KAPITEL NEUN WER SCHLÄFT DENN DA IN MEINEM KOPF?

Der Mann mit dem Decknamen Huth schlenderte ohne sichtliche Eile durch die stillen Korridore und Gänge tief im Herzen des Imperialen Palasts. Es waren breite Korridore mit hohen Decken, und die Wände waren mit geschmackvollen Gemälden und Porträts im Stil der augenblicklichen Mode geschmückt. Holos waren so plump. Menschen kamen und gingen, schweigend, unterwegs mit wichtigen Aufträgen, und passierten Huth, ohne ihn auch nur zu bemerken. Das schwache ESP, mit dessen Hilfe er sein Gesicht während der Versammlung vor den anderen versteckt hatte, sorgte hier oben dafür, daß niemand ihn überhaupt auch nur sah. Er war nicht wirklich unsichtbar; der Trick bestand darin, dem Bewußtsein des Gegenübers einfach einen kleinen Schubs zu geben, so daß es überall hinblickte, nur nicht zu ihm. Zum Glück waren ESP-Blocker selten und teuer, was zur Folge hatte, daß sie in der Regel nur in Räumen und nicht in den angrenzenden Korridoren verwendet wurden. Eigentlich eine ernstzunehmende Lücke im Sicherheitssystem des Palasts, aber Huth hatte bewußt darauf verzichtet, darauf hinzuweisen. Man weiß ja nie, wann man ein As im Ärmel gebrauchen kann, ganz besonders dann nicht, wenn man mit der Eisernen Hexe zu tun hat. Löwenstein XIV. hatte die Paranoia zu einer Kunstform erhoben, die sich auch unter ihren Untertanen ständig wachsender Beliebtheit erfreute.

Des weiteren führte Huth ein kleines technisches Gerät mit sich, das verhinderte, daß sein Gesicht auf einem der Sicherheitsmonitore erschien. Eine einfache Schaltung, die ein Programm auslöste, welches er in die Sicherheitslektronen eingeschleust hatte. Einmal gestartet, blendete es ihn einfach aus den Aufzeichnungen der Monitore aus. Der Apparat manipulierte jede Kamera, an der er vorüberkam, und wenn er vorbei war, ließ er sie den Zwischenfall wieder vergessen. Kein Kunststück für jemanden wie ihn. Schließlich hatte er unbeschränkten Zugang zu den Sicherheitssystemen.

Es dauerte ein wenig länger als üblich, bis er in seinen Privatunterkünften angelangt war, doch daran war er inzwischen gewöhnt. Weil die Leute ihn nicht sahen, hatten sie die lästige Angewohnheit, ihn einfach umzurennen, und er mußte recht schnell auf den Beinen sein, um Zusammenstöße zu vermeiden. Sein ESP war nicht stark genug, um seine Gegenwart vor jemandem zu verbergen, der soeben gegen ihn geprallt war.

Schließlich war er doch in seinen Räumen angelangt, und als er die Tür hinter sich verriegelt hatte, konnte er endlich ein wenig entspannen. Er zog 4en Umhang von den Schultern, warf ihn in Richtung seines Kleiderständers und stieß einen langen, erleichterten Seufzer aus. Zu Hause und in Sicherheit.

Jedenfalls so sicher, wie er sich nur je fühlen konnte. Er ließ sich in einen bequemen Sessel sinken und rekelte sich

genüßlich. So ein Doppelleben zu führen war auf die Dauer eine sehr ermüdende Angelegenheit. Huth grinste und ließ seine ESP-Maske fallen, und dann saß der Hohe Lord Dram im Sessel, Oberster Krieger des Imperiums und Chef der Sicherheitsbehörden der Imperatorin Löwenstein XIV. Rechte Hand und Liebhaber der Eisernen Hexe in einer Person.

Jetzt, da er sich ein wenig entspannen konnte, kam ihm in den Sinn, daß er eigentlich vor Wut und Angst beinahe außer sich sein sollte. Die Razzia der Sicherheitsleute hätte um ein Haar zu seiner Gefangennahme geführt. Das waren nicht seine Leute gewesen, ganz bestimmt nicht. Er hatte sich einiges einfallen lassen, um sicherzustellen, daß sie woanders beschäftigt waren. Und da er die Razzia nicht genehmigt hatte, mußte sie von den Leuten der Imperatorin selbst angeordnet worden sein. Wahrscheinlich hatten ihre eigenen Agenten Einzelheiten über das geplante Treffen in Erfahrung gebracht und die Gelegenheit nutzen wollen, um ihn in den Augen der Herrscherin als nachlässig dastehen zu lassen. Zwischen seinen Agenten und den ihren bestand immer eine gewisse Rivalität, aber bisher hatte er in dem Glauben gelebt, alles unter Kontrolle zu haben. Offensichtlich war das ein Irrtum gewesen. Er würde etwas deswegen unternehmen müssen. Wenn man ihn gefangen und seine Person identifiziert hätte, wäre all die Zeit und Mühe, die er auf seine Rolle als Huth investiert hatte, umsonst gewesen, und die Imperatorin hätte ihre beste Informationsquelle über das Geschehen im Untergrund verloren. Und was noch mehr zählte: Er hätte wie ein Dummkopf vor ihr gestanden, und all seine geheimen Pläne wären ruiniert gewesen.

Aber man hatte ihn nicht geschnappt. Durch Glück und die Voraussicht, sich mit den richtigen Leuten zu umgeben, war er ungeschoren davongekommen. Er würde in der Kirche eine Kerze anzünden. Als Zeichen seines Dankes. Wenn er die Zeit dazu fand.

Dram streckte sich erneut und genoß die bequeme Trägheit.

Er legte die Füße auf den gepolsterten Schemel, der sich rechtzeitig in Bewegung setzte, um seine Füße aufzufangen.

Dram war ein überzeugter Anhänger der neuesten technischen Spielereien. Einer der Vorteile, wenn man so dicht am Zentrum der Macht lebte, so nah bei der Imperatorin. Leib und Leben und Freiheit waren hier und da in ernsthafter Gefahr, aber niemals persönlicher Komfort. Doch selbst in Anbetracht dieser Umstände war Drams Quartier spartanisch im Vergleich zu denen anderer Leute seines Ranges und seiner Position. Er hatte kein sonderliches Interesse an persönlichen Besitztümern, außer sie dienten seiner Bequemlichkeit. Und so fanden sich überall weichgepolsterte Sessel, ein luxuriöses Bett und dicke Teppiche auf dem Boden. Nicht zu vergessen eine ganz hervorragend bestückte Hausbar. Aber es gab weder kybernetische Spielzeuge noch Holoaussichten oder Illusionen an den Wänden. Nichts, das teuer und unnütz gewesen wäre. Keine Statussymbole, die nur dem Beweis dienten, daß er sie sich leisten konnte. Dram war immer eher introvertiert gewesen, und Besitztümer erschienen ihm lediglich als eine weitere Angelegenheit, um die man sich kümmern mußte. Sie machten einen langsam, wenn man es eilig hatte, und sie lenkten einen ab, wenn man sich konzentrieren mußte. Also kam er ohne derartigen Ballast zurecht, jedenfalls zum größten Teil. Das Leben war auch so schon kompliziert genug.

Auch fand Dram keine Zeit für die Exzesse und Ausschweifungen, die andere seines Ranges und Standes so sehr liebten.

Für Dram bedeuteten sie nichts als Schwächen, und

Schwächen konnte er sich nicht erlauben. Dazu besaß er zu viele Feinde. Und außerdem verschaffte es ihm das gute Gefühl, jederzeit Herr der Situation zu sein und alles unter Kontrolle zu haben. Mit der Zeit würde er diese Kontrolle noch viel weiter ausbauen; so weit es nur ging. Seine einzige Leidenschaft – mit Ausnahme der Imperatorin, lang mochte sie herrschen – war der Ehrgeiz. Allerdings achtete er sehr sorgfältig darauf, dieses Geheimnis für sich zu behalten. Geliebter oder nicht, Löwenstein XIV. würde keine Sekunde zögern, ihn hinrichten zu lassen, wenn sie in ihm erst eine Bedrohung für ihren Thron entdeckt hatte. In diesen Dingen war sie schon immer sehr rigoros gewesen. Dram bewunderte diesen Charakterzug an ihr. Die Vorstellung gefiel ihm, daß sie auch außerhalb des Bettes noch etwas gemeinsam hatten.

Sein Ehrgeiz war es gewesen, der ihn das Potential der neuen Esper-Droge hatte erkennen lassen. Er hatte unverzüglich Schritte eingeleitet, um die Wissenschaftler, die an diesem Projekt arbeiteten, unter seine Kontrolle zu bringen. Er isolierte sie von allen äußeren Einflüssen und trieb sie gnadenlos an, bis sie ihm eine erste Probe liefern konnten, die er an entbehrlichen Subjekten testete, so lange seine Geduld es ihm erlaubte. Dann nahm er die Droge selbst, nur eine ganz kleine Dosis, und es war wunderbar! Ein Gefühl wie ein Blinder, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Schwan erblickte, oder ein Tauber, der unvermittelt Beethovens Neunte hörte.

Anschließend hatte Dram jeden töten lassen, der in das Projekt verwickelt gewesen war, mit Ausnahme der wenigen Wissenschaftler, die zur Produktion und Weiterentwicklung der neuen Droge unbedingt erforderlich waren. Für Dram war von größter Bedeutung, daß er allein die Kontrolle über das Projekt behielt. Er wußte ganz genau, daß die Droge ihm vielleicht sogar den Weg zum Eisernen Thron selbst ebnen konnte. Die Untergrundbewegung der Klone würde ihm neue Testkandidaten liefern – und am Ende sogar seine eigene private Armee von Espern, niemand anderem als allein ihm ergeben.

Sie würden alles für ihn tun, wenn er ihnen im Gegenzug die Droge gab. Dram kannte ihre Geheimnisse. Die Wirkung war nur vorübergehend. Um die Fähigkeiten eines Espers weiterhin zu besitzen, mußte man die Droge ständig nehmen. Und obwohl die Droge keinerlei Sucht erzeugte – allein die Erfahrung von ESP machte abhängig. Jeder, der sie einmal gemacht hatte, und sei es auch für noch so kurze Zeit, würde alles dafür tun, wieder ein Esper zu sein. Wieder ein ganzer Mensch zu sein. Und Dram kontrollierte die Produktion und Verteilung der Droge. Was bedeutete, daß er auch die Leute kontrollierte, die die Droge nahmen. Für immer. Der Gedanke bereitete ihm Freude, und er lachte leise. Die Klone würden die Droge begierig annehmen, weil sie ihm vertrauten, Huth vertrauten, dem erprobten und treuen Helfer der Untergrundbewegung. Und wenn sie schließlich die Wahrheit entdeckten, war es bereits viel zu spät.

Sicher, die Sterberate von zwanzig bis vierzig Prozent stellte ein echtes Problem dar. Er würde etwas dagegen unternehmen müssen. Er verabscheute Verschwendung.

Dram selbst hatte bisher immer nur kleine Dosen der Droge genommen. Je größer die Dosis, desto höher das Todesrisiko.

Wenn der Körper sich erst einmal an die Droge gewöhnt hatte, konnte man sich relativ sicher fühlen. Das erste Mal war immer riskant. Und da er nicht nur ehrgeizig, sondern auch vorsichtig war, hatte er nur eine ganz geringe Menge genommen. Sie hatte ihm nur schwache ESP-Fähigkeiten verliehen.

Damit konnte er durchaus leben. Die höheren Dosen waren für seine Klon-Freunde bestimmt. Die Freiwilligen. Dram war sehr daran interessiert, was höhere Dosen zu bewerkstelligen vermochten, aber er konnte warten. Er war geduldig. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß größere Mengen der Droge Kampfesper wie die Stevie Blues hervorbrachten. Mit einer Armee von ihnen konnte er es mit jedem Gegner aufnehmen. Angepaßte und aufgerüstete Männer wie die Kyborgs von Haden oder die Wampyre gehörten der Vergangenheit an. Die Zukunft hieß ESP.

Eine wahre Schande, daß die Tests an Klon-Espern eingestellt worden waren. Sie hatten – unter seiner indirekten Kontrolle – ein paar sehr interessante Resultate versprochen, doch dann hatte die Imperatorin davon erfahren und jede weitere Forschung untersagt. Das waren schon wieder ihre verdammten Agenten gewesen, und nur seine schnelle Reaktion hatte verhindern können, daß er als Drahtzieher im Hintergrund entdeckt wurde. Das durfte nicht noch einmal geschehen. Die Droge war seine einzige Waffe gegen die gesamte Macht und den Einfluß der Imperatorin. Außer natürlich, sie wußte bereits davon. Was immerhin eine Möglichkeit war. Man konnte nie genau sagen, was die Löwenstein wußte und was nicht.

Aber wenn sie von Drams Plänen und Absichten gewußt hätte, wäre er inzwischen wohl schon tot.

»Rede mit mir, Argus«, sagte er endlich und ließ sich mit geschlossenen Augen tief in den Sessel zurücksinken, während seine KI ihn über alles informierte, was während seiner Abwesenheit vorgefallen war. Dram hatte viele Feinde, und die meisten von ihnen wußten, wo er lebte. Er verließ sich auf die unbestechliche Wachsamkeit seiner KI, die seine Quartiere überwachte, während er abwesend war.

»Alles unter Kontrolle, Euer Lordschaft. Nur Routineangelegenheiten während Eurer Abwesenheit. Ich habe Euer Gesicht und Eure Stimme benutzt und einige Einträge in Eurem Terminkalender vorgenommen. Werft bitte bei Gelegenheit einen Blick hinein, Sir; diese Verabredungen sind wichtig. Es scheint, daß Ihr bei der breiten Masse noch immer enorme Popularität genießt, jedenfalls nach Eurer Post zu urteilen.

Was wieder einmal beweist, daß man über Geschmack streiten kann. Bitten um Hilfe oder finanzielle Unterstützung haben ein wenig zugenommen, Heiratsvorschläge sind leicht zurückgegangen. Die Versammlung der Lords haßt Euch noch immer wie die Pest. Sie haben eine Reihe von angeheuerten Spezialisten geschickt, die während Eurer Abwesenheit Eurer Quartier mit Fallen überziehen sollten, und ich habe sie gewähren lassen, statt Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Es dauert sonst immer so lange, all das Blut aufzuwischen. Nachdem sie wieder gegangen waren, habe ich jede einzelne Falle entschärft. Sie werden immer einfallsreicher, wißt Ihr? Ich finde wirklich jedesmal ein oder zwei völlig neue Konstruktionen.«

»Und du bist sicher, daß du alle gefunden hast?«

»Ziemlich sicher, Sir.«

»Was soll das heißen?«

»Falls ich etwas übersehen habe, dann werdet Ihr wenigstens nicht herumlaufen und ausposaunen, ich hätte mich geirrt.«

Dram mußte lachen. Gelegentlich erlaubte er der KI derartige Frechheiten. Es war gut für den Charakter.

»Jemand wünscht Euch zu sprechen, Sir.«

»Ich habe im Augenblick keine Lust, mich zu unterhalten.

Mach du das.«

»Es ist die Imperatorin, Sir.«

»Warum zur Hölle sagst du das nicht gleich?« Dram setzte sich ruckhaft in seinem Sessel auf. Mit einem Schlag war er hellwach. »Also gut. Stell sie durch.«

Die Wand auf der linken Seite verwandelte sich in einen riesigen Bildschirm, der von den arktischen Gesichtszügen der Imperatorin ausgefüllt wurde. Sie sah so… nachdenklich aus. Der Anblick gefiel Dram überhaupt nicht. Löwenstein XIV. war immer dann am gefährlichsten, wenn sie nachgedacht hatte. Der Oberste Krieger des Imperiums sprang auf und verbeugte sich respektvoll. Dann lächelte er warm in das frostige Blau ihrer Augen.

»Löwenstein, meine Liebste! Welch ein unerwartetes Vergnügen. Was kann ich für dich tun?«

»Komm in meine privaten Gemächer. Sofort. Wir müssen reden.«

Dram wollte eben eine ruhige, höfliche Antwort geben, als er sich unvermittelt wieder der nackten Wand gegenüber sah.

Nachdenklich runzelte er die Stirn, als er zum Kleiderständer ging und seinen Umhang nahm. Sein erster Gedanke war gewesen, daß die Eiserne Hexe alles herausgefunden hatte und seine einzige Chance darin bestand, augenblicklich das Weite zu suchen. In Gedanken ging er die nächstgelegenen Fluchtwege und die schnellsten Möglichkeiten zum Verlassen des Planeten durch, doch dann unterbrach er seine Gedanken und atmete ein paarmal tief durch. Sein eiserner Wille besiegte die aufsteigende Panik, und langsam kam er zur Ruhe. Löwenstein konnte nicht alles wissen, sonst hätte sie sich bestimmt nicht die Mühe gemacht, ihn halbwegs freundlich zu sich zu bestellen. Statt dessen wäre ein bewaffneter Trupp von Wachen aufmarschiert, hätte seine Tür eingeschlagen und ihn mitgenommen, egal wie sehr er sich dagegen gewehrt hätte.

Das heißt, sie hätten es zumindest versucht. Eines der Geheimnisse, die er vor Löwenstein XIV. verwahrte, war das wirkliche Ausmaß seiner persönlichen Sicherheitsvorkehrungen.

Also mußte etwas geschehen sein, während er als Huth unterwegs gewesen war. Etwas, das sie nicht über den Kommlink mit ihm diskutieren wollte. Dram ging in Gedanken die zahlreichen Angelegenheiten durch, mit denen sich seine Leute im Augenblick herumschlugen, aber er fand nichts Offensichtliches darunter. Nichts, das eine unmittelbare Gefahr hätte bedeuten können. Sonst wäre er auch nicht zu dem Treffen mit der Untergrundbewegung gegangen. Er konnte es sich nicht leisten, während einer Notsituation abwesend zu sein, und es gab eine Grenze, wie weit Argus ihn decken konnte.

Dram seufzte, gab Argus die üblichen Instruktionen zusammen mit der Ermahnung, nicht mit fremden Leuten zu sprechen, und öffnete die Tür. Er würde schon selbst zu Löwenstein XIV. gehen und fragen müssen, wenn er wissen wollte, was geschehen war. Er hoffte nur, daß ihr nicht nach Liebe zumute war. Schließlich hatte er einen verdammt langen Tag hinter sich.

Ohne besondere Eile schlenderte er den Korridor entlang und erwiderte lässig nickend die Grüße derer, die ihm entgegenkamen. Er durfte sich nicht den Anschein von Nervosität oder Hektik geben; das könnte unter Umständen als Schwäche gedeutet werden. Herr der Lage zu sein und alles unter Kontrolle zu halten reichte allein nicht aus; die Menschen mußten sehen, daß er Herr der Lage war und alles unter Kontrolle hatte. Ansonsten würden ihn schon bald die Geier umkreisen.

Die Leute, denen er unterwegs begegnete, traten zur Seite und verneigten sich tief vor ihm. Was auch immer geschehen war

– die niederen Ränge hatten zumindest noch keinen Wind davon bekommen. Dram bemerkte nicht zum ersten Mal die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen, als er sich den

Gemächern der Imperatorin näherte. Darunter auch einige, die er zuvor noch nicht gesehen hatte. Entweder fühlte sich Löwenstein wieder einmal nicht sicher genug, oder es hatte während seiner Abwesenheit einen erneuten Angriff auf ihre Person gegeben. Letzteres erschien ihm unwahrscheinlich. Wenn die Elfen oder die Klone etwas vorgehabt hätten, dann wäre er darüber informiert gewesen. Und auch die letzten Berichte seiner eigenen Agenten hatten nichts Neues zutage gebracht.

Wo er auch hinsah – überall neue Wachen, neue Kameras, neue Sensoren. Und ganz ohne Zweifel gab es noch eine hübsche Menge mehr, die er nicht sah. Sein Rücken begann sich zu versteifen, als er an die verborgenen Waffen dachte, die jeder seiner Bewegungen folgten. Die meisten davon hatte er selbst installiert, aber es gab auch welche, von denen er nichts wußte.

Sein ESP erlosch unvermittelt, als er in die Nähe eines ESP-Blockers kam, der zuvor ganz definitiv noch nicht dort gewesen war. Normalerweise war Löwenstein XIV. schon ganz zufrieden, wenn sie einen in ihren Gemächern hatte. Es gab immerhin eine lange Warteliste für neue ESP-Blocker, und es dauerte lange, einen anzufertigen – genauso lange, wie ein Esper eben benötigte, um erwachsen zu werden und seine Kräfte voll zu entfalten.

Dram erreichte die gepanzerte Luftschleuse, die den einzigen Zugang in die privaten Gemächer der Imperatorin bildete, und die sechs diensthabenden Wachen (vier mehr als gewöhnlich!) nahmen Habachtstellung an. Dram erwiderte ihren militärischen Gruß lässig und blieb ruhig und locker stehen, während die Sensoren sich davon überzeugten, daß er wirklich der war, der er zu sein schien. Er trug keine seiner üblichen Waffen; nicht einmal ihm war es erlaubt, Waffen in die Privatgemächer der Imperatorin mitzunehmen. Mit leisem Zischen glitt die Schleusentür zur Seite, und der Oberste Krieger betrat die Kammer. Die Schleusenkammer war eben groß genug für einen Mann, und als die Tür hinter ihm wieder zuglitt, mußte er gegen ein aufsteigendes klaustrophobisches Gefühl ankämpfen. Die Form der Schleuse sollte die Geborgenheit einer Gebärmutter vermitteln, aber Dram war einfach nicht in der richtigen Stimmung. Dann schwang auch schon die innere Tür auf, und er trat hinaus in das private Reich der Herrscherin…

und wurde von den einzigen Lebewesen empfangen, die die Privatsphäre der Imperatorin teilen durften: ihren Dienerinnen. Sie starrten ihn feindselig an, und tief aus ihren Kehlen drang ein warnendes Knurren. Als er selbstsicher vortrat, wichen sie zögernd zur Seite. Dram schniefte. Die Luft war parfümgeschwängert; der neue Lieblingsduft der Herrscherin, der auch die vielen Gifte überdeckte, gegen die er und die Dienerinnen immunisiert waren. Der betäubend intensive Geruch paßte. Löwenstein XIV. war schließlich auch keine dezente Persönlichkeit. Sie hatte es nicht nötig. Was man nicht nur roch, sondern auch am Mobiliar erkennen konnte.

Die große Eingangshalle war vollgestopft mit Sesseln, Sofas, Statuen, Gemälden an den Wänden; lauter unbezahlbare Einzelstücke. Nur die niederen Ränge gaben sich mit Kopien oder Holoduplikaten ab. Wohin er auch blickte, funkelten Gold, Silber und Edelsteine; Glanz und Pracht des Imperiums, alles in einem einzigen Raum zusammengestopft, so daß kaum noch Luft zum Atmen blieb. Löwenstein XIV. umgab sich gerne mit schönen Dingen: Es waren die Trophäen ihrer Regentschaft. So zum Beispiel auch die mumifizierten Köpfe ihrer hingerichteten Gegner auf einer Reihe von Pfählen, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem Dram es ihr aus hygienischen Gründen hatte ausreden können. Und überall Drinks und Drogen und Süßigkeiten, für jede Vorliebe und jeden Geschmack. Ganz privat war Löwenstein XIV. im Grunde genommen ein richtiges Schwein.

Die Imperatorin hatte in einem erhabenen Sessel Platz genommen, geschnitzt aus dem schimmernden Material eines der lebenden Metallbäume von Unseeli, und beobachtete auf einem Schirm an der Wand die Erprobung neuer Waffen. Das geordnete Chaos schien sie sehr zu interessieren, und so warf sie ihrem Geliebten und Obersten Krieger kaum mehr als einen Blick zu. Dram ging zu ihr und blieb neben dem Möbel stehen. Die Dienerinnen hockten sich zu den Füßen ihrer Herrin, wo sie sich unruhig regten. Man hatte ihnen einprogrammiert, daß Dram der einzige Mann war, der sich in der Nähe der Imperatorin aufhalten durfte, trotzdem gefiel es ihnen nicht. Der Oberste Krieger blickte leidenschaftslos zu ihnen hinunter und entdeckte ein paar neue Gesichter. Ersatz für diejenigen, die während des Elfenangriffs bei Hofe gefallen waren. Er überlegte kurz, welche neuen Feinde sich Löwenstein wieder geschaffen hatte, indem sie die jungen Frauen aus ihren Familien entführt und alles aus ihrem Bewußtsein gebrannt hatte bis auf den einen einzigen Wunsch, die Imperatorin zu beschützen. Hin und wieder fragte sich Dram, ob er eines Tages genauso enden würde. Ein geistloser Deckhengst, der nur noch lebte, um die Bedürfnisse seiner Herrin zu befriedigen. Es war kein sehr tröstlicher Gedanke. Er riß sich zusammen und wandte den Blick auf den Schirm an der Wand.

Kampfmaschinen und Kriegsandroiden prallten auf einer leeren Ebene unter einer blutroten Sonne aufeinander. Zwei große Armeen mechanischer Kreaturen, jenseits menschlicher Gefühle wie Furcht, Schmerz oder der Suche nach Ruhm krachten immer und immer wieder zusammen, und metallene Arme und Kiefer rissen und schlugen und bissen ihre Gegner, daß die Funken nur so sprühten. Manche waren nicht größer als Insekten, andere besaßen beinahe humanoide Formen, und wieder andere bestanden anscheinend aus nichts weiter als gewaltigen Ansammlungen von Waffen und Extremitäten und waren zu groß, um vom menschlichen Verstand so einfach begriffen zu werden. Sie kämpften mit wütender Entschlossenheit, denn das war der einzige Zweck, zu dem ihre Erbauer sie konstruiert hatten. Scharfe, spitze Haken drangen tief in metallene Leiber ein und wurden erbarmungslos wieder herausgerissen, Arme zerrten an nachgebenden Strukturen, metallenen Köpfen mit leuchtenden Augen, skelettartigen Leibern mit stachligen Morgensternen statt Armen, und über allem lag das ohrenbetäubende Brüllen und Kreischen gewaltiger Maschinen und reißenden Stahls. Die Maschinen kämpften, bis ihre Beschädigungen zu groß geworden waren, um weiterzumachen, und dann setzten die Sieger über ihre Opfer hinweg und stampften sie in den Boden, während sie nach weiteren Opfern suchten. Niemand trauerte um die Gefallenen oder jubelte den Siegern zu. Keine Spur von Emotionen trübte das endlose Gemetzel, nur Maschinen, die sich auf der Suche nach möglichst großer Effizienz bekämpften.

Dram beobachtete die Schlacht, und sein Blut gefror in den Adern. Eine menschliche Armee konnte von einem derartigen Feind kein Mitleid und keine Gnade erwarten, keine gemeinsamen Konzepte von Ehre oder Ritterlichkeit, nichts. Sie würden immer und immer wieder anstürmen, unbeirrbar, ohne Rücksicht auf Verluste, Verletzungen, Ausfälle, blind ihren Befehlen gehorchend. Und menschliches Fleisch würde unter ihren stachligen metallenen Händen einfach zerreißen. Was ja auch der Grund war, aus dem man sie geschaffen hatte – und zu welchem Zweck sie am Ende eingesetzt werden würden.

Weil sie so unglaublich gut waren in der uralten Kunst des Mordens.

Irgendwo verfolgten Lektronen die gesamte Schlacht und werteten die Ergebnisse aus. Sie bestimmten, welche der Maschinen am effizientesten arbeiteten und am längsten durchhielten, und sie untersuchten die Gründe dafür. Aus ihren Auswertungen würde am Ende die nächste Generation von Kriegsmaschinen hervorgehen, die im Namen der Menschheit gegen die Feinde des Imperiums ausgesandt werden würde.

Dram warf einen verstohlenen Blick zu Löwenstein. Sie genoß die Schau. Die Imperatorin war immer davon überzeugt gewesen, daß Technologie am Ende ihre Probleme lösen könnte. Dram mußte zugeben, daß sie zumindest nicht völlig unrecht zu haben schien. Maschinen mochten vielleicht nicht ganz so vielseitig verwendbar sein wie Marineinfanteristen, aufgerüstete Kämpfer oder gar Kampfesper, aber innerhalb ihrer Möglichkeiten folgten sie mit sturer Unbeirrbarkeit ihren Befehlen und erledigten ihre Arbeit. Und das ganz besonders auf unwirtlichen Planeten, wo Menschen nicht ohne umfassende technologische Unterstützung überleben konnten. Am Ende würden die beobachtenden Lektronen eine Entscheidung treffen, welche Modelle man weiterentwickeln und verfeinern und welche man ausmustern würde, doch Löwenstein XIV. sah trotzdem gerne zu. Krieg war viel zu wichtig, um ihn einfach Maschinen zu überlassen.

»Sehr beeindruckend«, sagte Dram schließlich.

»Das will ich auch hoffen«, erwiderte die Herrscherin, ohne die Augen vom Schirm abzuwenden. »Wenn man bedenkt, was die letzten Forschungen mich gekostet haben, dann ist eine gute Schau wohl das wenigste, was man erwarten kann.

Und ich bin froh, daß du beeindruckt bist, weil ich es nämlich überhaupt nicht bin. Sicher, sie besitzen eine ziemlich hohe Zerstörungskraft, aber ich hatte mir eigentlich mehr erwartet.

Höhere Entwicklung. Doch bei kybernetischen Projekten darf man eben eine gewisse Grenze nicht überschreiten. Macht man sie zu schlau, dann kommt etwas dabei heraus, das, so schnell es kann, nach Shub rennt. Läßt man sie dumm, dann kann jeder einfache Soldat im Kreis um sie herumlaufen. Der einzige Weg zu einem vernünftigen Gleichgewicht besteht darin, ständig zu experimentieren, und das kostet eine Menge Geld. Du solltest dir anhören, wie das Parlament heult, wenn ich ihnen mit einem neuen Budget komme! Man könnte glatt meinen, es wäre ihr eigenes Geld, so wie die sich anstellen.

Aber die zukünftigen Kriege müssen mit den Waffen der Zukunft gekämpft werden, und das bedeutet, daß wir stets auf dem neuesten Stand der Technik sein müssen.«

»Das solltest du am besten wissen«, erwiderte Dram trocken. »Schließlich hast du eine Menge Zeit und Mühen aufgewendet, um dich auf dem neuesten Stand der Technik zu halten. Du besitzt genügend Implantate, Aufrüstungen und Körperchirurgie, um als Androide durchzugehen.«

»Ich muß ja auch die Beste sein«, sagte Löwenstein und schaltete den Bildschirm ab. Sie wandte sich um und blickte Dram an. »Ich habe meine Feinde, und ich habe meinen Stolz.

Und ich werde niemandem erlauben, größer zu sein als ich, egal in welcher Beziehung.«

»Aber es gibt Regeln, wie weit man Aufrüstung betreiben darf«, gab Dram zu bedenken. »Du selbst hast die Gesetze unterschrieben.«

»Gesetze! Das ist doch nur etwas für die kleinen Leute! Los, komm mit!«

Mit einer flüssigen Bewegung erhob sie sich und ging voraus in Richtung Schlafzimmer. Dram folgte ihr nachdenklich.

Löwenstein trug keines ihrer üblichen verführerischen Kleider, also nahm er an, daß es keineswegs der Gedanke an Sex gewesen war, der sie dazu gebracht hatte, ihn zu sich zu zitieren. Er zuckte innerlich mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal, daß er sich in ihr geirrt hatte, und es würde sicher auch nicht das letzte Mal sein. Dram erreichte die Tür zum Schlaf gemach, und die Dienerinnen fauchten wütend. Sie waren ihm dicht auf dem Fuß bis zur Tür gefolgt, aber jetzt mußten sie zurückbleiben. Das Schlafgemach war das einzige Zimmer in den privaten Räumen, zu dem ihnen der Zutritt untersagt war, wenn die Herrscherin Männerbesuch hatte. Der Imperatorin schien es nichts auszumachen, aber sie schreckten jedermann ab. Dram betrat das Schlafzimmer und verschloß die Tür vor den willenlosen Geschöpfen, nicht ohne eine gewisse Genugtuung dabei zu empfinden. Löwenstein stand gedankenverloren neben ihrem Bett. Dram näherte sich ihr von hinten und schlang seine Arme um sie. Sie versteifte sich augenblicklich.

»Nein, Dram. Nicht jetzt. Wir müssen uns unterhalten, und sonst nichts.«

Dram drückte sie ein wenig fester an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Nacken. »Bist du sicher?«

»Das reicht jetzt, Dram!« sagte die Imperatorin. »Laß mich los. Auf der Stelle!«

Er grinste hinter ihrem Rücken und drückte sie noch fester an sich. Dram genoß die Stärke seiner Arme und die scheinbare Zerbrechlichkeit ihres Körpers. Die Imperatorin spannte sich.

»Dram! SCHLUSS! «

Das Kontrollwort raste wie ein langer Donnerhall durch seinen Kopf, und seine Arme fielen schlaff herab. Er stand vollkommen hilflos an Ort und Stelle und konnte nichts anderes mehr tun, als darauf zu warten, daß sie ihm die Kontrolle über seinen Körper zurückgab. Löwenstein schob sich von ihm weg, wandte sich um und verabreichte ihm zwei schallende Ohrfeigen. Sie hatte wirklich Kraft in ihre Schläge gelegt, und Blut rann von einer aufgeplatzten Lippe über sein Kinn. Er nahm es einfach hin, weil er keine andere Wahl hatte. Bewußtseinstechniker hatten bestimmte Sicherheitsmechanismen in sein Gehirn eingebaut. Löwenstein überließ nichts dem Zufall.

»Wenn ich dir das nächste Mal etwas sage, dann wirst du gefälligst gehorchen«, zischte sie. »Oder ich werde ein Kontrollwort benutzen, von dem du nicht einmal weißt, daß es existiert, und sie werden deine Schreie noch an der Oberfläche hören. Dram, FREI. «

Sein Körper gehorchte ihm wieder, und er wäre um ein Haar hingefallen. Seine Arme und Beine zitterten, trotzdem zwang er sich zu einer höflichen Verbeugung vor der Herrscherin.

Sie nickte leicht.

»So ist’s schon besser.« Dann setzte die Imperatorin sich auf die Bettkante und lächelte ihn an. »Weißt du, du bist der einzige Mensch, in dessen Nähe ich mich wirklich entspannen kann. Du solltest dich geschmeichelt fühlen.«

»Ich fühle eine Menge Dinge«, erwiderte Dram. »Aber geschmeichelt fühle ich mich ganz bestimmt nicht.« Und wenn du auch nur eine Ahnung hättest, was ich alles denke, dann würdest du dich in meiner Nähe nie wieder entspannen…

Man hat mich zwar programmiert, daß ich dir nichts tun kann, aber es gibt kein hundertprozentig sicheres Programm.

Man muß sich nur genug Mühe geben, um es zu knacken.

Dram lächelte Löwenstein an, um zu zeigen, daß er ein guter Verlierer war und ihr nichts übelnahm, und sie lächelte zurück. Er achtete sorgfältig darauf, keine Gefühlsregung auf seinem Gesicht erkennen zu lassen, und blieb äußerlich ruhig und gelassen. Zumindest seine Gedanken waren vor ihr sicher. Er konnte die Gegenwart des ESP-Blockers spüren, der irgendwo im Raum verborgen war, nur so als Vorsichtsmaßnahme. Sie hatte keine Ahnung von seinen ESP-Fähigkeiten.

Wenn sie davon gewußt hätte, würde sie nicht eher Ruhe geben, bis sie die Formel der Droge aus ihm herausgepreßt hatte. Mit allen Mitteln, die dazu erforderlich waren…

Außer natürlich, sie wußte bereits alles…

Dram schob den Gedanken beiseite. Es gab eine ganze Menge Dinge, an die man in Löwensteins Gegenwart besser nicht dachte, ob jetzt ein Esper in der Nähe war oder nicht. Es sagte mindestens genausoviel über sie aus wie über ihn selbst.

Er bemerkte unvermittelt, daß sie ihn schon wieder so nachdenklich musterte, und riß sich zusammen. Als Löwenstein zu sprechen begann, klang ihre Stimme so leidenschaftslos, wie ihr Gesicht aussah, doch in ihren Augen funkelte ein beinahe gehetzter Ausdruck.

»Die Fremden kommen, Dram. Zwei Spezies, von denen wir nicht das geringste wissen, mit Ausnahme der Tatsache, daß ihre Technologie der unseren mit großer Sicherheit überlegen ist. Das gesamte Imperium schwebt in Gefahr. Und ich will verdammt sein, wenn sich irgendwelche Leute oder Interessengruppen einmischen und mich daran hindern wollen, alles Nötige zu tun, um mein Imperium zu schützen. Wir können uns den Luxus abweichender Meinungen nicht mehr länger erlauben. Also habe ich beschlossen, im gesamten Reich den Notstand auszurufen und alle Kräfte zu sammeln. Sowohl das Parlament als auch die Versammlung der Lords werden mir eher den Rücken stärken, als daß sie in Anbetracht der herannahenden Bedrohung durch die Fremdrassigen einen Bürgerkrieg riskieren. Sie haben mehr Angst vor der Bedrohung durch die Fremden als vor mir. Jedenfalls werden sie das spätestens dann, wenn meine Propagandaabteilung damit beginnt, sorgfältig zensierte Informationen über die Extraterrestrier zu verbreiten.« Die Imperatorin grinste verschlagen.

»Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, wie nützlich so eine Bedrohung durch fremde Wesen sein kann, dann hätte ich schon längst welche erfunden.«

»Und welche Rolle soll ich bei deinen Plänen spielen?«

fragte Dram. »Du hast mich doch nicht um diese Zeit herbeigerufen, um mir das zu erzählen?«

»Mein lieber Dram! Du bist so direkt und kraftvoll, genau wie ich. Du wirst in deiner Rolle als Huth in den Untergrund gehen und sie davon überzeugen, daß jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen ist, eine Rebellion gegen mich zu beginnen.

Dann wirst du mir rechtzeitig alle nötigen Einzelheiten verraten, damit meine Streitkräfte sie in Empfang nehmen können.

Selbstverständlich mit weit überlegener Zahl und Feuerkraft.

Wir werden sie in eine Falle locken und abschlachten, und die überlebenden Esper und Klone werden entweder hingerichtet oder unserer Kontrolle unterworfen. Am liebsten würde ich die Plage ein für allemal ausrotten, aber mit Rücksicht auf den bevorstehenden Krieg können wir uns nicht erlauben, Ressourcen zu verschwenden. Andererseits ist die Untergrundbewegung bereits zu wichtig und zu gefährlich geworden, und ich darf sie nicht länger einfach übergehen. Ich darf ihnen nicht die Gelegenheit geben, mir von hinten in den Rücken zu fallen, während ich abgelenkt bin. So werde ich es machen.

Ja, dich als Doppelagenten in den Untergrund einzuschleusen war eine meiner besten Ideen überhaupt.«

Sie hat keine Ahnung von der Droge, dachte Dram erleichtert. Sie weiß eben doch nicht alles.

»Und außerdem«, fuhr die Imperatorin fort, »außerdem wird mir ein fehlgeschlagener Aufstand jede Rechtfertigung der Welt bieten, hart gegen die Familien durchzugreifen, die mich nicht so unterstützt haben, wie sie es hätten tun sollen. Ich werde die Häuser auf Vordermann bringen, und wenn ich dafür knietief durch ihr Blut waten muß. Oder das der Esper, um wieder zu diesem Thema zu kommen. Glaub ja nicht, ich hätte den Anschlag an meinem Hof vergessen. Ich bin noch immer wütend, daß du mich nicht rechtzeitig gewarnt hast. Zu deinem Glück kann ich mich jetzt an den Elfen abreagieren.

Wo war ich stehengeblieben? Nein, sag nichts. Ja, da fällt mir’s wieder ein: Ich möchte, daß du in der Öffentlichkeit als Anführer der Kräfte gesehen wirst, die die Rebellion des Untergrunds niederschlagen. Das wird deinen Wert in den Augen des Volkes beweisen, und ich kann dich ganz offiziell als meinen zukünftigen Prinzgemahl vorstellen. Das ging bisher nicht, weil du nicht wichtig genug warst. Ja, ich weiß, du bist der Oberste Krieger; aber das hat kein Eis zwischen dir und der Versammlung der Lords zum Schmelzen gebracht. Einen Aufstand niederzuschlagen ist allerdings etwas, das sie anerkennen werden. Dem gewöhnlichen Volk wird es gefallen: Die Imperatorin heiratet ihren Obersten Krieger. Und ich werde endlich frei sein von der Drohung einer aus politischen Gründen erzwungenen Heirat. Was ist, Dram? Freust du dich nicht?«

»Und wie!« erwiderte er schnell. »Das ist doch genau das, was wir uns immer gewünscht haben. Aber meinst du wirklich, du könntest die Lords dazu bringen, daß sie ihr Einverständnis geben? Erstens mögen sie mich nicht und haben mich auch noch nie gemocht, und zweitens: Solange du unverheiratet bist, kannst du sie bei der Stange halten, weil sie immer noch hoffen, daß du eines Tages einen der Ihren heiraten wirst. Bei einigen ist diese Hoffnung alles, was sie auf deiner Seite hält.«

Löwenstein grinste. »Die herannahende Bedrohung durch die Fremden und der niedergeschlagene Aufstand werden mir alle nötige Macht in die Hand geben, um zu tun, was auch immer ich für notwendig erachte. Ich werde ihre Unterstützung nicht mehr nötig haben.«

Sie blickten sich einen langen Augenblick an. Löwenstein lächelte, und Dram gab sich die denkbar größte Mühe, erfreut und respektvoll dreinzusehen.

»Also gut«, sagte er nach einer Weile. »Wenn damit die geschäftlichen Dinge erledigt wären…?«

»Langsam, langsam«, erwiderte sie. »Behalte deine Hormone nur schön unter Kontrolle. Wir sind noch nicht fertig. Da ist noch die Angelegenheit dieses verabscheuungswürdigen Verräters Owen Todtsteltzer zu besprechen. Ich habe ihn für gesetzlos erklären lassen, damit er uns zu dem verlorenen Dunkelwüsten-Projektor führt, aber die Dinge scheinen außer Kontrolle zu geraten. Nicht nur, daß er die Position der verlorenen Welt Haden entdeckt hat, zusammen mit einer ganzen Armee aufgerüsteter Krieger, er hat sich außerdem mit diesem legendären Jakob Ohnesorg zusammengetan. Ich hätte

schwören können, daß der Kerl schon lange tot ist, aber anscheinend besitzt er die neun Leben einer Katze. Oder waren es sieben?

Egal. Jedenfalls ist noch nicht alles verloren. Der Todtsteltzer ist – zusammen mit deinem bestens präparierten Spion – auf dem Weg nach Shandrakor, wo er die Informationen finden sollte, die letztendlich zum Dunkelwüsten-Projektor führen.

Wenn alles glattgeht. Wenn wir schon gegen zwei Fremdrassen antreten müssen, die überlegene Technologien besitzen, dann möchte ich den Dunkelwüsten-Projektor in meiner Hand wissen. Und ich würde auch nicht nein zu einer ganzen Armee von Hadenmännern sagen, wenn man sie wirklich unter Kontrolle halten könnte. Jedenfalls kann ich es mir ganz bestimmt nicht leisten, daß der Dunkelwüsten-Projektor und die Armee von Haden jemand anderem in die Hände fallen.

Dein Agent sollte besser nicht vorzeitig geschnappt werden, Dram.«

»Mach dir deswegen keine Gedanken«, erwiderte der Oberste Krieger. »Sie werden ihn niemals verdächtigen. Wenn Owen Todtsteltzer den Dunkelwüsten-Projektor erst gefunden hat, dann erfahre ich es augenblicklich, und meine Leute werden noch vor ihm und seinen Freunden dort sein. Der Todtsteltzer hat bis jetzt eine Menge Glück gehabt, aber die Unerschrocken hat sein Schiff ziemlich zusammengeschossen, als er von Nebelwelt zu entkommen versuchte. Er wird bis nach Shandrakor kommen, nicht weiter. Und dann gehört er uns.

Zusammen mit allem, was er in Erfahrung gebracht hat.«

» Nebelwelt«, sagte die Imperatorin nachdenklich und kräuselte die Lippen. »Dieses verdammte Höllenloch ist mir schon viel zu lange ein Dorn im Auge. Ich will diese Esper haben!

Ich will, daß sie zahm und ergeben sind und sich unter meine Kontrolle stellen! Genau wie all die anderen Rebellen, die dachten, sie könnten mir die Stirn bieten. Und wenn das nicht möglich ist, dann sollen sie alle zur Hölle fahren! Wir werden sie vernichten! Ich werde ihnen nicht die Gelegenheit geben, sich gegen mich zu stellen!«

»Sie werden schon rechtzeitig zur Vernunft kommen«, sagte Dram. »Wenn wir erst den Dunkelwüsten-Projektor in unseren Händen halten…«

Die Imperatorin warf ihm einen wütenden Blick zu. »Wenn wir den Dunkelwüsten-Projektor in unseren Händen haben?

Du träumst wohl, Dram! Werde mir bloß nicht übermütig. Du magst vielleicht mein Gemahl werden, aber niemals der Imperator. Der Dunkelwüsten-Projektor gehört mir allein, und ich mache damit, was ich will, hast du verstanden? Und von diesem Tag an wird niemand je wieder wagen, sich gegen mich zu stellen.«

Die Imperatorin saß auf der Bettkante, und ihre Augen blickten leuchtend in eine ferne Zukunft, die nur sie allein kannte. Dram fragte nicht weiter. Er hatte nicht das Gefühl, daß er es wirklich wissen wollte. Seine eigenen Gedanken wirbelten noch immer um die Pläne Löwensteins und die Schlußfolgerungen, die sich daraus für seine Zukunft ergaben.

Das Problem lautete wie immer: Wieviel wußte die Eiserne Hexe von seinen eigenen Plänen? Wenn nicht gerade ESP-Blocker im Raum waren, reichte sein künstliches ESP völlig aus, um seine Gedanken vor unbefugten Lauschern abzuschirmen. Seine Agenten waren ihm gegenüber loyal, nicht ihr; trotzdem war er sich nie ganz sicher, wieviel sie wußte oder zumindest ahnte. Sie wußte von seiner Doppelrolle als Huth, weil sie ihm geholfen hatte, die Rolle zu erschaffen.

Aber sie hatte keine Ahnung, wie stark er sich im Untergrund engagiert hatte. Es gab zum Beispiel keine Möglichkeit, wie sie hätte herausfinden können, daß er an dem Untergrundtreffen teilgenommen hatte, das ihre Leute mit der Razzia ausheben wollten. Außer natürlich, wenn sie unter seinen Leuten Agenten hatte. Das war nicht völlig unmöglich. Schließlich hatte er auch Agenten unter ihren Leuten. Nur für den Fall.

»Mir ist zu Ohren gekommen, daß du heute eine Razzia angeordnet hast?« fragte er unschuldig. »Ist etwas Interessantes dabei herausgekommen?«

»Die Aktion war ein einziges Debakel«, erwiderte sie.

»Aber versuch nicht, mir zu erzählen, du wüßtest nicht längst alle Einzelheiten. Ich weiß, daß ich mich zuerst mit dir hätte absprechen sollen, doch ich erfuhr erst im allerletzten Augenblick von einem geplanten Treffen der Anführer, und es schien eine zu gute Chance zu sein, um sie einfach so verstreichen zu lassen. Ich hätte es besser wissen müssen. Jemand hat geredet. Sie haben auf uns gewartet. Die meisten meiner Leute sind tot, und wir haben nicht einmal einen einzigen Gefangenen gemacht, um den Einsatz zu rechtfertigen.

An manchen Tagen geht auch einfach alles schief.« Unvermittelt sprang sie auf die Beine. »Genug davon. Sicher kommen noch andere Gelegenheiten. Im Augenblick gibt es etwas viel Wichtigeres, über das wir sprechen müssen. Komm mit mir.«

Löwenstein ging zur gegenüberliegenden Wand, berührte mit einer flüchtigen Handbewegung einen verborgenen Sensor und blieb ungeduldig mit dem Fuß tappend vor der Wand stehen, während sich eine verborgene Tür langsam zur Seite schob. Sie trat in das düstere Licht auf der anderen Seite und bedeutete ihm mit einem Wink, ihr zu folgen. Dram gehorchte und runzelte hinter ihrem Rücken besorgt die Stirn. Seit er sie kannte, war Löwenstein XIV. erst zweimal in seiner Gegenwart hinter dieser Tür gewesen. Es war ihr privater Zugang zur Imperialen Matrix, dem kybernetischen Kollektiv aller Imperialen Lektronen und KIs. Normalerweise machte sich Löwenstein nicht die Mühe, selbst in die Matrix zu steigen.

Dafür hatte sie schließlich ihre Leute. Wenn sie niemandem vertraute, das hier für sie zu erledigen, dann mußte es wirklich eine ziemlich wichtige Sache sein. Sehr interessant. Dram hatte nicht die geringste Ahnung, um was es ging. Und er hätte eigentlich informiert sein sollen.

Er folgte Löwenstein durch einen nackten Korridor mit metallenen Wänden, bis sie schließlich in einer auf Hochglanz polierten stählernen Kammer herauskamen, die mit Rechnersystemen vollgestopft war. Die Lektronen erwachten bei der Annäherung Löwensteins summend zum Leben, und die Deckel der beiden Lebenserhaltungskapseln in der Mitte des Raums glitten surrend zur Seite und enthüllten gepolsterte Liegen. Dram verzog den Mund. Selbst hier verzichtete Löwenstein nicht auf ihren gewohnten Komfort. Er betrachtete die Kapseln zweifelnd. Der Oberste Krieger hatte sich nie wohl gefühlt, wenn er sie benutzen mußte; sie erinnerten ihn zu sehr an Särge. Aber wenn man sein Bewußtsein schon in die Matrix schickte, dann mußte der Körper geschützt und am Leben erhalten werden, während man › abwesend ‹ war. Ganz besonders, wenn es die Körper der Imperatorin und ihres wichtigsten Beraters waren.

Löwenstein war unterdessen bereits in ihre Kapsel geklettert und machte es sich bequem. Ringsum begannen Maschinen zu summen, und überall blinkten Kontrolleuchten auf. Dram begab sich zögernd in die zweite Kapsel. Es war schon eine ganze Weile her, daß er zum letzen Mal persönlich in der Matrix gewesen war, und nach und nach fiel ihm auch der Grund ein.

»Sag mir, daß es einen wichtigen Grund gibt, aus dem wir das hier tun«, sagte er zur Decke über sich. »Ich hasse die Vorstellung, daß ich mich nur wegen eines Einkaufstrips diesem Risiko aussetze.«

»In letzter Zeit sind ziemlich eigenartige Dinge in der Matrix geschehen«, erklärte Löwenstein, und in ihrer Stimme war nicht die kleinste Spur von Fröhlichkeit. »Leute sind in ihr verschwunden und nie wieder zurückgekehrt. Von ihrem Bewußtsein fehlt jede Spur, sowohl in der Matrix als auch in ihren Körpern. Was eigentlich unmöglich sein sollte. Und dann sind Dinge an einem Tag da und am anderen wieder nicht, und niemand weiß, warum. Stimmen sprechen in unbekannten Sprachen, und helle Lichter erstrahlen in Farben, die noch nie jemand gesehen hat. Und als wäre das allein nicht schon genug, halten sich hartnäckige Gerüchte, daß KIs aus der Matrix in menschliche Körper übergewechselt sein sollen, nachdem sie das ursprüngliche Bewußtsein zerstört haben, und daß sie diese fleischlichen Hüllen benutzt haben, um sich unerkannt unter den Menschen zu bewegen.«

»Aus welchem Grund sollten sie das tun?« fragte Dram.

»Sie würden nach dem Leben in der Matrix die Erfahrungen des Menschseins als ziemlich einengend empfinden.«

»Vielleicht Freiheit. Oder Perversion. Oder Sensationslüsternheit, die sich in den Freuden des Fleisches verliert. Wer weiß das schon? Was zählt, ist, daß Leute, denen ich in dieser Beziehung vertraue, zu mir gekommen sind und berichtet haben, daß wir ein Problem mit der Matrix haben. Und wenn sie recht behalten, stecken wir in ernsten Schwierigkeiten. Die Matrix ist die Basis aller Kommunikation im Imperium. Ohne Kommunikation fällt alles auseinander.«

»Moment mal«, unterbrach sie Dram. »Wie war das mit den KIs? Reden wir hier von bestimmten KIs?«

»Mein erster Gedanke war, daß die Abtrünnigen von Shub trotz all unserer Sicherheitsvorkehrungen irgendwie Zugang zur Imperialen Matrix gefunden hatten und daß sie die gestohlenen Körper benutzten, um sich unentdeckt unter uns zu bewegen und uns auszuspionieren. Schließlich sind unsere eigenen KIs so programmiert, daß sie bestimmte Grenzen gar nicht überschreiten können.«

» Shub-Agenten unter uns?« Dram runzelte die Stirn. Sein Verstand raste. »Wir könnten sie mit Hilfe unserer Esper entdecken, aber sie benutzen vielleicht ESP-Blocker. Oder irgendein hochtechnologisches Äquivalent. Shub war uns technisch immer mindestens ein halbes Jahrhundert voraus. Wenn du recht behältst, dann stecken wir wirklich in ernsten Schwierigkeiten.«

»Und wir können noch nicht einmal eine Warnung herausgeben, ohne wenigstens Hoffnung auf eine Lösung anzubieten; eine Massenpanik wäre die Folge, und die Matrix würde augenblicklich zusammenbrechen. Vielleicht würden wir die Abtrünnigen von Shub auch aufschrecken, wenn wir etwas Unüberlegtes unternehmen. Ich habe bereits Spezialisten auf eine technologische Lösung des Problems angesetzt, selbstverständlich unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen; doch niemand kann sagen, wie lange das dauert. Und wir können nicht warten. Wir haben Hinweise darauf, daß bereits jemand aus der Führungsschicht übernommen wurde. Jemand von wirklich weit oben.«

»Nein!« sagte Dram. »Ich kann das einfach nicht glauben.

Keine Maschine der Welt könnte auf Dauer als Mensch durchgehen. Außer… Shub wäre uns inzwischen wirklich so weit voraus.«

»Irgend jemand hat uns bereits geschlagen, als wir die Schläfer von Grendel holen wollten. Irgend jemand mußte wissen, daß wir planten, die Schläfer zu Stoßtruppen auszubilden, und er ist uns zuvorgekommen. Irgend jemand, der sehr mächtig sein muß. Wenn in der Matrix eigenartige Dinge geschehen, dann muß ich das wissen. Und das bedeutet, ich muß mich selbst davon überzeugen. Und ich will verdammt sein, wenn ich allein nachsehe. Deswegen habe ich dich gerufen.«

»Na, dann danke ich dir recht herzlich«, erwiderte Dram säuerlich.

Löwenstein lachte nicht. »Sei wachsam, Dram. Du mußt unbedingt sicherstellen, daß ich es wirklich bin, die zurückkehrt.«

Dram dachte noch immer über eine Antwort nach, als er hörte, wie sich der Deckel von Löwensteins Kapsel schloß. Er schluckte schwer, starrte zu der schweigsamen Decke hinauf und betätigte den Schalter, der den Deckel seiner eigenen Kapsel schloß. Während der Verschluß einrastete, kam ihm der Gedanke, daß das Imperium sich wegen einer Beerdigung jedenfalls keine Gedanken machen mußte, wenn etwas schiefging; sie konnten ihn einfach mitsamt der Kapsel so begraben, wie er war. Der Gedanke tröstete ihn nicht im geringsten. Dann herrschte für einen Augenblick finsterste Dunkelheit, bevor sein Bewußtsein in die Matrix schoß.

Drams Verstand sprang über das Komm-Implantat nach draußen in die Imperiale Matrix wie ein Lachs, der die Stromschnellen eines Flusses überwand, wie ein Vogel, der durch eine dunkle Schlucht jagt, voller Furcht und Erwartung. Auf eine gewisse Art und Weise, über die er gar nicht gerne nachdachte, begleitete den Eintritt in die Matrix immer ein eigenartiges Gefühl, als würde er nach Hause kommen. Als würde die endlose, schimmernde Ebene, über die er nun blickte, sein Unterbewußtsein an den Ort erinnern, an dem er vor seiner Geburt gewesen war. Die Matrix erstreckte sich in alle Richtungen, so weit das Auge reichte; eine massive Sphäre des Seins, und er, unendlich klein, genau in ihrer Mitte. Über und unter ihm und auf allen Seiten befanden sich fremdartige Formen und Fragmente; Kreaturen, die scheinbar ohne jeden Einfluß von Schwerkraft oder rationalem Verstand umherwirbelten. Dram konzentrierte sich und richtete seinen Willen nach außen. Einen Augenblick später fand er sich auf einem grasbewachsenen Hügel wieder. Er trug eine vollständige Kampfrüstung mit Schwert und Disruptor an der Hüfte. Anscheinend dachte sein Unterbewußtsein, daß dieser Schutz notwendig war, und Dram hatte keine Lust, darüber zu streiten. Es gab Wesen in der Matrix, die sich in praktisch jeder nur gewünschten Form manifestieren konnten. Das hing von der Macht ab, über die man verfügte. Dram war nur ein Mensch und besaß kaum Aufrüstungen, und das band ihn an seine normale Gestalt und Größe.

Er blickte sich ohne besondere Eile in seiner neuen Umgebung um und ließ die Fremdartigkeit von allem auf sich einwirken, bis er sich daran gewöhnt hatte. Was er sah, war nicht real; es war lediglich sein Verstand, der die empfangenen Eindrücke in dieser Weise interpretierte. Die Matrix war der Versammlungsort des Imperiums für Geschäfte und Informationen, und hier besaßen Symbole und Sinnbilder Stärke. Unbewußte, geheime Bedeutungen tauchten unvermittelt an die Oberfläche eines ungeübten Verstandes wie Wale aus großen, geheimnisvollen Tiefen. Die größten Formen bildeten die Datenblöcke: Ansammlungen von Informationen, denen man Gestalt und Kontur gegeben hatte, damit sie sich vor Räubern verteidigen konnten, die allenthalben die Matrix durchstreiften. Sie regten sich kaum, solange man sie in Ruhe ließ und nicht aufscheuchte. Dann waren da die KIs: große, strahlende Sonnen aus purer, sengender Energie. Kam man ihnen zu nahe, verbrannte man sich an ihnen die Flügel wie einst Ikarus an der Sonne; wich man nicht zurück, verbrannten sie einem das Bewußtsein wie trockenen Zunder. Der Mensch war nicht geschaffen, das Antlitz der Medusa zu ertragen.

Zwischen den Datenbergen bewegten sich schwerfällig gewaltige Kreaturen; massive Dinosaurier mit schimmernden Zähnen und Klauen, deren stampfende Schritte den Boden erzittern ließen. Besitztümer großer Konzerne: groß, wild, tödlich. Kleinere Firmen schossen zwischen ihren Beinen hin und her, blitzschnell und stromlinienförmig, stets auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit und einem Zeichen von Schwäche. Sie waren zu schlau, um direkt anzugreifen. Einen großen Konzern zu Fall zu bringen war ein gefährliches, kompliziertes Geschäft, das man besser wirklichen Bedrohungen überließ, wie zum Beispiel den Kyberratten. Man konnte mehr als nur Daten in der Matrix verlieren; wenn ein menschliches Bewußtsein auf der glänzenden Ebene zerstört wurde, dann überlebte der Körper das in der realen Welt auch nicht lange.

Dram beobachtete den leuchtenden Blitz einer Kyberratte, die um eine gewaltige, mit Dornen besetzte glitzernde Kugel herumwieselte und nach einem Weg suchte, ihre Verteidigungseinrichtungen zu durchbrechen. In einiger Entfernung prallten zwei gewaltige Dinosaurier gegeneinander und rissen sich mit blutigen Klauen und Mäulern gegenseitig tiefe Wunden. Die Matrix hatte dem Begriff der ›feindlichen Übernahme‹ eine völlig neue Bedeutung verliehen. Kleinere Firmen scharten sich um die Füße der beiden Giganten und hofften auf herabfallende Brocken.

Dram drehte sich langsam um seine eigene Achse und suchte nach Löwenstein. Er mußte sich bewußt anstrengen, um seine Konzentration nicht zu verlieren. In der Matrix gab es Dinge, die weder Gestalt noch Form besaßen, aber sie waren trotzdem da. Sie bewegten sich zwischen den Datenspeichern und den anwesenden Besuchern wie Geister in einem Spukschloß. Gerüchte flammten wie Feuerwerke, und neue Trends raschelten durch Unternehmen wie der Wind durch trockenes Laub. Ein Büschel aus purpurnen Bändern wand sich um Drams Schulter und flüsterte beschwörend in sein Ohr. Er schüttelte es ärgerlich ab. Selbst in der Matrix war man vor Werbung nicht sicher. Sein Blick streifte über die ausgeweideten Hüllen toter Unternehmen, die wertlosen Scherben, die zurückgeblieben waren, nachdem man die einzelnen Teile gewinnbringend verkauft hatte, und gelegentlich auch über die leere Struktur einer geplünderten Datenbank. In der Matrix gab es überall Räuber. Dram runzelte die Stirn. Er hatte ein gewisses Ausmaß an Zerstörung und Verwüstung erwartet, aber das hier überstieg seine Vorstellungen bei weitem.

Die Wertpapierbörse schien einen ziemlich schlechten Tag zu haben.

Dann war Löwenstein plötzlich neben ihm, und er verbeugte sich höflich.

Die Imperatorin war ein hell leuchtender Stern; eine silbern gepanzerte Gestalt, zweimal so groß wie er selbst, mit strahlenden Augen und stählernen Ranken, die sich wie dorniger Efeu um ihren Leib wanden. Bösartig aussehende Stacheln ragten aus ihrem Rücken und ihren Fäusten: Aufrüstungen, die ihr Körper in der realen Welt besaß. Löwensteins Selbstbild war schon immer sehr positiv gewesen. Und aggressiv. Er hüstelte höflich, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Blasen stiegen aus seinem Mund und schwebten träge vor ihr glänzendes Metallgesicht. Sie blickte zu ihm hinunter und legte den Kopf leicht zur Seite wie ein Vogel, der einen Regenwurm beobachtet.

»Nach was genau soll ich eigentlich Ausschau halten?« fragte er.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das weiß«, erwiderte sie mit einer Stimme wie eine Messingglocke. »Irgend etwas, das nicht normal ist.«

Dram hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber er verkniff sich die Antwort und zuckte statt dessen unbehaglich die Schultern. »Sieht eigentlich alles ganz normal aus, oder nicht? Alltag in der Matrix…«

Aber es war kein Alltag. Eine blaß leuchtende Struktur war bereits seit einiger Zeit träge in ihre Richtung geglitten, als sie plötzlich auseinanderbrach, und ein großes, widerliches und tödliches Etwas sprang sie an. Drams Schwert war beinahe augenblicklich in seiner Hand, doch die Kreatur schleuderte ihn lässig zur Seite, ohne auch nur langsamer zu werden.

Löwenstein erwartete den Angriff in aller Seelenruhe. Noch mehr bösartige Stacheln wuchsen aus ihren Armen, ihrer Brust und ihrem Rücken. Die Kreatur überragte sie trotz ihrer eigenen gewaltigen Größe, und Löwenstein mußte den Kopf nach hinten neigen. Aus ihren Augen und ihrem Mund strömte gleißende Energie, die das Gesicht des Wesens augenblicklich hinter einem wütenden Flammenmeer verschwinden ließ.

Die Kreatur schrie auf und wich zurück. Aus Löwensteins Rüstung schossen peitschende Tentakel aus Stahl und fesselten sie, hielten sie gepackt und ließen sie nicht entkommen.

Die Aufrüstung der Imperatorin war nicht nur in der normalen Welt von überlegener Macht. Löwenstein hielt die Kreatur mit den Tentakeln umschlungen, während sie sie mit bloßen Händen zerriß.

Dram hatte sich wieder auf die Beine gerappelt und beobachtete das Geschehen aus respektvoller Entfernung. Irgend jemand mußte eine Menge an Überlegung und Geld in den Angriff gesteckt haben, aber wie üblich hatte man Löwenstein wieder einmal unterschätzt. Sie riß der Kreatur den versengten Kopf von den Schultern und hielt ihn vor ihre blitzenden Augen. Er wimmerte und wollte auseinanderfallen, doch sie verhinderte es allein durch ihren Willen.

»Wer hat dich geschickt? Wer hat dich geschaffen? Wer ist dein Meister? Rede!«

Ihre Worte aktivierten ein verstecktes Programm in der Kreatur, das alle Daten unwiederbringlich zerhackte. Die Imperatorin fluchte laut und ließ den Kopf fallen. Er löste sich auf in Milliarden flüchtiger Bytes, die knisternd und funkensprühend zu nichts verbrannten. Dram trat vorsichtig zu Löwenstein und blieb neben ihr stehen.

»Was meinst du, wer sie geschickt hat? Shub? «

»Eher einer ihrer Agenten. Kein Mensch könnte sich gegen ein Wesen von Shub zur Wehr setzen. Jedenfalls werden wir hier keine Antworten finden, Dram. Es war dumm, das Gegenteil anzunehmen. Mein Fehler. Die Matrix ist viel zu groß und mein Bewußtsein viel zu limitiert. Hier könnte sich jeder und alles verstecken, und wir würden erst davon erfahren, wenn es aus den Schatten hervorbricht, um nach uns zu schnappen. Ich benötige jemanden, der sich hier auskennt.

Vielleicht eine Kyberratte. Meinst du, du könntest mir eine Kyberratte beschaffen, Dram?«

»Kein Problem. Aber wahrscheinlich ist es gar nicht leicht, eine zur Mitarbeit zu überreden.«

»Bring sie zu mir«, erwiderte Löwenstein. »Ich kann sehr überzeugend sein, wenn ich mir Mühe gebe.« Sie ließ den Blick über die Matrix schweifen, und Dram überlegte, wie weit ihre aufgerüsteten Augen wohl sehen mochten. Sie schwieg eine ganze Weile, und als sie schließlich doch wieder sprach, klang ihre Stimme ruhig und besorgt. »Sieh dich um, Dram. Dieser Ort ist größer als Golgatha. Wir haben ihn geschaffen, aber wir verstehen ihn nicht länger. Die Lektronen und die KIs haben ihn für ihre eigenen Bedürfnisse und Nöte geformt, und wir können höchstens Beobachter sein in ihrer Welt. Sie steht nicht länger unter unserer Kontrolle – wenn sie das überhaupt je tat. Trotzdem werde ich einen Weg finden, Dram. Keine Maschine wird je mein Imperium regieren!«

Dram nickte respektvoll, und wenn er seine eigenen Gedanken und Pläne hegte, dann schwieg er. Gedanken konnten in der Matrix verdammt weit reisen.

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