beschwerte er sich. »Ihr habt Beziehungen auf dieser Welt, und ich kenne niemanden. Ihr könnt nicht einfach davonspazieren und mich den Wölfen überlassen.«

»Hör mir gut zu!« entgegnete Hazel. »Ich schulde dir gar nichts, Aristo! Wenn ich von Anfang an gewußt hätte, daß du dich so an mich klammern würdest, dann hätte ich dich höchstpersönlich erschossen.«

Also gut, dachte Owen. Soviel zu der Idee, an ihr besseres Ich zu appellieren. Aber was habe ich anderes erwartet? Sie ist schließlich eine Gesetzlose.

»Was haltet Ihr davon: Ich stelle Euch als meine Leibwächterin ein, bis ich hier zurechtkomme. Nennt Euren Preis.«

Hazel blickte ihn nachdenklich an. »Und womit willst du mich bezahlen?«

»Wie Ihr selbst eben ausgeführt habt, wird der Verkauf der Sonnenschreiter mich zu einem reichen Mann machen. Wenn die richtige Person die Verhandlungen führt.«

»Zehn Prozent«, erwiderte Hazel ausdruckslos. »Ich kriege mein Geld vor Abzug deiner Unkosten, und du stellst keine weiteren Bedingungen. Und du jammerst mir nicht die Ohren voll, beschwerst dich nicht andauernd und stellst keine unverschämten Fragen. Ich bleibe bei dir, bis du dich eingelebt hast, aber danach verschwinde ich. Du bist ein zu verlockendes Ziel, Owen Todtsteltzer. Ich werde schon nervös, wenn ich nur neben dir stehe.«

Owen schäumte innerlich. Er hatte den starken Verdacht, daß er mit zehn Prozent des Geldes, das seine Sonnenschreiter bringen würde, ein Dutzend Leibwächter bis an sein Lebensende finanzieren könnte. Aber so wie die Dinge liefen, hatte er keine große Wahl. Er konnte sie nicht wie ein Lord herumkommandieren oder sie als Freundin bitten, also blieb nur Geld übrig.

»In Ordnung«, sagte er barsch. »Ich bin einverstanden.«

Owen streckte die Hand aus, doch Hazel blickte nur ungerührt darauf und sagte: »Vergiß es, Todtsteltzer. Wir beide haben keinen Grund, einander zu vertrauen. Du solltest dir nur merken, daß ich dich in mundgerechte Happen zerlege, sobald du versuchst, mich reinzulegen – ob du nun die teuersten Trainer der Galaxis hattest oder nicht. Und jetzt laß mich nachdenken.«

Sie stand für einige Zeit da und runzelte in angestrengter Konzentration die Stirn. Owen senkte seine Hand und hakte den Daumen hinter dem Schwert in den Gürtel. Jeden anderen hätte er für eine derartige Beleidigung zum Duell gefordert, aber Hazel war etwas Besonderes. Er hatte das Gefühl, als könne er sie sogar eines Tages respektieren. Wenn er sie nicht vorher umbrachte. Sie seufzte plötzlich, als wäre sie zu einem Entschluß gekommen, der ihr nicht sonderlich zusagte, und fixierte Owen erneut mit ihrem spöttischen Grinsen.

»Angenommen, die wenigen Freunde, die ich mir bei meinem letzten Aufenthalt auf Nebelwelt geschaffen habe, sind noch immer am Leben, und angenommen, sie sind noch immer meine Freunde – dann sollte ich imstande sein, uns die Quarantäne zu ersparen. Wir können es uns nicht leisten, so lange hier herumzuhängen, bis man unsere Identität herausgefunden hat. Unglücklicherweise können wir es uns aber auch nicht leisten, uns auf meine alten Kontakte zu verlassen. Die Lebenserwartung auf Nebelwelt ist nicht besonders hoch.

Wenn die Leute einen nicht umbringen, dann macht es der verdammte Planet. Ich hoffe, daß du ein paar vernünftig warme Klamotten irgendwo auf diesem Schiff verstaut hast, Todtsteltzer. Ansonsten werden wir auf der Stelle festfrieren, sobald wir das Schiff verlassen.«

Owen zog ein verdrießliches Gesicht. »Angenommen, Eure alten Kontakte weilen nicht länger unter den Lebenden oder den Euch freundlich Gesonnenen, und wir kommen nicht um die Quarantäne herum – wie lange wird man uns hier festhalten?«

»Lange genug, um einen Esper herbeizurufen, der unseren Verstand nach etwas Verdächtigem durchwühlt. Die Sicherheitsleute von Nebelhafen nehmen ihre Aufgabe sehr ernst.

Das Imperium versucht immer wieder, Schiffe mit versteckten Seuchen und dergleichen einzuschmuggeln.«

»Und wir können uns nicht leisten, daß man uns identifiziert«, sagte Owen. »Großartig. Einfach großartig. Also gut, Hazel d’Ark. Macht, was immer Ihr für notwendig erachtet, aber sorgt dafür, daß man uns nicht in Quarantäne steckt. Und behaltet im Hinterkopf, daß die erforderlichen Bestechungsgelder, egal wie hoch sie sein mögen, von Eurem Anteil abgehen. Ist das klar?«

Hazel nickte anerkennend. »Ich sehe, daß du langsam beginnst, wie ein richtiger Gesetzloser zu denken.«

»Was für ein Planet ist Nebelwelt?« fragte Owen, während sie zu den Komm-Paneelen gingen. »Nach Euren Worten zu urteilen muß es ja die reinste Hölle sein!«

»Nebelwelt ist eine harte Welt, Todtsteltzer. Sehr arm, kaum höhere Technologie, und die Leute, die hierherkommen, gehören zu den Niedrigsten der Niedrigen.«

»Ich bin sicher, Ihr fühlt Euch her wie zu Hause, Hazel d’Ark.«

»Die Bemerkung wirst du noch bereuen, Aristo. In den langen, kalten Tagen, die vor dir liegen. Entweder du lernst dich einzufügen, oder du stirbst. Du hast die Wahl.

Ozymandius, hörst du zu?«

»Selbstverständlich, Hazel«, erwiderte die KI prompt. »Eine Menge Leute haben versucht, Kontakt mit uns aufzunehmen.

Ich habe gewartet, um mich zu versichern, ob wir mit ihnen reden wollen.«

»Stell mich zum Kontrollturm von Nebelhafen durch«, befahl Hazel. »Alle anderen können warten.«

»Wie Ihr wünscht. Darf ich an dieser Stelle darauf hinweisen, daß ich ein sehr hochentwickeltes System habe und sehr wohl imstande bin, jede KI hinters Licht zu führen, die der Raumhafen möglicherweise besitzt?«

»Denk nicht mal dran«, entgegnete. Hazel scharf. »Was hier unten als Lektronenhirn dient, würde dir glatt die nicht vorhandene Spucke verschlagen. Es sind Esper, und sie sind sehr stark und extrem gefährlich. Schirm dich immer gut ab und bleib von allem weg, was nicht hundertprozentig menschlich ist. Die Lektronenhirne besitzen wie alles andere auf Nebelwelt Zähne, die dir Alpträume bescheren würden.«

»Nette Gegend, wo Ihr mich da hingebracht habt«, sagte Ozymandius indigniert.

»Sie hat ihre Reize. Ruf jetzt den Kontrollturm, Ozymandius… Hallo, Nebelhafen Kontrolle? Hier ist die Sonnenschreiter. Wir bitten um Asyl. Bestätigung.«

»Hier spricht Esper vom Dienst John Silver«, erklang eine müde Stimme aus dem Lautsprecher der Konsole. »Hört auf, dauernd Eure Systeme neu zu justieren. Wir haben das visuelle Signal schon wieder verloren. Ich brauche vollständige Angaben über Eure Mannschaft, Eure Fracht und den letzten Planeten, auf dem Ihr gewesen seid. Macht Euch nicht die Mühe zu lügen. Unsere Esper werden sowieso die Wahrheit aus Euch herausholen.«

»John?« fragte Hazel und grinste plötzlich. »Bist du das wirklich, John? Du alter Pirat! Deine Stimme hätte ich am allerwenigsten erwartet. Hier spricht Hazel d’Ark. Erinnerst du dich? Wir haben bei der Engelder-Nacht-Geschichte zusammengearbeitet.«

»Der Herr beschütze und rette uns«, sagte die Stimme ein wenig freundlicher. »Die verdammte Hazel d’Ark! Ich hab’

immer gewußt, daß du eines Tages wieder auftauchen würdest. Ganz ohne Zweifel ist eine Armee von Gläubigern hinter dir her, wetten? Wer ist denn diesmal wieder stinksauer auf dich, eh?«

»Praktisch das gesamte verdammte Imperium. Hör mal, John. Du mußt mir einen Gefallen tun.«

»Wie immer. Was ist es denn diesmal, Hazel?«

»Ich kann mir nicht leisten, in Quarantäne zu gehen. Zu viele Leute sind hinter mir und diesem Schiff her. Ich muß eine Weile nach unten. Kannst du für mich bürgen?«

»Kommt darauf an. Bist du allein?«

»Ein Passagier, John. Und ich bürge für ihn.«

»Keine besondere Empfehlung, Hazel. Ich habe das starke Gefühl, daß ich meine Entscheidung noch bereuen werde - aber in Ordnung. Stellt euer Schiff auf Planquadrat sieben, und dann verschwindet im Nebel. Aber ich kann dir nicht mehr als vierundzwanzig Stunden geben.«

»Das sollte reichen. Danke, John. Wie zur Hölle kommt ein sturer Pirat wie du zur Sicherheitsbehörde?«

Silver kicherte kurz. »Die Zeiten sind hart, Hazel. Nebelhafen braucht alle Esper, die sie kriegen können. Alles ist vor die Hunde gegangen, seitdem du das letzte Mal hiergewesen bist. Das Imperium hat uns eine wirklich ekelhafte Geschichte an den Hals gehängt, eine Art Typhus-Marie. Mehr als die Hälfte unserer Esper ist gestorben, und Tausende von Leuten sind durchgedreht. Deshalb sind die Sicherheitsmaßnahmen strenger als je zuvor, aber wir haben einfach nicht genügend Leute, um sie auch durchzusetzen. Besuch mich mal, wenn du in der Nähe bist. Außer, wenn du noch immer in Schwierigkeiten steckst. In diesem Fall habe ich nie von dir gehört. Ende.«

»Also das war jetzt wirklich Glück«, sagte Owen und unterbrach sich sofort, als er Hazels Gesichtsausdruck bemerkte.

»Oder vielleicht nicht?«

»Kann ich noch nicht sagen, Aristo. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Der John Silver, den ich kannte, war ein verdammter Pirat und Bauernfänger. Und jetzt soll er das Kommando über die Sicherheitsbehörden von Nebelhafen haben?

Da muß ja wirklich einiges schiefgegangen sein, seitdem ich das letzte Mal auf Nebelwelt war. Aber wir sind noch nicht aus dem Schneider, Mann. Uns bleiben vierundzwanzig Stunden, und dann melde ich mich lieber mit einer Menge überzeugender Antworten, oder Silvers Leute nehmen die Stadt auseinander, bis sie uns gefunden haben. Als erstes werden wir die verbleibende Zeit nutzen, um einen Käufer für die Sonnenschreiter zu finden, bevor jemand das Schiff erkennt.

Du kannst deinen Arsch darauf verwetten, daß inzwischen jeder Imperiale Agent auf Nebelwelt eine detaillierte Beschreibung des Schiffs und deiner Person besitzt. Und das bedeutet, uns bleiben genau vierundzwanzig Stunden, um den Handel perfekt zu machen, das Geld auf die Bank zu bringen und den Kopf so sorgfältig einzuziehen, daß selbst die talentiertesten und motiviertesten Leute nicht imstande sind, uns zu finden. Wenn ein wenig Gras über die Sache gewachsen ist, können wir mit neuen Namen und Geschichten und Geld wie Heu wieder aus der Versenkung auftauchen.«

»Warum können wir nicht einfach unser Aussehen in einem Körperladen verändern?« fragte Owen unschuldig.

Hazel betrachtete ihn wie eine Lehrerin, die es mit einem besonders begriffsstutzigen, starrköpfigen Kind zu tun hatte.

Owen wurde diesen Blick allmählich leid, aber er zügelte sein Temperament.

»Erinnerst du dich an das, was ich dir über die Hochtechnologie auf dieser Welt erzählt habe? Hier gibt es nur das, was Schmuggler am Imperium vorbeischaffen können. Ich will damit nicht sagen, daß es auf Nebelwelt überhaupt keinen Körperladen gibt, aber wenn, dann kannst du deinen Arsch darauf verwetten, daß es der einzige ist. Und er wird so exklusiv sein, daß sie einen Arm und ein Bein als Bezahlung von dir verlangen. Wahrscheinlich im wahrsten Sinne des Wortes.

Und das bedeutet, daß dieser Laden Tag und Nacht von Imperialen Agenten beobachtet wird – nur für den Fall, daß wir wirklich dumm genug sind, uns in seiner Nähe sehen zu lassen. Versuch endlich zu denken, Todtsteltzer. Ich kann nicht die ganze Zeit deine Amme spielen. Und bevor du jetzt wieder zu schmollen anfängst… könntest du dir vielleicht Gedanken darüber machen, wie wir an ein wenig Spielgeld kommen? Ich hab’ hier und da ein paar Kredits in Nebelhafen, aber es ist nicht viel. Und ich hab’s auf die harte Tour verdient.«

»Ehrlich?« fragte Owen. »Wie?«

»Das geht dich nichts an.

Ozymandius? Haben wir inzwischen Landeerlaubnis?«

»Sobald wir die an Wucher grenzenden Gebühren bezahlt haben, Hazel.«

Owen wollte wissen, wieviel. Die KI gab die gewünschte Auskunft, und Owen bekam beinahe einen Anfall. »Das werde ich nicht bezahlen! Das ist maßlos!«

»Nicht wirklich«, widersprach Hazel. »Nicht, wenn du bedenkst, wieviel mehr Geld sie kriegen könnten, wenn sie dich an das Imperium ausliefern. Und – nur, damit es keinen Irrtum gibt – nein, das geht nicht von meinen zehn Prozent ab.«

Ozymandius räusperte sich; eine Angewohnheit, die Owen jedesmal aufs neue irritierte (nicht zuletzt deswegen, weil die KI gar keinen Hals zum Räuspern besaß). »Owen, ich denke, ich sollte dich daran erinnern, daß die versteckten Dateien in meinem System sehr genau sind, was ein gewisses Etablissement in Nebelhafen angeht. Du solltest es aufsuchen, um Hilfe zu finden.« Die KI machte eine Kunstpause, bevor sie fortfuhr. Als sie wieder sprach, besaß ihre Stimme einen beinahe entschuldigenden Tonfall. »Ich habe außerdem einen Namen und eine Adresse. Aber ich denke, es wird dir nicht zusagen.«

»Versuch’s einfach« erwiderte Owen resignierend. »Es fällt mir sowieso schwer, an dieser ganzen verdammten Geschichte etwas zu finden, das mir zusagt.«

»Der Name lautet Jakob Ohnesorg.«

»Was? Jakob ist hier? Auf Nebelwelt? « Owens Gedanken rasten. »Wie zur Hölle ist er in die Intrigen meines Vaters hineingeraten? Ich hätte nicht im Traum gedacht, daß die beiden in der gleichen Klasse spielen.«

»Das ist eine gute Frage, Owen. Ich habe bisher keine befriedigende Antwort darauf.«

»Du bist verdächtig höflich geworden, seit Hazel an Bord ist«, stellte Owen anklagend fest.

»Beschwerst du dich etwa?«

Owen überlegte. Sein Kopf begann allmählich zu schmerzen. Jakob Ohnesorg. Der berufsmäßige Rebell. Der legendäre Krieger. Er kämpfte gegen das System. Gegen jedes System. Er hatte mehr als zwanzig Jahre gegen das Imperium gekämpft und auf unzähligen Planeten eine Rebellion nach der anderen angezettelt. Jakob war ein begnadeter Redner, besaß einen glühenden Gerechtigkeitssinn und hatte keinerlei Schwierigkeiten gehabt, heißblütige Dummköpfe zu finden, die ihm bedingungslos folgten. So war das viele Jahre gegangen. Aber das Imperium war trotz aller Anstrengungen so stark wie eh und je, und die Menschen erinnerten sich eher an die unzähligen verlorenen Schlachten als an die wenigen Triumphe. Und sie hörten auf, Jakob Ohnesorg zuzuhören. Der Preis auf seinen Kopf wurde immer verlockender, und schließlich hatten sich Kopfgeldjäger auf seine Fersen geheftet. Er war gezwungen gewesen unterzutauchen, und seit Jahren hatte ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen.

»Das sieht meinem Vater ähnlich, sich mit einem der

größten Verlierer aller Zeiten einzulassen«, sagte Owen. »Sogar ich habe genügend Verstand, um mich nicht mit Jakob Ohnesorg abzugeben. Sicher, ein berühmter Kämpfer und Held, aber ein hundserbärmlicher General. Hazel, ich lege mein Schicksal in Eure Hände.«

»Davon träumst du wohl, Aristo«, schnappte Hazel. »Aber tu mir einen Gefallen, Owen, ja? Paß auf, wo du hintrittst.

Und überlaß das Reden mir. Wenn die Leute, mit denen wir uns treffen, auch nur den kleinsten Verdacht schöpfen, wer du wirklich bist, sind wir beide tot.«

»Beruhigt Euch«, entgegnete Owen. »Ich bin nicht ganz unerfahren. Ich weiß sehr wohl, wie ich mich in der Öffentlichkeit zu komportieren habe.«

»Siehst du, genau das meine ich! Du kannst nicht draußen herumlaufen und Worte wie komportieren benutzen; damit verrätst du dich sofort! Hör zu, du sagst einfach kein Wort, und ich stelle dich überall als meinen taubstummen Vetter vor.«

Owen blickte sie an. »Tu mir nur keinen Gefallen!«

»Vertrau mir«, entgegnete Hazel. »Auf die Idee würde ich nie kommen.«

Owen hielt den Mund geschlossen und die Augen offen, als Hazel ihn durch die engen Straßen von Nebelhafen führte. Die Stadt war in erbärmlichem Zustand. Überall waren Aufräum- und Renovierungsarbeiten im Gange, und die Menschen, denen sie begegneten, schienen alle verbittert und hatten die Lippen fest aufeinandergepreßt. So, wie der Ort aussah, machte Owen ihnen keinen Vorwurf. Die Fachwerkhäuser ragten über die Straße hinaus wie betrunkene alte Männer, die sich voreinander verbeugten. Die Straßen waren voller Dreck und Abfall. Der Gestank war atemberaubend. Dichter Nebel waberte in der Luft und ließ alle Farben zu unterschiedlich hellen Grautönen verblassen. In unregelmäßigen Abständen brannten Straßenlaternen, obwohl es bereits auf Mittag zuging. Menschen drängten sich durch die Straßen, dicht eingehüllt in schwere Felle und Umhänge. Sie benutzten ihre Ellbogen mit jener Form von Geschick, die nur durch Übung zu erreichen ist.

Owen und Hazel hatten die Kapuzen ihrer Umhänge tief in die Stirn gezogen, so daß ihre Gesichter im Schatten verborgen blieben. Niemand starrte sie an oder zeigte auch nur eine Spur Neugier; offensichtlich war Anonymität auf Nebelwelt etwas Alltägliches. Owen trottete durch Schlamm und Dreck und schlug seine behandschuhten Hände gegeneinander, um die Kälte zu vertreiben. Er hatte die wärmste Kleidung aus der Garderobe der Sonnenschreiter gekramt. Viel Auswahl hatte es nicht gegeben. Owen starrte finster auf Hazels Rücken vor sich. Sie stapfte durch die Straße, als wäre es das normalste auf der Welt. Owen brummte vor sich hin und mühte sich, nicht den Anschluß zu verlieren. Er setzte mit grimmiger Befriedigung seine Ellbogen ein, um die Leute zur Seite zu schieben, die ihm im Weg standen. Niemand sagte ein Wort.

Auch das schien nichts Außergewöhnliches zu sein.

Hazel schleppte ihn auf der Suche nach alten Bekannten von einer Spelunke zur nächsten, aber niemand wollte mit ihnen reden. Nach den Schwierigkeiten, die die Einwohner erst kürzlich hinter sich gebracht hatten, waren alle viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Hazel mühte sich weiter ab. Owen verließ langsam der Mut. Er konnte nicht einmal mit Oz reden, um sich die Langeweile zu vertreiben; sie hatten vereinbart, die Kommunikation aus Sicherheitsgründen auf ein Minimum zu beschränken. Man konnte nie sicher sein, wer einen auf Nebelwelt gerade belauschte.

Owen verzog mürrisch das Gesicht und zog dem Umhang fester um seine Schultern. Alles dauerte viel zu lange.

Schließlich brachte Hazel einen Namen in Erfahrung: Ruby Reise.

»Nie gehört«, sagte Owen.

»Warum solltest du auch, Aristo. Du bewegst dich nicht in unseren Kreisen. Ruby ist Kopfgeldjägerin, und zwar eine verdammt gute. Wir sind alte Freundinnen und kennen uns schon eine Ewigkeit. Sie wird uns mit den richtigen Leuten in Kontakt bringen – vorausgesetzt, wir machen ihr ein gutes Angebot.«

»Keine weiteren zehn Prozent!« sagte Owen mit Bestimmtheit.

Hazel zuckte die Schultern. »Wie du meinst. Aber wenn du das Beste haben willst, dann muß du entsprechend dafür zahlen. Mach dir keine unnötigen Gedanken, Todtsteltzer. Sie wird dir sicher einen Rabatt geben, weil du zu mir gehörst.

Wir müssen sie nur erst finden.«

»Oh? Großartig!« sagte Owen. »Noch mehr hin und her rennen.«

»Worüber beschwerst du dich denn jetzt schon wieder?«

»Wollt Ihr das wirklich hören? Also gut: Ich habe die Qual der Wahl. Abgesehen von der Verrücktheit, daß Ihr unsere Sicherheit einer Kopfgeldjägerin anvertraut – es ist bitter kalt, ich habe keine Ahnung, wo wir sind, ich kann meine Hände schon nicht mehr spüren, und meine Füße sind wie abgestorben. Wir laufen seit einer halben Ewigkeit durch diese erbarmungswürdige Stadt, ohne auch nur einen Schritt weitergekommen zu sein, und mein Magen denkt wahrscheinlich bereits, daß man mir den Mund zugenäht hat. Außerdem stinkt es ganz entsetzlich. In den Kanälen muß eine gewaltige Verstopfung herrschen.«

»Kanäle! Wovon redest du da?« fragte Hazel. »Zeig deine Unwissenheit nicht so deutlich. Abwasserkanäle gelten hier als Luxus, den sich keiner leisten kann. Sei froh, daß der Nachtschmutz bereits eingesammelt worden ist. Das nächste Lokal, zu dem wir gehen, wird dich wahrscheinlich ein wenig aufmuntern. Der Schwarzdorn. Eine weitere alte Freundin von mir ist die Besitzerin. Sie wird wissen, wo wir Ruby finden. Cyder weiß alles. Los, laß uns gehen.«

Hazel marschierte los, gut gelaunt und voller Zuversicht.

Owen trottete wieder hinterher und fluchte lautlos. Er blieb einen Augenblick stehen, um seinen Umhang zurechtzurücken, und ein Fremder drückte ihm eine Münze in die Hand.

Verblüfft starrte Owen auf das Geldstück, bis er mit einem Mal erkannte, daß man ihn für einen Bettler gehalten hatte. Er spürte das Bedürfnis, dem Spender die Münze hinterherzuwerfen, aber er tat es nicht. Geld war schließlich Geld.

Also steckte er die Münze in die Tasche und eilte Hazel hinterher. Owen schäumte vor Wut. Irgendwann würde irgendwer für all das hier bezahlen. Er lenkte seinen finsteren Blick auf Hazels stummen Rücken. Die Kälte schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Owen überlegte nicht zum ersten Mal, daß er vielleicht besser dran gewesen wäre, wenn er daheim auf Virimonde um sein Leben gekämpft hätte. Zumindest hatte er sich dort ausgekannt. Und das Klima war besser. Owen verstand nicht viel von Nebelwelt, und das wenige, was er in Erfahrung gebracht hatte, stieß ihn ab. Kein Recht, kein Gesetz, keine Tradition oder Ehre, keine sozialen Strukturen.

Jeder war nur sich selbst der Nächste, und zur Hölle mit allen anderen. Eine ganze Welt voller Krimineller und sozialer

Außenseiter, die in einem solchen Elend lebten, wie es im restlichen Imperium unvorstellbar schien. Aber sie waren frei, und die Freiheit hatte ihnen mehr bedeutet. Owen spürte einen plötzlichen Anfall von Müdigkeit, und einen Augenblick lang drohte die Sinnlosigkeit von allem ihn zu überwältigen. Er konnte hier nicht leben. Nicht so. Ohne die Zivilisation und die Bequemlichkeiten seiner gehobenen Stellung hatte sein Leben keinen Sinn mehr. Er wollte einfach welken und sterben. Wie eine Blume, die man aus ihrem Beet gerissen hatte.

Der Gedanke ließ ihn aus der Lethargie aufschrecken, die sich seiner bemächtigt hatte. Er konnte nicht sterben. Nicht, solange seine Feinde noch lebten. Sie hatten sein Leben zerstört, ihm alles weggenommen, an das er geglaubt hatte, und auf seinen Namen gespuckt. Er mußte überleben, wenn er eines Tages an der Eisernen Hexe und allen, die ihr bei seinem Sturz geholfen hatten, Rache nehmen wollte. Owen grinste verbissen. Rache war das einzige, was ihm blieb. Er würde nicht hier auf diesem verdammten Planeten versauern. Irgendwie würde er einen Weg finden, von hier zu verschwinden. Und dann… er würde sich schon etwas ausdenken. Er mußte sich etwas ausdenken. Und in der Zwischenzeit hatte er gefälligst zu überleben. Er würde alles ertragen, was dieser verdammte Planet ihm schickte. Und alles tun, um genügend Geld zusammenzubringen, damit er sich eine verdammte Armee kaufen konnte… und einen Weg, um diesen elenden Planeten wieder zu verlassen. Wenn er sich jetzt einfach hinlegen und sterben würde, hätte die Eiserne Hexe am Ende doch noch gewonnen. Und das durfte er nicht geschehen lassen.

Owen torkelte weiter durch tiefer werdenden Dreck und Matsch und starrte mit neu erwachtem Ekel finster auf alles und jeden um sich herum. Sicher war es nicht überall so wie hier. Es mußte einfach ein paar helle Flecken in dieser Finsternis geben. Über ihm wurde ein Fenster aufgerissen, und die Leute wichen zur Seite. Jemand rief eine kurze Warnung, und Owen sprang eben noch rechtzeitig zurück, um dem herabfallenden Inhalt eines Nachttopfes auszuweichen. Das Fenster wurde scheppernd wieder geschlossen, und die Menschen auf der Straße gingen ungerührt weiter, als wäre die Angelegenheit ganz alltäglich. Owen rümpfte die Nase. Wahrscheinlich war sie alltäglich. Keine Abwasserkanäle. Richtig.

Wie konnten Menschen nur so leben? Hatten sie keine Ahnung, was auf sie zukam, wenn sie vor dem Imperium hierher flohen? Langsam kam ihm der Gedanke, daß sie sehr wohl wissen mußten, was sie hier erwartete. Und sie kamen trotzdem. Weil das Leben im Imperium für sie noch schlimmer war. Der Gedanke nagte an ihm und wollte sich nicht mehr vertreiben lassen. Das Imperium war ein Ort voller Luxus und Annehmlichkeiten für die Oberschicht, und voller Sicherheit und Stabilität für die unteren Klassen.

Außer, man war ein Klon.

Oder ein Esper.

Oder irgendeine andere Art von Unperson.

Oder man verärgerte jemanden mit Verbindungen nach oben.

Oder man erfüllte seine Quoten nicht.

Oder man wurde einmal zu oft krank.

In den unteren Klassen gab es keinen Platz für die Schwachen, oder die Kranken, oder die vom Pech verfolgten.

Owen dämmerte allmählich, daß er dies alles schon immer gewußt hatte. Er hatte nur nie richtig darüber nachgedacht.

Solange seine behagliche Welt nicht gestört wurde, hatte es auch keinen Anlaß dazu gegeben. Aber er konnte nicht sagen, er hätte nichts gewußt. Er war Historiker, und er wußte mehr als die meisten über die Realitäten, auf denen das Imperium basierte. Wie korrupt mußte das Imperium mit den Jahren geworden sein, damit eine Hölle wie Nebelwelt eine so große Verbesserung darstellte? Owen seufzte. Sein Kopf begann schon wieder zu schmerzen, wahrscheinlich, weil er die Stirn zu häufig in Falten legte. Er würde später darüber nachdenken. Er hatte das Gefühl, daß er in Zukunft massenhaft Zeit haben würde, über diese Dinge nachzudenken.

Die Schwarzdorn-Taverne stellte sich als angenehme Überraschung heraus. Es war ein behaglicher Ort, gemütlich, ohne vollgestopft zu wirken, und ganz offensichtlich hatte jemand eine Menge Geld in den Laden gesteckt. Ausstattung und Mobiliar waren von höchster Qualität, und die verrauchte Atmosphäre vermittelte das angenehme Gefühl eines Zufluchtortes vor der Härte und Erbarmungslosigkeit der kalten Welt da draußen.

Owen lehnte sich gegen den harten, polierten Tresen, nippte an einem Glas guten Weins und versuchte, das bösartige Kribbeln und den Schmerz der wieder einsetzenden Blutzirkulation zu unterdrücken. Der Schwarzdorn war gerammelt voll.

Es herrschte gute Laune, und der Lärmpegel war beinahe überwältigend, aber nicht unangenehm. Jedermann mußte schreien, um sich verständlich zu machen, und wer nicht mit Schreien beschäftigt war, der sang – mit mehr Schwung als Genauigkeit. Owen empfand die Atmosphäre als auf rustikale Weise angenehm, und er war bereit, sich so lange hier aufzuhalten, wie es notwendig sein sollte – wenn nicht länger. Insbesondere, wenn der Wein reichte.

Hazel redete gedämpft mit der Eigentümerin des Ladens, einer großen, gertenschlanken und platinblonden Frau namens Cyder. Sie standen Kopf an Kopf am anderen Ende des Tresens und lasen anscheinend genausosehr von den Lippen, wie sie zuhörten. Owen musterte Cyder neugierig. Sie schien überhaupt nicht in den Laden zu passen. In einer Gegend wie dieser hier, die von Halsabschneidern nur so wimmelte. Nach Hazels Worten hieß das Viertel Quartier der Diebe, und der Name hatte Owen kein Stück überrascht. Aller Wahrscheinlichkeit nach besaß Cyder eine kleine Armee guttrainierter Schläger, die bereitstanden, sich auf jeden zu stürzen, der irgendwie Ärger machte. Owen verbrachte einige Zeit damit, unauffällig herauszufinden, wo sich die Leibwächter aufhielten – falls er in Schwierigkeiten geriet, wollte er wenigstens wissen, aus welcher Richtung er mit einem Angriff zu rechnen hatte. Ohne Erfolg. Alle sahen gleichermaßen gewalttätig und zwielichtig aus.

Cyder blickte direkt an Hazel vorbei zu Owen, und er verharrte mit seinem Glas auf halbem Weg zum Mund. In diesem einen Augenblick wirkte Cyder hart, kompromißlos und extrem gefährlich. Das Blau ihrer Augen war kälter als alles, was er bisher gesehen hatte. Der Augenblick verging; dann lächelte sie ihm zu und winkte ihn zu sich und Hazel. Owen leerte sein Glas und schlenderte gemütlich zum anderen Ende des Tresens. Er hatte keinen Zweifel daran, daß Cyder ihm absichtlich das Eis unter ihrer freundlichen Oberfläche gezeigt hatte, aber er war nicht sicher, aus welchem Grund. Vielleicht, um in ihm den Eindruck zu erwecken, daß sie jemand war, den man ernst zu nehmen hatte. Owen lächelte sie mit seinem strahlendsten Lächeln an und hielt ansonsten seine Hand in der Nähe des Disruptors.

Cyder führte sie in einen privaten Raum im ersten Stock des Gebäudes, ein kleines, schlichtes Zimmer mit bequemen Stühlen und einem knisternden Feuer im offenen Kamin. Owen setzte sich so dicht daneben, wie er ertragen konnte, und versuchte, nicht zu interessiert dreinzublicken, während die beiden Frauen sich über die alten Zeiten in Nebelhafen unterhielten. Das meiste, was sie getan hatten, schien entweder zwielichtig oder illegal gewesen zu sein. Owen konnte nicht sagen, daß es ihn sonderlich überraschte. Schließlich kamen die beiden Frauen zurück in die Gegenwart und lächelten sich freundlich an.

»Du hast eine Menge Arbeit in diesen Laden gesteckt«, sagte Hazel schließlich. »Ich kann nicht glauben, daß das hier das gleiche alte Schlangenloch ist, in dem ich früher verkehrt bin.«

»Ich bin zu etwas Geld gekommen«, erwiderte Cyder und lächelte zurückhaltend. »Ich war in der Lage, mich zu… verbessern.«

»Wo steckt Katze?«

»Irgendwo draußen. So viele Menschen machen ihn nervös.« Cyder warf Owen einen spitzbübischen Blick zu. »Weiß dieser junge Herr hier von deiner Vergangenheit, Hazel? Hast du ihm erzählt, wie du das meiste von deinem Geld hier in Nebelhafen verdient hast?«

»Nein, und das wirst du ebenfalls nicht tun! Das braucht er nicht zu wissen.«

»Wieso? Es ist doch ein vollkommen ehrenwerter Beruf.

Wir alle haben ein paar Dinge getan, wenn das Geld knapp wurde, an die wir uns heute lieber nicht mehr erinnern.«

»Das mag sein, wie es will.« Hazel funkelte Owen böse an.

»Und du kannst dir diesen Blick abschminken, Todtsteltzer!

Ich weiß, was du jetzt denkst. Du irrst dich.«

»Ich habe nichts gedacht!« widersprach Owen und versuchte krampfhaft, nicht das Wort Hure zu denken. Oder sich zumindest nicht anmerken zu lassen, daß er es dachte.

Cyder lachte laut. »Mach dir keine Gedanken, Hazel. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Ziemlich lange her, daß du und ich und John Silver dick im Geschäft waren und gemeinsam nach einem Sinn in unserem Leben suchten, was? Er ein Pirat, ich eine Hehlerin, und du… hast getan, was du eben getan hast. Und jetzt ist John der Chef der Sicherheitsbehörde von Nebelhafen. Ausgerechnet John! Und ich bin die höchst ehrenwerte Besitzerin einer hochprofitablen Taverne. Auch eine ganz nette Karriere. Schon zehn Minuten nach der Landung eures… ein wenig auffälligen Schiffs ging die Meldung von eurer Ankunft um. Ich hätte nicht gedacht, daß jemals ein echter Lord seinen Fuß in meine Taverne setzen könnte. Geschweige denn jemand so Berühmtes wie Ihr, Lord Todtsteltzer.«

»Nennt mich Owen«, sagt Owen kühl. »Der Titel ist mir weggenommen worden. Seit wann wißt Ihr von uns?«

»Beruhigt Euch, mein Lieber. Ich liefere keine alten

Freunde aus. Das habe ich nicht mehr nötig, und außerdem gibt es gewisse Gründe, weswegen auch ich das Imperium hasse.«

Cyders Hand strich über ein paar schmale Narben in ihrem Gesicht. »Die halbe Stadt ist auf den Beinen und sucht nach euch beiden. Man hat euch bisher nur deswegen noch nicht gefaßt, weil ihr soviel herumgelaufen seid. Das ist der einzige Grund. Gott sei Dank ist bisher noch niemand auf die Idee gekommen, eine Verbindung zwischen dir und deinem letzten Aufenthalt auf Nebelwelt herzustellen, Hazel. Sonst würden sie deine alten Verstecke und Lokale überwachen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis irgend einer von ihnen Glück hat.

Deswegen bin ich mit euch nach oben gegangen. Neugierigen Blicken aus dem Weg. Die Zeiten hier in Nebelhafen sind verdammt hart, ganz besonders, seit die Typhus-Marie die Stadt auseinandergenommen hat.[1] Der Preis auf eure beiden Köpfe ist so unglaublich hoch, daß jeder in Versuchung gerät.

Selbst ich – wenn ich nicht einen ausgesprochenen persönlichen Groll gegen das Imperium hätte. In dieser Stadt gibt es keinen Ort mehr, an dem ihr in Sicherheit wärt, und ihr könnt niemandem trauen außer euch selbst.

Vergeßt die Idee, das Schiff zu verkaufen. Niemand wird es berühren wollen, egal zu welchem Preis. Das Imperium hat bereits verkündet, daß es das Schiff in Stücke schießen wird, sobald es sich irgendwo blicken läßt, ganz egal, wer es fliegt.

Ich fürchte, ihr beide seid ab jetzt aufeinander angewiesen.

Jeder andere ist ein potentieller Feind. Selbst mir dürft ihr nicht trauen, wenn ihr noch lange bleibt. Freundschaft ist eine feine Sache, Hazel, aber Rechnungen kann man davon nicht bezahlen.«

»Zur Not gibt es auch noch Ruby Reise«, sagte Hazel, und Cyder verzog das Gesicht.

»Ruby Reise. Ich hätte wissen müssen, daß du diesen Namen ins Spiel bringen würdest. Ich habe nie verstanden, was du an ihr findest. Ich dachte immer, ich wäre eine kaltherzige Hexe, aber Ruby spielt in einer eigenen Klasse. Du hast doch nicht ernsthaft vor, dich ihrer Gnade auszuliefern? Sie ist eine Kopfgeldjägerin!«

»Wie ich gesagt habe!« brummte Todtsteltzer.

»Sie ist meine Freundin!« widersprach Hazel.

»Kopfgeldjäger haben keine Freunde«, sagte Cyder.

»Weiß du, wo ich sie finden kann?«

»Glücklicherweise habe ich nicht die leiseste Ahnung. Sie wird irgendwo in der Gegend sein. Zweifelsohne ist sie im Augenblick damit beschäftigt, jemanden für Geld umzubringen. Oder auch einfach nur, weil sie Spaß daran hat…«

»Sie ist nicht so schlecht!«

»Sie ist eine sadistische, amoralische Psychopathin. Und das sind noch ihre guten Seiten.«

»Aber du hast selbst gesagt, daß Nebelhafen vor Imperialen Agenten, Spürhunden und Amateurmördern nur so wimmelt«, sagte Hazel leise. »Wenn der Aristo und ich diese Sauerei überleben sollen, dann brauchen wir jemanden wie Ruby auf unserer Seite, und wenn es nur dazu dient, andere zu verschrecken. Hat du überhaupt keine Idee, wo wir nach ihr suchen können?«

Cyder schüttelte unschlüssig den Kopf und nannte Hazel zögernd ein paar Plätze, wo sie nach Ruby Reise suchen konnte. Meist schien es sich um Tavernen zu handeln, wofür Owen recht dankbar war. Er spürte ein dringendes Bedürfnis nach einem harten Drink. Besser gleich nach mehreren. Plötzlich bemerkte er, daß Hazel ihn verdrießlich musterte. Ruckhaft setzte er sich gerade hin und bemühte sich, den Anschein zu erwecken, das Gespräch der beiden Frauen die ganze Zeit aufmerksam verfolgt zu haben.

»Ich hasse den Gedanken, Todtsteltzer, aber es scheint, daß wir am Ende doch zusammen in der Klemme stecken. Wenn wir uns trennen, machen wir es unseren Gegnern nur leichter, uns zu fangen. Außerdem kennst du jemanden, der sich vielleicht noch als nützlich erweisen wird. Jakob Ohnesorg.«

Cyder hob eine silberne Augenbraue. »Er ist hier in Nebelhafen? Das wußte ich nicht. Das letzte Mal, als ich von Jakob Ohnesorg hörte, hatte man ihm auf Vodyani IV seine Armee unter dem Hintern weggeschossen, und das Imperium war dabei, ihn von allen Seiten einzukreisen. Aber das ist jetzt schon beinahe zwei Jahre her. Es sollte mich eigentlich nicht überraschen, wenn er wieder wie durch ein Wunder die Flucht geschafft hätte. Darin ist er unschlagbar. Wenn ihr nach einem Verbündeten sucht, dann könntet ihr es weiß Gott schlechter treffen. Wahrscheinlich ist Ohnesorg die einzige Person auf Nebelwelt, die die Eiserne Hexe noch lieber als euch in den Fingern haben will. Am besten, ihr versucht es im Abraxus-Informationszentrum, unten in der

Wiederauferstehungsstraße. Ich war lange nicht mehr da, und es ist nur ein kleiner Laden, aber wenn überhaupt jemand weiß, wo Jakob steckt, dann Abraxus.«

»Danke für den Namen, Cyder, aber wir wissen schon, wo wir ihn finden können. Nicht wahr, Owen Todtsteltzer?«

Hazel warf Owen einen demonstrativen Blick zu. Der Todtsteltzer seufzte resignierend. Dann aktivierte er sein Komm-Implantat und nahm Kontakt mit Ozymandius auf.

»Alles in Ordnung an Bord, Oz?«

»Oh, aber natürlich. Ein paar Penner haben versucht einzubrechen, aber die Sicherheitssysteme der Jacht haben sich um sie gekümmert. Das Bodenpersonal kam vorbei und hat die Leichen mitgenommen. Sie haben auch ein paarmal versucht, in meine Systeme einzudringen, aber nichts, womit ich nicht fertig geworden wäre. Alles Amateure hier, wenn du mich fragst. Diese Leute würden ein hochentwickeltes System nicht einmal dann erkennen, wenn sie im Rinnstein darüber stolpern.«

»Ich bin nicht sicher, ob sie hier überhaupt Rinnsteine haben.«

Die KI rümpfte die Nase. »Ich kann nicht sagen, daß mich das überrascht. Wo treibst du dich rum? Was ist in der Zwischenzeit geschehen?«

»Erzähl’ ich dir später. Sieht so aus, als würden wir am Ende doch nicht ohne Jakob Ohnesorg weiterkommen. Wie lautet noch mal die Adresse?«

»Abraxus-Informationszentrum.«

Owen schüttelte langsam den Kopf. »Die Handschrift meines Vaters wird immer deutlicher. Er läßt uns alle hübsch nach seiner Pfeife tanzen.« Er unterbrach den Kontakt zu Ozymandius und blickte entschuldigend zu Hazel. »Meine KI nennt den gleichen Namen wie Eure Freundin hier. Das Abraxuszentrum scheint alle Antworten zu besitzen.«

»Das möchte ich hoffen«, erwiderte Cyder. »Sie verlangen schließlich auch ziemlich viel Geld. Hast du noch Zugriff auf das Geld, das du auf den Banken von Nebelhafen deponiert hast, Hazel? Du weißt schon, das Geld aus deiner Zeit als… aus deinem letzten Beruf.«

»Ja«, erwiderte Hazel und funkelte Cyder düster an. »Die Konten laufen unter falschem Namen. Es sollte nicht besonders schwer sein, an das Geld zu kommen.«

»Gut«, sagte Cyder. »Du wirst es brauchen. Nebelhafen ist heutzutage ein ziemlich teurer Ort.«

Sie führte die beiden wieder nach unten in die Bar, die noch überfüllter schien als zuvor. Der fröhliche Krach war beinahe ohrenbetäubend. In einer Ecke des Lokals hatten zwei Frauen einen freundschaftlichen Messerkampf begonnen und wurden von einer dankbaren Menge angefeuert. Owen blickte mißtrauisch auf das Geschehen, während er Cyder und Hazel durch das Gewühl folgte. Die zusammengedrängten Gäste öffneten vor Cyder, die für jeden Besucher ein Lächeln und ein Kopfnicken übrig hatte, eine Gasse. Plötzlich blockierte eine alarmierend große Gestalt ihren Weg. Owen warf einen Blick über Cyders Schulter, und unwillkürlich fiel seine Hand auf den Griff seines Schwertes. Die Gestalt wischte Cyder mit einer mühelosen Handbewegung zur Seite, als wäre sie ein kleines Kind, und blickte grinsend auf Hazel herab. Owen schien nur Luft für sie zu sein. Die Menge wich zurück und schuf reichlich freien Raum. Sie wußten, daß man einem Wampyr besser nicht in den Weg kam.

Owen musterte die grinsende Gestalt bedächtig. Er hatte schon vom Wampyren gehört, aber er hatte noch nie einen lebenden zu Gesicht bekommen. Es gab nicht viele Menschen, die einen Wampyr gesehen und lange genug überlebt hatten, um anderen davon zu berichten. Man hatte die Wampyre geschaffen, um die treulosen Hadenmänner als Stoßtruppen des Imperiums zu ersetzen. Die biotechnisch aufgerüsteten Bewohner von Haden waren zu mächtig gewesen, um kontrollierbar zu sein. Also hatten die Wissenschaftler des Imperiums einen anderen Weg eingeschlagen und ein neues, künstliches, unglaublich energiereiches Blut geschaffen, das jeden Mann in einen unüberwindlichen Krieger verwandelte: stark, schnell und selbstregenerierend. Der einzige Nachteil bestand darin, daß man das Subjekt zuerst töten und das alte Blut heraussaugen mußte, bevor man das neue Blut hineinpumpen und die Wiederbelebung einleiten konnte. Die Wissenschaftler erreichten schließlich eine Erfolgsquote von siebzig Prozent. Das reichte dem Imperium.

Das Resultat war ein lebender Toter. Wampyre spürten keinen Schmerz. Sie spürten auch keine Freude. Sie spürten überhaupt nichts. Ihr einziges Vergnügen war der Kampf, und der einzige Nervenkitzel das beschränkte Vergnügen mentaler Befriedigung. Sie labten sich an den Qualen anderer, grausam wie Killerkatzen und genauso geduldig und tödlich. Sie aßen oder tranken nicht, doch ihr künstliches Blut mußte durch regelmäßige Zufuhr menschlichen Blutes regeneriert und revitalisiert werden. Meist tranken die Wampyre es einfach, weil sie den Effekt auf eventuelle Beobachter genossen.

Sie bildeten exzellente Stoßtruppen mit einem übertriebenen Hang zur Gründlichkeit, und sie waren nur schwer wieder zurückzurufen. Am Ende erwiesen sie sich als schlicht zu teuer für eine Massenproduktion, und zögernd wurde das Projekt wieder eingestellt. Die verbliebenen Wampyre brauchten den Kampf genauso wie das Blut, und so verstreuten sie sich auf der Suche nach organisiertem Tod und Zerstörung durch das gesamte Reich. Sie waren unbeliebt, wurden aber häufig eingesetzt, und so wuchs ihr Ruf: Die untoten Soldaten, die ihren eigenen Tod genauso begierig suchten wie den ihrer Gegner.

Owen vermutete, daß es unausweichlich war, auf Nebelwelt Wampyren zu begegnen. Aller Abschaum fand sich hier ein.

Das Exemplar, das sich vor Hazel aufgebaut hatte, war beinahe zweieinhalb Meter groß. Geschmeidig und muskulös wie eine Raubkatze, ging von ihm eine beinahe spürbare Bedrohung aus. Die Haut des Wampyrs war vollkommen farblos, und Owen wußte, daß sie sich eiskalt anfühlte. Das Gesicht war lang und kantig, flach mit hochstehenden Wangenknochen, und die Augen blickten starr und düster. Ein Lächeln zog die bleichen Lippen auseinander, aber es spiegelte sich nicht in den kalten Augen. Der Wampyr stand dort wie ein Kämpfer im Ring, der auf den Gong wartete. Im Augenblick war sein Blick auf Hazel fixiert, und Owen war froh, daß es so blieb. Der Wampyr weckte die tiefverborgenen Urängste in jedem, den er anstarrte. Owen beobachtete Hazel, um zu sehen, wie sie die Provokation aufnahm, und zu seiner Überraschung schien sie mehr ärgerlich zu sein als alles andere.

»Hazel d’Ark«, sagte die Kreatur schließlich mit einer Stimme so kalt und leblos wie ein Grab. »Du bist zu mir zurückgekommen!«

»Luzius Abbott«, erwiderte Hazel mit Abscheu in der Stimme. »Du stehst an oberster Stelle auf der Liste der Leute, die mich am Arsch lecken können. Warum hast du nicht genügend Taktgefühl besessen und bist vor langer Zeit gestorben?«

»Bin ich«, erwiderte Abbott. »Aber sie haben mich wiederbelebt. Und jetzt lebe ich durch Leute wie dich weiter. Du hättest nicht weglaufen dürfen, Hazel. Du gehörst mir, und so wird es immer bleiben. Dein Blut ist durch meine Adern geflossen.«

Owen schob sich neben Hazel. »Wovon redet er?«

Abbotts Grinsen wurde breiter. »Hast du es ihm nicht erzählt, Hazel? Hast du ihm verschwiegen, daß du ein Plasmakind warst?«

Plasmakind. Ein Frösteln durchfuhr Owen, und er mußte sich anstrengen, nicht zu erschauern. Er kannte das Wort. Das waren die, die Wampyre ihr Blut direkt aus den Augen saugen ließen; eine Beziehung zwischen Herr und Sklave, von der man sagte, sie wäre weitaus intensiver als Sex oder Liebe.

Eine der wenigen Perversionen, die im gesamten Imperium verboten waren. Die Wampyre waren auch ohne ein Heer von ihnen folgenden fanatischen Plasmasüchtigen gefährlich genug. Owen blickte zu Hazel, und sie funkelte wütend zurück, als sie das Mitleid in seinen Augen erkannte.

»Ich war nie eine seiner kranken Puppen! Hin und wieder habe ich auf dem Schwarzmarkt mein Blut verkauft, aber nur, wenn die Zeiten hart waren und ich unbedingt Geld brauchte.

Seine dreckigen Lippen haben mich niemals berührt, und was er von mir bekam, das mußte er teuer bezahlen. Und jetzt geh mir aus dem Weg, Abbott, oder ich schwöre bei Gott, daß ich dich in das Grab bringe, in das du schon seit Jahren gehörst!«

»Du gehörst mir, Hazel.« Die Stimme des Wampyrs war eiskalt und bekam plötzlich einen befehlenden Ton. »Knie nieder!«

Die Macht in seiner Stimme schien überwältigend, vulgär, unmenschlich. Jeder, der es hörte, erschauerte unwillkürlich.

Hazel zuckte zurück. Sie versuchte ihr Schwert zu ziehen, aber ihre Hände zitterten zu sehr. Mehrere Männer und Frauen in der Menge fielen auf die Knie, und noch mehr zogen sich bis in die äußersten Winkel des Raums zurück. Ein weiter freier Platz bildete sich um den Wampyr und sein Opfer.

Das reicht, dachte Owen und murmelte das Schlüsselwort.

Zorn. Kraft schoß in seinen Körper, brannte in seinen Muskeln und wischte den hypnotisierten Klang der Stimme des Wampyrs mühelos aus seinen Gedanken. Ohne hinzusehen, ergriff Owen einen neben ihm stehenden Tisch und schlug damit nach dem wie in Zeitlupe reagierenden Abbott. Der schwere Holztisch sauste wie eine gigantische Fliegenklappe durch die Luft und krachte mit unglaublicher Gewalt auf den Wampyr herunter. Der Aufprall schleuderte die Kreatur quer durch den Raum und durch ein geschlossenes Fenster auf die Straße. Glas flog splitternd in alle Richtungen, und der Wampyr verschwand in der nebligen Dunkelheit. Alles wartete gespannt, doch er kehrte nicht wieder zurück. Hazel nickte anerkennend zu Owen, als der Todtsteltzer den Tisch wieder absetzte und der Zorn aus seinem Körper wich.

»Nicht schlecht, Lord.«

Owen lächelte verhalten. »Ich habe meine starken Momente.«

»Nicht daß du dir einbildest, ich wäre nicht selbst mit dem Kerl zurechtgekommen.«

»Kein Gedanke, nein«, erwiderte Owen galant. Dann blickte er sich zu der gespannten Menge um. »Noch jemand?«

Ein kurzes, betretenes Schweigen entstand. Die Gäste wandten sich ab und nahmen die Beschäftigungen wieder auf, die sie wegen des Zwischenfalls unterbrochen hatten. Der Lärm erreichte bald wieder den alten Pegel, und Owen stand im Begriff, den Laden zu verlassen, als Cyder ihm den Weg versperrte und ihn mit ausgestreckter Hand aufhielt.

»Nicht so schnell, du Held. Da ist noch ein zerbrochenes Fenster, das bezahlt sein will.«

Owen blickte zu den Überresten der Scheibe, durch die Abbott gesegelt war, und gestand sich zögernd ein, daß Cyder nicht ganz unrecht hatte. Er räusperte sich gründlich, um Zeit zu gewinnen, und versuchte zu überlegen, wieviel eine zerbrochene Scheibe auf einer so primitiven Welt kosten mochte.

Die Antwort war nicht gerade ermutigend. Er gab sich Mühe, Cyder mit festem Blick zu begegnen.

»Abbott hat angefangen. Er soll für das Fenster zahlen.«

»Er ist nicht mehr hier«, erwiderte Cyder. »Aber du.«

Owen überprüfte in Gedanken den Inhalt seiner Taschen und blickte zu Hazel. »Es scheint, daß ich im Augenblick finanziell ein wenig… verlegen bin. Meint Ihr, Ihr könntet vielleicht…?«

Hazel funkelte ihn wütend an und wühlte in ihren Taschen.

»Das nächste Mal überleg dir gefälligst einen weniger kostspieligen Weg, wenn du dich prügelst.«

»Aber… er war doch Euer früherer Freund!« beschwerte sich Owen.

»Er war nicht mein Freund!«

»Ich persönlich hab’ sowieso nie verstanden, was dich an ihm gereizt hat«, sagte Cyder, während sie rasch die Münzen zählte, die Hazel ihr gegeben hatte, um sie dann in ihren Taschen verschwinden zu lassen. »Er war doch gar nicht dein Typ, meine Liebe.«

Hazel war kurz davor, erneut zu explodieren, aber dann seufzte sie nur resigniert. »Also gut, es war nicht nur das Geld. Ich fühlte mich so deprimiert, und ich war gerade in der richtigen Stimmung, mich von jemandem herumkommandieren und mißhandeln zu lassen, der groß und häßlich und dominant war. Du weißt, wie das ist.«

»Unglücklicherweise ja«, gestand Cyder. »Ach so, bevor ich es vergesse – möglicherweise gibt es einige Leute in meinem Bekanntenkreis, die aus den verschiedensten Gründen bereit wären, euch zu helfen. Ich werde ihnen eine Nachricht zukommen lassen und sehen, was geschieht. War nett, dich wiederzusehen, Hazel. Laß mich wissen, wie es am Ende ausgegangen ist, ja?«

Hazel und Cyder umarmten sich rasch, küßten die Luft neben ihren Wangen, und dann stapfte Hazel nach draußen in das neblige Dunkel der Nacht, gefolgt von einem unschlüssigen, resignierten Owen Todtsteltzer. Cyder blickte den beiden hinterher, bis der Nebel sie verschluckt hatte, und schloß die Tür. Nachdenklich die Stirn runzelnd, bahnte sie sich einen Weg durch die zurückweichende Menge bis zu einem Tisch in einer Nische im hinteren Bereich der Taverne. Dort setzte sie sich zu einem jungen Burschen in einem weißen Thermoanzug, der bei ihrer Ankunft fragend die Augenbrauen hob. Sein Name war Katze, ein schlanker junger Mann kaum Anfang Zwanzig, aber mit einer lebenslangen Erfahrung, wie man in den Straßen von Nebelhafen überlebte. Er besaß ein freundliches, offenes Gesicht, das von ruhigen, dunklen Augen und Pockennarben auf den Wangen beherrscht wurde. Es gab nichts, das er nicht für Cyder tun würde. Er war ein Dachläufer. Ein Mann, der sich auf die oberen Stockwerke der Häuser von Reichen und Sorglosen spezialisiert hatte, und meist erledigte er Aufträge, die er von Cyder erhielt. Sie war gleichzeitig seine Hehlerin. Katze war taubstumm, doch das behinderte ihn in keiner Weise. Auf den Dächern der Stadt machte es sowieso keinen Unterschied. Er beobachtete Cyders Lippen sorgfältig, während sie sprach, und wartete geduldig auf ihre Anweisungen.

»Wieder einmal werfen große Dinge ihre Schatten auf Nebelhafen«, begann sie. »Ich spüre es in meinen Knochen. Es muß einen Weg geben, um damit Geld zu machen. Ich muß nur geistesgegenwärtig genug sein. Und ich muß Hazel und ihren jungen Lord lange genug am Leben halten. Ich glaube, sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie verzweifelt ihre Situation in Wirklichkeit ist. Bestimmt ist die halbe Stadt auf den Beinen und sucht die beiden. Ich würde sie ja selbst ausliefern, wenn ich Hazel nicht so viel schulden würde.

Ich möchte, daß du sie beobachtest, Katze. Laß dich nicht blicken, aber hilf ihnen, wo du nur kannst. Sei diskret. Wir wollen nicht, daß man eine Einmischung bis zu uns zurückverfolgen kann. Jedenfalls nicht, bevor wir nicht wissen, wer am Ende als Sieger aus der Geschichte hervorgeht. Während du den Schutzengel spielst, werde ich Tobias Mond eine Nachricht senden. Wenn man ihn mit Hazel und Todtsteltzer zusammenbringt, könnten eine ganze Menge interessanter Dinge geschehen. Nun, was sitzt du noch hier rum, mein

Süßer? Es gibt Arbeit für dich, und ich muß Pläne schmieden.«

Katze nickte rasch, gab ihr einen Kuß, und dann noch einen, weil es ihm so gut gefiel, und erhob sich vom Tisch. Er öffnete das Fenster neben sich und kletterte hinaus in den wabernden Nebel und die kalte Luft. Der junge Mann warf das Fenster hinter sich zu und kletterte mit geübter Leichtigkeit an der Außenmauer der Taverne aufs Dach hinauf. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er sich über die schwere eiserne Dachrinne auf das Giebeldach des Schwarzdorn geschwungen hatte. Einige Zeit kauerte er sich wie ein geisterhafter Wasserspeier zusammen und blickte über das sanfte Auf und Ab des Dächermeeres in den grauen Nebel. Katze war zurück in seinem Element. Schließlich machte er sich über die Giebel des Diebesviertels auf die Suche nach Hazel und Owen. Er fühlte sich vollkommen sicher. Sie würden nie bemerken, daß ihnen jemand folgte.

Das Abraxas-Informationszentrum entpuppte sich als eine einfache Etage über einer Bäckerei in einer stillen, heruntergekommenen Ecke des Händlerviertels. Der Geruch von frischgebackenem Brot lag schwer in der Luft. Owens Magen knurrte laut. Er dachte darüber nach, wie lange es her war, daß er über einer vernünftigen Mahlzeit aus mindestens vier Gängen gesessen hatte, und die Antwort deprimierte ihn.

Nach einem Zorn war er immer hungrig, und so setzte er sich entschlossen in Richtung des Eingangs der Bäckerei in Bewegung. Aber Hazel packte ihn mit mindestens der gleichen Entschlossenheit am Arm und steuerte ihn am Eingang des Ladens vorbei zu der außen am Haus angebauten Treppe, die in die erste Etage hinaufführte.

»Du kannst später noch essen, Aristo«, sagte sie ohne Erbarmen. »Zuerst kommt das Geschäft.«

Owen schluckte und schmollte insgeheim, während Hazel die knarrenden hölzernen Stufen hinaufstieg. Was auch immer er sich vom Abraxus-Informationszentrum versprochen hatte – seine Zuversicht sank in dem Augenblick, als er die Trostlosigkeit des Gebäudes in sich aufnahm. Es benötigte offensichtlich ein paar Reparaturen, einige davon sogar sehr dringend, und es war seit Jahrzehnten nicht mehr gestrichen worden. Owens Gewißheit, daß er hier keine Hilfe finden würde, stieg von Minute zu Minute. Seine Ställe daheim auf Virimonde waren in einem besseren Zustand gewesen als dieses Bauwerk hier. Er seufzte unhörbar. Virimonde schien in ferner Vergangenheit zu liegen. Es war beinahe ein Schock für ihn, als er sich daran erinnerte, daß er noch vor wenigen Tagen der Lord des Planeten gewesen war und seine Welt einen Sinn gehabt hatte.

Entschieden drängte er den Gedanken beiseite. Owen konnte sich nicht erlauben, dem nachzutrauern, was er einst gewesen war, sonst würde er noch verrückt werden. Er konzentrierte sich statt dessen auf Abraxus. Wahrscheinlich war es einer dieser professionellen Informationsbeschaffer, mit Boten, Angestellten und Kommunikationsleuten, die alle Informationen durch irgendeinen primitiven Lektron schickten. Owen haßte den Gedanken an den veralteten Müll, den sie in diesem Loch benutzen würden. Trotzdem. Jemand mit einem Ruf wie Jakob Ohnesorg sollte relativ einfach aufzuspüren sein. Nicht, daß Nebelhafen eine besonders große Stadt gewesen wäre.

Außerdem hatte Ozymandius die Adresse auch in seinen Datenspeichern gefunden, woraus sich eine Verbindung irgendeiner Art zwischen Abraxus und den verschlungenen Intrigen seines Vaters herleiten ließ. Owen seufzte erneut. Er hatte die meiste Zeit seines Erwachsenendaseins damit verbracht, sich ein eigenes Leben aufzubauen und sich nicht in die Pläne und Ambitionen seines Vaters verwickeln zu lassen, und hier stand er und versank mit jedem weiteren Schritt tiefer und tiefer in das Vermächtnis seines Vaters.

Er bemerkte gerade noch rechtzeitig, daß Hazel auf dem oberen Treppenabsatz stehengeblieben war, um sie nicht anzurempeln. Owen legte die Hand um den Griff seines Schwertes, als seine Gefährtin mehr oder weniger freundlich an die verschlossene Tür vor sich klopfte. Auf einer Messingplatte an der Tür stand der Name Abraxus, sonst nichts. Keine Klingel, kein Türklopfer. Hinter der Tür schien sich nichts zu regen. Hazel war schon im Begriff, mit der geballten Faust gegen die Tür zu hämmern, als sie plötzlich aufgerissen wurde und ein muskulöser Mann, beinahe so breit wie hoch, den Rahmen ausfüllte. Er war ganz in schwarzes Leder mit metallenen Nieten gekleidet, und die eine Hälfte seines Gesichts wurde von einer komplizierten, häßlichen Tätowierung verunstaltet. Er blickte Hazel und Owen schweigend an und zog laut und unbeeindruckt die Nase hoch.

»Hazel d’Ark und Owen Todtsteltzer? Wurde allmählich aber auch Zeit, daß Ihr kommt. Ich warte schon die ganze Zeit auf Euch.«

Hazel und Owen waren sich noch nicht sicher, wie sie auf diese Neuigkeit reagieren sollten, als die große Gestalt aus dem Türrahmen ins Innere des Gebäudes zurücktrat und den beiden ungeduldig winkte einzutreten. Zögernd leisteten sie der Aufforderung Folge, nicht ohne einen gebührenden Abstand zu dem Hünen einzuhalten. Der Mann zog erneut die Nase hoch, als er die Tür hinter den beiden wieder ins Schloß warf und verriegelte. Owen wollte bereits seinen Disruptor ziehen, aber Hazel legte ihm die Hand auf den Arm. Die große Gestalt stapfte vor ihnen her und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wahrscheinlich ein Lächeln darstellen sollte.

»Ich bin Chance. Ich bin der Inhaber von Abraxus. Seht Euch ruhig schon mal um, ich bin in einer Minute wieder für Euch da.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er im hinteren Bereich des Zimmers. Owen brannten einige Fragen auf der Zunge, aber als er den ersten Blick in das Zimmer und auf die Leute warf, die das Informationszentrum betrieben, vergaß er sie wieder. Es gab keine Lektronen oder Komm-Einrichtungen, keine Boten und keine Techniker. Statt dessen standen an den Wänden des schmalen Raums zwei Reihen klappriger Kojen, dicht an dicht, die in der Mitte nur noch einen schmalen Gang freiließen. Auf den Kojen lagen schlafende Kinder. Sie alle hatten Infusionsnadeln in den Armen, obwohl ihre knochigen Gesichtszüge und skelettartigen Gestalten vermuten ließen, daß sie nicht besonders viel Nahrung aus den Infusionen bezogen. Unter den Decken, in die die Kinder eingewickelt lagen, ragten Katheter hervor und mündeten in dreckigen Flaschen auf dem Fußboden. Wie lange mögen diese unglücklichen Kreaturen bereits so hier liegen? , dachte Owen und näherte sich zögernd, um einen genaueren Blick auf eines der Kinder zu werfen. Hazel blieb dicht an seiner Seite.

Die Kinder schienen alle zwischen vier oder fünf bis allerhöchstens zehn Jahre alt zu sein. Sie wanden sich und stöhnten in ihrem Schlaf oder Koma. Ihre Gesichter schienen irgendwie konzentriert, aufmerksam, und unter den geschlossenen Lidern konnte man sehen, wie die Augen sich bewegten.

Einige Kinder murmelten leise vor sich hin. Zwei Frauen im mittleren Alter, die eher wie Putzfrauen als wie Krankenschwestern aussahen, bewegten sich ohne besondere Eile zwischen den Bettenreihen hindurch, überprüften Katheter und Infusionsnadeln, füllten die Infusionsflaschen auf oder leerten sie, wo es notwendig war; ansonsten beachteten sie die Kinder überhaupt nicht. Einige waren mit dicken Lederriemen an ihre Betten gefesselt.

Owen fühlte sich elend, und in ihm brannte eine rasch zunehmende Wut. Er verstand nicht, was hier vor sich ging, aber er mußte es auch nicht verstehen, um es zu hassen. Kein Mensch hatte das Recht, Kinder so grausam zu behandeln.

Mit einem rauhen, rasselnden Geräusch sprang das Schwert wie von alleine in seine Hand, und mit Mord in den Augen setzte er sich durch den schmalen Gang in Bewegung. Chance war am anderen Ende des Raums damit beschäftigt, einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch zu durchwühlen. Er blickte nicht auf, als Owen auf ihn zustapfte. Plötzlich ergriff Hazel seinen Schwertarm und hielt ihn fest.

»Warte, Owen! Du verstehst das nicht!«

»Ich verstehe, daß diese Kinder in einer schrecklichen Hölle leben!«

»Ja, vielleicht hast du recht. Aber dahinter steckt ein Sinn.

Ich habe so etwas schon früher gesehen.«

Owen hob sein Schwert und senkte es zögernd wieder. »Also gut. Erklärt es mir.«

»Chance kann das bestimmt viel besser. Bleib hier stehen.

Ich hole ihn. Versprich mir, daß du nichts unternimmst, bevor du nicht die ganze Geschichte gehört hast.«

»Keine Versprechungen«, erwiderte Owen. »Holt Chance.

Und sagt ihm lieber gleich, daß ich ihm an Ort und Stelle den Schädel abschlagen werde, wenn mir seine Antworten nicht gefallen.«

Hazel klopfte ihm beruhigend auf den Arm, als wolle sie einen unartigen Hund besänftigen, und eilte durch den Mittelgang zu Chance. Owens Hand umklammerte noch immer

wütend und frustriert den Griff seines Schwertes. Er hatte noch nie zuvor etwas wie das hier gesehen, selbst in den schlimmsten Höllenlöchern des Imperiums nicht, und er wollte verdammt sein, wenn er diesem Treiben nicht unverzüglich Einhalt gebot. Langsam wanderte er den Gang hinunter und blickte von einer Gestalt zur anderen. Er sah nichts als Verzweiflung in den hageren Gesichtern. Ein junger Bursche bewegte sich unruhig unter den Lederfesseln, die ihn ans Bett banden, und murmelte grimmig vor sich hin. Owen beugte sich vor, um der leisen, hauchigen Stimme zu lauschen.

»Mutige Bemerkungen trotz schreiender Schocks… die bleichen Harlekine sind wieder unterwegs… Liebling hat seine Schuhe verloren… Mönche tanzen behutsam um den Sommerstein…«

Owen richtete sich wieder auf. Er war verwirrt. Es war ganz eindeutig Unsinn, was der Junge von sich gab, aber Owen hatte das merkwürdige Gefühl, daß alles einen Sinn ergeben würde, wenn er nur lange genug zuhörte. Er hob den Blick und sah, wie Hazel zusammen mit Chance zurückkehrte. Unwillkürlich hob er seine Waffe ein wenig. Die beiden blieben in respektvoller Entfernung vor Owen stehen, obwohl Hazel vom Anblick seiner Waffe stärker beeindruckt zu sein schien als Chance. Owen lächelte den großen Mann kalt an. Es spielte keine Rolle, wie groß oder stark er sein mochte oder was er zu seiner Entschuldigung sagen würde. Jemand mußte für das Verbrechen bezahlen, das an den Kindern begangen worden war.

»Die Ledergurte dienen ihrem eigenen Schutz«, erklärte Chance. Seine Stimme klang flach und unbeeindruckt. »Die Kinder sind Esper, aber sie kommen nicht immer mit dem klar, was ihr Bewußtsein ihnen enthüllt. Einer der Jungen hat sich die Augen ausgekratzt, um nicht mehr sehen zu müssen.

Deshalb gehe ich keinerlei Risiko mit ihnen ein. All diese Kinder sind auf die eine oder andere Weise zurückgeblieben.

Idioten, die die Gaben grenzenloser Erinnerungen und weitreichender Telepathie besitzen. Ihr Bewußtsein streift frei und losgelöst durch die Stadt, während ihre Körper hier ruhen. Sie fischen in den Gedanken der Einwohner und picken die Klumpen an Informationen heraus, die ich benötige.

Ihre Familien verkaufen sie an mich, wenn sie nicht länger imstande sind, für ihre Kinder zu sorgen, und ich lasse sie für mich arbeiten. Auf Nebelwelt gibt es keinen Platz für die, die schwach sind oder behindert. Wären die Kinder keine Esper und damit möglicherweise nützlich, hätte man sie einfach in der Kälte ausgesetzt und sterben lassen. Aber so kümmere ich mich um sie, und sie kümmern sich um mich. Nur wenige halten längere Zeit durch. Wenn sie zu mir kommen, haben sie bereits ein hartes, brutales Leben hinter sich. Zum Glück gibt es immer genug Nachschub, um die zu ersetzen, die ausbrennen und sterben. Seht mich nicht so an, Todtsteltzer! Ich sorge für die Kinder, solange sie bei mir sind. Was davor mit ihnen geschehen ist und was danach kommt, liegt außerhalb meines Einflusses.

Vielleicht können wir jetzt zum geschäftlichen Teil kommen. Meine Kinder haben mir berichtet, daß Ihr kommen würdet, und sie haben mir auch den Grund verraten. Ihr habt nicht viel Zeit. Wenn meine Esper schon von Eurem Kommen wissen, dann könnt Ihr Gift darauf nehmen, daß auch andere Bescheid wissen. In Nebelhafen gibt es keine verdammte Privatsphäre. Das ist die Strafe dafür, daß man in einer Stadt voller Telepathen mit lockerem Mundwerk lebt. Natürlich habe ich keinerlei Grund, mich deswegen zu beschweren – wie Ihr Euch sicher denken könnt. Immerhin lebe ich davon, und das gar nicht schlecht. Macht Euch keine Gedanken wegen meiner Bezahlung. Der vorherige Lord Todtsteltzer hat ein Guthaben bei uns. Er hinterließ mir Anweisungen für den Fall, daß Ihr Euch jemals hier blicken lassen und um Hilfe nachsuchen würdet. Ich soll Euch bei Eurer Suche nach Jakob Ohnesorg behilflich sein und Euch zu ihm führen. Wollt Ihr Euch für den Rest des Tages an Eurem Schwert festhalten, Todtsteltzer? Oder werdet Ihr uns erlauben, daß wir Euch helfen?«

»Ich denke noch darüber nach«, entgegnete Owen schroff.

»Wie erklärt sich Eure Verbindung zu meinem Vater?«

»Er hat Abraxus erst ermöglicht. Es war meine Idee, aber sein Geld. Er sah die Vorteile einer solchen Einrichtung. Für das von ihm zur Verfügung gestellte Geld mußte ich nur alle Informationen, die meine Kinder ans Licht brachten, an ihn weiterleiten. Euer Vater war ein weit vorausschauender Mann, Todtsteltzer, und immer bereit zu einem Experiment.«

»Er war immer bereit, seinen Profit aus allem zu schlagen«, erwiderte Owen. Zögernd steckte er sein Schwert weg. »Üblicherweise zum Nachteil von Dritten. Wie viele Kinder sind hier gestorben, seid Ihr Abraxus ins Leben gerufen habt?«

»Zu viele. Aber sie wären so oder so gestorben. Ich halte sie am Leben, so lange ich irgendwie kann. Es liegt in meinem eigenen Interesse.«

Owen wechselte einen Blick mit Hazel. »Ihr wart die ganze Zeit über sehr still. Erzählt mir nicht, daß Ihr diese Obszönität gutheißt.«

»Du bist hier auf Nebelwelt, Aristo«, erwiderte Hazel freundlich. »Hier sind die Dinge anders. Wenn dir die Menschen hier manchmal kalt und herzlos erscheinen, dann liegt es daran, daß sie außerhalb des Imperiums überleben müssen.

Wenn sie jemals schwach werden sollten, und sei es nur für einen Augenblick, dann löscht die Eiserne Hexe sie bis auf den letzten Mann, die letzte Frau und das letzte Kind aus. Anderen Planeten ist es bereits so ergangen. Das weißt du selbst.«

Owen wandte den Blick ab. Seine Augen bewegten sich über die schlafenden Körper, und ein Gefühl bitterer Hilflosigkeit breitete sich in ihm aus.

»Fragt sie«, erwiderte er am Ende brüsk, »… fragt sie, wo sich Jakob Ohnesorg aufhält.«

Chance nickte und schlenderte durch den Mittelgang davon, wobei er von einer Seite zur anderen blickte, hier und da anhielt und ein besonders verzerrtes Gesicht musterte, bevor er weiterging. Schließlich blieb er vor dem Lager eines Knaben stehen, der nach seinem Aussehen vielleicht zwölf Jahr alt sein mochte. Der junge Esper war bis auf die Rippen abgemagert, und auf seinem knochigen Gesicht zeichnete sich eine dünne Schweißschicht ab. Er murmelte Unverständliches vor sich hin, schnell, atemlos, und sein Kopf rollte rastlos von einer Seite zur anderen. Irgendwie hatte er es trotz der ledernen Fesseln geschafft, die Infusionsnadel aus seinem Arm zu reißen, und Chance führte die Nadel gekonnt wieder ein.

Dann kniete er neben dem Bett nieder und brachte seinen Mund ganz dicht an das Ohr des Jungen. Langsam und sanft begann er zu dem Jungen zu sprechen, und seine leise Stimme schien den Esper ein wenig zu beruhigen. Er hörte auf zu murmeln, den Kopf hin und her zu werfen und kämpfte nicht mehr gegen die ledernen Fesseln. Seine Augen öffneten sich, aber sie starrten ins Leere. Sie sahen nichts – oder vielleicht alles. Hazel und Owen setzten sich in Bewegung, und Chance gestikulierte wütend, daß sie gefälligst bleiben sollten, wo sie waren. Er nahm einen kleinen Gegenstand aus einer seiner Taschen und wickelte ihn aus dem Papier, dann steckte er ihn in den Mund des Knaben. Owen dachte im ersten Augenblick an eine Pille und erkannte erst allmählich an den langsamen Kieferbewegungen des Jungen, daß es ein Bonbon gewesen sein mußte. Chance beugte sich wieder zu dem Ohr des Espers hinunter und sprach weiter.

»Komm schon, Johnny. Du kannst es. Tu es für mich, ja?

Ich habe noch so einen Leckerbissen für dich, hier, sieh mal.

Finde mir einfach nur den Mann, Johnny. Finde den Mann, der sich Jakob Ohnesorg nennt.«

Chance murmelte ununterbrochen weiter, ohne je die Stimme zu heben, ohne eine Pause zu machen, leise, ruhig, beständig, und nach einiger Zeit begann der Knabe mit klarer, fester Stimme zu sprechen.

»Du suchst den Rebell, den Namen, den man überall kennt, den Kämpfer gegen das System, aber er ist nicht zu finden.

Jakob Ohnesorg hat einen neuen Namen, und er führt ein anderes Leben. Die Bluthunde des Imperiums kamen zu oft zu nahe, und er hat den Kopf eingezogen. Such in seinem Loch nach ihm, in seinem Versteck. Geh zum Olympus-Sportpalast unten im Uferviertel und frag dort nach Jobe Eisenhand. Er wird nicht mit dir reden wollen, also liegt es an dir, ihn zu überzeugen.« Unvermittelt brach er ab und wandte den Kopf zu Owen und Hazel. Er musterte die beiden mit seinen allwissenden Augen und fuhr fort: »Ich sehe dich, Owen Todtsteltzer. Das Schicksal hält dich in seinen Fängen, so sehr du dich auch sträubst. Du wirst ein Imperium zu Fall bringen, und du wirst das Ende von allem erleben, an das du je geglaubt hast.

Du wirst alles aus Liebe tun, einer Liebe, die du nie erfahren wirst. Und wenn es vorüber ist, dann stirbst du – allein, weit weg von allen Freunden und ohne Beistand oder Hilfe.«

»Das reicht, Johnny«, unterbrach ihn Chance. Der Esper schloß seine beunruhigenden Augen wieder und wandte den Kopf ab. Seine Worte wurden wieder zu dem leisen, bedeutungslosen Gemurmel, das sie vor Chances Fragen gewesen waren. Chance erhob sich und kehrte zu Owen und Hazel zurück. »Schenkt dem wirren Geplapper am Schluß nicht zu viel Beachtung«, sagte er. »Einige meiner Kinder behaupten steif und fest, Blicke auf die Zukunft zu erhaschen, jedenfalls hin und wieder, aber ihre Prophezeiungen haben sich genauso häufig als falsch wie als richtig erwiesen. Ansonsten wäre ich inzwischen ein steinreicher Mann.«

»Ich beabsichtige sowieso nicht, in nächster Zeit zu sterben«, antwortete Owen. »Andererseits war es immer wieder ganz schön eng, seit Hazel mir auf Virimonde den Hintern gerettet hat. Kommt, Hazel. Laßt uns gehen. Dieser Ort hier macht mich noch ganz krank.«

Chance zuckte die Schultern. »Ich halte Euch ganz bestimmt nicht fest, Todtsteltzer. Ihr habt einen Namen und eine Adresse, alles, was Ihr wolltet, und alles bereits im voraus bezahlt. Der Rest des Geldes vom Konto Eures Vaters wird mich über Euren Besuch und Euer Ziel schweigen lassen. Ich bedaure die Notwendigkeit, aber die Zeiten sind hart, und ein ehrlicher Mann muß sehen, wo er bleibt. Ich bin sicher, daß Ihr das versteht…«

Er brach ab, als Owens Hand vorschoß, Chance an seiner Lederweste packte und ihn hochhob. Owen zog ihn ganz dicht zu sich heran und grinste böse.

»Hoffentlich versteht Ihr mich auch, Chance. Ihr flüstert nur ein Wort über mich, egal zu wem, und Ihr betet besser, daß sie mich finden und umbringen. Weil ich Euch nämlich sonst finden werde, und dann bringe ich Euch stückweise um. Ist das klar?«

Plötzlich bemerkte Owen, ohne sich umzusehen, daß sich irgend etwas im Raum verändert hatte. Es war sehr leise, kein Ton war mehr zu hören – und mit einem Mal wurde ihm klar, daß die schlafenden Esper aufgehört hatten vor sich hin zu murmeln. Ohne seinen Griff zu lockern, drehte Owen den Kopf zur Seite und blickte sich um. Die Esper hatten ihre Köpfe gehoben, und fixierten ihn mit kalten, konzentrierten Gesichtern. Eine unheimliche Bedrohung schien von ihnen auszugehen.

»Laß ihn wieder runter, Owen«, sagte Hazel sanft. »Bitte, Owen. Laß ihn los.«

Owen ließ Chance los und trat einen Schritt zurück. Er versuchte nicht einmal, den Disruptor oder sein Schwert zu ziehen. Irgendwie wußte er, daß Waffen ihm in dieser Situation nicht helfen konnten. Das Gefühl von Gefahr schwebte beinahe greifbar in der Luft. Eine unheimliche Macht strahlte von den Kindern aus. Chance brachte seine Kleidung eifrig wieder in Ordnung und rümpfte Owen gegenüber die Nase.

»Meine Kinder schützen mich, Todtsteltzer. Immer. Ich schlage vor, Ihr verschwindet jetzt, bevor sie sich

entschließen, etwas Unangenehmes oder gar Endgültiges mit Euch anzustellen.«

»Zeit zu gehen«, sagte Hazel. »Er macht keine Witze, Owen. Diese Kinder sind gefährlich.«

»Das bin ich auch«, erwiderte Owen kaltblütig. »Ich bin ein Todtsteltzer, Chance. Vergeßt das niemals.«

»Die Imperatorin hat Euch Euren Namen genommen«, erwiderte Chance.

Owen lächelte kalt. »Das hätte sie gerne. Ich bin der Todtsteltzer. Bis zu meinem Tod. Und ein Todtsteltzer vergißt niemals einen Verrat oder einen Feind.«

Chance blickte zu ihm herab. »Genau das hat auch Euer Herr Vater gesagt, als er das letzte Mal hier war.«

»Ich bin nicht mein Vater, Chance. Ich arbeite auch mit schmutzigen Tricks, mein Freund.«

Owen wandte sich um und ging ohne weiteres Wort, Hazel dicht auf seinen Fersen. Die Esper in ihren Kojen blickten den beiden hinterher. Ihre Köpfe drehten sich, als wären sie eins.

In einer dunklen Seitengasse, die neben der Bäckerei von der Hauptstraße abzweigte, warteten in der Kälte und dem Nebel drei üble Gestalten mit gezogenen Schwertern darauf, daß ihr Opfer endlich aus dem Gebäude kommen würde. Sie hatten eine Menge Geld im Schwarzdorn gelassen, um die Spur des Todtsteltzers und der Frau zu finden, aber das Kopfgeld auf ihre Beute würde allemal reichen, ihre Auslagen in voller Höhe zu ersetzen. Darüber hinaus würde sogar noch eine höllische Menge Geld übrigbleiben.

Die drei Schläger aus der dunkelsten Gegend des Diebesviertels hießen Harley, Jude und Krähe. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt als Beutelschneider, Zuhälter und bezahlte Schläger. Normalerweise hätten sie genug Vernunft besessen, um nicht gegen einen berühmten Schwertkämpfer und Krieger wie Owen Todtsteltzer loszuziehen, aber die ausgesetzte Belohnung hatte ihren Verstand getrübt, und da sie zu dritt und aus dem Hinterhalt angriffen, fühlten sie sich auch relativ überlegen. Mit ein wenig Glück wäre bereits alles vorbei, bevor der Todtsteltzer auch nur ahnte, wie ihm geschah, und dann könnten sie sich mit der Frau abwechseln, bevor sie auch sie umbrachten. Die drei Schläger umklammerten die Griffe ihrer Schwerter und stampften ungeduldig im Schnee herum.

Sie hatten nicht geplant, so lange auf Todtsteltzer warten zu müssen. Aber planen gehörte sowieso nicht zu ihren Stärken, genausowenig wie Geduld.

Inzwischen schneite es wieder, und der Nebel wurde von Minute zu Minute dichter. Es war eiskalt. Krähe machte ein mürrisches Gesicht. Eigentlich war er der Anführer der drei, nicht nur, weil er den Mund am weitesten aufriß, sondern auch, weil er am lautesten redete. Jetzt beschlich ihn nach und nach das ungute Gefühl, daß die Idee mit dem Hinterhalt vielleicht nicht so gut gewesen war – und das, obwohl es eigentlich seine eigene Idee gewesen war. Es dauerte alles viel zu lange. Sie konnten nicht die ganze Zeit über mit dem Schwert in der Hand in der Gasse stehenbleiben. Irgend jemand würde es schließlich auffallen, selbst hier in einer Stadt wie Nebelhafen. Er wandte sich zu Jude um und wollte über das Warten im allgemeinen und die Kälte im besonderen lamentieren, doch dann erstarrte er mitten im Wort.

Jude war nicht da.

Krähe blinzelte. Noch vor einer Minute hatte Jude neben ihm gestanden. Lebensgroß und doppelt so stinkend. Krähe blickte schnell die enge Gasse hinab, aber es gab nirgendwo eine Stelle, wo Jude sich hätte verstecken können. Wenigstens Harley war noch da. Krähe packte ihn am Arm, und Harley wäre vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren.

»He! Mach das nie wieder! Du weiß’, daß ich nervöse Zuckungen kriege, wenn mich jemand erschrecken tut. Was willst‘n?«

»Wo is ‘n Jude?«

Harley blickte Krähe argwöhnisch an, dann blickte er unsicher die Gasse entlang. »Weiß nich’. Ich dacht’, er wär’ bei dir? Vor ‘ner Minute war er doch noch da!«

»Weiß ich selbst, daß er vor ‘ner Minute noch da war. Aber jetz’ is’ er wech! Was is ‘n mit ihm, Mann?«

»Keine Ahnung, Mann. Vielleicht mußt’ er pinkeln un’ is’ … wechgegang’.«

»Ohne ein Wort zu sage’? Un’ warum haben wir nich’ bemerkt, wie er wechgegang’ is?«

Harley blickte zu Boden und dachte angestrengt nach. Das fiel ihm nicht eben leicht. Denken war ihm noch nie leichtgefallen, und er war ziemlich sauer auf Krähe, weil der ihm so viele schwierige Fragen stellte. Harley war schließlich nicht zum Denken in der Bande. Er war hier, um Befehle entgegenzunehmen und Leute zu verhauen. Voller Hoffnung hob er den Blick zu Krähe. Vielleicht würde der Boß ja selbst mit den Antworten rausrücken. Aber Krähe wartete noch immer auf Harleys Antwort, und so senkte er die Augen schnell wieder.

»Ich geh’ mal ans Ende der Gasse gucken«, sagte Harley hastig. »Nur für den Fall.«

Er wandte sich um und stapfte rasch durch den Schnee davon, bevor Krähe fragen konnte, für welchen Fall. Krähe blickte seinem Kumpan hinterher und fluchte lautlos. Der Hinterhalt hatte noch nicht mal richtig angefangen, und schon ging alles schief. Er blickte zur Bäckerei zurück, um sicherzugehen, daß die Beute noch nicht wieder aus dem Haus getreten war, dann blickte er wieder Harley hinterher. Nur um festzustellen, daß Harley nicht mehr da war. Über Krähes Lippen kam ein leises wimmerndes Geräusch. Harley konnte auf gar keinen Fall in der kurzen Zeit, in der Krähe weggesehen hatte, das Ende der Gasse erreicht haben, aber er konnte auch sonst nirgendwo abgebogen sein. Es sei denn, er hätte auch mal gemußt und… Krähe drehte sich um seine eigene Achse, für den Fall, daß er etwas übersehen hatte, mit dem einzigen Erfolg, daß ihm schwindlig wurde. Dann dachte er ernsthaft darüber nach, schreiend Fersengeld zu geben – aber eine dünne Drahtschlinge legte sich lautlos von oben um seinen Hals und drückte seine Kehle zusammen. Krähe ließ sein Schwert fallen und umklammerte mit beiden Händen den Draht, aber seine Augen wurden bereits glasig und drohten aus den Höhlen zu springen, als er plötzlich in die Höhe gezogen wurde.

Als Katze ihn endlich oben auf dem Dach hatte, war Krähe bereits bewußtlos. Katze legte den reglosen Schläger neben seine beiden schlafenden Kumpane und grinste breit. Er war so schlau, und sie waren so dumm. Der junge Dieb lockerte die Drahtschlinge, zog sie von Krähes Hals und wickelte sie wieder um seinen Bauch. Nachdenklich musterte er die drei schlafenden Gestalten. Er konnte sie nicht töten. So etwas lag ihm nicht. Trotzdem gab er Harley einen kräftigen Tritt in die Eier, weil er so unnötig schwer gewesen war. Er hätte sich beinahe verhoben, als er das Riesenrindvieh aufs Dach gezogen hatte. Aber Cyder hatte ihm schließlich befohlen, dafür zu sorgen, daß Hazel und Owen unbehelligt blieben, und Katze machte immer, was Cyder ihm befahl. Teils, weil er Cyder liebte, aber hauptsächlich, weil sie mit Gegenständen nach ihm warf, wenn er es nicht tat. Mit Messern zum Beispiel. Er kauerte sich am Rand des Dachs nieder, beinahe vollkommen unsichtbar in seinem weißen Thermoanzug, der sich kaum vom nebligen Wabern abhob, und lächelte zufrieden, als Hazel und Owen schließlich aus der Bäckerei kamen und sich über die Hauptstraße entfernten. Er folgte ihnen leise, ein unsichtbarer Schatten hoch oben über den Dächern von Nebelhafen.

»Owen«, begann Hazel mit fester Stimme, »was auch immer du tust oder nicht tust, hier in Nebelhafen – eins solltest du niemals machen, und zwar einen Esper ärgern. Ganz zu schweigen von einer ganzen Bande verrückter Esper. Sie haben schrecklich viele Möglichkeiten, einem die Freude am Leben so richtig gründlich zu verderben. Außerdem können sie deine Lebensspanne ziemlich drastisch verkürzen. Wenn du weiterhin so risikofreudig sein willst, dann sag mir bitte beim nächsten Mal früh genug Bescheid, damit ich mich von dir trennen kann.«

»Ich verstehe das einfach nicht«, brummte Owen. Seine Finger umklammerten wütend den Griff des Schwertes. »Er beutet diese Kinder aus! Er verbrennt den Rest Leben, der noch in ihnen steckt, und trotzdem waren sie fest entschlossen, ihn mit allen Mitteln zu verteidigen!«

»Du muß es auch gar nicht verstehen«, sagte Hazel. »Du mußt dir nur eins merken: Steck deine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute, oder jemand wird sie dir abschneiden. So ist diese Stadt eben. Zum größten Teil jedenfalls.«

Owen seufzte und schüttelte den Kopf. »Also gut. Wohin gehen wir jetzt? Ihr sagtet, daß der Sportpalast, den wir suchen, nördlich vom Abraxus-Informationszentrum liegt. Meinem internen Kompaß zufolge bewegen wir uns jetzt aber in südwestliche Richtung.«

Hazel starrte ihn verblüfft an. »Du hast einen eingebauten Kompaß? Ich hatte keine Ahnung, daß ich die ganze Zeit mit einem Hadenmann durch die Gegend gelaufen bin. Was hast du sonst noch alles an Überraschungen in dir eingebaut, von denen ich nichts weiß?«

»Das geht Euch gar nichts an, und wechselt gefälligst nicht das Thema! Wohin gehen wir?«

»Ich muß vorher noch was erledigen«, wich Hazel aus.

»Nur für den Fall, daß die Ohnesorg-Sache sich nicht nach Plan entwickelt. Ich fühle mich sicherer, wenn wir Rückendeckung haben. Ruby Reise war eine brandgefährliche Kopfgeldjägerin, aber sie schuldet mir einige ziemlich große Gefälligkeiten. Wenn überhaupt jemand weiß, wo er uns verstecken und wie er uns beschützen kann, dann sie. Unglücklicherweise haben wir sie bisher an keinem der üblichen Orte gefunden, was nur noch eine einzige Möglichkeit offenläßt. Alle Kopfgeldjäger auf Nebelwelt benötigen eine Lizenz, nach dem Motto: Wenn du es nicht kontrollieren kannst, dann erhebe Steuern darauf. Die Behörde, die diese Lizenzen vergibt, befindet sich ein Stück weit die Straße hinunter, durch die wir im Augenblick gehen, und dann um die Ecke. Außer, wenn sie wieder umgezogen sind. Die Leute sind nicht davon abzubringen, die Behörde immer wieder in Brand zu stecken.

Scheint irgendwie ums Prinzip zu gehen.«

Während Hazel die Straße hinunter und dann ein Stück weit um die Ecke vorausging, dachte Owen über ihre Worte nach.

Er war sich ziemlich sicher, daß ihnen jemand folgte, aber bisher hatte dieser jemand seinen Zug noch nicht gemacht.

Beinahe wünschte er sich, daß endlich etwas geschehen würde, damit er wenigstens reagieren könnte. Die dauernde Anspannung verursachte allmählich Schmerzen zwischen seinen Schulterblättern. Owen wußte nicht genau, wie viele von ihnen da draußen waren. Er sah oder hörte sie immer beinahe, nur wenn er dann erneut hinblickte… war niemand mehr da.

Owen geriet ernsthaft in Versuchung, herumzuwirbeln und, so laut er konnte, ›Buuuh!!!‹ zu rufen, nur um zu sehen, wer wo in Deckung sprang, als Hazel unvermittelt anhielt. Owen blieb neben ihr stehen und betrachtete nachdenklich die umliegenden Gebäude. Er hatte schon Schlimmeres gesehen, und das meiste davon hier in Nebelhafen.

Das neue Gebäude war definitiv luxuriöser als die Bäckerei

– nicht, daß das besonders schwierig gewesen wäre. Anscheinend blühte das Kopfgeldjägergeschäft in Nebelhafen. Es war ein großes Gebäude mit verschnörkelten Dekorationen und Stuck. Ein steter Strom von Menschen ging ein und aus. Hazel stapfte durch die geöffnete breite Doppeltür, als wäre das Haus ihr eigenes, und Owen beeilte sich, ihr zu folgen. Sie gingen beinahe unter in dem vollständigen Chaos, das die große Eingangshalle von einer Wand bis zur anderen ausfüllte. Überall, wo Owen hinblickte, standen Schalter und Schreibtische, die unter Stapeln von Akten zusammenzubrechen drohten. Menschen rannten zwischen den Tischen hin und her, als würde ihr Leben davon abhängen. Aber das hier ist schließlich Nebelhafen, dachte Owen. Vielleicht hängt ihr Leben tatsächlich davon ab. Eine große, buntgewürfelte Menschenmenge füllte den restlichen Raum aus. Sie brüllten die Leute hinter den Schreibtischen und sich gegenseitig sowohl laut als auch hartnäckig an. Die Wände waren übersät mit Steckbriefen, und oben an der Decke hatte jemand eine Reihe von detaillierten Gemälden des menschlichen Körpers geschaffen – und die Punkte hell hervorgehoben, wo großkalibrige Waffen die beste Wirkung erzielten.

Der Lärm war ohrenbetäubend, die Luft heiß und stickig und der Gestank beinahe unerträglich. Hazel schob sich unter freizügigem Gebrauch von Fäusten und Ellbogen mitten durch das dichteste Gewühl. Anscheinend war ihr Benehmen gängige Praxis oder zumindest gängig genug, daß nur ganz wenige Leute nach ihren Schwertern griffen – freilich zu spät, denn da waren sie und O wen schon wieder im Gedränge verschwunden. Owen hielt sich immer dichter hinter seiner Gefährtin, murmelte höfliche Entschuldigungen, die keiner hörte, und blitzte diejenigen an, die ihre Waffen nicht schnell genug wieder losgelassen hatten. Es war ein sehr wirkungsvolles Blitzen, und Owen hatte seit seiner Ankunft auf Nebelwelt massenweise Gelegenheiten gehabt, diesen Blick zu vervollkommnen. Ein sorgfältig ausbalanciertes Gemisch aus mühsam bezähmter Wut und drohender Gewalt mit einer unterschwelligen Note von purem Wahnsinn. Als er die Menge zur Hälfte durchquert hatte, begannen die Leute vor ihm bereits freiwillig zurückzuweichen.

Vor einem Schreibtisch auf der Rückseite des Raums kam er neben Hazel zum Stehen. Auf dem Schreibtisch befanden sich zwei Ablagekörbe. Auf einem stand ›Eingegangen‹, auf dem anderen ›Dringend‹. Zwischen den beiden Körben stapelte sich Papier. Das meiste davon sah nach billiger Recyclingware aus, und Owen bemerkte fasziniert, daß fast alle Texte handgeschrieben waren. In den Kreisen, in denen er früher verkehrt hatte, fanden sich nur ganz selten handgeschriebene Briefe. Üblicherweise schrieben nur Liebespaare oder Spione mit der Hand.

Der Mann hinter dem Schreibtisch war eine kleine, eifrige Gestalt mit permanent verdrießlichem Blick. Er war lässig oder eher nachlässig gekleidet, und sein dickes schwarzes Haar stand wirr in alle Richtungen ab, obwohl er dauernd glättend mit der Hand über seinen Kopf fuhr. Hazel setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf, und der Schalterbeamte starrte mit einer Mischung aus Verzweiflung und drohendem Schlaganfall zurück. Sie öffnete den Mund, um zu reden, aber er fuhr ihr mit einer lauten, durchdringenden Stimme dazwischen, die keinerlei Mühe hatte, den allgemeinen Lärm zu durchdringen.

»Ich weiß es nicht! Was auch immer es ist, ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal! Ich sitze bis zum Hals in Papierkram und versinke bald darin. Verschwinde! Kommt nächste Woche wieder. Oder nächsten Monat. Am besten gar nicht. Was steht Ihr noch hier herum?«

»Ich brauche einen Namen, sonst nichts«, sagte Hazel.

»Das sagt jeder«, schnappte der Beamte zurück. »Habt Ihr eine Vorstellung, wieviel Arbeit es macht, auch nur einen einzigen Namen herauszusuchen? Nein, natürlich habt Ihr keine Ahnung. Und es ist Euch auch vollkommen egal, oder?

Niemand schert sich darum«, endete er wehmütig. »Niemand weiß zu schätzen, was wir hier leisten. Die Frühstückspause ist der reinste Witz, es gibt nur eine einzige Toilette, und das Gehalt ist jämmerlich. Wenn es nicht die Pension gäbe, dann hätte ich schon längst gekündigt. Und die sich immer wieder bietenden Gelegenheiten, den Leuten das Leben schwerzumachen. Ich sehe meine Arbeit als eine Art Rache an der gleichgültigen Gesellschaft. Entweder ich arbeite hier, oder ich zünde auf öffentlichen Plätzen Bomben. Aber Bomben sind ziemlich teuer, also sitze ich hier. Ihr seid ja immer noch da!«

»Und warum sitzt du hier?« fragte Hazel. »Kannst du dir deinen Existentialismus nicht für später aufheben? Such mir einfach nur einen Namen und eine dazu passende Adresse heraus, und wir gehen und lassen dich in Frieden. Meinst du nicht, das wäre für uns alle das beste? Und nicht nur das – wenn du uns hilfst, dann verspreche ich dir in die Hand, daß ich meinen Begleiter hier daran hindern werde, all die Papiere auf deinem Schreibtisch in die vier Ecken dieses Büros zu verstreuen.«

Der Beamte legte schützend die Hände über den nächstgelegenen Stapel. »Das haben wir gern. Bedroht mich nur. Feindet mich nur ruhig an. Wer bin ich denn schon? Ein kleiner Schalterbeamter, nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe.

Ich glaube, ich kriege wieder einen meiner Anfälle!«

»Was hältst du davon, wenn wir dir einen kleinen Bonus anbieten?« fragte Hazel.

»Was haltet Ihr davon, wenn Ihr mir einen großen Bonus anbietet?« fragte der Beamte.

Hazel zog eine Silbermünze aus ihrer Geldbörse und warf sie vor dem Beamten auf den Tisch. Der Bürokrat blickte traurig auf die Münze, ohne sich zu rühren. Hazel mußte noch drei weitere Geldstücke hinzufügen, bevor der verhinderte Anarchist resignierend seufzte und das Geld mit geübter Handbewegung einstrich.

»Also gut. Nennt mir den Namen. Ich will sehen, was ich tun kann. Aber ich kann Euch nichts versprechen.«

»Ruby Reise.«

»Ach die! Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt? Sie arbeitet als Rausschmeißerin unten im Tollwütigen Wolf. Und dort kann sie meinetwegen auch bleiben, weit weg von zivilisierten Menschen. Seit sie nicht mehr hier ist, herrscht plötzlich Frieden in der Gegend. Wenn Ihr Ruby Reise findet, dann sagt ihr doch gleich, daß ihre Lizenz nächste Woche abläuft.

Aber achtet darauf, vorher in Deckung zu gehen. Und jetzt verschwindet endlich und geht jemand anderem auf die Nerven! Ich muß Akten durcheinanderbringen und Bürgeraufstände planen.«

Er nahm das nächstliegende Schriftstück auf und fixierte es mit starrem Blick. Hazel und Owen sahen sich an, zuckten die Schultern und wandten sich grinsend um. Sie schoben und stießen sich den Weg durch die Menge nach draußen auf die ruhige, stille Straße zurück.

»Nun«, begann Owen, »das war irgendwie… eigenartig.

Gibt es viele Leute von seiner Sorte in dieser Stadt?«

»Unglücklicherweise ja«, antwortete Hazel. »Viele Menschen werden auf der Flucht vor dem Imperium nach hier verschlagen, und alle erwarten, eine Art freies, zivilisiertes Utopia vorzufinden. Die ganz andere, harte Wirklichkeit mit all den Mühen, sich den Lebensunterhalt auf einem unwirtlichen, vereisten Felsbrocken zusammenzukratzen, der hauptsächlich von Banditen, Kriminellen und Gesetzlosen bewohnt wird, bringt viele der Neuankömmlinge völlig außer Fassung. Die meisten erholen sich nie wieder von diesem Schock.«

»Und findet Ihr das nicht ziemlich besorgniserregend?«

fragte Owen.

»Nicht, solange Sprengstoff und Bomben wirklich teuer bleiben.«

»Also Ihr kennt diese Ruby Reise schon lange, ja?« bohrte Owen weiter, während sie die Straße hinuntermarschierten.

Unbehaglich stellte er fest, daß sie noch immer nicht nach Norden gingen.

»Ich war selbst mal ‘ne Zeitlang Kopfgeldjägerin«, erklärte Hazel zögernd. »Aber ich habe nicht lange durchgehalten. Ich war zu weich. Habe meine Gefangenen immer lebend abgeliefert, und dafür gab’s kein Geld. Ruby hat mich damals unter ihre Fittiche genommen und mir geholfen. Sie war eine gute Freundin, wenn auch meistens ein klein wenig… unberechenbar. Ich kann nicht glauben, daß die Dinge sich so gegen sie entwickelt haben sollen, daß sie jetzt gezwungen ist, als Rausschmeißerin zu arbeiten. Aber ich könnte wetten, daß sie eine gute Rausschmeißerin abgibt. Niemand legt sich freiwillig ein zweites Mal mit ihr an.«

»Was ist das für ein Laden, der Tollwütige Wolf? «

»Eine üble Spelunke. Jedenfalls war er das beim letzten Mal, als ich dort war. Rauschgift, Glücksspiel, ein paar Mädchen und eine Bar, die immer geöffnet hat. Du kennst diese Sorte von Kneipen.«

»Ja. Also, ich meine, eigentlich nicht, nein«, erwiderte Owen. »Aber es klingt zumindest… interessant. Trotzdem, ich denke immer noch, daß Ruby Reise warten kann. Ich bin sicher, wir sollten zuerst Jakob Ohnesorg finden, bevor jemand anderes uns findet. Jakob kann uns sicher vor jedem schützen, der uns an den Fersen klebt. Jakob Ohnesorg kann eine ganze Armee aufhalten. Der Mann ist eine lebende Legende!«

»Er war eine Legende, meinst du wohl«, entgegnete Hazel.

Sie blickte unverwandt nach vorn und verlangsamte ihre Schritte keinen Deut. »Der Mann hat seine beste Zeit schon lange hinter sich. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, trieb er sich in Bars herum und erzählte gegen freie Drinks Geschichten aus seiner Vergangenheit.«

»Seid Ihr sicher, daß wir von der gleichen Person sprechen?

Jakob Ohnesorg, der professionelle Rebell?«

Hazel seufzte und hielt den Blick unverwandt nach vorn gerichtet. »Rebell und Gesetzloser zu sein ist ein ziemlich hartes Geschäft, Todtsteltzer. Es zehrt einen aus. Jakob Ohnesorg ist nicht mehr der gleiche Mann wie früher. Seit dem Fiasko auf Blauer Engel, wo sie ihm ganz eindeutig in den Arsch getreten haben, hat er keinen Aufstand mehr angezettelt. Wenn du mich fragst, ist es ein Wunder, daß er überhaupt lebend und mit größtenteils heiler Haut davongekommen ist, und alle wissen das. Seitdem sind Jahre vergangen. Ohnesorg ist… eine unbekannte Größe in deinem Plan. Ich weiß, daß ich mich auf Ruby verlassen kann, aber er…? Ruby ist brandgefährlich, und sie hat die richtige Einstellung zu ihrem Geschäft. Sie ist die beste.«

»Und arbeitet jetzt als Rausschmeißerin.«

Hazel funkelte ihn wütend an und beschleunigte ihren Schritt. Owen trottete hinter ihr her und schwieg diplomatisch. Er hatte das Gefühl, als müßte er Jakob Ohnesorg stärker verteidigen, aber je länger er darüber nachdachte, desto weniger Argumente fielen ihm ein, die seinen Standpunkt untermauern konnten. Sicher, der Mann war eine Legende.

Niemand bestritt das. Er hatte mehr Rebellionen gegen das Imperium angeführt als jeder andere, doch obwohl er ein paar berühmte Schlachten geschlagen hatte, waren seine Siege immer nur vorübergehend gewesen. Er besaß Charisma und war ein blendender Redner, aber das Imperium besaß die Mittel. Es hatte immer mehr Schiffe, mehr Kanonen und mehr Soldaten gehabt, die es zusammenrufen konnte. Und als die Jahre ins Land gingen, hatte Jakob Ohnesorg schließlich mehr Auseinandersetzungen verloren als gewonnen, und das Imperium jagte ihn von Planet zu Planet und von Kampf zu Kampf, ohne auch nur in seinem Fundament zu wanken.

Owen seufzte. Wenn er Jakob Ohnesorg schon nicht vertrauen konnte, wem sonst?

Er verringerte den Abstand zu Hazel und zog seinen Umhang fröstelnd enger. Ein bitterkalter Wind hatte sich erhoben und schien durch seine Kleidung hindurchzublasen. Allmählich zerrte die ewige Umstellung zwischen eiskaltem Draußen und glühendheißen Innenräumen an Owens Nerven. Wenn das so weiterging, würde er sich noch eine ernsthafte Erkältung zuziehen. Und das auf einem derart unzivilisierten Planeten, Lichtjahre von jedem qualifizierten Arzt entfernt.

Er versuchte den Gedanken an Quacksalber mit Blutegeln zu verdrängen.

Owen und Hazel trotteten nebeneinander durch verwaiste Straßen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken hinterher. Keiner von beiden bemerkte die vermummte Gestalt mit der Armbrust, die sich auf einem Balkon aufrichtete und Owens Rücken anvisierte. Der Finger des Assassinen krümmte sich um den Auslöser der Waffe, und ein Stein aus Katzes Schleuder traf ihn mitten zwischen die Augen. Der Mann kippte lautlos nach hinten, und der Bolzen verschwand ungezielt im Nebel. Ein Tier kreischte erschreckt auf. Katze grinste und fand sein Gleichgewicht auf dem vorspringenden Giebel auf der dem Balkon gegenüberliegenden Straßenseite wieder. Lustige Sache mit diesen Typen, dachte er. Es schien ihnen nie in den Sinn zu kommen, daß man sie verfolgen könnte, während sie ihre Opfer verfolgten. Das war jetzt schon der siebzehnte Kopfgeldjäger, den er außer Gefecht gesetzt hatte, und allmählich gingen ihm die Strategien aus. Ganz zu schweigen von Steinen für seine Schleuder. Er wünschte sich, Hazel und Owen könnten sich endlich einigen, wo sie hinwollten, und dann auch dort bleiben. Es war harte Arbeit, ihnen quer durch die Stadt auf den Fersen zu bleiben, von Dach zu Dach zu springen und sich um den scheinbar nicht versiegen wollenden Strom von Möchtegern-Kopfgeldjägern zu kümmern, die den beiden überall auflauerten. Jetzt waren sie schon wieder unterwegs, und zu allem Überfluß marschierten sie auch noch tiefer in das Diebesviertel hinein – in Gegenden, die normale Leute selbst am hellichten Tag nicht freiwillig betreten würden. Katze seufzte schwer und machte sich mit weitgeöffneten Augen hinter den beiden her. Hoffentlich hatte Cyder einen guten Plan, wie man aus dem Todtsteltzer Geld schlagen konnte. Er haßte den Gedanken, das alles für nichts auf sich zu nehmen.

Hazel hatte nicht übertrieben. Der Tollwütige Wolf war ein verrottender Müllhaufen von Kneipe. Er lag in einer unbeleuchteten Seitenstraße, wahrscheinlich deswegen unbeleuchtet, weil sich die Straße für ein Etablissement wie den Tollwütigen Wolf genierte. Das einzige Licht entstammte einer Kohlepfanne, die unbeaufsichtigt auf halbem Weg die Straße hinab brannte. Owen hatte keine Ahnung, was dort brannte, aber es stank entsetzlich. Und so wie es aussah, hatte sich auch eine ganze Reihe von Pferden die Zeit genommen, die Straße als Toilette zu benutzen. Zumindest hoffte Owen, daß es Pferde gewesen waren. Er warf einen Blick zu Hazel, die seelenruhig die Straße entlangblickte, als gäbe es noch Schlimmeres.

»Wir müssen doch nicht wirklich dort hindurch, oder?«

fragte Owen hoffnungsvoll. »Meine Stiefel werden das nicht überleben.«

»Sei nicht so ein Schlappschwanz, Todtsteltzer. Paß einfach auf, wo du hintrittst, und sprich keine fremden Frauen an, dann passiert dir nichts.«

Sie setzte sich in Bewegung, und Owen folgte ihr, wobei er sorgfältig darauf achtete, wo er hintrat. Der Tollwütige Wolf erweckte den Eindruck, als hätte er im Laufe der Jahre neben gelegentlichen Brandanschlägen und dem Ausbruch der Pest auch sonst noch eine ganze Menge mitgemacht. Die Vorderfront der Taverne war von Kratern, Narben und Flecken übersät, die verdächtig nach Blut aussahen. Die beiden Fenster waren anscheinend schon vor langer Zeit mit Brettern vernagelt worden. Die Tür wurde von einer großen, massigen Gestalt mit schwellenden Muskeln bewacht, die offensichtlich Probleme mit ihren Drüsen hatte. Das letzte Mal hatte Owen etwas so Großes, aufrecht Stehendes im Imperialen Zoo von Golgatha gesehen. Es hatte ihn durch die Gitter seines Käfigs hindurch mit einem Blick angefunkelt, der ganz deutlich verraten hatte, wohin Owen sich seine Nüsse stecken konnte.

Hazel marschierte direkt zu dem massiven Etwas und brachte ihr Gesicht ganz dicht vor seines. Einen Augenblick lang wechselten derbe Worte hin und her und schienen klarzustellen, daß beide harte, verzweifelte Typen waren; dann machte das Ding einen Schritt zur Seite und ließ Hazel und Owen eintreten. Hazel stapfte mit hoch erhobenem Kopf an ihm vorbei, und Owen beeilte sich, ihr zu folgen. Er hielt die Augen wachsam auf den Türsteher gerichtet, als er sich an ihm vorbeidrückte, und seine Hand blieb immer in der Nähe des Schwertes. Er brachte ein angespanntes Lächeln zustande. Der Türsteher verzog ebenfalls den Mund – und enthüllte vier Paar glänzender Stahlzähne. Scharfe, spitze Stahlzähne in zwei dichten Reihen. Owen wußte, wann er mit seinem Grinsen verloren hatte. Er blickte zur Seite und wäre beinahe gegen Hazel gerannt, die direkt hinter dem Eingang stehengeblieben war und sich mit unverschleierter Nostalgie im Innern der Spelunke umblickte.

Owen rümpfte die Nase, als ihn der Gestank mit voller Wucht traf. Er war fest überzeugt, unter all dem Rauch mindestens vier verschiedene Gerüche zu erkennen, die vom Verbrennen verschiedener Substanzen herrührten, deren Gebrauch im gesamten Imperium verboten war. Es wurde nämlich für alle Anwesenden gefährlich, wenn jemand das Zeug rauchte. Das Licht war gedämpft, und der dichte Qualm trug ein übriges zur schlechten Sicht bei. Die Gäste der Spelunke schienen diese Art von Atmosphäre zu bevorzugen.

Owen konnte sie gut verstehen – auch er hätte es bei einem so zwielichtigen Aussehen vorgezogen, sich hinter einem Rauchschleier zu verbergen.

Auf dem Boden lagen keine Sägespäne; wahrscheinlich hatten die Ratten alle aufgefressen. Jedenfalls wieselten einige in den dunkleren Ecken des Lokals zwischen den Stuhl- und Tischbeinen hindurch. Wenn eine näher kommt, fange ich an zu schreien, dachte Owen.

Hazel schlenderte lässig durch die Rauchschwaden zur Theke, und Owen trottete hinterher, weil er keine Lust hatte, alleine an der Tür stehenzubleiben. Das letzte Mal hatte er sich so bedroht gefühlt, als die beiden Imperialen Sternenkreuzer das Feuer auf die Sonnenschreiter eröffnet hatten. Die Theke war schmutzverkrustet und klebte von den Überresten verschütteter Getränke. Einige davon schienen förmlich Löcher in das Holz gefressen zu haben. Entweder das, oder es mußte hier wirklich gigantische Holzwürmer geben. Owen blickte über die Theke hinweg und entschied beinahe augenblicklich, sich nicht dagegenzulehnen. Auch nicht für einen winzigen Moment. Hazel gestikulierte herrisch den Schankkellner herbei, einen grobschlächtigen, dicken Kerl mit einer langen, fleckigen Schürze, die vielleicht vor Jahrzehnten einmal weiß gewesen sein mochte, und fragte ihn nach Ruby Reises Verbleib aus. Owen nutzte die Gelegenheit, die vielen Flaschen auf den Regalen zu studieren, bevor er sich entschied, keinen Durst mehr zu verspüren.

Auch sein Hunger war plötzlich verschwunden.

Er drehte der Theke den Rücken zu und blickte sich im Gastraum um. Der Tollwütige Wolf erschien ihm als genau die Sorte von Lokal, von der seine Lehrer immer gesagt hatten, daß er eines Tages dort enden würde, wenn er seine Hausaufgaben nicht mit größerem Fleiß erledigte. Eine derartige Ansammlung von Strauchdieben, Lügnern, Mördern und Verlierern hatte er seit seinem letzten Besuch am Hof von Golgatha nicht mehr zu Gesicht bekommen. Keiner von ihnen schien besonders sauber zu sein, und Owen überkam die plötzliche Gewißheit, daß sie alle Flöhe haben mußten. Im gleichen Augenblick begann es an seiner Seite unter dem Hemd zu jucken, aber er verkniff sich den Wunsch zu kratzen, damit niemand auf den Gedanken kommen konnte, er würde nach seinem Schwert greifen. Nicht, daß er sich vor diesem Gesindel gefürchtet hätte. Natürlich nicht. Er war schließlich der Todtsteltzer. Aber die Verteilung der Kräfte gefiel ihm einfach nicht, genausowenig wie die große Entfernung zum Ausgang.

Eine handvoll Damen der Nacht – oder, um genauer zu sein, des späten Spätnachmittags – hatte sich am anderen Ende der Theke versammelt. Sie steckten in auffälligen, grellbunten ›Arbeitskleidern‹ und stritten sich heftig über eine große Geldbörse, die sie wahrscheinlich dem Mann abgenommen hatten, der neben ihnen mit dem Kopf auf der Theke schlief.

Owen mußte zugeben, daß die Frauen auf eine schlampige, verdorbene Weise attraktiv wirkten, und in seinem Verstand und an gewissen Stellen seines Körpers begann sich etwas zu rühren. Vielleicht war der Tollwütige Wolf gar kein so mieser Laden. In diesem Augenblick zog eine der Frauen ein Messer und stach einer anderen mitten in die gutentwickelte Brust.

Das Opfer erschlaffte und brach zusammen, und die Mörderin schnappte die Börse von der Theke. Die anderen Frauen dachten wahrscheinlich, das wäre die lustigste Geschichte, die sie jemals erlebt hatten – jedenfalls kreischten sie vor Vergnügen.

Owen blickte sehnsüchtig zum Ausgang und faßte den Entschluß, jeden auf der Stelle zu erschießen, der ihn auch nur schief anblickte. Ganz besonders, wenn es sich dabei um eine Frau handeln sollte. Plötzlich tauchte Hazel neben ihm auf, und er wäre vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren.

»Was ist los mit dir?« wollte sie wissen.

»Was mit mir los ist? Das ist der scheußlichste, verrufenste und ausgemacht schäbigste Ort, den ich je das Pech hatte zu besuchen, das ist mit mir los! Wenn man das Wort ›anrüchig‹

im Wörterbuch nachschlagen würde, dann würde dort als Erklärung stehen: siehe Tollwütiger Wolf. Bringt mich hier raus, bevor ich mir noch was einfange!«

»So schlecht ist der Laden auch wieder nicht«, widersprach Hazel. »Jedenfalls für Nebelhafen. Als ich noch jünger war, bin ich oft hiergewesen. Sicher, ich hatte damals noch keine Ansprüche. Manchmal wird es ein wenig laut, und die Kundschaft gehört vielleicht auch nicht gerade zur Oberschicht, aber auf der anderen Seite war es wirklich nie langweilig.«

»Langeweile kann manchmal auch ihre guten Seiten haben, wißt Ihr?« sagte Owen. »Was habt Ihr über Ruby Reise herausgefunden?«

Hazel zog ein mürrisches Gesicht. »Ruby hat nur kurze Zeit hier gearbeitet, dann hat man sie wegen übermäßiger Gewalttätigkeit wieder rausgeworfen. Was für eine Kneipe wie diese hier schon eine Menge heißen will. Sie haben keine Ahnung, wo Ruby jetzt steckt.«

»Bedeutet das, daß wir endlich von hier verschwinden können?« fragte Owen hoffnungsvoll.

»Du magst den Laden wirklich nicht, wie?« erwiderte Hazel grinsend. »Gewöhnst du dich nicht allmählich an das Ambiente?«

»Wenn ich mich je daran gewöhne, will ich tot umfallen«, sagte Owen mit Bestimmtheit. »Außerdem werde ich allein schon von dem Zeug krank, das hier in der Luft schwebt. Ich hatte schon Pickel am Hintern, die angenehmer waren…«

Hazel deutete auf eine der Damen am Ende der Theke.

»Sieht so aus, als gefällst du ihr.«

»Lieber gehe ich in ein Kloster.«

Und genau in diesem Augenblick brach eine wüste Schlägerei los. Owen konnte nicht sehen, wer angefangen hatte oder was es für einen Grund gab, aber ganz plötzlich schien jeder in der Kneipe mit Schwertern, Messern, abgeschlagenen Flaschen oder Stuhlbeinen gegen jeden zu kämpfen. Der Krach war nicht zum Aushalten. Schlachtrufe, Schreie und Flüche erfüllten die Luft. Blut spritzte in alle Richtungen, und wer fiel, wurde von den anderen totgetrampelt. Owen zog das Schwert und wich bis zur Theke zurück. Diskretion war in der Regel besser als Tapferkeit, einer der wenigen Leitsätze, die er von seinen Lehrern gelernt hatte. Oder, mit anderen Worten: Nur ein Idiot läßt sich in die Auseinandersetzungen anderer hineinziehen. Er blickte zu Hazel und zuckte zusammen.

Sie grinste breit beim Anblick des Chaos’ und schien die Szene aus vollen Zügen zu genießen. Sie sah aus, als wolle sie sich jeden Augenblick in den Kampf werfen und mitmachen.

Owen packte sie am Arm, aber erst als er ihr ins Ohr schrie und sie in Richtung des Ausgangs schob, erlangte er ihre Aufmerksamkeit. Hazel nickte enttäuscht, und Rücken an Rücken bewegten sie sich mit gezückten Schwertern zur Tür.

Ein paar verwegene Individuen versuchten sie am Weggehen zu hindern, aber als sie die offensichtliche Kompetenz bemerkten, mit der Owen und Hazel ihre Waffen schwangen, zogen sie es vor, lieber wieder bei der allgemeinen Schlägerei mitzumachen. Die beiden erreichten unangefochten die Tür und stolperten über den bewußtlosen Türsteher nach draußen in die Gasse. Hier draußen schien alles sehr ruhig und friedlich zu sein, obwohl der Krach aus der Kneipe ununterbrochen weiter dröhnte. Owen beruhigte sich nach und nach und steckte sein Schwert weg.

»So weit, so gut. Laßt uns von hier verschwinden, bevor das Gesetz eintrifft.«

»Das Gesetz? Machst du Witze, Todtsteltzer? Nur Grünschnäbel lassen sich hier blicken. Die Wachen ziehen es vor, dieses Viertel zu meiden, wenn nicht gerade ein Aufstand ausbricht.«

»Und das hier ist natürlich keiner?«

»Wohl kaum, Todtsteltzer. Ein paar Hitzköpfe, das ist alles.

Es ist genauso schnell wieder vorbei, wie es angefangen hat.

Du mußt lernen, die Dinge gelassener anzugehen, Owen Todtsteltzer. Nebelhafen ist nicht so schlecht, wie du denkst.

Es tendiert halt ein wenig zum Theatralischen.«

Das zugenagelte Fenster neben ihnen schien plötzlich nach außen zu explodieren, und eine Gestalt kam hindurchgeflogen. Owen und Hazel wichen instinktiv zurück, gerade rechtzeitig, um einem zweiten Flieger auszuweichen. Der zweite flog nicht ganz so schnell wie der erste und krachte in eine Schneewehe kurz hinter dem zerbrochenen Fenster. Stöhnend taumelte er auf die Beine, schwankte einen Augenblick unsicher und näherte sich dann vorsichtig dem Fenster.

»Ich möchte mich entschuldigen.«

»Wofür?« erklang eine fragende Stimme aus dem Innern.

»Für alles.«

Dann setzte er sich in Bewegung und ging langsam und vorsichtig die Gasse hinunter, als wäre er nicht ganz sicher, daß alles fest und heil und da war, wo es sein sollte. Owen und Hazel grinsten sich an und setzten sich ebenfalls in Bewegung. Oben auf einem schrägen Dach, von dem aus man den Tollwütigen Wolf im Auge hatte, beobachtete Katze mit einem Gefühl der Erleichterung, wie die beiden endlich gingen.

Er hatte sich leichte Sorgen gemacht, als sie die Spelunke tatsächlich betreten hatten, und größere Sorgen, als die Schlägerei ausgebrochen war – er hatte nämlich nicht die Absicht, in diesen Laden zu gehen, ganz egal, was den beiden dort drinnen zustoßen mochte. Es gab schließlich Grenzen.

Im letzen Augenblick bemerkte er aus den Augenwinkeln im tiefen Schatten unten auf der Straße eine Bewegung, und sein Instinkt ließ in zur Seite springen, als ein Disruptor sich entlud und das Dach an der Stelle explodierte, an der er noch einen Sekundenbruchteil zuvor gekauert hatte. Doch auch so war die Wucht der Explosion stark genug, um ihn umzuwerfen. Mit rudernden Armen und Beinen rutschte er über das Dach nach unten, und dann war da plötzlich nur noch Luft. Er fiel mehr als zehn Meter tief und landete in einer hohen Schneewehe, wo er reglos liegenblieb. Luzius Abbott, der Wampyr, grinste und senkte den Disruptor. Er hatte Katze nie gemocht. Langsam setzte er sich die Straße hinunter in Bewegung, hinter Hazel und Owen her. Noch immer grinsend, noch immer mit der Waffe in der Hand.

An der Kreuzung der unbeleuchteten Gasse mit der Hauptstraße blieben Hazel und Owen wie angewurzelt stehen, als sie das unverwechselbare Geräusch einer feuernden Energiewaffe vernahmen. Sofort stellten sie sich wieder Rücken an Rücken und nahmen ihre Verteidigungspositionen ein. Owen versuchte, gleichzeitig in alle Richtungen zu blicken, aber wohin er auch sah, überall gab es weit mehr Schatten als Licht. Hazel hatte ihm erzählt, daß Energiewaffen auf Nebelwelt sehr selten waren, und er hatte aufgehört, sich auf dieser offensichtlich primitiven Welt deswegen Gedanken zu machen. Jetzt fühlte er sich nackt und verletzlich, und er wußte noch nicht einmal, aus welcher Richtung der Schuß gekommen war. Er hatte zwar seine eigene Pistole und sein Schwert gezückt, aber damit konnte er höchstens angreifen, nicht sich verteidigen. Ein Disruptorstrahl würde ihn zerreißen, ohne auch nur in seiner Intensität nachzulassen. Er wußte plötzlich, daß er besser einen Schutzschild hätte mitnehmen sollen.

Trotz der Kälte bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn.

Und dann kamen sie. Die Schatten schienen lebendig zu werden. Aus jeder Richtung zugleich, aus allen Ecken und Seitengassen. Eine kleine Armee von Männern und Frauen. Sie waren mit schmierigen, schlechtsitzenden Fellen bekleidet, und jeder trug etwas bei sich, das er als Waffe benutzen konnte. Sie bewegten sich mit langsamer Unerbittlichkeit voran und bildeten einen Kreis um ihre beiden Opfer. Owen leckte über seine trockenen Lippen. Es waren mindestens hundert, vielleicht sogar mehr. Dann löste sich ein großer Schatten aus der Menge, und Luzius Abbott trat vor. Er hielt einen Disruptor in der Hand. Owens Mut sank noch weiter, und der Wampyr grinste. Seine Zähne sahen groß und wirklich beunruhigend scharf aus.

»Du hast doch nicht gedacht, daß es so einfach werden würde, oder vielleicht doch, Todtsteltzer? Hast du wirklich gemeint, du könntest mich einfach zur Seite fegen und mich dann vergessen? Es braucht mehr als nur einen lächerlichen Schlag, um mich außer Gefecht zu setzen. Du darfst eines nicht vergessen: Ich bin ein Wampyr. Ich bin nicht länger menschlich. Nicht mehr, seit sie mich sterben ließen und wiedererweckten. Wie gefallen dir meine Freunde? Alles Plasmakinder. Blutsüchtige. Blutsbrüder und -Schwestern, die mir treu folgen. Unsere Bande sind stärker als die von Familien oder Liebe, Leben oder Tod. Du hast ihm nie die ganze Geschichte erzählt, Hazel, oder? Was es wirklich bedeutet, ein Plasmakind zu sein? Ich habe nicht nur ihr Blut getrunken, Todtsteltzer. Sie hat auch das meine getrunken, immer nur ein paar Tropfen, aber schon so wenig meines künstlichen Blutes bewirkt eine ganze Menge. Ich benötige menschliches Blut und verwandle es in etwas anderes. Sie sagen, es sei die wirkungsvollste Droge, die es überhaupt gibt. Sie erleben einen so intensiven Rausch, als würden sie zugleich leben und tot sein. Stimmt das etwa nicht, Hazel? Hast du es ihm erzählt?«

»Es ist schon so lange her, Luzius«, erwiderte Hazel bleich.

Ihre Stimme klang fest und entschlossen. »Ich habe mich von dir befreit. Es hat mich unglaublich viel Kraft gekostet, aber ich habe es geschafft. Du bedeutest mir nichts mehr.«

»Du gehörst mir«, erwiderte der Wampyr. »Genau wie all meine anderen Kinder. Komm zurück, Hazel. Nimm mein Blut, und ich lasse dich am Leben.«

»Ich würde eher einen Kakerlaken fressen«, sagte Hazel.

Der Wampyr grinste kalt. »Tötet beide. Aber laßt sie zuerst ein wenig leiden.«

Owen riß den Disruptor hoch und feuerte auf Abbott, doch der Wampyr schien mit der Menge zu verschmelzen. Der Strahl der Waffe fetzte durch eine zerlumpte Gestalt und setzte noch ein paar andere dahinter in Brand. Sie starben lautlos.

Unglaublicherweise rührte sich die Menge überhaupt nicht.

Ihre Hände Hieben ruhig, ihre Augen fest auf Owen und Hazel gerichtet. Der Wampyr trat erneut vor. Er grinste noch breiter.

»Ich hatte mir schon gedacht, daß ich dich dazu bringen könnte, deinen Disruptor abzufeuern, Todtsteltzer. Jetzt ist er nutzlos, bis der Energiekristall sich wieder aufgeladen hat. Ich werde meine Kinder nicht auf dich hetzen, Todtsteltzer. Ich will dich für mich selbst, mein Freund. Nicht, weil auf deinen Kopf ein hohes Lösegeld ausgesetzt ist, nein. Geld bedeutet für jemanden wie mich nichts mehr. Nein, ich will dich schlagen, dich zerbrechen, erniedrigen, verkrüppeln. Ich werde es genießen. Und anschließend werde ich dir von meinem Blut zu trinken geben. Dann gehörst du mir. Mit Leib und Seele.«

Owen steckte den Disruptor ein und fuchtelte mit dem Schwert vor Abbotts Nase. »Ihr redet zuviel, Wampyr. Fangt endlich an!«

Der Wampyr stürzte mit ausgestreckten Armen vor. Er war unglaublich schnell. Owen spannte sich zu einem perfekten Ausfall, mit gestrecktem Schwert, und Abbott wurde von seinem eigenen Schwung in die Klinge getrieben. Sie drang direkt unterhalb seines Herzens ein und trat auf seinem Rücken in einem Schwall schwarzen, zähen Blutes wieder aus. Abbott grunzte nur und drang weiter auf Owen ein. Er preßte seinen Körper gegen die immer weiter eindringende Klinge, um Owen zu packen. Der Todtsteltzer drehte sich in einer eleganten Pirouette auf einem Fuß, riß den anderen hoch und trat mit aller Kraft in Abbotts Unterleib, wodurch er sein Schwert frei bekam. Er wich zurück und beobachtete ungläubig, wie sich die Wunde in der Brust des Wampyrs in Sekundenschnelle wieder schloß.

Richtig, dachte er. Schnell, stark, selbstregenerierend. Ich frage mich, was der Kerl mir sonst noch so alles verheimlicht hat…

Owen erwischte Abbott an der Kehle, aber der Wampyr schlug die Klinge mit der bloßen Hand beiseite. Owen wich erneut zurück, und Abbott setzte nach. Plötzlich war Hazel hinter dem Wampyr und richtete ihren Disruptor auf ihn. Ein Dutzend Gestalten aus der Menge warf sich auf sie und riß ihr die Waffe aus den Händen. Hazel wurde zu Boden geworfen und festgehalten, obwohl sie sich mit aller Kraft wehrte. Owen verzog grimmig das Gesicht und murmelte sein Schlüsselwort.

Er hatte den Zorn in letzter Zeit viel zu häufig eingesetzt und haßte den Gedanken an die langfristigen Auswirkungen, aber ihm blieb gar keine andere Wahl. Die Welt schien sich zu verlangsamen, als der Zorn zu wirken begann und seinen Kreislauf zum Rasen brachte. Owen gewann kostbare Zeit zum Nachdenken. Der Wampyr war unglaublich schnell, aber das war Owen jetzt auch. Wenn es ihm nur gelang, die Verteidigung seines Gegners zu durchbrechen… ein einziger gutgezielter Schlag würde ausreichen, um ihn zu köpfen. Davon mußt du dich erst mal erholen, du verdammter Bastard.

Er tänzelte um den Wampyr, stieß und schnitt und vergoß schwarzes Blut, nur um zu sehen, wie Abbotts Wunden immer wieder innerhalb von Sekunden verheilten. Der Wampyr verfolgte ihn mit ausgestreckten Händen und Mord im Blick. Die beiden bewegten sich zu schnell, um ihnen mit bloßem Auge folgen zu können. Owen stieß und trat und schlug zu, wo sich nur eine Gelegenheit bot, zielte immer auf den Hals seines Gegners; trotzdem kamen Abbotts ausgestreckte Hände stetig näher. Owen leckte seine trockenen Lippen und schnappte nach Luft. Der Zorn verhalf auch seinem Körper zu einer gewissen Selbstheilung, aber Owen bezweifelte, daß es ausreichen würde, um mit dem fertig zu werden, was Abbott vorhatte.

Und dann bewegte er sich ein einziges Mal nicht schnell genug, sah zu spät voraus, was sein Gegner vorhatte, und Abbotts Hand schloß sich wie ein Schraubstock um Owens Handgelenk. Alles Gefühl wich aus Owens Fingern, und das Schwert entglitt seinem tauben Griff. Abbott lachte siegessicher. Owen griff mit seiner freien Hand zum Stiefelschaft, zog einen Dolch hervor und rammte ihn zwischen die Rippen des Wampyrs. Einen Augenblick strömte schwarzes Blut hervor, dann versiegte es wieder. Der Wampyr grinste nur und schleuderte Owen weit von sich. Die Menge wich vor dem strauchelnden Todtsteltzer zurück, und er prallte heftig auf den festgetrampelten Schnee. Die Luft wich aus Owens Lungen. Langsam rollte er sich herum und unterdrückte ein Stöhnen. Seine Hand war völlig taub. Abbott stapfte ohne Eile heran. Der Wampyr grinste noch immer. Der Dolchgriff ragte vergessen zwischen seinen Rippen hervor.

Owen kam unsicher hoch und stützte sich auf ein Knie. Er verharrte einen Augenblick und versuchte wieder zu Atem zu kommen, als seine gesunde Hand einen harten Gegenstand im Schnee ertastete. Sein Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, als er erkannte, was es war: Hazels Disruptor! Endlich lächelte das Glück auch ihm einmal zu. Er hatte eine zweite Chance. Abbott ragte drohend über ihm auf und packte Owen mit beiden Händen am Kragen. Er hob ihn mühelos hoch, und Owens Füße strampelten hilflos in der Luft.

»Es ist vorbei, kleiner Mann«, knurrte Abbott.

»Darauf könnt Ihr Euren Arsch verwetten«, knurrte Owen.

Und hob die Hand mit Hazels Waffe, stieß sie in Abbotts verblüfft aufgerissenen Mund und drückte ab. Der Energiestrahl ließ den Kopf des Wampyrs zerplatzen wie einen überreifen Kürbis, und schwarzes Blut und graue Fetzen von Gehirn spritzten durch die Luft. Abbotts Griff löste sich langsam, und der Todtsteltzer fiel auf den blutbesudelten Schnee. Er stolperte auf die Beine, schob Hazels Disruptor in den Gürtel und tastete mit der gesunden Hand nach seinem Schwert. Die andere schlug er verzweifelt gegen den Oberschenkel, damit das Gefühl wieder zurückkehrte. Dann endlich fiel Abbotts Körper zusammen und lag still.

Die Zuschauermenge stürzte vor und fiel über den Leichnam her wie Ratten über einen Kadaver. Sie zerrissen die Kleider des toten Wampyrs, schnitten große Stücke Fleisch aus ihm und saugten daran wie Blutegel. Ihre Münder bearbeiteten gierig das blasse Fleisch. Andere kämpften miteinander um das Blut, das noch immer aus der großen Wunde an Abbotts Hals strömte. Owen stolperte zu Hazel hinüber, die wieder auf die Beine gekommen war und verwirrt den Kopf schüttelte. Als er sich näherte, blickte sie alarmiert zu ihm auf.

Dann erkannte sie ihn, entspannte sich ein wenig und ließ den Blick über die blutrünstige Menge schweifen.

»Ich schätze, wir sollten wirklich machen, daß wir von hier verschwinden, Hazel«, sagte Owen. Er streckte seine verletzte Hand und verzog das Gesicht, als tausend Nadeln in seinen Fingern zu stechen begannen. Dann gab er Hazel den Disruptor zurück. Sie nickte und blickte sich um.

»Ich bekomme allmählich das Gefühl, daß es nicht so einfach wird, Todtsteltzer.«

Owen folgte ihrem Blick und erstarrte. Der Mob hatte den Leichnam des Wampyrs vergessen und formierte sich erneut um die beiden. Auf den meisten Gesichtern waren Flecken schwarzen Blutes zu sehen. Alle Augen waren auf Hazel und Owen gerichtet. Zunehmende Spannung erfüllte die Luft, und die Gesichter der Plasmakinder füllten sich nach und nach mit dumpfem Haß. Ihr Herr und Meister, ihr Gott war tot. Es würde kein wundervolles Blut mehr geben, durch das sie sich selbst zeitweilig wie Götter gefühlt hatten. Owen warf einen gehetzten Blick über die Menge, aber die Chancen standen überall gleich schlecht, egal wohin er sah. Der Mob näherte sich von allen Seiten zugleich.

Zuerst behinderte die Masse sich durch ihre schiere Menge selbst; sie waren nicht gewohnt zusammenzuarbeiten und standen sich gegenseitig im Weg. In ihnen brannte das schwarze Blut ihres toten Herrn, und sie kämpften gegeneinander um die Möglichkeit, sich auf den Mann zu stürzen, der ihren Gott getötet hatte. Owen benutzte das Schwert mit kalter Präzision. Er tötete leidenschaftslos und mit dem geringstmöglichen Einsatz seiner Kräfte. Die Blutsüchtigen starben und fielen zu Dutzenden, doch immer neue nahmen den Platz der Gefallenen ein. Hazel hielt ihm den Rücken frei, aber von allen Seiten drangen Schwerter, Macheten und Dolche auf die beiden ein. Owen wehrte sich verzweifelt gegen die drohende Niederlage. Der Zorn raste hell und kraftvoll in seinem Blut, aber er wußte nicht, wie lange er noch anhalten würde. Eine doppelt so helle Kerze brannte schließlich auch doppelt so schnell nieder.

Er durchbohrte einen Mann, der mager wie ein Skelett und in stinkende Felle gehüllt war, wich dem Hieb seines Hintermannes aus und zog seine Klinge brutal durch das Gesicht eines dritten, der sich zu nahe herangewagt hatte. Owen blutete inzwischen aus mehr als einem Dutzend kleinerer Wunden, aber er war viel zu angespannt, um Schmerz zu empfinden.

Ein Teil des Blutes, mit dem seine Kleidung besudelt war, stammte von ihm selbst. Er knurrte, trat und stieß mit seiner Waffe um sich und setzte all seine übernatürlichen Todtsteltzer-Kräfte ein, doch der Mob drang ununterbrochen vor, besinnungslos vor Wut und blindem Verlangen, Owen zu zerreißen. Glitzernder Stahl fuhr aus allen Richtungen gleichzeitig auf Owen und Hazel herab, und er konnte nicht alle Klingen gleichzeitig parieren oder kontern. Plötzlich erkannte er mit ruhiger Gelassenheit, daß Hazel und er den Kampf nicht überleben würden. Es waren einfach zu viele. Nur ein einziger Glückstreffer, und der Kampf wäre vorüber.

Eine verdammte Hölle von Tod für einen Todtsteltzer, von namenlosen Hunden in einer namenlosen Seitengasse niedergerissen zu werden. Owen grinste schwach, während er unablässig tötete. Dieses Gefühl hatte er schon einmal gehabt. Daheim auf Virimonde, als seine eigenen Leute ihn umzingelt hatten und wild auf seinen Kopf ausgewesen waren. Aber dann war Hazel wie aus dem Nichts erschienen und hatte ihn gerettet. Diesmal steckte sie in genauso großen Schwierigkeiten wie er selbst. Diesmal würde sie ihn nicht retten können … vielleicht konnte er sie retten. Er drehte und wendete den Gedanken in seinem Kopf und fand ihn gut. Owen verdankte ihr sein Leben, und Todtsteltzer bezahlten ihre Schulden immer. Auf diese Weise wäre sein Tod wenigstens nicht völlig sinnlos.

Er zwang die verzerrten Gesichter mit ein paar weit ausholenden, waagerechten Hieben zurück und verschaffte sich ein wenig Luft, dann zog er seinen Disruptor. Inzwischen war genügend Zeit vergangen, um den Kristall wieder aufzuladen.

Ein Teil des Mobs wich bereits beim Anblick der Waffe zurück. Owen neigte den Kopf zur Seite und schrie nach Hazel.

Er konnte ihren Rücken spüren, der gegen den seinen stieß und ihm zeigte, daß sie noch lebte und kämpfte, aber er vermochte nicht zu sagen, in welchem Zustand sie sich befand.

»Hazel, ich habe einen Plan!«

»Ich hoffe, es ist ein guter Plan, Todtsteltzer!«

»Ich schieße mit meinem Disruptor eine Gasse durch den Mob. Ihr rennt los, sobald Ihr die Lücke seht. Ich werde den Pöbel ablenken.«

»Bist du verrückt? Ich lass’ dich nicht einfach hier sterben!

Ich hab’ deinen Arsch nicht gerettet, um jetzt einfach davonzulaufen!«

»Hazel, ich kann uns nicht beide gleichzeitig retten. Wenn Ihr nicht rennt, dann werden wir beide sterben. Bitte, laßt mich Euch diesen Dienst erweisen! laßt mich wenigstens Euch retten!«

Eine kurze Pause, dann kehrte ihre Stimme zurück: »Du bist ein tapferer Kerl, Todtsteltzer. Ich wünschte, ich hätte dich schon früher kennengelernt. Mach’s.«

Owen nahm den letzten Rest seiner Kraft zusammen und stürzte sich auf den Mob. Das Blut hämmerte durch seinen Kopf und raste in seinen Adern, und seine Müdigkeit und seine Schmerzen verschwanden wie ein flüchtiger Gedanke. Sein Schwert schien zu einem Teil seines Körpers geworden zu sein, während es alles zerhackte, was ihm in den Weg kam.

Weiter und weiter trieb er die bösen Gesichter vor sich her, und die Klinge bewegte sich viel zu schnell für das menschliche Auge. Der Pöbel wich noch weiter zurück, und für einen Augenblick breitete sich so etwas wie Verwirrung ob dieser scheinbar unbezwinglichen, tödlichen Macht in ihrer Mitte aus. Owen nutzte die Gelegenheit, zog den Disruptor und feuerte. Die Plasmakinder versuchten sich zur Seite zu werfen, aber der sengende Strahl fuhr durch alle, die nicht schnell genug reagiert hatten. Für einen Augenblick entstand eine Lücke in der Menge.

»Lauft los!« schrie Owen, als er Hazel herumriß und auf die Lücke zuschob. Sie senkte den Kopf und stürzte vor. Hazel brach durch den Ring aus Angreifern und entkam in die verlassene Leere der dahinter liegenden Straße. Sie rannte einfach weiter, und nur langsam wurde ihr bewußt, daß niemand sie verfolgte. Hazel blieb stehen und blickte zurück, aber sie konnte nur die Rücken der Gestalten erkennen, die sich auf die sich wehrende Figur in ihrer Mitte stürzten. Langsam senkte Hazel ihr Schwert. In ihren Augen war plötzlich ein Brennen, als würden jeden Augenblick die Tränen hervorschießen. Er hatte sie nie besonders gemocht, genausowenig wie sie ihn, aber jetzt würde er sein Leben opfern, um das ihre zu retten. Eine Sekunde lang wollte sie zurückrennen und wieder neben ihm kämpfen, aber damit hätte sie wahrscheinlich die Chance vertan, die er ihr verschafft hatte. Während sie hinsah, schob sich der Mob von allen Seiten schlagend, hackend und stoßend vor, und schließlich verschwand der Todtsteltzer unter der Masse von Angreifern. Ein lautes Schluchzen erzwang sich seinen Weg aus Hazels bebendem Mund.

»Trauert nicht um ihn«, sagte eine leise, seltsam summende Stimme neben ihr. »Noch ist es nicht vorbei.«

Hazel wirbelte herum, das Schwert erhoben, und sah sich einer hühnenhaften Gestalt in einer unbekannten dunklen Uniform gegenüber. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein unterschwellig nichtmenschliches Gesicht mit strahlend goldenen Augen, dann war die Gestalt auch schon an ihr vorbei und rannte mit unglaublicher Geschwindigkeit auf den Pöbel zu. Einige wandten sich um und erwarteten den neuen Gegner, doch innerhalb von Sekundenbruchteilen war er mitten im Gewühl und ließ sein Schwert in langen, tödlichen Bögen kreisen, die seine Opfer zerrissen und zur Seite schleuderten wie Marionetten, deren Fäden man durchschnitten hatte. Zu beiden Seiten fielen Männer und Frauen, und die Menge begann sich zögernd zu verteilen, außerstande, der unglaublichen Schnelligkeit und Kraft des Fremden etwas entgegenzusetzen. Plötzlich erhob sich inmitten des größten Getümmels von neuem eine blutüberströmte Gestalt und schwang noch immer mit wilder Wut ihr Schwert. Todtsteltzer. Seine Stimme erhob sich über den allgemeinen Lärm, und kraftvoll ertönte sein Ruf:

»Shandrakor! Shandrakor!«

Hazels Herz setzte einen Augenblick aus, als sie Owen erkannte. Sie mußte blinzeln, um ihre Tränen zurückzuhalten.

Sie hätte wissen müssen, daß dieser Teufelskerl nicht so leicht sterben würde. Gemeinsam mit dem Fremden bewegte er sich durch die immer weiter zurückweichende Menge wie ein unaufhaltsamer, tödlicher Alptraum, und blutige Gestalten sanken reihenweise vor ihnen zu Boden und rührten sich nicht mehr. Niemand konnte ihnen widerstehen, und nach wenigen Minuten versuchte es auch niemand mehr. Die wenigen überlebenden Blutsüchtigen wandten sich in wilder Flucht ab und rannten davon, und plötzlich war alles vorbei.

Owen und der Fremde senkten ihre Schwerter und sahen den Flüchtenden hinterher, dann warfen sie sich gegenseitig anerkennende Blicke zu. Hazel rannte zurück und gesellte sich zu den beiden und dann mußte sie den Arm um Owen legen, weil seine Knie nachzugeben drohten. Er zitterte wie ein Pferd nach einem Rennen, trotzdem brachte er ein verzerrtes Grinsen zustande.

»Wißt Ihr eigentlich«, begann er mit schwerer Zunge, »daß dies schon das zweite Mal ist, daß mich jemand anderes retten mußte? Ein einziges Mal würde ich es gerne alleine schaffen, in Ordnung? Ist das zuviel verlangt?«

»Mann, Todtsteltzer! Halt endlich den Mund und sieh zu, daß du wieder zu Atem kommst!« sagte Hazel. »Wenn du am Ertrinken wärst, würdest du dich doch tatsächlich noch über den Ast beschweren, den man dir hinstreckt, weil seine Qualität nicht deinen Ansprüchen genügt. Was hast du da eben eigentlich gebrüllt?«

» Shandrakor! Der Kampfruf meines Clans«, erwiderte Owen. Seine Stimme klang wieder kräftiger. »Ich habe ihn noch nie zuvor benutzt. Ich hätte nie gedacht, daß ich es eines Tages tun würde. Es ist doch überraschend, was einem so alles durch den Kopf geht, wenn man erkennt, daß man am Ende vielleicht doch noch mit dem Leben davonkommt.

Apropos Leben – wer ist eigentlich Euer tapferer neuer Freund hier?«

»Frag mich nicht«, entgegnete Hazel. »Ich dachte, es wäre ein Freund von dir!«

Sie wandten sich beide zu ihrem unerwarteten Retter um, und er blickte ruhig zurück. Sein Gesicht war tatsächlich nicht ganz menschlich, wie Hazel vermutet hatte: Irgendetwas stimmte nicht in den Proportionen; beinahe, als wäre es von fremdartigen, ungewohnten Emotionen geprägt. Aber am fremdartigsten waren noch die Augen. Ihr Anblick jagte eine Gänsehaut über Owens und Hazels Arme und ihre Nackenhaare standen zu Berge. Die Augen des Mannes leuchteten im schwachen Licht der Straße golden, als glühten sie durch ein geheimnisvolles Feuer von innen heraus. Sie verrieten den Fremden wie ein Kainsmal. Er war ein Hadenmann. Einer der legendären Krieger der verlorenen Welt Haden. Man traf sie heutzutage nur noch selten, vielleicht einen auf jeder hundertsten Welt des Imperiums: die wenigen Überlebenden der schrecklichen Rebellion der Hadenmänner, als von Menschen geschaffene Kyborgs versucht hatten, die Menschheit mit Stumpf und Stiel auszulöschen. Die Hadenmänner hatten verloren, aber es war sehr knapp gewesen. Und jetzt hatten sich die letzten Überlebenden über das gesamte Imperium verteilt, gefürchtet und verehrt als die besten Krieger, die das Imperium je besessen hatte. Sie waren vogelfrei, auf Anordnung der Imperatorin hin augenblicklich zu erschießen, wenn man ihnen begegnete – aber niemand war dumm genug, sich mit ihnen einzulassen, wenn er nicht mindestens eine Armee im Rücken wußte.

Wenige und weit verstreut, verloren und vergessen – die Reste eines einst glänzenden Traums.

»Mein Name ist Tobias Mond«, stellte sich der Hadenmann mit einer rauhen, summenden Stimme vor, die unmöglich einer menschlichen Kehle entspringen konnte. »Ich bin ein nur teilweise funktionierender aufgerüsteter Hadenmann. Die meisten meiner implantierten Energiekristalle sind erschöpft, und mir fehlen die Mittel, um sie wieder aufzuladen. Die meisten Implantate kann ich deshalb nicht mehr benutzen, aber ich bin trotzdem immer noch ganz gut imstande, mit ein paar Blutsüchtigen fertig zu werden.«

»Und woher hast du gewußt, daß wir Hilfe benötigen?« fragte Hazel.

»Ich bekam eine Nachricht von Cyder. Sie ließ mir mitteilen, daß Ihr vielleicht ein wenig Beistand gebrauchen könntet und daß wir uns vielleicht gegenseitig weiterhelfen könnten.«

Hoch oben auf einem Dach über der Straße seufzte Katze erleichtert auf. Ihm tat noch alles weh von seinem Sturz, aber die Schneewehe war Gott sei Dank hoch genug gewesen, um den Aufprall zu dämpfen. Jetzt, da der Hadenmann endlich in Erscheinung getreten war, konnte er zum Schwarzdorn zurückkehren und sich die bitter benötigte Ruhepause gönnen.

Hazel und Owen Todtsteltzer zu beschatten hatte sich als ein echter Vollzeitjob erwiesen. In der Begleitung von Tobias Mond sollten sie relativ sicher sein. Es gab nicht viele Leute, die dumm genug waren, einen Hadenmann zu verärgern.

Langsam machte Katze sich über die Dächer auf den Heimweg, und er hoffte inbrünstig, daß er keinen der drei je wiedersehen würde. Es war einfach zu gefährlich in ihrer Nähe.

Selbst in einer Stadt wie Nebelhafen.

Unten auf der Straße wirbelten Owen und Hazel herum, als sie unter den vielen blutigen Leichen im Schnee das Geräusch einer Bewegung vernahmen. Eine vereinzelte Gestalt versuchte davonzukriechen. Sie arbeitete sich allein mit den Armen voran und zog ihre seltsam schlaffen Beine in einer breiten Spur aus hellrotem Blut hinter sich her. Owen wollte sie verfolgen, aber Hazel legte ihre Hand auf seinen Arm und hielt ihn fest.

»Nicht nötig, ihn zu töten, Todtsteltzer. Er wird verbluten, bevor er weit kommt.«

Owen riß sich los. »Ich habe nicht vor, ihn zu töten. Ich will nachsehen, ob ich helfen kann.«

»Bist du übergeschnappt? Er ist ein Blutsüchtiger! Er hätte dich mit dem allergrößten Vergnügen getötet!«

»Der Kampf ist vorbei. Ich kann nicht einfach jemanden verbluten lassen, wenn Hilfe möglich ist. Wenn ich es täte, wäre ich kein Stück besser als sie. Vergeßt nicht, Hazel d’Arkich bin trotz allem noch immer ein Todtsteltzer, ganz gleich, was die Eiserne Hexe sagt, und wir sind ein ehrenhafter Clan. Und außerdem: nur ein paar Jahre früher, und Ihr hättet an seiner Stelle liegen können, Hazel.«

Owen stapfte rasch zu der davonkriechenden Gestalt und kniete neben ihr nieder. Er legte ihr freundlich die Hand auf die Schulter. Die Gestalt zuckte zusammen und gab einen schwachen, verzweifelten Schmerzenslaut von sich. Der Fremde war nicht besonders groß und in schmutzige Felle und Lumpen gewickelt. Seine Beine waren von den Oberschenkeln an abwärts voller Blut. Owen murmelte beruhigende Worte, bis der Fremde schließlich zu wimmern aufhörte – vielleicht auch nur, weil er bereits zu schwach dazu war.

Owen untersuchte die verwundeten Beine so sorgfältig, wie er es, ohne sie zu berühren, konnte, und schüttelte dann langsam den Kopf. Entweder er oder der Hadenmann hatten die Muskeln in beiden Beinen glatt durchtrennt. Der Fremde würde nie wieder gehen können. Verkrüppelnde Wunden auf einer Welt wie dieser hier. Owen zuckte unbehaglich die Schultern und zog die Kapuze des Fremden zurück. Als er das Gesicht erblickte, fuhr er entsetzt zurück und fühlte sich mit einem Mal elend. Sie war ein Mädchen, und sie konnte nicht älter sein als vierzehn. Das junge Ding schien halb verhungert, und ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter der gespannten Haut ab. Mit leeren Augen, jenseits von Hoffnung oder Verzweiflung, sah sie zu Owen auf. In ihren Augen war für nichts anderes Raum als Schmerz.

»Ein Plasmakind«, sagte Hazel leise hinter ihm. »Sie fangen schon sehr früh damit an, hier in Nebelhafen

»Sie ist noch ein Kind!« sagte Owen. »Mein Gott, was habe ich getan?«

»Sie hätte dich ohne zu zögern getötet«, sagte Hazel.

»Glaube mir, sie hätte keinen zweiten Gedanken mehr an dich verschwendet. Mach ein Ende, Owen. Wir müssen von hier verschwinden.«

Owen wandte sich wütend zu Hazel um. »Was meint Ihr mit ›nach ein Ende‹?«

»Willst du sie so hier liegenlassen? Wenn sie Glück hat, verblutet sie. Wenn nicht, und wenn der Wundbrand ihr nicht langsam den Garaus macht, dann ist sie für den Rest ihres Lebens ein Krüppel. Und was das bedeutet, kannst du dir ja wohl denken. Auf Nebelwelt ist kein Platz für Kranke und Schwache. Es ist gnädiger, wenn du ihrem Leben an Ort und Stelle ein Ende setzt. Oder soll ich es vielleicht für dich tun?«

»Nein!« preßte Owen zwischen den Zähnen hervor. »Nein!

Ich bin der Todtsteltzer! Ich wische meinen Dreck selbst auf!«

Owen zog den Dolch aus seinem Stiefel und stieß ihn fachmännisch ins Herz des Mädchens. Sie stöhnte nicht einmal, sondern hörte einfach nur auf zu atmen, und ihre Augen richteten sich in unendliche Fernen. Owen zog den Dolch aus ihrer Brust und setzte sich schweigend neben sie. Er wiegte sich leicht hin und her und versuchte, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Hazel kniete neben ihm nieder und wußte nicht genau, was sie machen sollte. Sie hätte ihm gerne eine Hand auf die Schulter gelegt und ihn getröstet, hätte ihn gerne wissen lassen, daß sie da war und ihn verstand, aber sie war nicht sicher, wie er es aufnehmen würde. Er war ein so unglaublich starker Mann, und stolz obendrein, aber er zeigte unerwartete Schwächen. Und wenn man Schwächen hatte, dann würde diese verdammte Welt sie finden.

Hazel hatte keine Ahnung gehabt, daß der Todtsteltzer ein weiches Herz besaß. Er war ihr immer als der vollkommene Krieger und Aristokrat erschienen. Jetzt erkannte sie eine neue Seite an ihm, doch sie war sich nicht sicher, ob sie sie mochte oder nicht. Wenn man ein Gesetzloser war, dann konnte eine einzige Schwäche schon reichen, und man war tot. Sie legte zaghaft die Hand auf seine Schulter, bereit, sie jederzeit wieder zurückzuziehen, aber er schien ihre Gegenwart nicht einmal wahrzunehmen. Sie konnte spüren, wie verkrampft er war, und sie wußte, daß genausoviel Wut wie Sorgen in ihm brodelten. Hazel blickte zurück zu dem Hadenmann mit seinen unnatürlichen, goldenen Augen, und sie mußte den Blick abwenden. Plötzlich sprang Owen auf die Beine. Sein Blick war noch immer auf den armseligen kleinen Körper gerichtet.

»Es ist einfach nicht richtig«, sagte er tonlos. »Niemand sollte auf diese Weise leben müssen. Oder auf diese Weise sterben.«

»Aber es geschieht überall«, erwiderte Hazel. »Nicht nur auf Nebelwelt, sondern überall im gesamten Imperium. Du bist reich, besitzt einen Titel – was kannst du schon über das Leben der unteren Klassen wissen?«

»Ich hätte es wissen müssen. Ich bin Historiker. Ich habe die Aufzeichnungen studiert. Ich wußte, daß früher solche Dinge geschehen sind. Aber ich hätte nicht im Traum gedacht, daß…«

»Geschichte ist doch nur das, was das Imperium als Geschichte darstellt«, mischte sich Mond mit seiner rasselnden, summenden Stimme ein. »Das Imperium entscheidet, was aufgezeichnet wird. Aber selbst die leuchtendste Blume hat Dreck an ihren Wurzeln.«

»Nein!« sagte Owen. »Es darf nicht so bleiben, wie es jetzt ist. Dafür stehe ich mit meinem Namen. Ich bin der Todtsteltzer, und ich werde nicht erlauben, daß es so weitergeht.«

»Und was willst du dagegen unternehmen?« fragte Hazel.

»Das Imperium zerstören?«

Owen blickte sie lange schweigend an. Schließlich antwortete er: »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Wenn es nötig ist, um das hier zu ändern.«

Er wandte Hazel und dem toten Kind den Rücken zu und ging zu dem Hadenmann hinüber. »Nach dem, was ich gehört habe, gibt es nur noch wenig mehr als ein Dutzend von Euch im gesamten Imperium. Was kann ich Eurer Meinung nach für Euch tun? Die Imperatorin hat alle Eurer Art zum Tode verurteilt, weil Ihr eine Gefahr für das Imperium und die gesamte Menschheit darstellt. Ich kann nicht sagen, daß ich ihr deswegen einen Vorwurf mache – wenn man bedenkt, welche Folgen Euer Aufstand hatte. Ihr habt Millionen getötet. Und wenn Ihr Erfolg gehabt hättet…«

»Hätten wir noch Millionen mehr getötet«, vollendete Mond Owens Satz. Es war schwierig, in dieser nichtmenschlichen, summenden Stimme Emotionen zu erkennen, aber Owen glaubte, genausoviel Bedauern wie Trotz gehört zu haben.

»Wir kämpften um unsere Freiheit. Um unser Überleben. Wir verloren die Schlacht, aber der Krieg ist noch nicht zu Ende.

Ich bin nicht der letzte von meiner Art. Auf der verlorenen Welt Haden, die allein durch das dunkle All treibt, liegt eine ganze Armee meines Volkes in der Gruft von Haden und wartet auf das Signal, das sie erwachen läßt. Wir haben die bittere Erfahrung gemacht, daß wir den Kampf nicht alleine gewinnen können. Wir benötigen Verbündete. Verbündete wie Euch, Owen Todtsteltzer. Und Eure einzige Chance zu überleben besteht darin, daß Ihr eine Armee aufstellt und der Imperatorin Löwenstein den Krieg erklärt. Ihr seid ein Todtsteltzer; viele würden Euch folgen, wohin sie niemand anderem folgen würden. Euer Name stand immer für Wahrheit und Gerechtigkeit und den Triumph in der Schlacht. Ich spreche für das Volk der Hadenmänner. Wir werden neben Euch kämpfen, wenn wir als Lohn unsere Freiheit erhalten.«

»Langsam, langsam«, sagte Owen und hob abwehrend die Hände. »Das geht mir alles viel zu schnell. Ich kann gar keine Rebellion anführen. Ich bin nur ein Historiker und kein Kämpfer.«

»Aber er hat recht«, mischte sich Hazel ein, »wenn er sagt, daß wir nicht bis in alle Ewigkeit weglaufen können. Irgendwann werden sie uns finden und töten. Wir sind zu wichtig geworden. Wenn wir selbst auf Nebelwelt nicht mehr sicher sind…?«

»Aber das reicht nicht!« erwiderte Owen. »Eine Rebellion gegen den Thron verstößt gegen alles, an das zu glauben ich erzogen wurde!«

»Nicht gegen den Thron«, korrigierte ihn Hazel. »Gegen die Imperatorin.«

Owen blickte sie an. »Ich dachte, ich hätte diese Unterscheidung bereits gemacht.«

»Ich weiß. Ich habe zugehört«, sagte Hazel und fuhr schnell fort, bevor jemand anderes etwas sagen konnte: »Denk wenigstens darüber nach, Owen. Du hast gesagt, du willst verhindern, daß in Zukunft solche Dinge wie eben mit dem Mädchen geschehen können.«

»Ich muß nachdenken«, erwiderte Owen. »Ihr verlangt zuviel von mir.«

»Die Zeit läuft gegen uns, Todtsteltzer«, sagte Mond. »Ihr müßt Euch rasch entscheiden, oder die Ereignisse werden Euch die Entscheidung aus der Hand nehmen.«

Owen blickte den Hadenmann wütend an. »Was wollt Ihr von mir, Mond?«

»Jetzt im Augenblick? Eine Mitfahrgelegenheit. Ihr besitzt ein Sternenschiff, und ich nicht. Ich möchte, daß Ihr mich zu der verlorenen Welt Haden und meinen wartenden Brüdern mitnehmt.«

Owen hätte alles erwartet, aber nicht das. Die Koordinaten des Planeten Haden waren eines der größten Rätsel des Imperiums. Sie waren gegen Ende der Rebellion verlorengegangen: der letzte, verzweifelte Schachzug der aufgerüsteten Menschen. Und trotz aller verzweifelter Anstrengungen auf Seiten des Imperiums war Haden seit nunmehr beinahe zwei Jahrhunderten von allen Sternenkarten und aus allen Datenbänken verschwunden. Ein Ding der Unmöglichkeit in einem Imperium, das auf Informationen beruhte – aber irgendwie hatten es die aufgerüsteten Hadenmänner (oder ihre Agenten) geschafft, jeden noch so kleinen Hinweis auf die Position des Planeten Haden und seiner Bewohner aus der Imperialen Matrix zu entfernen. Owen war es schwergefallen, diese Tatsache zu akzeptieren – immerhin war er Historiker –, doch nach mehreren Monaten ergebnisloser Recherchen, nachdem er jeder noch so schwachen Spur und jedem noch so vagen Gerücht nachgegangen war, ohne irgend etwas zu erreichen, hatte er sich gezwungen gesehen, seine Niederlage einzugestehen. Haden war verloren, weil seine Bewohner das so gewollt hatten, und dabei würde es auch bleiben. Und so verschwand Haden aus der Geschichte und wechselte hinüber in das Reich der Legenden, ein Alptraum, mit dem man ungehorsame Kinder einschüchterte.

Wenn du nicht artig bist, dann holen dich die Hadenmänner.

Nachdenklich blickte Owen Tobias Mond in die Augen.

»Ihr behauptet, die Koordinaten von Haden zu kennen?«

»Unglücklicherweise nicht, nein, sonst würde ich gewiß nicht mehr auf Nebelwelt festsitzen. Aber die Antwort wartet irgendwo dort draußen, und ich werde sie finden. Und bis dahin biete ich Euch meine Dienste an als Soldat in Eurem Krieg. Besorgt mir ein paar volle Energiekristalle und einen Kyberchirurgen, der sie implantiert, und ich werde ein ausgezeichneter Verbündeter sein. Ist es nicht das, was Ihr braucht?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Owen. »Ich glaube, ich weiß allmählich überhaupt nichts mehr. Selbst wenn es uns gelingen sollte, Haden zu finden – ich weiß nicht, ob ich wirklich das Risiko eingehen kann, mich mit Verrätern an der Menschheit zu verbünden. Mit den Schlächtern von Brahmin II. Den Mördern von Madraguda. Vielleicht gehe ich am Ende als der schlimmste Verräter aller Zeiten in die Geschichte ein.«

»Es spielt keine Rolle, ob Ihr uns wollt«, sagte Mond langsam. »Ihr braucht uns, wenn Eure Rebellion erfolgreich sein soll.«

»Also gut«, willigte Owen ein. »Ihr seid mein Mann, bis ich Euch etwas anderes mitteile. Und jetzt laßt uns von hier verschwinden. Ich bin recht erstaunt, daß wir nicht schon von Kopfgeldjägern umzingelt sind.«

»Denk doch mal ‘ne Minute nach«, sagte Hazel. »Würdest du dich mit jemandem anlegen wollen, der soeben einen Wampyr besiegt und seinen ganzen Anhang von Plasmakindern getötet oder in die Flucht geschlagen hat?«

»Ein gutes Argument, Hazel«, stimmte Owen zu. »Aber wir wollen uns dennoch in Bewegung setzen. Es macht mich nervös, hier herumzustehen.«

»Ich glaube, wir sollten dich als erstes zu einem Arzt bringen«, sagte Hazel. »Du hast eine Menge Prügel einstecken müssen, bevor der Hadenmann dir… aus der Klemme geholfen hat.«

»Ich habe mich schon besser gefühlt«, gestand Owen.

»Aber es geht auch so. Eine der vielen nützlichen Eigenschaften des Todtsteltzer-Talents. Wunden, die mich nicht umbringen, heilen innerhalb recht kurzer Zeit von alleine. Ich werde zwar für einige Zeit ziemlich wacklig auf meinen Beinen stehen, aber Ihr und Tobias Mond seid ja da, um auf mich aufzupassen, nicht wahr?«

Hazel gab keine Antwort. Nach einer Weile wechselte sie das Thema: »Wohin gehen wir?«

»Zum Olympus-Sportpalast, im Uferbezirk. Wo zur Hölle das auch sein mag. Wenn ich schon eine ganze Armee zur Rebellion führen soll, dann will ich wenigstens Jakob Ohnesorg an meiner Seite wissen. Wir werden später nach Eurer Kopfgeldjägerfreundin suchen, Hazel. Immer vorausgesetzt, sie ist uns noch nicht auf den Fersen, um die Belohnung auf unsere Köpfe zu kassieren.«

»Möglich wär’s jedenfalls«, gestand Hazel. »Freundschaft ist eine gute Sache, aber Geld hält sich länger, Also gut, ich kenne den Weg. Folgt mir einfach. Wir bleiben in Seitenstraßen und im Schatten, wo wir nur können. Ich fühle mich allmählich, als hätte mir jemand eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt.«

Sie setzte sich mehr oder weniger zuversichtlich in Bewegung, und Owen und Tobias Mond folgten ihr durch den dichten Nebel. Owen trottete über die Straße, die Augen in weite Ferne gerichtet, tief in Gedanken versunken. Die Ereignisse mochten sich vielleicht überschlagen, aber er war noch immer bei klarem Verstand, und er hatte seine Zweifel an der Geschichte, die Tobias Mond ihm präsentiert hatte. Wie groß waren die Chancen, daß ein Hadenmann genau im richtigen Augenblick aus dem Nichts auftauchte und ihm den Hintern rettete? Viel wahrscheinlicher war, daß Mond ihnen schon die ganze Zeit über gefolgt war und auf eine Gelegenheit gewartet hatte, die ihn gut aussehen und ihr Vertrauen gewinnen lassen würde. Aber was machte ihn so wichtig für Mond, wenn es nicht der Preis auf seinen Kopf war? Sicher hätte Mond eine Möglichkeit gefunden, ein anderes Schiff zu nehmen, wenn er vorgehabt hätte, den Planeten zu verlassen. Und für jemanden, der vorgab, die Koordinaten von Haden nicht zu kennen, schien er sich ziemlich sicher, daß er die verlorene Welt in nicht allzu ferner Zukunft finden würde. Owen machte ein mürrisches Gesicht. Und wie paßte das alles in die verschlungenen Intrigen und Pläne seines Vaters, die ihn ja in erster Linie nach Nebelwelt gebracht hatten?

Mehr und mehr gelangte Owen zu der Überzeugung, daß einiges mehr hinter dieser vertrackten Geschichte steckte, als er bis jetzt herausgefunden hatte. Unsichtbare Kräfte führten ihn unmerklich in eine Richtung, die zu vermeiden er sich den größten Teil seines Lebens bemüht hatte. Aber wenn es schon so gekommen war, dann hatte er für die Drahtzieher im Hintergrund noch ein paar unliebsame Überraschungen in petto.

Wenn es hart auf hart ging, dann konnte er bei diesem Spiel durchaus mithalten. Er war schließlich der Todtsteltzer, und Intrigen lagen ihm im Blut. Und in der Zwischenzeit… er beschloß, sich auf den Hadenmann zu konzentrieren. Hatte er – oder sein Volk – noch immer einen geheimen Plan? Würde sich die Armee der aufgerüsteten Hadenmänner wirklich seiner Führung unterordnen, wenn er sie aufweckte? Oder würden sie sich insgeheim mit den abtrünnigen KIs von Shub verbünden, wie es die Imperatorin in der Vergangenheit immer behauptet hatte? Owen grinste böse. Er besaß keine Antworten, oder zumindest keine, denen er trauen konnte, also würde er sich im Augenblick mit Mond einlassen. Und beim Schlafen stets ein Auge offenhalten. Er beschleunigte seinen Schritt, bis er sich mit Hazel auf gleicher Höhe befand. Sie nickte ihm kurz zu.

»Ja, auch ich vertraue ihm nicht«, gestand sie leise. »Aber mir ist lieber, er steht auf unserer Seite, als wenn wir auch ihn noch als Gegner fürchten müssen. Wenigstens können wir ihn auf diese Weise im Auge behalten.«

»Und was schlagt Ihr vor, was wir in der Zwischenzeit tun sollen?« fragte Owen.

»Niemandem vertrauen«, erwiderte Hazel. »Meinst du, du kannst dir das merken?«

»Ihr wart noch nie bei Hofe, oder?« fragte Owen. »Als Aristokrat begreift man schon als kleines Kind, niemandem zu trauen. In den Familien lernt der Nachwuchs zusammen mit dem Alphabet, wie man Ränke schmiedet. Ansonsten hat man keine Chance, das Erwachsenenalter überhaupt zu erreichen.«

»Klingt in meinen Ohren wie Nebelwelt«, sagte Hazel schnippisch, und beide mußten lachen. Der Hadenmann trottete schweigend hinter ihnen her und behielt seine Gedanken für sich.

Der Olympus-Sportpalast lag nicht sonderlich weit entfernt, eben durch das Händlerviertel hindurch, aber der Weg war trotzdem noch immer weit genug, um Owen bis auf die Knochen durchfrieren zu lassen. Trotz seiner zuversichtlichen Bemerkungen gegenüber Hazel hatten seine Wunden ihn weit mehr geschwächt, als er sich selbst eingestehen wollte. Er trottete durch die schlammige Straße und den dichter werdenden Nebel und brütete düster vor sich hin. Owen war nun schon einen ganzen Tag auf dieser verdammten Welt und hatte noch keinen einzigen Sonnenstrahl gesehen. Als sie endlich am Sportpalast angekommen waren, schien sich der weite Weg nicht gelohnt zu haben. Das Bauwerk gab sich viel Mühe, um einen anspruchsvollen Eindruck zu erwecken, aber irgendwie reichte die Mühe nicht ganz, weil sich anscheinend die Nachbarschaft dagegen verschworen hatte. Der ›Palast‹ war zwar noch immer eine Verbesserung gegenüber den meisten Orten, zu denen Hazel Owen bisher geführt hatte, aber Owen konnte trotzdem nicht von sich behaupten, irgendwie beeindruckt zu sein. Das Gebäude aus Ziegel und Holz hatte zweifellos schon bessere Tage gesehen. Das nackte Mauerwerk der umliegenden Häuser war fleckig vom Rauch einer nahe gelegenen Fabrik, und nur die Front des Olympus’ leuchtete in hellen, frischen Farben. Der Name über der Tür war in derart verschnörkelten Buchstaben geschrieben, daß es beinahe unmöglich war, ihn zu entziffern. Es gab keine Fenster, aber große Plakate, auf denen all die Wunder beschrieben wurden, die man im Innern finden konnte, beispielsweise mühelosen Muskelaufbau und Gewichtsverlust, der beinahe an ein Wunder grenzte. Owen musterte den Platz lange und ernst; trotzdem blieb er hartnäckig unbeeindruckt.

»Ich bin nicht sonderlich beeindruckt«, sagte Hazel.

»Gebt ihm eine Chance«, erwiderte Owen automatisch.

»Das sind alles nur Äußerlichkeiten. Hat Eure Mutter Euch nicht beigebracht, daß man ein Haus nicht nach seinem Äußeren beurteilen soll?«

»Sie hat mir auch gesagt, ich soll mich nicht mit Gesetzlosen und Aristokraten einlassen und kein Haschisch rauchen.

Ich kann nicht behaupten, ein artiges Kind gewesen zu sein.

Meinst du wirklich, daß wir Jakob Ohnesorg in einem Müllhaufen wie diesem hier finden? Ich meine, ich habe zwar gehört, daß ihn sein Glück verlassen haben soll, aber kannst du dir wirklich vorstellen, daß ein legendärer Rebell wie er einen so billigen Neppladen wie den da betreibt?«

»Wahrscheinlich ist alles nur Tarnung«, vermutete Owen starrköpfig. »Wer käme schon auf die Idee, hier nach ihm zu suchen?«

»Da habt Ihr nicht ganz unrecht«, stimmte Tobias Mond von hinten mit seiner rauhen Summstimme zu. Hazel und Owen zuckten leicht zusammen. »Ich jedenfalls würde mich nicht in so einem Laden verstecken.«

»Die Leute vom Abraxus haben gesagt, wir würden ihn hier finden«, sagte Owen. »Und ich habe wirklich nicht das Bedürfnis, zu ihnen zurückzugehen und über diesen Punkt zu streiten. Ich gehe rein. Haltet die Augen offen und mir den Rücken frei, ja? Und stehlt kein herumliegendes Silber…«

Owen setzte sich in Bewegung. Er marschierte zum Eingang und zog kräftig an der Klingelschnur. Er spürte mehr als er hörte, wie die anderen hinter ihm herankamen, und er grinste schwach. Man mußte sie nur hin und wieder daran erinnern, wer das Kommando hatte. Die Tür öffnete sich, und Owen setzte sein hochnäsigstes Gesicht auf. Wenn du im Zweifel bist, dann behandle die Leute wie den letzten Dreck. In neunzig Prozent der Fälle nehmen sie ganz automatisch an, daß du eine hochstehende Person bist, die wahrscheinlich gekommen ist, um ihren krummen Geschäften ein Ende zu machen. Nach Owens Erfahrung gingen die meisten Leute zu gegebener Zeit irgendwelchen krummen Geschäften nach. Er versuchte, nicht an die restlichen zehn Prozent zu denken. Sie waren einer der Gründe, aus denen er sein Schwert trug.

Im Türrahmen erschien eine hochgewachsene, graziöse, lebende Göttin, die ein breites Lächeln und ein sehr knappes Bodystocking trug, das größtenteils aus schwarzer Spitze zu bestehen schien. Sie war muskulös, und Owen wußte instinktiv, daß sie bereits vor dem Frühstück mehr Liegestützen machte, als er in einem ganzen Monat.

»Hallo«, hauchte sie ein wenig atemlos. »Kann ich etwas für Euch tun?«

Owen fielen augenblicklich verschiedene Dinge ein, und zumindest eines davon würde ihn aller restlichen Kräfte berauben… Mit einer bewußten Anstrengung riß er sich zusammen und konzentrierte sich auf das, weswegen er hier war. »Wir müssen mit dem Geschäftsführer sprechen«, begann er mit – wie er hoffte – fester, befehlsgewohnter Stimme.

»Selbstverständlich«, erwiderte die Göttin, und ihr Lächeln wurde noch breiter. »So kommt doch herein!«

Sie trat zur Seite und winkte den dreien. Owen machte einen selbstsicheren Schritt an ihr vorbei, und die Göttin atmete tief ein. Ihre wundervolle Brust drückte sich beinahe in sein Gesicht. Owens Knie wurden weich. Er beeilte sich, in den Empfangsraum zu kommen, und atmete selbst einige Male tief durch. Hinter sich vernahm er das mittlerweile vertraute mißbilligende Naserümpfen Hazels. Der Hadenmann blieb ruhig.

Wahrscheinlich stand er weit über derartigen Dingen. Hinter ihnen schloß die Göttin die Tür mit einem beunruhigend endgültigen Geräusch, dann war sie wieder bei ihnen. Sie schenkte Owen erneut ihr verwirrendes Lächeln und nahm eine lässige Pose ein, die rein zufällig ihren atemberaubenden Körper noch stärker betonte.

»Macht es Euch bequem«, schlug sie gewinnend vor. »Ich werde den Geschäftsführer informieren, daß Ihr hier seid.«

Mit einer fließend geschmeidigen Bewegung wandte sie sich um und verschwand auf der gegenüberliegenden Seite durch eine Tür, bevor Owen wieder zu Luft gekommen war.

Er warf einen Blick zu Tobias Mond.

»Welch eine warme und verständnisvolle Brust diese Frau doch hat!«

»Hübsche Deltamuskeln«, erwiderte der Hadenmann.

»Wenn ihr beide wieder aus eurem Hormonrausch erwacht«, sagte Hazel mit eisiger Stimme, »dann nehmt ihr vielleicht davon Kenntnis, daß sie die Tür hinter uns verriegelt hat. Wenn sie euch erkannt hat…«

»Entspannt Euch«, unterbrach sie Mond. »Ich bin jetzt bei Euch.«

Hazel bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Halten deine Batterien denn noch?«

»Ich habe mehr als genug Energie in meinen Systemen, um mit allen Problemen fertig zu werden, die sich uns in den Weg stellen.«

Hazel rümpfte verächtlich die Nase. »Wenn du so stark und mächtig bist, großer Krieger, wieso hat es dich dann auf diese Welt verschlagen?«

»Ich vertraute den falschen Leuten.« In Monds unnatürlicher Stimme schwang ein Ton mit, der Hazel daran hinderte, weitere Fragen zu stellen.

Owen blickte sich in der Empfangshalle um. Es schien ihm im Augenblick das sicherste. Selbst wenn er ruhig dastand und schwieg, hatte der Hadenmann etwas zutiefst Beunruhigendes an sich. Er befand sich nun seit beinahe einer Stunde in Owens Nähe, doch seine Gegenwart war noch immer genauso bedrohlich wie im ersten Augenblick. Owen hatte das Gefühl, als wäre der Hadenmann immer bereit zuzuschlagen, bereit, im nächsten Augenblick zu töten. Er entschied, diesen Gedanken eine Weile nicht weiterzuverfolgen, und konzentrierte sich statt dessen auf den Empfangsraum.

Owen lag eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge, doch er beherrschte sich und setzte ein herablassendes Lächeln auf.

Die Einrichtung des Olympus’ war seit mindestens zwanzig Jahren aus der Mode, und das Mobiliar war eindeutig von jemandem entworfen worden, der mehr an Stil als an Bequemlichkeit interessiert gewesen war. Nicht, daß Owen viel Ahnung von Stil gehabt hätte. Er entschied sich, lieber stehen zu bleiben. Er hatte die vage Vermutung, daß die Stühle schreckliche Dinge mit seinem Hintern anrichten könnten.

Nicht ganz unähnlich der Göttin an der Tür…

Seine Gedanken schweiften eben wieder ab, als die Tür am gegenüberliegenden Ende der Rezeption sich öffnete und ein Riese hereinkam. Nach einem Augenblick erkannte Owen, daß der Mann nicht wirklich so groß war, höchstens eins-neunzig, doch seine gewaltigen Muskelpakete ließen ihn viel größer erscheinen. Er war unglaublich gut entwickelt und hatte Muskeln an Stellen, wo Owen nicht einmal Stellen hatte.

Der Mann sah aus, als hätte er bereits als Säugling Gewichte gehoben. Als Owen bemerkte, wie seine Muskeln sich beim Gehen spannten und schwollen, fragte er sich überrascht, ob das Gehen dem Riesen keine Schmerzen bereitete. Der Gigant kam heran, baute sich vor ihnen auf und bedachte seine Besucher mit einem knappen, unpersönlichen Lächeln. Owen erkannte überrascht, daß der Mann recht gutaussehend war. Es fiel nur nicht gleich als erstes auf, weil der Riese nur mit einer äußerst eng sitzenden kurzen Hose bekleidet war, damit seine Muskeln besser zur Geltung kamen. Unter anderem. Owen bemerkte, daß Hazel den Riesen mit unverhohlener Faszination anstarrte. Sie sah aus, äs wolle sie ihn mit den Augen auffressen. Owen rümpfte indigniert die Nase. Es gab wichtigere Dinge als Muskeln.

Er hüstelte höflich, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, und der andere wandte sich ihm zu. Owen fühlte sich, als stünde er in einem Loch.

»Mein Name ist Tom Sefka«, sagte der Riese mit einer rumpelnden Baßstimme, die Owens Knochen vibrieren ließ.

»Geschäftsführer und Besitzer des Sportpalasts. Ich nehme an, es geht um etwas Wichtiges. Delia stört mich für gewöhnlich nicht, aber der Hadenmann dort hat sie beeindruckt.« Er blickte nachdenklich zu Mond. »Wenn Ihr ein wenig Geld verdienen wollt – einige meiner Gäste würden gut bezahlen, um im Ring gegen einen aufgerüsteten Mann anzutreten.«

»Danke«, erwiderte Mond höflich. »Aber ich mache immer alles kaputt, wenn ich spiele.«

Sefka zuckte zusammen, als er Monds Stimme vernahm.

Aber er ließ sich nichts weiter anmerken und wandte sich wieder an Owen. »Was kann ich für Euch tun?«

»Wir suchen nach Jobe Eisenhand«, drängte sich Hazel ein wenig kurzatmig vor. »Es ist wirklich wichtig, daß wir mit ihm sprechen.«

Sefka runzelte die Stirn. »Ihr habt mich deswegen aus meiner Arbeit gerissen? Was zur Hölle wollt Ihr von Jobe Eisenhand?«

»Wir hatten angenommen, daß er der Besitzer oder zumindest Teilhaber ist«, erklärte Owen. Sefka grinste unangenehm.

»Wohl kaum. Wenn Ihr mit Jobe reden wollt, er ist hinten bei seiner Arbeit. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mit ihm reden, aber haltet ihn nicht von seiner Arbeit ab. Kommt zu mir zurück, wenn Ihr fertig seid. Ihr seht alle zusammen aus, als könnten Euch ein paar Gewichte auf den Schultern nicht schaden.«

Owen hob die Augenbrauen. »Macht es Eisenhand nichts aus, wenn wir ihn alle zusammen überfallen?«

»Es hat ihm nichts auszumachen«, erwiderte Sefka. »Er ist schließlich nur der Hausmeister hier. Ihr findet ihn, wenn Ihr durch diese Tür geht, dann die zweite rechts und den Korridor entlang. Wenn Ihr fertig seid mit ihm, sagt ihm bitte, daß die Duschen noch immer nicht sauber sind.«

Der Riese nickte ihnen kurz zu, drehte sich um und verschwand durch die gleiche Tür, durch die er die Empfangshalle betreten hatte. Zu Owens Überraschung bebte der Boden nicht unter seinen Füßen. Hazel blickte Sefka mit hungrigen Augen hinterher. Owen spürte, wie Ärger in ihm aufstieg.

Sefka war nichts Besonderes. Wahrscheinlich hatte er auch dort nur Muskeln, wo eigentlich ein Gehirn hätte sein sollen.

»Vielleicht sollten wir hinterher wirklich noch einmal zu ihm gehen«, sagte Hazel. »Ich würde meinen Körper zu gerne in seine Hände legen.«

»Es wäre nicht schlecht, wenn Ihr Eure animalischen

Gelüste für einen Augenblick unter Kontrolle halten könntet«, sagte Owen eisig. »Wie müssen diesen Jobe suchen und herausfinden, was hier vor sich geht. Das Abraxus muß einen Fehler gemacht haben. Vielleicht ist Ohnesorg irgend jemand anderes in diesem Sportpalast.«

»Gib mir eine Stunde mit diesem Körper, und ich zeige ihm ein paar animalische Gelüste, die er niemals vergessen wird«, sagte Hazel.

»Muskeln sind nicht alles«, bemerkte Mond.

»Wie wahr!« stimmte Hazel zu. »Ich bin nicht nur an seinen Muskeln interessiert.«

»Ich frage mich, ob es hier kalte Duschen gibt«, brummte Owen.

»Wir wollen Jobe Eisenhand suchen«, sagte Mond diplomatisch. »Vielleicht gelingt es uns herauszufinden, wie eine lebende Legende zu einer Arbeit als Hausmeister kommt.«

»Was gibt es daran auszusetzen?« fragte Hazel. »Es ist eine ganz normale Arbeit. Vielleicht wird er gut bezahlt?«

Mond blickte sich um. »Muß wohl so sein.«

Hazel zuckte die Schultern. »Selbst ein Berufsrevolutionär muß hin und wieder einer Arbeit nachgehen, um zwischen den Rebellionen etwas in den Magen zu bekommen.«

»Wahrscheinlich arbeitet er verdeckt«, beschloß Owen. »Er zieht den Kopf ein, weil Imperiale Agenten nach ihm suchen.

Das macht Sinn.«

Er setzte sich in Bewegung, ohne darauf zu warten, ob die anderen seiner Meinung waren. Die Tür führte in einen gekachelten Gang, von dem aus man nach den Schildern zu urteilen in den Gewichtsraum, zum Dampfbad und den Duschen gelangte. Owen nahm den zweiten Gang nach rechts, wie der Riese ihm gesagt hatte. An der Wand hing ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift Zu den Umkleideräumen.

Owen ging mit entschlossenen Schritten voran und versuchte, nicht über die Konsequenzen dessen nachzudenken, was man ihm erzählt hatte. Jakob Ohnesorg – der Jakob Ohnesorg – sollte als Hausmeister in einem Laden wie diesem hier arbeiten? Das mußte ein Irrtum sein. Eine Tarnung oder irgend etwas in der Richtung, oder…

Der Umkleideraum sah aus, wie Umkleideräume eben aussehen. Nackt und funktionell. Es roch nach Schweiß und Körperöl. Die meisten Spinde standen offen und waren leer. Anscheinend herrschte nicht viel Betrieb. Je weiter sie in den Raum kamen, desto stärker wurde der Geruch von billigem Desinfektionsmittel. Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich, und ein Mann mit einem Eimer und einem Wischmop kam herein. Er war von durchschnittlicher Größe und schien Ende Sechzig zu sein. In seinem Gesicht zeigten sich tiefe Falten, und sein graues Haar war schütter. Er steckte in einem schlaff herabhängenden Overall, der für jemand viel Größeren geschnitten zu sein schien, und er sah aus, als hätte er schon längere Zeit nichts Vernünftiges mehr zu essen gehabt. Seine Hände zitterten, und seine Gesichtsfarbe war blaß und ungesund.

Eine Woge der Erleichterung durchflutete Owen. Wer auch immer das war, er war ganz eindeutig nicht Jakob Ohnesorg.

Diese halbe Portion in ihrem schlotternden Overall wußte mit Sicherheit nicht einmal, mit welchem Ende eines Schwertes man zustoßen mußte. Möglicherweise benötigte ein Sportpalast dieser Größe zwei Hausmeister, und das hier war der andere. Der Hausmeister blickte Owen und seine Begleiter ausdruckslos an. Seine wäßrigen Augen waren wegen der Helligkeit im Umkleideraum zusammengekniffen.

»Was macht Ihr hier hinten? Der Umkleideraum ist geschlossen!«

»Tut mir leid, wenn wir Euch stören«, erwiderte Owen liebenswürdig. »Wir suchen nach Jobe Eisenhand. Wißt Ihr vielleicht, wo wir ihn finden können?«

Der Hausmeister blinzelte Owen an. »Das bin ich. Ich bin Jobe Eisenhand. Was kann ich für Euch tun?«

Hazel tauschte einen vielsagenden Blick mit Mond. »Hast du nicht auch genau gewußt, daß er das sagen würde?«

Owen spürte, wie sein Kiefer nach unten fiel. Er schloß den Mund mit einer bewußten Anstrengung. Es mußte ein Irrtum sein. Das konnte unmöglich Jakob Ohnesorg sein. Zunächst einmal stimmte das Alter nicht. Und dann war Ohnesorg ein ausgebildeter Kämpfer, auf Hunderten von Welten respektiert und berühmt. Dieses zerbrochene Wrack hier hatte kaum genug Kraft, um Eimer und Mop zu halten. Das konnte unmöglich Jakob Ohnesorg sein.

»Es kann unmöglich Jakob Ohnesorg sein«, sagte Hazel.

»Ich meine… seht ihn euch doch nur an!«

»Dieses eine Mal stimme ich Euch zu«, sagte Owen niedergeschlagen. »Irgend jemand hat uns hereingelegt. Laßt uns von hier verschwinden.«

»Ich dachte, Ihr sucht nach Jakob Ohnesorg«, meldete sich Tobias Mond. »Das ist er.«

Owen und Hazel blickten überrascht zu Mond. »Wie kommst du auf diese verrückte Idee?« fragte Hazel.

»Ich habe neben ihm gekämpft. Bei der Rebellion von Eisfels. Einige Hadenmänner hatten sich ihm angeschlossen, um Erfahrungen zu sammeln, und ich war dabei. Ich habe Ohnesorg ein paar Mal bei Stabsbesprechungen gesehen, und ich vergesse niemals ein Gesicht.«

Hazel musterte den Hausmeister. »Dieses klapprige Gestell hier soll den Imperialen Truppen auf Eisfels das Fürchten gelehrt haben? Jetzt halt aber die Luft an!«

»Ach, zur Hölle«, sagte der Hausmeister unvermittelt. »Laßt uns besser hier verschwinden…«

Verblüfft blickten alle zu dem alten Mann. Seine Stimme klang plötzlich so… anders. Er setzte seinen Eimer und den Wischmop ab und zog einen abgewetzten silbernen Flachmann aus seinem Overall. Mit zitternden Fingern schraubte er die Kappe ab und nahm einen tiefen Schluck Sein Adamsapfel hüpfte eckig an seinem unrasierten Hals auf und ab. Er senkte die Flasche, seufzte erleichtert und drehte die Kappe sorgfältig wieder zu. Seine Hände schienen bereits viel weniger zu zittern als vorhin, und sein Blick war klar und direkt. Er musterte Hazel und Owen von oben bis unten, dann wandte er sich wortlos um und verschwand durch eine dritte Tür. Die anderen mußten sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten.

Eisenhand marschierte durch einen Korridor, ohne sich nach seinen drei Besuchern umzusehen oder darauf zu warten, ob sie ihm folgten. Dann öffnete er eine Tür, die im Schatten beinahe unsichtbar war. Er trat beiseite und bedeutete seinen Gästen einzutreten. Ein wenig zaghaft folgten sie der Einladung und fanden sich in einem Kesselraum wieder, der zugleich als improvisiertes Wohnquartier diente. Abgesehen vom Kessel nahm eine Pritsche mit einer zerzausten Decke den größten Raum ein. Eisenhand ließ sich mit einem erleichtertem Seufzen darauf nieder. Owen blickte sich nach einem Stuhl um, aber es gab keinen.

»Schließt die Tür und nehmt Platz«, sagte Eisenhand gereizt. »Wenn Ihr so herumsteht, vertreibt ihr jede Spur von Gemütlichkeit.«

Owen schloß die Tür und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Fußboden. Hazel ließ sich neben ihm nieder.

Mond blieb gelassen stehen. Owen warf dem Hausmeister einen prüfenden Blick zu und suchte verzweifelt nach einer Spur des berühmten Rebellen in dem geschlagenen alten Mann vor sich. Der Hausmeister erwiderte seinen Blick, und langsam dämmerte Owen, daß der Mann vor ihm nicht mehr annähernd so unbedeutend aussah wie noch einige Augenblicke zuvor. Sein Rücken war gerade, seine Hände zitterten keine Spur, und in seinem unrasierten Gesicht zeigte sich neue Kraft.

»Ich dachte, ich hätte mich ziemlich gut getarnt«, begann er grimmig. »Ich schätze, ich sollte als erstes erfahren, von wem Ihr meinen Namen habt?«

»Vom Abraxus-Informationszentrum«, erwiderte Owen.

Der Hausmeister knurrte verärgert.

»Diese verdammten Telepathen. Sie stecken ihre Nase in alles. Sieht so aus, als müßte ich wieder umziehen. Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut. Der Laden ist ein einziger Müllhaufen, und die Arbeit stinkt. Und sie nehmen mir sogar noch Miete für dieses Loch hier ab, könnt Ihr Euch das vorstellen? Man sollte nicht meinen, daß sie die Frechheit besitzen, oder? Trotzdem, ich habe es schon schlechter gehabt.

Den größten Teil meines Lebens war ich auf die eine oder andere Weise auf der Flucht, und die Leute haben ein gutes Gespür dafür, wenn man unter Druck steht. Dann werden Wohnungen plötzlich rar, Freunde drehen einem den Rücken zu, und die Preise für alles mögliche schießen durchs Dach.«

Eisenhand brach ab und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Flachmann. Er verzog das Gesicht und schraubte die Kappe wieder auf. »Ich erinnere mich an Zeiten, da hätte ich diesen Fusel nicht einmal zum Schuhputzen benutzt. Ist doch erstaunlich, an was man sich alles gewöhnen kann, wenn einem nichts anderes übrigbleibt. Ich erinnere mich an Zeiten, da habe ich nur die feinsten Jahrgänge getrunken, die härtesten Brandys, perlenden Champagner… Sicher, damals war ich noch wer. Damals galt mein Name noch etwas.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr wirklich Jakob Ohnesorg seid?« fragte Owen. Er versuchte erst gar nicht, seine Skepsis zu verbergen.

»Ich war Jakob Ohnesorg. Heute bin ich Jobe Eisenhand.

Ich habe den Namen eines alten Freundes angenommen. Er starb bereits vor langer Zeit und hinterließ keinen Erben. Ich dachte, er hätte nichts dagegen, wenn ich seinen Namen benutze. Man sollte Respekt vor den Toten haben. Es gibt auch so schon genügend Geister, die mich plagen. Ich brauche nicht noch mehr davon.« Er unterbrach sich und musterte Tobias Mond. »Ich kann mich nicht an Euch erinnern. Ich habe zu viele Armeen geführt und zu viele Schlachten geschlagen.

Eisfels war eine der weniger guten. Am Ende hatten die Imperialen Angriffsschiffe die meisten meiner Leute umgebracht, und ich entkam nur, weil ich um mein Leben rannte. Ich bin am Ende eine ganze Menge gerannt, aber sie haben mich trotzdem erwischt.«

Er unterbrach sich erneut, und seine Augen blickten in weite Fernen. Owen beugte sich vor. »Sie haben Euch erwischt? Was geschah?«

»Sie zerbrachen mich«, erwiderte der Mann, der einmal Jakob Ohnesorg gewesen war. »Folter, Drogen, Hirntechs, Esper… irgendwann zerbricht jeder, wenn man nur lange und fest genug zuschlägt. Und ich war so unendlich müde…«

»Aber… wie seid Ihr ihnen wieder entkommen?« wollte Owen wissen.

»Ich bin nicht entkommen. Das Imperium hatte einen großen Schauprozeß vorbereitet, um der Bevölkerung meinen Sinneswandel zu demonstrierten. Ich sollte vor den Holokameras stehen und all meine alten Freunde und meine Überzeugungen verraten. Ihr kennt diese Art von Prozessen sicher.

Und ich hätte es getan. Sie hatten mich zerbrochen. Zum Glück hatten mich einige meiner Freunde in der Klon-Bewegung noch nicht aufgegeben und brachen in mein Gefängnis ein, um mich zu befreien. Sie hätten es nicht tun sollen. Zu viele gute Männer und Frauen ließen an diesem Tag ihr Leben, nur um mich zu retten, einen gebrochenen, alten Mann, der keine Kraft und keine Ideale mehr besaß. Sie schafften mich unter falschem Namen auf ein Schiff, und schließlich endete ich hier, wo jeder hinrennt, wenn es keinen anderen Platz zum Leben mehr für ihn gibt. Wenn Ihr also nach dem großen Krieger und dem berühmten Berufsrebellen sucht, dann verschwendet Ihr Eure Zeit. Er starb vor vielen Jahren in den Folterkammern unter dem Imperialen Palast von Golgatha.

Seht mich an. Ich bin siebenundvierzig und sehe doppelt so alt aus. Meine Hände zittern die meiste Zeit, weil mein Körper die Erinnerung an die Mißhandlungen der Folter nicht vergessen kann, und meine Erinnerungen sind ein einziges Durcheinander. Die Hirntechs haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Ich bin nicht der, den Ihr sucht, und selbst wenn ich es wäre – ich würde Euch nicht nützen.«

»Habt Ihr einen Beweis, daß Ihr der seid, für den Ihr Euch ausgebt?« fragte Owen. »Alte Trophäen oder Erinnerungsstücke aus Eurer Vergangenheit?«

»Nein. Schnell und ohne viel Gepäck war immer meine Devise. Und außerdem ist mir egal, ob Ihr meinen Worten glaubt oder nicht. Tut uns allen einen Gefallen und laßt mich in Frieden.«

Owen musterte den alten Mann und fühlte sich beinahe enttäuscht wie ein Kind. Was hatte sein Vater ihm für Geschichten über den sagenhaften Jakob Ohnesorg erzählt! Als Owen dann älter wurde, hatte er seine Karriere als Historiker mit Nachforschungen über Ohnesorg begonnen und zu seiner Überraschung herausgefunden, daß die Wahrheit noch weit beeindruckender war als die Geschichten seines Vaters. Ohnesorg hatte tatsächlich alles vollbracht, was sein Vater erzählt hatte, und noch einiges mehr. Er hatte auf Hunderten von Welten gegen das Imperium gekämpft, einige Schlachten gewonnen, noch mehr verloren, aber niemals aufgegeben.

Von all den zweifelhaften Freunden und Bekannten seines Vaters war Jakob Ohnesorg der einzige gewesen, den Owen jemals respektiert hatte.

»Erinnert Ihr Euch an meinen Vater?« fragte er unvermittelt. »Mein Name ist Owen Todtsteltzer.«

»Ja. Ich erinnere mich an ihn. Er war ein guter Mann. Ein hervorragender Kämpfer und ein ganz außergewöhnlicher Intrigant.« Ohnesorg blickte Owen fest in die Augen. »Da Ihr hier seid nehme ich an, er ist tot?«

»Ja. Auf der Straße als Verräter niedergestochen. Ich bin jetzt der Todtsteltzer. Zumindest so lange, bis die Eiserne Hexe mich in ihre Finger bekommt. Ich wurde für vogelfrei erklärt, und man hat mir all meine Besitztümer und meinen Titel genommen.«

Ohnesorg musterte Owen nachdenklich. »Habt Ihr den Ring Eures Vaters? Er sagte immer, der Ring sei von größter Bedeutung, obwohl er nie den Grund erwähnte. Er war nie besonders gut im Abgeben von Erklärungen, Euer Herr Vater.«

»Ich habe den Ring. Soweit ich weiß, ist es wirklich nur ein ganz gewöhnlicher Ring.«

Er zeigte ihn Ohnesorg, der sich vorbeugte, den Ring betrachtete und sich wieder auf seine Pritsche zurücksinken ließ.

Seine Finger spielten mit dem Verschluß des silbernen Flachmanns, doch er nahm keinen weiteren Schluck mehr aus der Flasche.

»Es tut mir leid, vom Tod Eures Vaters zu hören. Ich habe im Lauf der Jahre eine Menge Freunde verloren, aber es wird nie leichter. Ihr seht ihm recht ähnlich, Owen Todtsteltzer, wißt Ihr das? Habt Ihr eigentlich einen Plan, oder seid Ihr nur auf der Flucht?«

»Ich habe einen Plan, ja«, entgegnete Oven ein wenig zögernd. »Wollt Ihr dabei mitmachen?«

»Nein. Aber ich schätze, mir bleibt gar keine andere Wahl.

Wenn Ihr mich gefunden habt, dann können das andere auch.

Ich mag nicht mehr viel wert sein, Todtsteltzer, aber was von mir übrig ist, das gehört Euch.«

»Kann ich einen Augenblick mit dir reden, Owen?« unterbrach Hazel die Unterhaltung der beiden Männer und packte ihn mit festem Griff am Arm. Er zuckte zusammen. Hazel zog ihn auf die Füße und auf den Gang hinaus. Owen riß sich

wütend los und schloß die Tür hinter sich.

»Bist du verrückt geworden?« sagte Hazel. »Wir können uns nicht mit einem derartigen Wrack belasten! Er wird uns nur im Weg stehen. Wir können noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, daß er wirklich Jakob Ohnesorg ist!«

»Es macht nichts, wer er wirklich ist« widersprach Owen.

»Allein sein Name wird die Leute auf unsere Seite ziehen. Für Jakob Ohnesorg werden Leute kämpfen und sterben, die für Euch oder mich nicht einen müden Finger krümmen würden.«

»Aber… er ist nur ein Hausmeister!«

»Na und? Also wirklich, Hazel! Wenn hier irgend jemand ein Snob sein sollte, dann ich! Und ich schätze, Ihr seid nicht in der Position, um Steine zu werfen, wenn man Eure frühere Beschäftigung in Nebelhafen bedenkt.«

Hazels Augenbrauen hoben sich gefährlich. »Wovon redest du, Mann?«

»Nun, nach dem, was ich aus Cyders Reden geschlossen habe, wart Ihr… eine Dame der Nacht! «

» Eine Dame der…! Ich sollte dir den Kopf abreißen und in deinen hohlen Hals pinkeln, Owen Todtsteltzer! Ich war niemals eine Hure!«

»Aber was dann?«

»Wenn du es unbedingt wissen willst – ich war Dienerin bei einer Dame!« Hazel bemerkte, daß sie schrie. Sie senkte ihre Stimme. Auf ihren Wangen leuchteten hektische Flecken.

»Du mußt mich gar nicht so dämlich anstarren. Es ist ein vollkommen ehrenhafter Beruf! Und damals war Arbeit ziemlich knapp.«

»Und warum habt Ihr dann… aufgehört?«

»Die Dame des Hauses hat mir einmal zu oft befohlen, die Ecken zu fegen. Ich habe ihr einen Kinnhaken verpaßt, das Tafelsilber eingesteckt und bin getürmt, bevor jemand die Wachen rufen konnte. Bist du jetzt endlich zufrieden?«

»Sehr, jawohl. Es ist immer von Vorteil, wenn man einen Beruf erlernt hat, auf den man zurückgreifen kann. Wenn die Zeiten wieder einmal hart werden, dann kann ich Euch sicher eine Stellung bei meinem Personal verschaffen…«

»Eher würde ich mich umbringen«, knurrte Hazel. »Nein.

Eher würde ich dich umbringen.«

»EISENHAND!!!« Owen und Hazel fuhren herum und erblickten die gewaltige Gestalt Tom Sefkas. Der Besitzer des Olympus’ stürmte durch den Gang auf sie zu. Sie wichen einen Schritt zurück, als er stehenblieb und gegen die Tür der

›Hausmeisterwohnung‹ hämmerte. »Eisenhand! Setz deinen wertlosen Arsch in Bewegung und komm raus! Ein Dutzend Gäste wollen die Dusche benutzen, und du hast sie immer noch nicht saubergemacht! Entweder setzt du dich augenblicklich in Bewegung, oder du bist gefeuert!«

Er wandte sich mit rotem Gesicht um und musterte Owen und Hazel. »Und ihr beide müßt nicht meinen, daß ihr irgendwo hingeht. Ich habe erfahren, wer du bist, Todtsteltzer.

Wenn ich schon früher Bescheid gewußt hätte, wärst du erst gar nicht in meinen Laden gekommen. Eine Bande blutrünstiger Kopfgeldjäger ist das letzte, was ich hier drin gebrauchen kann. Wenn du auch nur versuchst, dein Schwert zu ziehen, dann reiße ich dir den Arm aus! Der Preis auf deinen Kopf wird mich zu einem reichen Mann machen. Du gehörst mir, zusammen mit deinen Begleitern. Es sei denn, du willst dich mit mir anlegen?«

Sefka spannte erwartungsvoll seine Muskeln, und Owen geriet für einen Augenblick in Versuchung. Aber er war müde, seine Wunden waren noch nicht ganz verheilt, und Sefka war wirklich ein Berg von einem Mann. Andererseits – vielleicht konnte er den Disruptor ziehen, bevor… Sefka schien für seine Masse verdammt schnell zu sein. Hazel würde seinen Tod bestimmt rächen. Owen fand den Gedanken nicht besonders tröstend.

Er dachte noch immer über eine Antwort nach, als sich die Tür der Hausmeisterwohnung öffnete und Ohnesorg in den Gang trat. Er blickte Sefka tief in die Augen und stapfte direkt auf ihn zu. Sein Arm schoß vor, und seine Hand schloß sich mit festem Griff um die Genitalien des Riesen. Ein böses Grinsen erschien auf Ohnesorgs Gesicht, als er langsam den Druck verstärkte. Aus Sefkas Gesicht wich jede Farbe, und der Muskelberg sank langsam in die Knie. Ohnesorgs Knöchel traten weiß hervor, als er ein letztes Mal freundlich zudrückte, und Owens Augen tränten allein vom Zusehen. Dann lockerte der ›Hausmeister‹ seinen Griff, reichte mit der anderen Hand zurück in seine Wohnung und zog seinen Mop hervor. Sefka blickte gerade rechtzeitig wieder hoch, um zu sehen, wie der Holzstiel mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zuraste. Wenn der Stiel ein Schwert gewesen wäre, wäre Sefkas Kopf durch den Korridor gerollt. Aber so traf der Stiel nur mit solidem Krachen seine Schläfe, und der gewaltige Mann stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden. Wahrscheinlich bedeutet es sogar eine Erleichterung für ihn, dachte Owen, dem ganz schlecht geworden war. Ohnesorg senkte seinen Wischmop und stützte sich darauf, als wäre es ein Zweihänder.

»Nur für die Akten – ich kündige«, brummte er. Dann warf er den Mop in sein Zimmer und verfehlte nur knapp den Kopf von Tobias Mond, der sich zu ihnen gesellte. Ohnesorg musterte den bewußtlosen Inhaber des Olympus’ mit kaltem Lächeln. Anscheinend fiel es seinem Gesicht nicht schwer, diesen Ausdruck aufzusetzen. »Gutes Gefühl zu wissen, daß ich noch immer zupacken kann« brummte er. »Und jetzt sollten wir von hier verschwinden, bevor jemand nach ihm sucht.

Oder nach uns. Wir können später noch überlegen, was wir als nächstes machen.« Ohnesorg atmete tief durch. »Es geht doch nichts über ein wenig Gewalt, um das Blut in Wallung zu bringen. Ich fühle mich schon beinahe wieder wie ein Mensch. Ihr habt besser gute Gründe, um mich aus meinem Ruhestand zu reißen, Owen Todtsteltzer. Ich war zufrieden, daß ich meine Ruhe hatte. Keine Forderungen, keine Verantwortung, nichts. Ihr habt mich geweckt, und ich werde nicht so leicht wieder einschlafen. Wenn ich noch ein letztes Mal gegen das Imperium ziehen soll, dann muß es das auch wert sein.«

»Bleibt bei uns«, erwiderte Owen. »Ihr werdet alle Aufregung haben, die Ihr Euch nur wünscht – und noch ein gutes Stück mehr. Es heißt jetzt entweder wir oder das Imperium; Tod oder Sieg. Andererseits ist das für Euch wahrscheinlich nichts Neues.«

»Da habt Ihr nicht ganz unrecht«, erwiderte Ohnesorg.

»Nicht ganz jedenfalls.«

Der Nebel auf der Straße vor dem Sportpalast war zu einer undurchdringlichen, feuchtkalten Suppe geworden. Die Welt war grau und still. Eine beliebige Anzahl von Attentätern hätte sich mit Leichtigkeit in den Schatten verstecken und der kleinen Gruppe auflauern können, die eben aus der Tür trat.

Owen blickte sich beunruhigt um. Sein einziger Trost war, daß wer auch immer dort lauern mochte, genauso blind war wie sie selbst. Hazel blickte nach links und rechts. Sie machte ein unglückliches Gesicht.

»Erzählt mir nur nicht, daß Ihr nicht wißt, wo wir hin müssen« brummte Owen. »Das fehlt uns noch.«

»Es ist lange her, daß ich hiergewesen bin« verteidigte sich Hazel. »Und der Nebel ist auch nicht gerade hilfreich. Außerdem bist du doch derjenige mit einem eingebauten Kompaß, oder? Du mußt doch wissen, wo wir sind.«

»Oh, ich weiß genau, wo ich bin«, erwiderte Owen schnippisch. »Ich weiß nur nicht, wo alles andere ist. Wenn es Euch hilft, dann kann ich Euch zeigen, in welcher Richtung Norden liegt.«

»Also gut, folgt mir«, sagte Hazel. »Und haltet euch dicht hinter mir. In dieser Suppe verliert man sich ziemlich leicht, und wir haben nicht die Zeit, auch noch Suchtrupps aufzustellen.«

Sie bewegte sich langsam und vorsichtig vom Sportpalast weg und streckte eine Hand nach hinten aus. Owen folgte ihr auf dem Fuß – im wahrsten Sinne des Wortes, denn er trat ihr beinahe in die Hacken. Ohnesorg folgte Owen, und Mond bildete das Schlußlicht. Während sie weitergingen, schälten sich allmählich zu beiden Seiten die grauen, fleckigen und nichtssagenden Mauern von Häusern aus dem Nebel, die die schmale Gasse säumten. Nirgendwo ein Hinweis, wo sie sich befanden. Das einzige Geräusch war das leise Tappen ihrer Schritte im Schnee. Owen versuchte, dem Ganzen eine positive Seite abzugewinnen.

»Wenn schon nichts anderes, dann ist es für unsere eventuellen Verfolger genauso schlimm wie für uns«, sagte er. »Wir könnten in diesem Wetter haarscharf aneinander vorbeilaufen und würden es nicht einmal merken.«

»Außer, wenn sie leise sind und dir zuhören«, sagte Hazel.

»Oder wenn sie einen Esper dabei haben.«

»Da habt Ihr recht«, sagte Owen. »Warum muntert Ihr mich nicht noch ein wenig mehr auf?« Er warf einen Blick nach hinten auf den Hadenmann. »Wie steht’s mit Euch, Mond?

Sehen Eure erstaunlichen Augen etwas Außergewöhnliches?«

»Nur Nebel und noch mehr Nebel, Todtsteltzer«, erwiderte Mond, doch dann hielt er plötzlich inne und legte den Kopf auf die Seite. Auch die anderen blieben stehen und sahen ihn fragend an.

»Was ist?« fragte Owen schließlich.

»Da draußen ist jemand«, erwiderte der aufgerüstete Mann.

»Ich kann hören, wie Schritte im Schnee knirschen.«

»In welcher Richtung?« schnappte Owen und riß seinen Disruptor hervor. »Gebt mir eine Richtung!«

Plötzlich schälte sich eine große Gestalt aus dem Nebel vor ihm. Er riß die Waffe hoch, aber dann erkannte er die Göttin aus dem Sportpalast und ließ sie wieder sinken. Die hinreißende Frau schlenderte verführerisch lächelnd auf ihn zu und hielt die Hände von sich gestreckt, um zu zeigen, daß sie leer waren. Owen wollte sich eben entspannen, als Mond rief:

»Achtung! Es ist nur ein Hologramm! Jemand verbirgt sich dahinter!« Die Augen des Hadenmanns schienen helle Blitze zu schleudern.

Owen riß erneut die Waffe hoch und feuerte augenblicklich.

Der Strahl ging geradewegs durch das Hologramm hindurch, ohne es zu beschädigen, und dann verschwand die Göttin einfach, als die Wand hinter ihr explodierte. Owen erhaschte einen kurzen Blick auf eine flüchtende Gestalt, die im Nebel verschwand. Dann schlug ein Energiestrahl direkt hinter ihm ein, und er sprang in Deckung. Er rief den anderen eine Warnung zu, und plötzlich war Owen allein im Nebel. Er kauerte an einer Hauswand und machte sich so klein wie möglich. Er wechselte den Disruptor von der rechten in die linke Hand und zog das Schwert. Für die nächsten zwei Minuten war nicht nur sein Disruptor, sondern auch der seines Gegners wertlos. Die Kristalle mußten sich erst regenerieren. Also ging es Stahl auf Stahl. Es sei denn, der Bastard schleppt zwei Pistolen mit sich, dachte Owen. Oder er hat einen Freund mit einer Pistole bei sich. Owen fluchte lautlos vor sich hin und lauschte angestrengt in die Stille. Das Kilogramm war ein verdammt guter Trick gewesen, und beinahe wäre er darauf hereingefallen. Derart ausgeklügelte Technik hatte er auf Nebelwelt nicht erwartet.

Langsam kroch er an der Wand entlang nach vorn, immer auf seine Orientierung bedacht. Seine Stiefel knirschten leise im Schnee, egal wie sehr er sich auch um Lautlosigkeit bemühte, und seine Nackenhaare richteten sich in Erwartung des Energiestrahls oder Schwerthiebes auf, den er wahrscheinlich nicht einmal mehr spüren würde. Er wagte es nicht, den Zorn in sich zu wecken, nicht so kurz nach dem letzten Mal. Und er fühlte sich noch immer verdammt schwach durch die Wunden, die er im letzten Kampf erlitten hatte. Sein Aufenthalt in der Regenerationsmaschine an Bord der Sonnenschreiter hatte die Heilungsprozesse für kurze Zeit stark beschleunigt, aber es gab dennoch Grenzen, und er näherte sich ihnen mit Riesenschritten. Eine kräftige Mütze voll Schlaf und ein paar proteinreiche Mahlzeiten würden wahre Wunder bewirken, doch Owen hatte das vage Gefühl, daß seine Verfolger nicht so lange warten würden. Bastarde! Allmählich schien es ihm, als hätte er seit seiner Ächtung nichts anderes mehr getan, als wegzulaufen und sich zu verstecken, und der Gedanke ließ ihn mit den Zähnen knirschen. Irgend jemand würde dafür bezahlen. Er blickte wütend um sich. Dem Nebel schien es egal zu sein.

Ein schwerer Schatten fiel auf ihn und riß ihn mit sich in den Schnee. Owen schob einen Arm unter seinen Körper und drückte sich rollend zur Seite, wodurch er sich von seinem Angreifer lösen konnte. Er stolperte vorwärts, und eine Klinge bohrte sich genau an der Stelle in den Schnee, wo er noch einen Augenblick zuvor gelegen hatte. Owen fand sein Gleichgewicht wieder und wirbelte herum. Und sah sich einer Frau gegenüber, deren schwarze Lederkluft größtenteils von weißen Fellen bedeckt war. Kein Wunder, daß er sie im Nebel nicht hatte sehen können. Die weißen Felle bildeten eine perfekte Tarnung. Die Frau war mittelgroß und besaß ein blasses, spitzes Gesicht mit dunklen Augen. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten, und sie grinste kühl und voller Selbstvertrauen. In der Hand hielt sie ein Schwert, und sie erweckte den Eindruck, als wüßte sie sehr genau, wie man damit umging.

Und sie wollte kämpfen, denn kaum hatte Owen einen flüchtigen Eindruck von ihr gewonnen, da war sie auch schon über ihm. Die Spitze ihrer Waffe zielte auf sein Herz. Er brachte sein eigenes Schwert gerade noch rechtzeitig hoch, um ihren Hieb zu parieren, und einen Augenblick standen sie sich gegenüber, Gesicht an Gesicht, Klinge an Klinge, bevor der Kampf weiterging und jeder die Fähigkeiten des anderen testete. Owen benötigte nicht lange zu der Feststellung, daß er einer meisterhaften Schwertkämpferin gegenüberstand, aber zu seiner eigenen Überraschung gab er einen Dreck darauf.

Das war genau die Sorte Kampf, die er bevorzugte. Einer gegen einen, von Angesicht zu Angesicht. Er war es müde, von gesichtslosen Verfolgern gehetzt und aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden. Er wünschte sich einen Feind, den er sehen und treffen konnte. Seine Gegnerin war verdammt gut, ganz ohne Zweifel – aber er war der Todtsteltzer. Und sie würde herausfinden, was das hieß.

Sie stampften hin und her auf dem festgetrampelten, rutschigen Schnee; jeder suchte nach einer Lücke in der Deckung des anderen, und ihre Schwerter krachten immer und immer wieder klirrend aufeinander. Owen setzte all seine Kraft und Geschicklichkeit ein und geriet doch unter starken Druck. Die Versuchung, den Zorn aufzurufen, war beinahe übermächtig, aber er tat es nicht. Teilweise, weil er sich Gedanken machte, was der Zorn seinem bereits ziemlich geschwächten Körper zufügen würde, doch hauptsächlich, weil er verdammt sein wollte, wenn er sich wegen eines einzelnen Angreifers in den Zorn flüchten würde. Er hatte schließlich auch seinen Stolz. Owen hatte sich nie als Krieger gefühlt, aber er war von den besten Schwertkämpfern des Imperiums unterrichtet worden. Und ganz nebenbei – er war in letzter Zeit einfach zu oft davongelaufen.

Owen warf sich auf seine Gegnerin und drängte sie allein durch die Wucht und Geschwindigkeit seines Angriffs zurück, dann wischte er ihr Schwert zur Seite und rammte sie mit der Schulter. Der Aufprall raubte ihr die Luft und warf sie noch weiter zurück. Sie verlor das Gleichgewicht und krachte schwer auf den festgetretenen Schnee. Im gleichen Augenblick war Owen schon über ihr und stellte seinen Fuß auf ihr Handgelenk, um sie daran zu hindern, ihr Schwert zu heben.

Sie griff mit der anderen Hand nach ihrem Disruptor, doch Owens Waffe zeigte schon auf ihr Gesicht. Sie resignierte und sank zurück in den Schnee. Überwältigt, aber keineswegs geschlagen. Die Frau funkelte ihren Bezwinger wütend von unten herauf an, und als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme kalt und beherrscht.

»Nun mach schon!«

Zu seiner eigenen Überraschung zögerte Owen. Es war eine Sache, jemanden in der Hitze des Kampfes zu töten, aber einen besiegten Feind zu ermorden, der hilflos auf dem Boden lag…? Das war die Methode des Imperiums, und er war nicht länger sein Untertan. Andererseits – wenn Owen sie nicht tötete, würde sie mit ziemlicher Sicherheit wieder aufstehen und sich auf ihn stürzen. Er dachte noch immer nach und bemühte sich um einen nichtssagenden Gesichtsausdruck, als die Gestalten seiner Kameraden sich aus dem Nebel schälten.

Das Geräusch des Kampfes hatte ihnen seine Position verraten. Hazel warf einen Blick auf die am Boden liegende Kopfgeldjägerin und schüttelte empört den Kopf.

»Owen, darf ich dir Ruby Reise vorstellen?«

»Natürlich«, erwiderte Owen schwer. »Es mußte ja wohl so kommen, oder?«

Er nahm den Fuß von Ruby Reises Handgelenk und trat einen Schritt zurück, damit sie aufstehen konnte. Sein Disruptor war unverwandt auf die besiegte Kopfgeldjägerin gerichtet.

Sie kämpfte sich vorsichtig auf die Beine, ohne ihre Augen von ihm abzuwenden. Owen bemerkte, daß sie zwar keine Schönheit war, trotzdem hatte sie etwas Faszinierendes an sich: kalt, aber sinnlich, wie eine giftige Schlange mit einer schönen Zeichnung. Der Gedanke überraschte ihn, und er versuchte ihn zu verdrängen. Owen hatte sich noch immer nicht entschieden, ob er sie töten sollte oder nicht.

»Ruby! Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?« fauchte Hazel ihre frühere Freundin an. »Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«

Die Kopfgeldjägerin zuckte die Schultern. »Die Belohnung war zu verlockend. Außerdem wollte ich wissen, ob ich ihn schaffen kann. Ich habe noch nie einen Todtsteltzer getötet.«

»Nun, jedenfalls kannst du dir das jetzt wohl aus dem Kopf schlagen«, sagte Hazel steif. »Komm mit uns, und ich verspreche dir, daß du massenhaft Kämpfe haben wirst und mehr Beute, als du tragen kannst. Die Chancen stehen nicht schlecht, daß wir alle dabei drauf gehen, aber wenn nicht, dann haben wir das verdammte Imperium am Arsch. Was sagst du?«

Ruby warf einen Blick zu Owen. »Was sagt er?«

Owen senkte den Disruptor, aber er steckte ihn noch nicht weg. »Ich weiß, daß ich es bereuen werde… aber Ihr seid eine exzellente Kämpferin, Ruby Reise, und wir könnten eine weitere Mitstreiterin gebrauchen.«

»Dann bin ich dabei«, erwiderte Ruby. »Ich konnte noch nie einer Herausforderung widerstehen.«

»Wie können wir ihr vertrauen?« fragte Tobias Mond.

»Können wir nicht«, erwiderte Jakob Ohnesorg. »Sie ist eine Kopfgeldjägerin.«

»Und wir sind alle Gesetzlose«, fiel Hazel ein. »Niemand traut uns über den Weg. Jedenfalls ist sie meine Freundin, und ich bürge für sie. Hat irgend jemand damit Probleme?«

Owen hatte einige, aber er hatte nicht den Nerv, sich schon wieder mit Hazel zu streiten. Also zuckte er nur die Schultern, steckte seine Waffe weg und lächelte Ruby Reise an. »Willkommen bei unserer Rebellion.«

Ohne größere Zwischenfälle gelangten sie zurück an Bord der Sonnenschreiter. Hazel und Ruby kannten jede dunkle Ecke und jeden Hinterhof in der Stadt. Und außerdem verbreitete sich in Windeseile die Nachricht, daß der Todtsteltzer sich nun in Begleitung eines Hadenmanns, des legendären Jakob Ohnesorg plus der berüchtigten Kopfgeldjägerin Ruby Reise befand, und die meisten der Möchtegern-Attentäter bekamen plötzlich Skrupel und entschieden, daß sie für diese Art von Arbeit doch nicht so sehr talentiert waren.

Wieder an Bord, verschwendete Owen keine Zeit und begab sich auf dem schnellsten Weg in den Regenerationsapparat.

Als er einige Zeit später wieder zum Vorschein kam, fühlte er sich schon ein ganzes Stück besser. Er führte seine neuen Kameraden durch das Schiff und genoß ihre Reaktionen auf den sybaritischen Luxus überall an Bord. Schließlich versammelten sich alle in der Lounge und nahmen in komfortablen Sesseln Platz. Jeder hielt ein Glas mit einem wärmenden Getränk in der Hand. Hazel hatte vorgeschlagen, daß sie sich irgendwo in der Stadt einen Platz zum Rasten suchen sollten, wo sie nicht gestört würden, aber Owen hatte sich rasch dagegen entschieden. Er hatte nicht die Absicht, irgendwo zu schlafen, wo die Flöhe husteten und Wanzen in den Betten wohnten.

»Also gut, Ozymandius«, sagte er leichthin. »Wir hatten jetzt alle genügend Zeit, um uns ein wenig aufzuwärmen.

Heraus mit den schlechten Neuigkeiten. Was ist seit unserer letzten Unterhaltung passiert?«

»Du würdest nicht die Hälfte davon glauben, Owen«, erwiderte die KI. »Praktisch jeder verdammte Einwohner dieses Planeten hat versucht, während deiner Abwesenheit in das Schiff einzubrechen. Sie benutzten alles mögliche. Vom Lektronenvirus bis hin zu Hammer und Meißel. Ich habe versucht, vernünftig mit ihnen zu reden. Ich habe versucht, sie mit Gewalt zu überzeugen. Aber es kamen immer mehr.

Schließlich habe ich den Kontrollturm überreden können, ein großes Kontingent von Wachen an den Eingängen zum Raumhafen zu stationieren, und das half ein wenig. Ach so, bevor ich es vergesse…« Als ob eine KI je etwas vergessen könnte! »… der Diensthabende hat mich gebeten auszurichten, daß er dir ein paar Worte sagen möchte. Zwei, um genau zu sein. Sie lauten: Auf Nimmerwiedersehen. Nebelhafen will, daß wir so schnell wie möglich von hier verschwinden, und wenn wir uns weigern, ziehen sie ihre Esper zusammen und werfen uns in den Raum. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube nicht, daß sie bluffen.«

Owen runzelte de Stirn. »Befinden sich Imperiale Schiffe in der Nähe?«

»Schwer zu sagen, während ich hier unten festhänge.

Jedenfalls ist nichts Offensichtliches auf den Fernsensoren zu erkennen. Aber sie könnten im Orbit eine kleine Flotte hinter ihren Tarnschirmen verstecken, und wir würden es erst bemerken, nachdem sie das Feuer auf uns eröffnet haben. Das nächste Mal, wenn du dir eine Jacht kaufst, dann such dir etwas mit mehr Feuerkraft aus, ja?«

»Beruhige dich, Ozymandius«, sagte Owen. »Du machst dir zu viele Sorgen. Dieses Schiff ist schneller als alles, was die Eiserne Hexe hinter uns herschicken kann.«

»Geschwindigkeit ist nicht alles, Owen. Es dauert seine Zeit, die Berechnungen durchzuführen, die zum Hyperraumsprung erforderlich sind, selbst für jemanden wie mich. Und während dieser Zeit sind wir praktisch eine sitzende Ente, auf die man auch noch eine Zielscheibe gemalt hat.

Wenn du fertig bist, dann würde ich mich gerne mit dir und Jakob Ohnesorg unterhalten.«

Ohnesorg bedachte Owen mit einem fragenden Blick, und Owen zuckte die Schultern. »Ozymandius findet lauter versteckte Dateien in seinen Speichern, die mein Vater ihm eingefüttert hat. Sie tauchen nur nach und nach und immer erst dann auf, wenn es notwendig erscheint. Anscheinend hat Euer Aufenthalt an Bord des Schiffs wieder neue Dateien sichtbar werden lassen.«

»Fang an, Ozymandius«, sagte Ohnesorg und wandte sich an Owen. »Das letzte Mal, daß ich von Eurem Vater hörte, mußte ich Strafporto für die Botschaft zahlen.«

»Jaaah«, erwiderte Owen gedehnt. »Das klingt ganz nach Papa.«

Und dann stand sein Vater plötzlich vor ihnen in der Lounge der Sonnenschreiter. Lebensgroß und doppelt so dreist. Beim Anblick des Hologramms schloß sich eine kalte Hand um Owens Herz. Sein Vater sah ganz genauso aus wie beim letzen Mal, als er ihn lebend gesehen hatte, nur vierundzwanzig Stunden bevor man ihn auf der Straße als Verräter am Imperium gemeuchelt hatte. Owen wurde bewußt, daß er sich nie von ihm hatte verabschieden können, und er wunderte sich, warum diese Tatsache plötzlich so viel Bedeutung gewann. Der alte Todtsteltzer machte einen angegriffenen und besorgten Eindruck, aber seine Stimme klang fest und höflich wie immer.

»Hallo Jakob! Ist schon eine Weile her, was? Wenn Ihr dies hier seht, bin ich bereits tot, und der junge Owen hat sich auf die Suche nach Euch gemacht. Achtet mir gut auf ihn. Er ist mutig, aber kein Krieger. Verbringt seine ganze Zeit damit, über Büchern und Geschichten zu brüten. Fragt mich nicht, von wem er das hat. Nicht ganz das, was ich für meinen Sohn und Erben im Sinn hatte, aber ich hoffe, daß ihn die Distanz zu mir wenigstens schützt, wenn die Dinge schieflaufen. Ich würde gerne glauben, daß alles am Ende zu etwas gut war.

Jakob, laßt unsere Sache nicht fallen, nur weil ich tot bin.

Kämpft weiter. Ich will nicht umsonst gestorben sein.

Owen, mein Sohn. Wenn alles nach Plan verlaufen ist, dann befindest du dich im Besitz des Todtsteltzer-Rings. Achte gut auf ihn. In ihm sind die Koordinaten des Planeten Shandrakor verborgen, wohin der Erste Todtsteltzer, der Gründer unseres Clans, vor vielen Jahrhunderten fliehen mußte, als er am Hof in Ungnade gefallen war. Lerne nun das große Geheimnis unserer Familie, mein Sohn: Er ist nicht tot. Der Erste Todtsteltzer liegt in seiner Fluchtburg auf Shandrakor in einem Stasisfeld, und dort befindet sich auch eine große Waffenkammer, in der uralte und verbotene Waffen lagern. Du mußt nach Shandrakor gehen und ihn wecken. Er weiß viele geheime Dinge, einschließlich des Orts, an dem der

Dunkelwüsten-Projektor verborgen ist. Mit dieser Waffe, die seit vielen Jahrhunderten verschollen ist, werden deine Kräfte allem ebenbürtig sein, was das Imperium gegen dich aufzubieten vermag.

In meinem Ring verborgen findest du auch die Koordinaten der verlorenen Welt Haden, der Heimat der aufgerüsteten Krieger. In der Gruft von Haden findest du eine ganze Armee von ihnen. Sie liegen in Stasis und warten darauf, erweckt zu werden. Unsere Familie hat in der Vergangenheit Geschäfte mit ihnen gemacht, und sie schulden uns etwas. Sie werden deinen Namen respektieren und an deiner Seite kämpfen. Wie weit du ihnen vertraust, liegt an dir.

Es tut mir leid, daß ich dir all das aufbürden mußte, mein Sohn. Es war nie beabsichtigt, daß du eines Tages eine solche Last tragen solltest. Aber mir scheint, wir haben einen Verräter in unserer Mitte. Einer nach dem anderen wurden alle Schlüsselfiguren in unserer geplanten Rebellion enttarnt und getötet. Ich kann nur annehmen, daß auch meine Zeit bald gekommen ist. Ich habe die KI mit allem beladen, von dem ich glaube, es könnte dir vielleicht nützlich sein, und die Dateien so tief in ihr versteckt, wie es nur möglich war. Dies ist meine letzte Botschaft; es wird keine weitere geben. Du bist jetzt auf dich alleine gestellt, Owen, mein Sohn. Ich wünschte… ich wünschte, wir hätten mehr miteinander geredet. Ich weiß, daß du meine Intrigen nie gutgeheißen hast, oder unsere Sache, aber ich hoffe, du hast in der Zwischenzeit erkannt, warum es so wichtig für mich war. Ich hoffe, du hast unsere Sache inzwischen zu deiner eigenen gemacht. Sei stark, mein Sohn. Tu, was du tun mußt.

Ich war kein wirklich schlechter Vater, oder? Ich weiß, daß ich nicht so oft für dich da war, wie ich eigentlich hätte da sein sollen, doch es gab immer so viele dringende Angelegenheiten zu erledigen. Denke nie, ich hätte dich nicht geliebt. Du kannst Jakob Ohnesorg vertrauen. Er ist ein guter Mann. Ich denke dauernd, daß ich noch etwas sagen müßte, aber mir fällt nichts mehr ein. Lebewohl, Owen. Lebewohl.«

Das Hologramm schaltete sich ab, und Owens Vater verschwand. Lange Zeit herrschte Schweigen in der Lounge der Sonnenschreiter. Jakob Ohnesorg seufzte schwer.

»Noch ein Kamerad, der nicht mehr bei uns ist. Ich hätte nie für möglich gehalten, daß ich so viele gute Freunde überleben würde.«

»Bist du in Ordnung, Owen?« fragte Hazel.

»Ja ja. Mir fehlt nichts. Er tut es noch immer. Er versucht noch immer, mir mein Leben vorzuschreiben.« Owen versuchte, wütend auf seinen Vater zu sein, aber zum ersten Mal in seinem Leben wollte es ihm nicht gelingen. »Es macht mich ganz verrückt, daß mir wirklich keine andere Wahl bleibt, als seinen Plänen zu folgen und seine kostbare Sache aufzunehmen, ob ich daran glaube oder nicht. Allein schon um zu überleben. Er zieht immer noch die Fäden, selbst nach seinem Tod.«

»Ich dachte immer, der Erste Todtsteltzer sei tot«, sagte Hazel. »Ich meine, ich habe auf Golgatha das Holo seiner Gruft gesehen.«

Owen nickte geistesabwesend. »Die Geschichte besagt, daß er gejagt und gestellt wurde und daß die Schattenmänner ihn schließlich vor neunhundertdreiundvierzig Jahren getötet haben. Vierhundert Jahre später wurde seine Unschuld festgestellt, und er wurde rehabilitiert. Sie haben ihm sogar ein Denkmal errichtet. Ich frage mich, wessen Körper sie in die Gruft gelegt haben…

Nun, jedenfalls haben wir jetzt wenigstens eine Wahl, wohin wir als nächstes gehen, oder? Nach Shandrakor, um meinen Urahnen zu suchen, oder nach Haden, um eine Armee aufzuwecken.«

Tobias Mond fixierte Owen mit seinen beunruhigenden goldenen Augen. »Ich warte seit langer Zeit darauf, wieder bei meinem Volk zu sein.«

»Nun, Ihr werdet wohl noch etwas länger warten müssen«, sagte Ohnesorg. »Wenn es auf Shandrakor wirklich eine geheime Waffenkammer gibt, dann müssen wir zuerst dorthin.

Ganz besonders, wenn der Dunkelwüsten-Projektor dort verborgen liegt.«

»Das hier ist immer noch mein Schiff«, sagte Owen. »Ich entscheide, wohin wir fliegen.«

»Dann fang mal an, Todtsteltzer«, brummte Ruby Reise, die während der ganzen Zeit mit einem bösartig aussehenden Dolch ihre Fingernägel bearbeitet hatte. »Eine Menge Leute suchen nach dir, und ich schätze, wir sollten besser nicht mehr hiersein, wenn sie eintreffen.«

»Da hat sie recht«, stimmte Hazel zu.

Owen nickte. »Wir gehen nach Shandrakor. Wenn mein werter Vorfahre dort ist, dann kann er zusammen mit Jakob die Rebellion übernehmen, und vielleicht kann ich mich dann aus dem Geschehen zurückziehen und endlich wieder Ruhe finden. Oz, fahr die Maschinen hoch. Wir starten.«

»Jawohl, Owen. Ich habe eine neue Nachricht vom Kontrollturm.«

»Stell sie durch.«

»Sonnenschreiter, hier spricht die Sicherheitsbehörde von Nebelhafen«, meldete sich eine barsche Stimme. »Ihr habt keine Starterlaubnis. Ich wiederhole, keine Starterlaubnis.

Schaltet Eure Maschinen ab; unsere Leute werden in Kürze an Bord kommen.«

»Da würde ich aber kein Geld drauf verwetten« brummte Owen. »Oz, wie weit sind wir?«

»Sag nur das Wort, Owen.«

»Dann los.«

Die KI unterbrach mitten im Gespräch die Verbindung zum Kontrollturm, und die Sonnenschreiter sprang förmlich von der Landeplattform in den Himmel. Rasch nahmen ein paar Schiffe die Verfolgung auf, aber sie hatten keine Chance, die Sonnenschreiter einzuholen. Owens Schiff schoß durch die Atmosphäre und begab sich in einen Orbit, bereit, jederzeit in den Hyperraum zu springen. Und genau in diesem Augenblick liefen die Dinge erst richtig aus dem Ruder.

»Ah, Owen«, meldete sich Ozymandius. »Wir haben ein Problem. Zwei Imperiale Sternenkreuzer haben Kurs auf uns genommen. Sie scheinen bereits im Orbit auf uns gewartet zu haben. Sie eröffnen das Feuer! «

»Schilde hoch!« gellte Owens Stimme durch die Lounge.

»Ich dachte, wir hätten diese Bastarde auf Virimonde abgehängt! Was zur Hölle tun sie hier?«

»Aus allen Rohren auf uns feuern«, erwiderte Ozymandius leidenschaftslos. »Die Schilde halten noch, aber ich weiß nicht, für wie lange. Sie sind nicht dazu geschaffen, soviel auszuhalten.«

»Zwei Sternenkreuzer?« fragte Jakob Ohnesorg ungläubig.

»Zwei verdammte Sternenkreuzer?«

»Sie müssen es wirklich verdammt ernst auf deinen aristokratischen Arsch abgesehen haben«, sagte Ruby Reise. »Hat dieser Schrotthaufen eine Bewaffnung?«

»Jedenfalls nichts, um einen Sternenkreuzer aufzuhalten«, antwortete Owen. »Oz, leite den Sprung ein. Jetzt!«

»Ich fürchte, das ist unmöglich, Owen. Ich arbeite noch immer an den exakten Raumkoordinaten. Wenn wir zu früh springen, ohne daß alle Berechnungen bis auf die letzte Stelle hinter dem Komma stimmen, könnten wir am Ende in einer Sonne rematerialisieren. Oder etwas ähnlich Unangenehmes.

Gerade sind die Backbordschilde zusammengebrochen. Alles festhalten!«

Das Schiff schüttelte sich heftig, und die Alarmsirenen heulten los. Immer und immer wieder bäumte die Sonnenschreiter sich unter den schweren Treffern der beiden Sternenkreuzer auf, und Rauch zog durch die Lounge. Flaschen fielen aus ihren Halterungen in der Bar und zerschellten am Boden.

Owen klammerte sich an einen Griff in der Wand und überlegte krampfhaft, was er als nächstes unternehmen sollte. In der Nähe – viel zu nah! – vernahm er das krachende Knistern eines ausbrechenden Feuers.

»Oz, Statusbericht!«

»Sieht schlecht aus, und es wird jeden Augenblick schlimmer. Die Hälfte unserer Schilde ist unten, die äußere Hülle ist an siebzehn Punkten durchbrochen, die innere an drei. Wir verlieren rasch Luft.«

»Können wir ihnen nicht davonfliegen?«

»Wenn du sie ärgern willst? Halte durch, Owen. Noch ein paar Minuten, und wir können springen.«

»Wir haben keine paar Minuten mehr! Spring jetzt! Sofort!«

»Ich kann wirklich nicht dazu raten, Owen. Wenn wir augenblicklich springen, kann ich nicht für eine sichere Ankunft garantieren.«

»Spring endlich! Auf der Stelle! Das ist ein verdammter Befehl! «

»Jawohl, Owen. Aber ich lehne jede Verantwortung ab. Also auf nach Shandrakor! Tod oder Sieg!«

Die Beleuchtung flackerte und erlosch. Rauch füllte die Lounge. Das Schiff machte einen Satz zur Seite, als der Bug in einer hallenden Explosion auseinanderflog… und dann war die Sonnenschreiter verschwunden. In den Hyperraum entkommen, auf der Flucht und auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.

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