KAPITEL ACHT IM UNTERGRUND

Das schwierige mit Untergrundbewegungen ist, daß sie ihren Namen meist zu wörtlich nehmen, dachte Valentin bissig. Er kämpfte sich durch den engen Wartungstunnel voran, die Schultern nach vorn gebeugt und den Kopf eingezogen, um nicht ständig gegen die niedrige Decke zu stoßen. Der Tunnel erstreckte sich endlos vor ihm, eng und düster und uneingeschränkt deprimierend. Schwach brennende Lampen hingen in regelmäßigen Abständen an der Wand. Sie verbreiteten eben genug Licht, um ihn mit schmerzenden Augen in die vor ihm liegende Dunkelheit schielen zu lassen. Ein unentwirrbares Durcheinander von Kabeln erstreckte sich an den Wänden und der Decke, in farbigen Kodierungen, die wahrscheinlich einen Sinn ergaben, wenn man sich damit auskannte. Für Valentin waren es nur schrille, bunte Farben, weiter nichts. Einige Kabel waren durchgescheuert und hingen lose herab wie Ranken, und er mußte sich seinen Weg bahnen, indem er die Enden mit dem Arm zur Seite schlug. Überall lag Dreck und Staub. Offensichtlich war der Tunnel schon lange nicht mehr benutzt worden, aber Valentin hatte vollstes Verständnis dafür. Die Aussicht war in höchstem Maße monoton, und der Geruch war entsetzlich.

Er befand sich tief in den Eingeweiden der Welt, in ihrer verborgenen Unterseite: dem Labyrinth aus Abwasserkanälen und Wartungstunneln, das die verschiedenen, selbsterhaltenden Welten miteinander verband, die im Innern von Golgatha existierten. Obwohl das komplizierte Labyrinth für die Überlebensfähigkeit der inneren Welten unabdingbar war, dachten nur wenige Leute je darüber nach. Nur Wartungspersonal war hier unten erlaubt; auf der anderen Seite war Valentin daran gewöhnt, sich an Orten aufzuhalten, zu denen er eigentlich keinen Zutritt hatte. Seine Lippen kräuselten sich angeekelt, als der Schlamm, durch den er bereits seit einiger Zeit watete, stetig tiefer wurde. Mittlerweile reichte er schon bis an die Knöchel seiner modischen, engen Lederstiefel, und er tat dem teuren Schuhwerk gewiß alles andere als gut. Valentin hatte keine Ahnung, aus was der Schlamm bestand; jedoch verspürte er nicht de geringste Lust, seine Zusammensetzung näher zu analysieren. Er hatte das starke Gefühl, daß es besser war, wenn er es nicht wußte. Das Zeug sah verdächtig organisch aus, und es war sicher besser, so wenig wie möglich darin herumzurühren. Valentin stapfte durch den Tunnel, eine Hand stets in der Nähe des Kolbens seiner Pistole, und versuchte ohne rechten Erfolg, die schmerzenden Muskeln seines krummen Rückens zu entspannen.

Die empfindlicheren Bestandteile seiner Garderobe hatte er abgelegt und gegen robustere, unauffälligere Kleidungsstücke getauscht, bevor er sich auf den Weg nach hier unten begeben hatte. Er war jetzt in einen langen, dunklen Umhang gehüllt, hatte das schwere Make-up von seinem Gesicht entfernt und sein langes schwarzes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Alles zusammengenommen, hätte ihn kaum jemand seiner flüchtigeren Freunde wiedererkannt – was ihm hervorragend in den Kram paßte. Sie würden kein Verständnis dafür aufbringen, daß Valentin Wolf, der hochgeborene Aristokrat, die Treffen der Klone und Esper im Untergrund besuchte.

Wie sollten sie auch.

Es war schon eine Schande, daß er nach dem Debakel mit der Hochzeit so hastig hatte aufbrechen müssen. Valentin hatte eine langweilige, lieblose Veranstaltung erwartet, gefolgt von langweiligem Essen und noch langweiligerem Tanz, doch schließlich hatte sich der Nachmittag als äußerst abwechslungsreich entpuppt. Er wäre zu gern noch eine Zeitlang geblieben und hätte hier und da ein paar exquisite Bonmots zum besten gegeben – selbstverständlich nur dort, wo sie den größten Schaden anrichteten, das war er sich und seinem Ruf schließlich schuldig –, aber dann war die Nachricht aus dem Untergrund auf dem üblichen Weg eingetroffen.

Und wenn der Untergrund rief, dann antwortete Valentin.

Es gefiel ihm nicht sonderlich, sich von diesem niederen Pöbel herbeizitieren zu lassen, aber solange sie hatten, was er wollte, solange würde er bei ihrem Spiel mitspielen. Hin und wieder konnte es sogar ganz amüsant sein. Obwohl nicht gerade in diesem Augenblick, wie er sich leicht säuerlich eingestand.

Plötzlich blieb er stehen und spähte angestrengt in die Finsternis vor sich. Die schwache Lampe an der Decke warf einen blauweißen Lichtschein, aber er reichte nur wenige Meter weit nach vorn und hinten, und zwischen den weitverstreuten Lampen herrschte rabenschwarze Nacht, die selbst seine chemisch verstärkten Augen nicht zu durchdringen vermochten.

Er lauschte angestrengt und vermied jede Bewegung – nichts rührte sich. Valentin runzelte nachdenklich die Stirn. Er hätte schwören können, daß er vor sich ein Geräusch wahrgenommen hatte. Aber Geräusche pflanzten sich in den engen Wartungstunneln recht eigenartig fort, und nur Gott allein wußte, welche kleinen, widerlichen Lebensformen sich hier unten häuslich eingerichtet hatten.

Valtentin war nicht weit von den Hauptabwässerkanälen entfernt, jedenfalls nach dem Plan zu urteilen, den er sich eingeprägt hatte. Man erzählte sich alle möglichen Geschichten über die fremdartigen und böswilligen Kreaturen, die in den Abwässerkanälen gediehen. Die Gerüchte behaupteten sogar, daß die Arbeiter hier unten Gefahrenzuschläge und Prämien für die Köpfe von allem erhielten, was sie mit nach oben brachten. Nicht, daß Valentin sich um derartige Märchen geschert hätte. Sein Kopf ruckte herum. Da war das Geräusch schon wieder, beinahe unhörbar, aber es bestand kein Zweifel.

Und dann wieder nur Stille und Finsternis. Er konzentrierte sich, und tief im Innern seines Körpers entleerten Drogenspeicher ihren Inhalt in seinen Kreislauf. Sein Atem beschleunigte und vertiefte sich, als der Stoffwechsel intensiver wurde. Valentin war jetzt schneller, stärker, beweglicher als vorher und mehr als bereit, sich dem zu stellen, was dort vor ihm lauerte.

Er grinste breit. Mochten sie nur kommen. Mochten sie ruhig alle kommen. Eine mahnende Stimme in seinem Hinterkopf meldete sich mit der Warnung, daß er seine Vorräte nicht grundlos verbrauchen sollte. Er hatte zwar Schritte eingeleitet, die schließlich zu einer neuen Quelle führen würden, um den armen toten Georgios zu ersetzen, aber es wäre wirklich unklug, etwas aufzubrauchen, das er nicht einfach wiederbeschaffen konnte, bevor die neuen Kanäle etabliert waren und sich als zuverlässig erwiesen hatten. Valentin beschloß, die mahnende Stimme zu ignorieren. Sie klang einfach zu normal und vernünftig, und Valentin Wolf war nicht zu dem Valentin Wolf geworden, weil er sich normal und vernünftig verhalten hatte.

Plötzlich flammte in der Dunkelheit vor ihm ein Licht auf, scharf und grell nach dem trüben Blauweiß der Deckenbeleuchtung, und platschende Schritte näherten sich durch den Schlamm, der den Boden des Tunnels bedeckte. Valentins Grinsen wurde noch breiter, als er die Disruptorpistole zog.

Eine dunkle Gestalt tauchte im Tunnel auf. Ihre Umrisse warfen Schatten an die Wände. Die Gestalt blieb ruhig und selbstsicher in respektvoller Entfernung zu Valentin stehen, und ein Ball von leuchtend weißem Licht tanzte auf ihrer Schulter.

Ihre Umrisse schienen menschenähnlich zu sein, aber Valentin war nicht in der Stimmung, ein Risiko einzugehen. Genaugenommen war ihm sogar eher danach, zuerst zu schießen und dann zu fragen, schon allein aus Prinzip. Und dann begann die Gestalt unvermittelt zu reden. Ihre Stimme besaß den ruhigen, tonlosen Klang einer Maschine, wahrscheinlich durch einen Lektron getarnt, um eine Identifikation unmöglich zu machen.

»Ich wollte Euch nicht erschrecken, guter Mann, aber Ihr werdet sicher verstehen, daß es sich auszahlt, wenn man in unserer Position vorsichtig ist, wenn nicht gar paranoid. Erlaubt mir, daß ich Euch den ersten Teil des Losungswortes nenne: Neue.«

»Hoffnung«, erwiderte Valentin. Er entspannte sich ein wenig, ohne die Waffe zu senken. »Eine ziemlich offensichtliche Losung, würde ich meinen. Aber niemand hat mich um meine Meinung gefragt. Also: Darf ich erfahren, wer Ihr seid?«

Die Gestalt näherte sich langsam, damit Valentin sich nicht bedroht fühlen würde. Schließlich blieb sie vor ihm stehen, tief gebückt unter der niedrigen Decke des Tunnels, und Valentins Interesse wuchs, als er erkannte, daß jegliches verräterische Merkmal unter dem weiten Umhang verborgen war.

Und was noch interessanter schien: Die Kapuze des Umhangs war leer! Kein Gesicht, kein Kopf, überhaupt nichts! Der Lichtkegel hüpfte fröhlich auf der Schulter der Gestalt und blendete Valentin fast, so daß er seine visuellen Sinne dämpfen mußte.

»Ich bin Huth«, sagte die Gestalt. »Koordinator zwischen den Untergrundbewegungen der Klone und Esper und der Kyberratten. Und wer seid Ihr, werter Herr?«

»Valentin Wolf, Schirmherr und Berater der Untergrundbewegung. Ich habe von Euch gehört, Huth. Ihr seid der Schatten im Hintergrund, sozusagen die graue Eminenz hinter dem Thron. Wir Patrone müssen alle unsere Identität enthüllen, weil die Esper darauf bestehen, nur Euch allein erlaubt man Anonymität. Wißt Ihr, ich frage mich schon lange, aus welchem Grund?«

»Weil ich für sie wertvoll bin«, entgegnete Huth. »Und solange sie mich brauchen, geben sie meinem Wunsch nach. Ich habe schon von Euch gehört, Valentin Wolf, aber ich schätze, das hat jeder. Ihr habt eine ganz schöne Summe in den Untergrund gepumpt, alles was recht ist, aber laßt mich sagen, daß ich den Grund nicht erkennen kann. Ihr seid immerhin der Erbe des Wolf-Clans, und eines Tages fällt Euch alles in den Schoß. Was um alles in der Welt fehlt Euch, das Ihr nur im Untergrund finden könnt?«

»Tut mir wirklich leid«, sagte Valentin. »Aber ich verrate bei der ersten Begegnung niemals all meine kleinen Geheimnisse.«

»Wie Ihr wünscht, mein Herr. Ich frage mich, was der Untergrund diesmal wieder will, daß so bedeutende Geldgeber wie Ihr und ich so kurzfristig herbeigerufen werden?«

»Es sollte wirklich besser dringend sein«, meinte Valentin.

»Ich fühle mich ziemlich nackt ohne meine übliche Maskerade. Wollen wir gehen?«

»Selbstverständlich. Es ist nicht mehr allzu weit. Nach Euch.«

»O nein. Nach Euch.«

Die Kopfbedeckung des Umhangs bewegte sich ruckartig, was ebensogut ein zustimmendes Nicken wie eine amüsierte Regung darstellen mochte, und Huth wandte sich um und ging den Weg durch einen Nebentunnel voran, in dem es noch mehr stank als bisher – wenn das überhaupt möglich war. Valentin folgte ihm dichtauf, die Waffe stets schußbereit in der Hand. Er neutralisierte den größten Teil der Drogen in seinem Kreislauf und hielt ein paar in Reserve – nur für den Fall.

Normalerweise wurden die Geldgeber immer nur einzeln vorgeladen, damit niemand imstande war, einen der anderen zu identifizieren, falls er geschnappt wurde. Es mußte etwas ziemlich Wichtiges in der Luft liegen, um die Anwesenheit von zweien gleichzeitig zu rechtfertigen. Valentin musterte nachdenklich die Rückseite des rätselhaften Huth. Das fehlende Gesicht war ein interessantes Detail; der Untergrund war schon beinahe fanatisch, wenn es darum ging, genau zu wissen, mit wem er sich einließ. Sicher, es konnte eine holographische Maske sein, aber nur ein ESP-Blocker könnte Huths Gedanken vor dem sondierenden Verstand eines Espers schützen. Und ESP-Blocker würde der Untergrund unter gar keinen Umständen tolerieren. Huth war einer der Leute, die den Untergrund mit finanziellen Mitteln ausstatteten. Er besaß hervorragende Beziehungen in den höchsten Kreisen und stand sowohl mit den Espern als auch mit den Klonen in Kontakt – und das war bemerkenswert. Sie schenkten einem nicht so leicht ihr Vertrauen, und es gab nur ganz wenige, die sogar das Vertrauen beider Gruppen besaßen.

Wie um den Gedanken zu unterstreichen, blieben Huth und Valentin plötzlich stehen, als sich vor ihnen die erste deutliche Warnung zeigte. Ein Toter hing wie eine zerbrochene Puppe von der Decke herab. Seine Arme und Beine waren zerschmettert, und überall ragten weiße Knochensplitter aus dem gequälten, blutigen Fleisch. Der Leichnam hob langsam den Kopf und blickte Huth und Valentin aus leeren Augenhöhlen an. Blut lief in Strömen an seinen farblosen Wangen hinab wie dicke, purpurne Tränen. Er öffnete den Mund, und Maden krochen über sein Kinn.

»Geht zurück«, sagte der Leichnam schleppend, als hätte er bereits vergessen, wie man spricht. »Kehrt um, zögert nicht!«

Valentin wechselte einen Blick mit der leeren Kapuze von Huth. »Seid ehrlich: Würdet Ihr Euch davon abschrecken lassen, wenn Ihr eine Eliteeinheit der Imperatorin wärt?«

»Nicht wirklich«, erwiderte Huth. »Andererseits habe ich es auch schon oft genug gesehen. Sie bestehen darauf, diese Schau abzuziehen, selbst wenn sie wissen, daß ich es bin.

Manchmal glaube ich, sie machen es nur, um in Übung zu bleiben.«

Der tote Mann verzog das halb verweste Gesicht. »Kehrt um. Ich meine es ernst. Das ist kein Witz.«

»Ach, halt endlich die Klappe«, sagte Valentin. »Ich hab’ schon in meinen Tagträumen ekelhaftere Dinge als dich gesehen.«

»Wahrscheinlich hat er das wirklich«, erklärte Huth dem Leichnam. »Er ist nämlich Valentin Wolf. Der Valentin Wolf.«

Der tote Mann verschwand von einem Augenblick zum andern. Der Gestank blieb der gleiche wie vorher. Natürlich. Die leere Kapuze von Huth drehte sich Valentin zu. »Sie haben von Euch gehört.«

Valentin grinste. »Jeder hat von mir gehört.« Er unterbrach sich. Dann: »Hört Ihr nichts?«

Ein schwaches Brüllen wurde irgendwo hinter ihnen lauter und lauter. Der Tunnel begann unter ihren Füßen zu vibrieren.

Wellen begannen sich auf dem dunklen Schlamm abzuzeichnen, der den Boden bedeckte. Der Luftdruck stieg merklich an, als würde ein Zug durch den Tunnel heranrasen und die Luft vor sich aufstauen. Das Brüllen wurde ohrenbetäubend, und der Boden schüttelte sich förmlich. Der Druck der verdichteten Luft lag schwer auf Valentins Gesicht. Huth stand regungslos dort, als habe ihn der Schreck erstarren lassen.

Dann brach donnernd eine schwere Wand von Wasser aus der Dunkelheit hervor und begrub alles unter sich wie ein außer Kontrolle geratener Zug.

»Sie haben die verdammten Abwasserkanäle geöffnet!« schrie Valentin. »Haltet Euch irgendwo fest, oder Ihr werdet weggespült!«

Die Flutwelle schoß heran, füllte den Tunnel, und dann war sie vorüber. Kein Wasser, kein Krach, nichts. Die Luft war still und ruhig und stank wie zuvor. Valentin stieß langsam den Atem aus.

»Ihr Bastarde!«

Hab’ ich dich, krächzte eine Stimme in seinem Kopf. Ich kann nicht nur Leichname vorgaukeln, weißt du?

Huth schüttelte den Kopf und kicherte. »Wir haben es selbst herausgefordert, oder?«

Ich hab’ nur ein wenig geübt. Ich krieg’ sonst nie was zu tun hier unten. Seit Ewigkeiten war keiner mehr hier. Ich weiß überhaupt nicht, warum wir noch immer Wachen aufstellen.

Geht einfach geradeaus und dann die zweite Abzweigung links. Dann wieder geradeaus, und ihr kommt zum Treffpunkt.

Man erwartet euch. Und sagt ihnen, daß ich einen Drink gebrauchen könnte.

Valentin brannten eine Menge Fragen auf der Zunge, aber er schwieg. Schließlich hatte auch er seinen Stolz. Er blickte zu Huth. »Das Personal ist auch nicht mehr das, was es einmal war.«

»Es zahlt sich nie aus, einen Esper zu unterschätzen, werter Valentin«, erwiderte Huth und setzte sich wieder in Bewegung. »Sie wissen einfach alles, was man denkt.«

»Oh, das wage ich zu bezweifeln«, widersprach Valentin und stapfte durch den Schlamm hinter ihm her. »Wer in meinen Verstand eindringt, nach all dem, was ich damit angestellt habe, tut das auf eigene Gefahr.«

»Gutes Argument«, pflichtete Huth ihm bei. »Aber wie kommt es eigentlich, daß jemand wie Ihr sich mit der Untergrundbewegung einläßt?«

Valentin lächelte. »Meine Experimente mit zahlreichen unüblichen Substanzen führten mich zu Gerüchten über eine neue, noch experimentelle Droge, die aus jedem Menschen einen Esper machen kann, auch wenn es in seiner Familie überhaupt keine Hinweise auf PSI-Kräfte gibt. Wenn es eine derartige Droge gibt, dann muß ich sie einfach haben. ESP ist eine der wenigen Erfahrungen, die mir gänzlich unbekannt sind. Allein der Gedanke an etwas so Neues und Vitales läßt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich muß sie haben!

Meine Nachforschungen brachten mich schließlich zu den Elfen und in den Untergrund, und zum ersten Mal erkannte ich, welch eine potentielle Macht sie repräsentieren. Mit ihrer Hilfe wird es mir möglich sein, in Positionen aufzusteigen, von denen ich sonst nur träumen könnte. Und eines Tages werden die Esper sich ihrer Fesseln entledigen, Huth. Es ist unausweichlich. Sie bilden die Welle, die in die Zukunft führt; sie sind der nächste Schritt in der Evolution des Menschen.

Und ich beabsichtige, auf dieser Welle zu reiten, so weit und hoch ich nur kann. Wer weiß, vielleicht trägt sie mich sogar bis auf den Eisernen Thron selbst? Das wär’ doch mal was!«

Er schwieg nachdenklich. »Natürlich müßte ich vorher meinen alten Herrn und den Rest der verdammten Familie umbringen, aber was soll’s? Ich kann’s eh kaum erwarten.«

Plötzlich unterbrach Valentin seinen überraschenden Redefluß. Ihm kam zu Bewußtsein, daß er plapperte wie ein Kind, und zu allem Überfluß auch noch zu jemandem, den er überhaupt nicht kannte. Er wußte nicht, warum. Vielleicht hatte ihn die Flutwelle ja doch mehr aus der Fassung gebracht, als er sich eingestehen wollte? Oder auch nicht. Jedenfalls würde er von jetzt an seine Worte sorgfältig abwägen. Der Verdacht keimte in ihm auf, daß er nicht ganz freiwillig so redselig gewesen war. Er hatte immer gewußt, daß ein Risiko darin bestand, sich mit Espern abzugeben, aber er war auch der Meinung gewesen, daß die mentalen Übungen, die er durch das fortwährende Ändern der Chemie seines Gehirns durchlaufen hatte, ihm einen gewissen Schutz vor der Neugier von Espern verliehen hätten. Seine geheimsten Wünsche und Hoffnungen vor einem vollkommen Fremden auszubreiten sah ihm gar nicht ähnlich. Valentin zog seine silberne Pillendose hervor, nahm ein Pflaster heraus und rieb es über seine Halsschlagader.

»Nur eine kleine Kleinigkeit, um wach zu bleiben«, sagte er unbekümmert. Valentin grinste breit, als die Wirkung schlagartig einsetzte, und atmete tief durch. Seine Gedanken schienen bereits klarer zu werden, und sein Verstand arbeitete jetzt schneller und schärfer. »Erzählt mir von Euch, Huth: Was brachte Euch dazu, unserer kleinen Welt aus Verrat und Täuschung beizutreten?«

»Ich gehöre den Sicherheitsstreitkräften an, deren Aufgabe das Aufspüren und Töten der Kyberratten ist«, begann Huth.

»Aber je mehr ich über sie erfuhr, desto mehr verstand ich, was sie taten, und schließlich beneidete ich sie sogar um ihr hartnäckiges Streben nach Wahrheit und Freiheit. Die Eiserne Hexe ist nur an der Macht, weil ihre Leute alle Informationen kontrollieren und bestimmen, wieviel davon uns zu wissen erlaubt ist. Man kann nicht gegen etwas protestieren, von dem man nichts weiß. Und das meiste von dem, was wir wissen, beruht auf Lüge und Verdrehung. Die Kyberratten zeigten mir die Welt, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, und danach konnte ich meine Augen einfach nicht mehr verschließen.

Meine enger werdenden Verbindungen zu den Kyberratten führten mich schließlich in den Untergrund, und je mehr ich über ihren Kampf erfuhr, desto mehr sympathisierte ich mit ihnen. Es dauerte ziemlich lange, bis ich all die verschiedenen Anführer von meiner Aufrichtigkeit überzeugt hatte, aber meine Verbindungen zu den Sicherheitskräften der Eisernen Hexe machten mich schließlich zu einem unschätzbaren Verbündeten. Ich habe meinen Wert für den Untergrund bewiesen. Heute arbeitet der Mann, der einst Rebellen verfolgte, mit ihnen zusammen und beschützt sie. So ist das Leben. Ein wenig Selbstironie kann nicht schaden, jedenfalls ist das meine Devise. Euer Interesse an der Esper-Droge ist berechtigt, Valentin Wolf. Ich darf Euch versichern, daß sie sehr wirkungsvoll ist.«

»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Valentin.

»Weil ich sie ausprobiert habe«, erwiderte Huth. »Ich meldete mich freiwillig. Nein, eigentlich bestand ich sogar darauf, sie zu testen. Ich sah vieles, das ich noch nie zuvor gesehen hatte, und ich wollte noch mehr. Die Ergebnisse waren… höchst interessant. Schwache Telepathie, projektive Suggestion ähnlich der, die wir eben im Tunnel erlebt haben. Ich kann einem natürlichen Esper nicht das Wasser reichen, sicher, aber ich sehe jetzt klarer und deutlicher als je zuvor. Theoretisch sollten stärkere Dosen der Droge noch stärkere Effekte hervorbringen, aber unglücklicherweise gab es bei anderen, die die Droge testeten, starke und unerwünschte Nebenwirkungen.«

Valentin lächelte gleichmütig. »Das gehört einfach dazu, wenn man mit einer neuen Droge experimentiert. All der Nervenkitzel, das Risiko, die Entdeckung der Wirkungen. Das Vergnügen, unbekanntes Territorium zu erforschen und das Schicksal herauszufordern. Ehrlich gesagt, es ist dem Rebellendasein nicht ganz unähnlich, wirklich. Ich freue mich immer schon darauf, wenn sie mich rufen. Obwohl ich mir wünschte, sie würden endlich einmal damit aufhören, ständig ihre Treffpunkte zu verlegen. Jedesmal muß ich ein wenig weiter und durch noch ekelhaftere Gegenden laufen, um herzukommen.«

Huth zuckte die Schultern. »Grundprinzipien der Sicherheit.

Bewege dich. Bleib nicht stehen, sieh nach hinten, halte deine Gegner in Atem. Die Imperatorin hat eine ganze Armee von Leuten ausgeschickt, um den Untergrund aufzuspüren, und sie hat viel mehr Mittel als wir. Ich gebe mein Bestes, um ihre Leute unauffällig in die Irre zu führen, aber es gibt eine Grenze, die ich um meiner eigenen Sicherheit willen nicht überschreiten darf. Ich mag zwar den Untergrund unterstützen, aber ich bin noch nicht bereit, für ihn zu sterben.«

»Rein technisch gesehen«, sagte Valentin, »ist das hier eigentlich gar nicht der Untergrund. Wir sind nicht weit von der Oberfläche entfernt, genau in der Mitte zwischen innerer und äußerer Sphäre. Ich schätze, sie nennen es nur deswegen Untergrund, um die Leute zu verwirren.«

»Verständlich. Und wie Ihr zugeben müßt, klingt es einfach besser, wenn man sagt, man gehört zum Untergrund, als wenn man sagen würde: Ich gehöre zum Zwischendrin.«

Valentin lächelte höflich. Die beiden Männer gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Beide wußten, daß mittlerweile Telepathen ihren Verstand sondierten, um sicherzustellen, daß sie auch diejenigen waren, die sie zu sein vorgaben. Und beide wußten auch, daß sie inzwischen längst tot gewesen wären, wenn auch nur einer von ihnen Verdacht erregt hätte. Nichts durfte die Untergrundbewegung gefährden.

Valentin und der Mann namens Huth umrundeten eine Biegung, duckten sich durch einen niedrigen Eingang und

verließen den engen Tunnel, um eine riesige, hellerleuchtete Kaverne mit Wänden aus schimmerndem Metall zu betreten. Die leuchtende Kugel auf Huths Schulter verlosch. Vielfarbige Kabel zogen sich über die Wände, baumelten von der hohen Decke herab und verschwanden in Durchbrüchen wie Schlangen in ihren Höhlen. Große mysteriöse Maschinen standen an den Wänden aufgereiht und schienen sich gegenseitig den Platz abspenstig machen zu wollen. Der Boden war mit Abfall und Schrott übersät, zerfetzte Stücke von Hochtechnologie, einige neu, einige scheinbar ziemlich alt. Zwischen den Trümmern bewegten sich kleine Dinger. Valentin zog es vor, nicht genauer hinzusehen. Langsam richtete er sich auf, streckte sich und massierte unter dankbarem Seufzen seinen geschundenen Rücken.

»Ihr seid doch der Technikexperte, Huth. Wo zur Hölle sind wir diesmal gelandet? Sieht aus wie der Alptraum eines Wartungstechnikers.«

»Eine alte Reparaturwerkstatt, wie es aussieht. Verlassen und vergessen und von den Kyberratten wieder in Betrieb genommen. Zwischen den vielen verschiedenen Welten innerhalb Golgathas gibt es massenweise Plätze wie diesen hier; früher einmal dienten sie einem bestimmten Zweck, aber der technologische Fortschritt machte sie irgendwann überflüssig. Die Kyberratten lieben diese Höhlen; sie haben Hunderte davon in Besitz genommen und benutzen sie als Unterschlupf. Sie erscheinen auf keiner einzigen Karte mehr, und auch die Datenbänke haben ihre Existenz längst vergessen.«

»Es ist eine Müllhalde, wenn Ihr mich fragt«, sagte Valentin.

»Nun ja, aber Ihr werdet zugeben, daß der Gestank nicht so schlimm ist wie in den Abwässerkanälen.«

»Genaugenommen mag ich Müllhalden sogar. Sie kommen meiner Vorliebe für Chaos entgegen. Ich liebe die schönen Muster, die man dort findet.«

Er kicherte fröhlich, und die leere Kapuze Huths wandte sich ihm zu. Valentin blickte zurück, und dann traten beide gemeinsam vor und verbeugten sich höflich vor den Esper-Repräsentanten in der Mitte der großen metallenen Höhle.

Wie immer hatten die Vertreter der Esper ihre wahre Identität hinter telepathisch projizierten Bildern verborgen. Möglicherweise waren sie sogar persönlich anwesend, aber wahrscheinlich projizierten sie die Bilder von einem sicheren Ort aus. Es war eine Gabe, um die Valentin sie mehr als beneidete.

Niemand kannte die mysteriösen Anführer der Esper, und sie schienen entschlossen, ihr Geheimnis auch weiterhin zu bewahren. Und so kam scheinbar aus dem Nichts ein Wasserfall, floß plätschernd und gurgelnd durch die Luft und verschwand am Boden einfach wieder. Seltsame Farbenspiele überzogen das Wasser, und irgendwo in der Mitte gab es zwei Flecke, die Augen darstellen mochten. Neben dem Wasserfall hing ein wirbelndes Mandala in der Luft; ein kompliziertes Muster ineinander verschlungener, leuchtender Linien, die sich scheinbar bis in die Unendlichkeit umeinander wanden.

Valentin hätte es stundenlang betrachten können. Neben dem Mandala wartete der dritte Sprecher der Esper, ein um einen Baumstamm geschlungener Drache von drei oder vier Metern Länge, dessen goldene Schuppen das Licht der Kaverne schwach reflektierten. Valentin war sich nicht ganz sicher, ob es sich bei dem Bild nur um einen Esper handelte oder ob der Baum ein weiterer Anführer war. Der Baum sprach im weiteren Verlauf des Treffens kein Wort – andererseits redete auch der Drache nicht viel. Und dann gab es da noch Mister Perfekt. Ein Esper mit massiven Muskeln, die schon beinahe an eine Karikatur erinnerten. Er stand da, die Arme vor der gewaltigen Brust verschränkt, und starrte die beiden Besucher herablassend an. Valentin spürte den beinahe unwiderstehlichen Drang, sich von hinten an die Gestalt heranzuschleichen und laut Buh! zu rufen. Doch wahrscheinlich war auch sie nur eine telepathische Vision und nicht wirklich anwesend.

Es gab keine Möglichkeit, das festzustellen. Die Bilder konnten von überall her kommen. Sie existierten nur im Verstand des Empfängers und hatten außerhalb keine Realität.

Valentin kannte dieses Gefühl. Er überlegte, daß Huth vielleicht ganz andere Bilder sah, und nahm sich vor, später mit ihm darüber zu reden. Die Esper waren extrem vorsichtig, wenn es um ihre Identität ging, und das nicht ohne Grund.

Auf Rebellion stand der Tod. Wenn man sie erwischte. In der Kaverne war alles still, trotzdem war die Atmosphäre gespannt und knisterte förmlich von der ungesprochenen Sprache der Telepathen. Huth brachte seinen Mund dicht an Valentins Ohr.

»Ich kann mitverfolgen, was vorgeht. Hört einfach durch mich zu.«

Ein scharfes Prickeln legte sich wie ein Helm aus Stacheldraht um Valentins Kopf, und allmählich wurde er sich eines sanften Stimmengewirrs bewußt, das die Luft erfüllte. Die Esper redeten scheinbar alle gleichzeitig und wirr durcheinander, ohne dadurch unverständlich zu werden; Hunderte von Stimmen, die alle klar und deutlich ohne Verlust von Bedeutung in seinem Kopf erklangen. Es waren mehr als bloße Worte; Gedanken, Gefühle, Eindrücke, die Schärfe und Geschmack hinzufügten. Und darunter ein Konzert von Wesenheiten, sechs scharfe, unnachgiebige Egos, die miteinander diskutierten, lenkten und Entscheidungen trafen. Valentins Bewußtsein schwang im Rhythmus mit, aber er grenzte sich scharf ab. Der Aufprall schierer Gedanken wäre für einen normalen menschlichen Verstand zuviel gewesen, doch Valentins Geist war schon lange nicht mehr normal. Nicht nach allem, was er damit angestellt hatte. Er hielt sich am Rand der telepathischen Wellen und genoß fasziniert, was er auffangen konnte. Wenn die Esper-Droge mir diese Fähigkeiten verleiht, dann muß ich sie einfach haben. Zur Hölle mit dem Preis. Er spürte Huths Lachen neben sich mehr, als daß er es hörte.

Dann zog Huth sich zurück, machte einen Schritt zur Seite, und die telepathische Verbindung brach ab. Valentin schwankte auf den Beinen, als er wieder in die engen Grenzen seines Egos zurücksank. Schwache Erinnerungen an das Erlebnis waren alles, was er zurückbehielt, aber sie hatten seinen Hunger geweckt. Valentin Wolf grinste schief. Wahrscheinlich hatte Huth genau das beabsichtigt: Ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und seine Konzentration auf Wege zu lenken, wie er an die Droge kommen konnte. Nur, daß Valentin sich mit Drogen auskannte und daß keine einzige es bisher geschafft hatte, ihn abhängig zu machen. Und die Esper-Droge war schließlich nicht der einzige Grund, der ihn hergeführt hatte. Der Untergrund war der Weg zur Macht, und das kam an erster Stelle. Immer.

Valentins Kopf ruckte scharf herum, als vier Männer durch einen weiteren Eingang in die Höhle traten. Ihre Gesichter waren vollkommen gleich und zeigten den gleichen Ausdruck, und sie bewegten sich auch auf die gleiche Art und Weise. Das einzige Unterscheidungsmerkmal bildete ihre verschiedenartige Kleidung. Klone. Wahrscheinlich Vertreter der Klon-Bewegung. Sie waren groß und schlank und fast unglaublich geschmeidig. Die Klone strahlten eine natürliche Erhabenheit aus, die weit über bloße Würde zu gehen schien.

Valentin erkannte einen geborenen Anführer, wenn er ihn sah.

Was auch immer hier zu besprechen war, es mußte von allergrößter Wichtigkeit sein. Die Anführer der Klone erschienen kaum jemals persönlich zu einer Besprechung.

Den vier Männern folgten drei Frauen, die sich ebenfalls bis aufs Haar glichen. Valentins Interesse erwachte. Er hatte diese Gesichter schon einmal gesehen. Es war das Gesicht der Esper-Frau, die zu Füßen der Imperatorin gestorben war, nachdem sie die Eiserne Hexe vor dem versammelten Hof mit einer Torte im Gesicht gedemütigt hatte. Sie war eine Elfe gewesen: Angehörige der Esper-Liberations-Front, des extremistischen Flügels der Esper-Bewegung. Und jetzt stellte sich heraus, daß sie außerdem auch ein Klon gewesen war. Durchaus ungewöhnlich, denn nur wenige Esper überlebten das Klonen.

Die drei Frauen waren vielleicht Anfang Zwanzig und trugen die gleiche Kleidung wie ihre tote Schwester, Eisen und Leder. Sie waren klein und stämmig, mit nackten, muskulösen Armen, und eine von ihnen hielt lässig eine eiserne Hantel in der Hand, als wöge sie nichts. Alle drei besaßen langes schwarzes Haar, das bis zu den Schultern fiel und in das sie zahlreiche bunte Bänder geknotet hatten. Ihre Gesichter waren kühn geschnitten, mit hochstehenden Wangenknochen, und in wilden Farben geschminkt. In ledernen Scheiden an ihren Hüften steckten Schwerter und Disruptorpistolen. Beides sah ganz danach aus, als hätten sie häufig davon Gebrauch gemacht. Die drei Frauen blickten ruhig und kühl in die Runde, und ein unsichtbarer Hauch von Gefahr ging von ihnen aus.

»Willkommen, Stevie Blues«, sagte Mister Perfekt. »Eure Anwesenheit ehrt uns. Als Esper und Klone seid Ihr geradezu prädestiniert, die beiden Untergrundbewegungen einander näherzubringen.«

»Obwohl keiner von uns sagen kann, wem Eure Loyalität in Wirklichkeit gilt«, sagte der Drache, und eine lange, dünne Zunge schoß aus seinem Maul.

»Spart Euch die Schmeicheleien und die Paranoia«, erwiderte eine der Stevie Blues kühl. »Wir sind hier, um miteinander zu reden, also fangt gefälligst an. Einige von uns haben auch noch andere Dinge zu erledigen.«

»Freaks und Perverse!« brummte das schwebende Mandala.

»Gruppenehen wie die Eure sind unter Klonen verboten.«

»Wir sind in allererster Linie Elfen«, erwiderte die mittlere Stevie Blue ruhig, »Wir kämpfen um Freiheit. Jede Form von Freiheit. Was stört Euch daran?«

Plötzlich leckten tosende Flammen um die drei Elfen, und die Hitze ließ Valentin und die anderen einen Schritt zurückweichen. Die Stevie Hues schien es nicht zu kümmern. Sie waren Pyros und immun gegen ihr eigenes Feuer. Die Klon-Vertreter verzogen das Gesicht, als wollten sie klarstellen, daß sie nichts damit zu tun hatten. Der Wasserfall begann leicht zu dampfen, und der Drache regte sich unbehaglich. Mister Perfekts Gesicht wurde rot. Vielleicht war er ja doch wirklich anwesend. Valentin grinste. Ihm gefiel die Schau.

»Nun?« fragte die dritte Stevie Blue und funkelte das Mandala wütend an. »Habt Ihr noch etwas zu sagen?«

»Nicht zu diesem Zeitpunkt«, erwiderte das schwebende Mandala steif. Das Feuer der Elfen erlosch genauso rasch, wie es gekommen war, und alle atmeten insgeheim erleichtert auf.

»Kann man Euch denn nicht für zehn Minuten allein lassen?« ertönte plötzlich eine fremde Stimme, und alle wandten sich um. Ringsum an den Wänden flammten Bildschirme auf, als die Kyberratten sich in die Konferenz einschalteten. Hacker, Techno-Fanatiker, jugendliche Rebellen mit den unterschiedlichsten Motiven. Sie verbargen ihre Gesichter wie die Anführer der Esper hinter Masken, nur daß ihre Masken von Lektronen generiert waren. Kyberratten wurden getötet oder konditioniert, wenn man sie zu fassen bekam, doch die Verlockungen und Möglichkeiten der Lektronensysteme waren viel zu groß, als daß sie ihnen hätten widerstehen können. Die meisten von ihnen hatten keinerlei Interesse an Religion oder Politik und wollten nichts als in Ruhe gelassen werden, und nur die gemeinsame Gefahr hatte sie mit den Klonen und Espern zusammengeführt. Kyberratten waren Unpersonen. Sie versteckten sich hinter falschen IDs und einer Vielzahl von Namen, Organisationen und Firmen. Sie lebten in den Mauern des Systems wie Ratten, und sie stahlen, was sie benötigten, während niemand hinsah. Geister, die in der Maschinerie des Imperiums spukten. Sie unterstützten die Untergrundbewegung mit elektronischen Betrügereien und anderen Maschen, und sie nutzten jede Gelegenheit, ihre schlechte Laune an den Autoritäten auszulassen, die sie verfolgten. Es gab eine Menge Möglichkeiten, jemandem mit Hilfe von Lektronen das Leben schwerzumachen, und die Kyberratten kannten alle.

Die meisten davon hatten sie sogar selbst erfunden.

Die Esper- und Klon-Vertreter blickten ernst in die grinsenden Gesichter auf den Schirmen und waren sichtlich um ihre würdevolle Haltung bemüht. Lange Erfahrung hatte ihnen gezeigt, daß es keinen Sinn hatte, mit Kyberratten zu diskutieren. Man konnte nicht gegen sie gewinnen. Die Ratten verbrachten den größten Teil ihrer Zeit mit Wortgefechten untereinander und waren allesamt Meister der Rhetorik. Ein paar Stimmen johlten den Vertretern entgegen, dann wurden sie durch die letzten Ankömmlinge abgelenkt. Die Vertreter der aristokratischen Mäzene waren schließlich doch noch eingetroffen, mit vornehmer Verspätung, wie es sich geziemte. Sie traten hintereinander durch die Tür, als würde allein ihre Anwesenheit in der Kaverne ausreichen, die kostbare Garderobe zu ruinieren. Valentin lächelte ihnen zu, und sie verbeugten sich kurz in seine Richtung. Sie waren nur zu dritt, und jeder von ihnen hatte seinen eigenen geheimen Beweggrund, die Untergrundbewegung zu unterstützen, meistens diskret und nur aus großer Distanz.

Im großen und ganzen betrachteten Aristokraten den Untergrund genau wie Valentin als eine mögliche Quelle politischer Macht. Meist waren es jüngere Söhne, die kein Erbe antreten würden, oder zumindest nicht schnell genug, um sie zufriedenzustellen, und so mußten sie sehen, wie sie vorankamen.

Sie trugen keine Verkleidung; man vertraute ihnen nicht weiter, als sie mit geschlossenen Mündern gegen den Wind spucken konnten, und man wollte sicherstellen, daß man genauestens wußte, mit wem man es zu tun hatte. Dann konnte man sich später wenigstens an ihnen rächen, wenn sie einen verraten würden. Die Aristokraten bewegten sich widerwillig, als hätten sie eine Wahl – was natürlich Blödsinn war. Man schloß sich dem Untergrund erst an, wenn man sonst nirgendwo mehr hinkonnte. Valentin gab einen Dreck darauf.

Evangeline Shreck kannte er bereits, und es überraschte ihn nicht, sie hier zu sehen. Sie unterstützte die Klon-Bewegung seit einiger Zeit leidenschaftlich, obwohl ihre Beweggründe im dunkeln blieben. David Todtsteltzers Gesicht war neu. Der Junge hatte den Titel geerbt, nachdem Owen ausgestoßen worden war, aber er schien sich nicht sehr darüber zu freuen.

Er war erst siebzehn, ein Vetter Owens aus einer weniger bedeutenden Seitenlinie und ungeübt in den tückischen Intrigen des Imperialen Hofes. Groß, tadellos gekleidet und mit Sicherheit nicht halb so nervös, wie er den Anschein erweckte.

Hübsch genug, um eine ganze Reihe von Herzen am Hof in Flammen zu setzen, doch noch zu jung, um das bereits zu wissen. Oder vielleicht auch nicht. Er war schließlich ein Todtsteltzer.

David hatte den Titel geerbt, weil Owen keine Brüder oder Schwestern besaß; die genetische Marotte, die den Todtsteltzers den Zorn schenkte, tötete die meisten Kinder, bevor sie erwachsen werden konnten. Die Familie betrachtete das als akzeptables Risiko. Auf die Idee, die Kinder um ihre Meinung zu fragen, war noch nie jemand gekommen. Davids Motive für seine Kontakte mit dem Untergrund lagen auf der Hand.

Er wollte vermeiden, daß er wie Owen für vogelfrei erklärt oder wie Owens Vater ermordet werden würde, und er war schlau genug zu wissen, daß er am Hof niemandem trauen durfte und absolut keine Freunde besaß. Der Name Todtsteltzer war zu einem Synonym für Verrat und Pech geworden, und die meisten Leute machten einen großen Bogen um ihn, für den Fall, daß etwas davon abfärbte.

Das dritte Gesicht weckte Valentins Neugier. Kit Sommer-Eiland, auch genannt Kid Death, der vor Ehrgeiz seine eigene Familie ermordet hatte, nur um sich am Ende allein zu finden, weil weder der Hof noch irgendeine andere Familie ihm noch über den Weg traute. Ein irre gewordener, bissiger Hund, der sich von seiner Leine losgerissen hatte. Kit war anscheinend deswegen mit der Untergrundbewegung in Verbindung getreten, weil niemand sonst mehr etwas mit ihm zu tun haben wollte. Die Eiserne Hexe hatte eine Zeitlang mit ihm gespielt, aber Kit hätte wissen müssen, daß das nicht lange gutgehen konnte. Er war zu gefährlich. Ein Schwert, das sich leicht gegen jeden erheben konnte, der es zu benutzen versuchte. Kid Death, der lächelnde Killer. Prachtvoll wie immer in seiner Rüstung aus Schwarz und Silber. Er sah noch jung aus mit seinem wehenden blonden Haar und seinem blassen Gesicht, aber seine eisigblauen Augen waren steinalt. Er hatte genug Tod und Blut für ein ganzes Dutzend Leben gesehen, und er erinnerte sich mit Genuß an jede Minute.

Valentin trat vor und verbeugte sich höfisch vor Evangeline Shreck. »Liebe Evangeline! Es tut so gut, Euch wiederzusehen. Eine wahre Schande, was auf der Hochzeit vorgefallen ist, aber so ist nun mal das Leben! Oder sollte ich lieber sagen: der Tod? Euer Vater hatte immer den Hang, ein wenig überzureagieren.«

»So kann man es auch sehen«, erwiderte Evangeline. »Ihr seht ganz anders aus ohne all Eure Schminke, werter Valentin. Beinahe menschlich!«

»Eine bloße Illusion«, entgegnete Valentin glatt. Er wandte sich zu dem jungen Todtsteltzer um und verbeugte sich erneut, diesmal nicht ganz so tief und nicht ganz so höfisch.

»Ich glaube, ich hatte bisher noch nicht das Vergnügen, werter Herr. David, nicht wahr? Ich bin…«

»Ich weiß sehr wohl, wer Ihr seid. Und mein Name wird Deeei-wied ausgesprochen.« Die Stimme des jungen Todtsteltzer klang kühl und scharf in dem Bemühen, die Gemessenheit zum Ausdruck zu bringen, die sein neuer Titel erforderte.

»Ganz wie Ihr wünscht«, erwiderte Valentin. »Aber ich fürchte, auch Ihr werdet Euch daran gewöhnen müssen zu kommen, wenn der Untergrund ruft, ganz egal, wie sie Euren Namen aussprechen. Hier unten ist kein Raum für die Manieren und das Gehabe, das wir in der Gesellschaft an den Tag legen, aber das macht schließlich auch einen Teil des Reizes am Verrat aus, findet Ihr nicht? Hier unten gibt es keine Gesetze, keine vorgeschriebenen Verhaltensmaßregeln, niemanden, der uns niederknien läßt oder den Kopf zu beugen zwingt. Hier unten sind wir alle gleich. Und alles, was sie von uns verlangen, ist der Mut zu kämpfen – und, wenn es sein muß, für unsere Sache zu sterben.«

»Und warum seid Ihr dann hier, Valentin?« fragte Kid Death. »Ihr habt Euch doch niemals um die Sache anderer gekümmert, sondern immer nur um Eure eigene Zerstörung!«

Valentin wandte sich langsam zu dem jungen Sommer-Eiland um und grinste ihn an. »Und wo sollte ich Eurer Meinung nach eher Tod und Selbstzerstörung finden als inmitten einer Rebellion? Es gibt nur einen einzigen Ort auf Golgatha, der gefährlicher ist als der Untergrund, und das ist die Arena.

Und die Arena erschien mir eigentlich immer als zu harte Arbeit. Ich bin nämlich recht empfindlich, wißt Ihr?«

»Ihr habt die Konstitution eines Stiers«, widersprach Evangeline. »Euer Kreislauf muß in Höchstform sein, um mit all dem Gift fertig zu werden, das Ihr ihm aufbürdet.«

»Ich weiß, warum er hier ist«, sagte Kid Death. »Er will die Droge. Die Esper-Droge. Glaubt mir, Valentin, selbst wenn Ihr sie bekämt, sie würde Euch nicht gefallen. Ihr würdet herausfinden, was die Leute wirklich von Euch halten.«

Valentin schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Aber mein lieber Kit! Ihr wißt doch, was alle von Euch halten, und es scheint Euch in keiner Weise zu stören!«

»Ich möchte nur wissen, warum man Huth erlaubt, sein Gesicht zu verbergen«, brummte David. »Wir müssen uns zeigen, und das, obwohl solche Irren wie Valentin und Kid Death uns sehen können.«

»Wie unhöflich«, murmelte Valentin. »Niemand weiß einen wahren Künstler zu schätzen.«

Kid Death musterte den jungen Todtsteltzer mit festem Blick. »Ihr solltet möglichst rasch lernen, Eure Worte vorsichtiger zu wählen. Ihr könnt nie wissen, junger Freund, ob es nicht vielleicht Eure letzten sind…«

David erwiderte Deaths Blick trotzig. Seine Hand schwebte über dem Griff des Schwertes. »Ihr macht mir keine angst, Sommer-Eiland!«

»Das sollte er aber«, mischte sich Evangeline ein. »Ich habe Euch beide kämpfen sehen, und ich weiß, daß er Euch besiegen würde, David. Aber wenn die Herren jetzt mit ihrem Imponiergehabe fertig wären, könnten wir vielleicht Huths Antwort wegen seiner Anonymität hören. Ich persönlich bin jedenfalls ganz Ohr!«

Kid Death und Todtsteltzer starrten sich in die Augen. Der junge David senkte den Blick zuerst. Valentin betrachtete ihn nachdenklich. Vielleicht war der Todtsteltzer gar nicht so naiv, wie er aussah. Der Sommer-Eiland war ganz eindeutig ein Psychopath, und alle wußten es. Selbst Valentin würde seinem Blick ausweichen und einen Rückzieher machen, wenn Kid Death seine kalten Augen herausfordernd in Valentins Richtung lenkte – und vielleicht irgendwann in der Zukunft eine seiner kleinen Kleinigkeiten in Kid Deaths Glas fallen lassen. Er blickte zu Huth und bemerkte, daß die Stille sich in die Länge zu ziehen begann, als Huth keine Anstalten machte, eine Antwort auf Davids Frage zu geben. Der Mann ohne Gesicht stand reglos wie eine Statue, und das leere Innere seiner Kapuze blieb so rätselhaft wie eh und je.

Schließlich sprach er doch noch. »Ich bin wertvoll für die Kyberratten und den Untergrund«, sagte er. »Sie tolerieren lieber meine Anonymität, als daß sie auf meine Hilfe verzichten.«

»Und worin besteht Eure Hilfe?« fragte Kit.

»Das braucht Euch nicht zu interessieren«, erwiderte Huth kühl.

»Und wenn es uns aber trotzdem interessiert?« fragte der junge Todtsteltzer.

Zusammen mit Kit Sommer-Eiland setzte er sich langsam und drohend in Huths Richtung in Bewegung. Sie bauten sich auf entgegengesetzen Seiten von ihm auf, so daß er nicht beide gleichzeitig im Auge behalten konnte. Ihre Hände schwebten dicht über ihren Schwertern.

»Ich schätze, das reicht jetzt«, fuhr Mister Perfekt dazwischen, und alle wandten sich zu ihm um. Der Vertreter der Esper funkelte die Streithähne der Reihe nach an. »Wir haben Euch nicht herbestellt, damit Ihr wie Kinder im Sandkasten streitet! Es gibt ernste Angelegenheiten zu besprechen, und je länger wir hier an einem Ort versammelt sind, desto größer wird das Risiko, dem wir alle uns aussetzen.«

»Verdammt richtig!« sagte eine der Stevie Blues. Sie schlenderte vor und baute sich mit in die Hüften gestemmten Händen in der Mitte der Kaverne auf. »Das käme den Sicherheitskräften gerade recht, wenn sie uns hier überraschen könnten, weil wir sie vor lauter dummer Streiterei nicht kommen hören! Hört endlich mit diesem albernen Kinderkram auf, oder meine Schwestern und ich werden damit anfangen, Köpfe gegeneinanderzuschlagen. Ihr könnt mich übrigens Stevie Eins nennen. Meine Schwestern dort sind Stevie Zwo und Stevie Drei. Hört endlich auf, Ärger zu machen, oder ihr lernt uns kennen! Und ich kann euch verraten, daß wir in dieser Beziehung ganz individuell sind.«

Die Anwesenden entspannten sich sichtbar und wichen ein wenig zurück. Stevie Eins nickte Mister Perfekt zu, daß er endlich beginnen könne. David rümpfte die Nase in Richtung der drei Klone.

»Nichts als ein Haufen Perverser!« sagte er leise zu Valentin. »Und sie wagen es auch noch, ihre Beziehung Ehe zu nennen!«

»Bleibt fair«, ermahnte ihn Valentin. »Sie wissen zumindest genau, was sie aneinander haben. Jedenfalls werden wir jetzt gleich erfahren, weshalb die Elfen uns herbestellt haben.«

Mister Perfekt schoß einen wütenden Blick auf Valentin ab.

»Der Rat der Esper hat Euch herbestellt, nicht die Elfen! Sie sind nur ein Teil der Bewegung. Die Stevie Blue spricht nicht für alle anwesenden Esper.«

Stevie Zwo schniefte. »Für die Drecksarbeit sind wir gut genug, wie? Ganz besonders, wenn auch noch ein Risiko damit verbunden ist. Wer hätte mehr Recht, zu sprechen, als meine Schwestern und ich? Wir sind sowohl Esper als auch Klone, und wir verstehen beide Seiten. Niemand kennt das Leid beider Gruppen besser als wir.«

»Da hat sie recht«, stimmte ihr Stevie Drei zu.

»Man wird uns anhören«, sagte Stevie Eins mit Bestimmtheit. »Unsere Schwester ist tot. Sie wurde von der Eisernen Hexe ermordet. Wir fordern Rache.«

»Ich wußte gar nicht, daß noch Esper-Klone am Leben sind«, murmelte David leise in Evangelines Ohr, während die drei Stevies mit den Vertretern der Esper diskutierten. »Ich dachte, man hätte sie alle umgebracht und weitere Experimente verboten.«

»Eine Menge Dinge sind verboten«, flüsterte Evangeline zurück. »Aber sie geschehen trotzdem, wenn damit Geld zu verdienen ist. Meines Wissens entstammen die Stevie Blues einem militärischen Experiment, bei dem Kampfesper geklont werden sollten. Doch es funktionierte nicht wie geplant. Die meisten Esper starben, und die Überlebenden waren zu mächtig. Zu unberechenbar und zu unkontrollierbar. Die Nachricht von den Experimenten gelangte an die Öffentlichkeit, und die Eiserne Hexe soll ganz schön wütend gewesen sein, daß man sie nicht informiert hatte. Sie gab den Befehl, alles dichtzumachen und die Stevie Blues zu vernichten, aber die Klone konnten entkommen. Die Elfen nahmen sie bei sich auf, gaben ihrem Leben einen Sinn und ihrer Rache ein Ziel. Als Esper und Klone sollten sie eine Verbindung zwischen den beiden rivalisierenden Untergrundbewegungen bilden, trotzdem scheint niemand sicher zu sein, wem ihre Loyalität insgeheim wirklich gilt. Vielleicht wissen sie es selbst nicht.«

»Nichts dagegen einzuwenden«, sagte David. Er bemerkte, daß die Esper aufgehört hatten zu reden und sich schon wieder gegenseitig wütende Blicke zuwarfen, also hob er erneut seine Stimme. »Ich will immer noch wissen, warum Huth sein Gesicht verbergen darf.«

»O Mann, jetzt sagt es ihm endlich«, stöhnte der Drache.

»Sonst sitzen wir noch morgen früh hier.«

»Ich gehöre zum Gefolge der Imperatorin und bekleide einen hohen Rang«, erklärte Hugh. »Ich genieße ihr Vertrauen, soweit man bei ihr überhaupt von Vertrauen sprechen kann.

Ich bin nicht bereit, mich in Gefahr zu begeben, indem ich meine Identität gegenüber jemandem preisgebe, der sie nicht unbedingt kennen muß. Der Untergrund duldet meine Anonymität, weil ich es war, der die Esper-Droge entdeckt hat.

Wir dürfen einfach nicht riskieren, daß die Eiserne Hexe von mir erfährt. Sie würde mir mein Geheimnis entreißen; es gelingt ihr am Ende immer. Meine Identität bleibt verborgen, weil es in unser aller Interesse liegt. So, und wenn wir jetzt damit fertig sind – die Stevie Blues haben bereits erwähnt, daß wir wichtige Dinge zu besprechen haben.«

»Ich habe das gesagt«, widersprach Mister Perfekt.

»Dann fangt endlich an«, sagte Valentin. »Was gibt es denn, das wichtig genug wäre, uns so kurzfristig und zu so unchristlicher Stunde herbeizurufen?«

»Wir haben einen Plan«, begann Stevie Eins. »Wir Elfen haben einen der Unseren in die Wasseraufbereitungsanlage eingeschleust. Durch ihn haben wir unbeschränkten Zugang zur Wasserversorgung von ganz Golgatha. Wir schlagen vor, dem Trinkwasser die Esper-Droge beizumischen. Man hat mir gesagt, daß bereits eine winzige Menge ausreichen soll, um einen Effekt auf jeden zu haben, der mit dem Wasser in Berührung kommt, geschweige denn es trinkt. Niemand würde die Droge bemerken, bis es zu spät wäre. Niemand außer uns ahnt von ihrer Existenz, und wenn man nicht genau weiß, wonach man suchen muß, dann fällt die Esper-Droge unter all den anderen Drogen im Wasser gar nicht auf. Es ist voll mit Tranquilizern und Glücksdrogen, um das Volk ruhigzustellen.

Wenn quasi über Nacht Millionen von Espern auftreten, dann bleibt der Imperatorin gar keine andere Wahl, als Espern die vollen Bürgerrechte zu geben. Schließlich wären dann die meisten ihrer Untertanen Esper. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück, und sie erlebt sogar mit ihrem eigenen Drink eine Überraschung…?«

Ein langes Schweigen entstand, und jeder blickte jeden fragend an. Die Stevie Blues grinsten sich selbstgefällig zu.

»Das kann doch nur ein schlechter Witz sein!« sagte Evangeline schließlich. »Ihr seid verrückt!«

»Oh, ich weiß nicht«, warf Valentin ein. »Mir persönlich gefällt der Gedanke.«

»Das sieht Euch ähnlich«, meldete sich David. »Aber jeder, der etwas auf sich hält, trinkt Wasser, das von anderen Welten nach Golgatha importiert wird. Nur die unteren Klassen trinken Leitungswasser. Und die Eiserne Hexe würde mit Sicherheit lieber jeden einzelnen von ihnen auf diesem Planeten auslöschen, als sich vom Pöbel zu etwas zwingen zulassen.«

»Nett gesagt«, stimmte Evangeline zu. »Ich dachte nicht, daß Ihr so weit vorausschauen würdet, David.«

»Deei-wied!«

»Ist doch egal, Todtsteltzer.«

»Seht mal«, meldete sich Stevie Eins erneut zu Wort. »Die Untergrundbewegungen kämpfen jetzt seit beinahe drei Jahrhunderten um Selbstbestimmung, und was haben wir bisher erreicht? Nichts, außer ständig verschärften Sicherheitsmaßnahmen auf allen Ebenen und stärkeren Kontrollen überall.

Die Elfen entstanden aus dem Bedürfnis heraus, endlich zurückzuschlagen und den Kampf zum Feind zu tragen. Das hier wäre ein Schlag gegen die Autorität der Eisernen Hexe, den sie nicht vertuschen oder ignorieren könnte. Ihre Leute sind zu wichtig, um sie einfach alle auszulöschen.«

»Richtig«, pflichtete Stevie Drei ihr bei.

Auch die Kyberratten auf den Schirmen entlang den Wänden murmelten zustimmend; allerdings waren sie stets für ein wenig Chaos und Konfusion zu haben und bewunderten Dreistigkeit. Sie waren immer in erster Linie Unruhestifter gewesen und erst in zweiter Rebellen. Die verschiedenen Gesichter auf den Schirmen riefen wirr durcheinander Zustimmung und gute Ratschläge, dann wandten sie sich einander zu und fuhren sich gegenseitig über den Mund. Einen Augenblick lang herrschte Chaos, bis einer der Esper schließlich die Geistesgegenwart besaß, einfach die Lautstärke herunterzudrehen.

Die Kyberratten tobten lautlos weiter und bemerkten gar nicht, daß niemand ihnen mehr zuhörte. Aber schließlich waren sie daran gewöhnt.

Evangeline wandte sich an die drei Stevie Blues. »Ihr überseht das gewichtigste Argument, das dagegen spricht«, sagte sie. »Nach den Ergebnissen, die mir vorliegen, tötet die Esper-Droge zwanzig bis vierzig Prozent der Leute, die sie eingenommen haben. Wenn wir der gesamten Bevölkerung von Golgatha die Droge geben – wie viele unschuldige Menschen würden für unsere Rache ihr Leben lassen?«

»Es gibt keine unschuldigen Menschen«, widersprach Stevie Zwo aufsässig. »Sie gehören alle zu dem System, das uns unterdrückt. Sie benutzen jede Gelegenheit, um an unserem Schmerz zu verdienen.«

»Richtig«, stimmte ihr Stevie Drei zu. »Wann haben sie sich jemals um uns gesorgt?«

»Was sollen wir denn Eurer Meinung nach tun?« fragte Stevie Eins und starrte Evangeline wütend an. »Aus Protest öffentlichen Selbstmord begehen, genau wie der arme Dummkopf, den Ihr bei der Hochzeit eingeschmuggelt habt? Was würde es schon für einen Unterschied machen? Keiner würde einen verdammten Dreck darauf geben. Es ist ihnen völlig egal, ob ein Esper oder ein Klon stirbt; wir sind nur Sachen.

Wir werden einfach ersetzt. Es ist nicht so, als waren wir Bürger. Muß ich mich wirklich erst hinstellen und Euch die ganzen Horrorgeschichten erzählen, was man mit uns alles gemacht hat, um unseren Plan zu rechtfertigen? Keiner von uns, der nicht jemand ihm Nahestehenden verloren hätte. Es ist gerade mal ein Jahr her, daß Lord Dram unsere Basis in Neutrost angegriffen hat. Es sollte unser erster Schritt nach vorn werden, aus der Dunkelheit ins Licht. Esper und Klone und normale Menschen, die in Eintracht nebeneinander lebten. Ein Vorbild für das gesamte Imperium.

Und dann kamen die Angriffsgleiter, fielen aus dem Himmel und eröffneten ohne Warnung das Feuer. Hunderttausende starben, als die Stadt brannte. Männer, Frauen und Kinder; Esper, Klone und Normale. Wir konnten nichts anderes tun, als um unser Leben zu laufen. Es dauerte bis heute, die Untergrundbewegung wieder neu aufzubauen, und seit damals haben die Normalen viel zuviel Angst, um sich mit uns sehen zu lassen. Mit Neutrost starb jede Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben. Nur Elfen und bewaffneter Kampf sind übriggeblieben. Oder sind unsere Freunde für nichts gestorben?

Habt Ihr die Schreie vergessen, die durch Euer Bewußtsein rasten und einer nach dem anderen verloschen wie Kerzen in einem Sturm?«

»Rache, pah!« sagte einer der männlichen Klone, und alle wandten sich zu ihm um. Die vier Männer hatten bislang kein Wort gesagt, und die restliche Versammlung hatte ihre Anwesenheit völlig vergessen. »Rache ist das einzige, an das Elfen denken können! Wir wollen Frieden! Freiheit! Wir müssen lernen, mit den Normalen zu leben, weil es ihr Universum ist!

Es ist ihr Imperium. Vielleicht gehört es eines Tages auch uns, aber keiner von uns hier wird lange genug leben, um das zu sehen. Verzeiht unsere Paranoia, aber wir sehen nicht, was ein ganzer Planet voller traumatisierter Esper und Millionen von Toten für unsere Sache erreichen sollen. Das Imperium würde keine Zeit verschwenden, der Untergrundbewegung die Schuld zuzuschieben. Wir wären als Massenmörder gebrandmarkt, und wahrscheinlich hätten sie damit sogar recht. Alle würden sich gegen uns wenden, sogar die neuen Esper, die unsere Droge erschaffen hätte.«

»Er hat recht«, stimmte ihm David zu. »Der Plan der Stevie Blues taugt nichts.«

»Niemand hat Euch um Eure Meinung gefragt, David!« fuhr ihn Stevie Eins an. »Ihr versteht doch überhaupt nicht, worum es hier geht!«

»Ich dachte, Ihr wärt an unseren Meinungen interessiert?« fragte Valentin unschuldig. »Oder aus welchem Grund habt ihr uns hergerufen?«

»Wir sind Euch dankbar für Eure Einwendungen«, sagte das schimmernde Mandala. »Wir waren… unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Wir dachten, wir wären vielleicht zu parteiisch, und hofften, Ihr würdet uns bei der Erläuterung der weiteren Fragen helfen. Die Esper-Droge könnte die Waffe sein, mit deren Hilfe wir den Krieg am Ende doch noch zu unseren Gunsten entscheiden, aber sie könnte auch zu unserer endgültigen Verdammnis führen. Sprecht zu uns. Ihr alle. Wir müssen eine Entscheidung treffen.«

»Warum diese Eile?« fragte Evangeline. »Wir müssen die Droge doch nicht auf der Stelle einsetzen, oder? Das Geheimnis der Droge ist sicher bei uns aufgehoben, und die Wasserversorgung läuft nicht davon. Solange Euer Mann sich bedeckt hält und keine Aufmerksamkeit auf sich lenkt, können wir in aller Ruhe darüber nachdenken, damit wir am Ende die richtige Entscheidung fällen.«

»Und wie viele Klone und Esper sollen in der Zwischenzeit noch sterben, weil wir reden und reden?« fragte Stevie Zwo angriffslustig.

»Eine ganze Menge weniger als zwanzig bis vierzig Prozent aller Einwohner Golgathas«, erwiderte Huth.

»Wir wissen bisher noch zu wenig über die Droge«, sagte Mister Perfekt. »Wir waren verständlicherweise fasziniert von dem Gedanken, was sie mit jemandem anstellen würde, der bereits ein Esper ist. Wir hatten gehofft, sie würde vielleicht den Superesper hervorbringen, nach dem wir gesucht haben, jemanden, der stark genug wäre, die ESP-Blocker zu überwinden und uns von ihrer Kontrolle zu befreien. Wir hatten sehr viele Freiwillige.«

»Und was geschah?« fragte Valentin.

»Sie starben alle«, antwortete der Drache. »Einige starben auf der Stelle, einfach so, andere wurden zuerst verrückt. Einige kratzten sich selbst die Augen aus, weil sie nicht ertragen konnten, was sie sahen. Es scheint, daß unsere Spezies einfach noch nicht bereit ist, zu Superespern zu werden. Wir müssen uns weiter gedulden und darauf vertrauen, daß unsere Freunde, die Kyberratten, eine technologische Antwort gegen die ESP-Blocker finden.«

»Aber sie versprechen schon seit Jahren den Durchbruch!«

fauchte Stevie Eins. »Wir haben das Warten satt! Diese Droge ist unsere Gelegenheit, denen weh zu tun, die uns verfolgt und gequält haben. Wir können nicht mehr länger warten! Wie lange mag es noch dauern, bis ein Verräter aus unseren eigenen Reihen die Formel in die Finger kriegt und den Sicherheitsbehörden ausliefert? Nur weil wir Esper sind, heißt das noch lange nicht, daß man uns nicht hereinlegen kann! Wir müssen die Droge jetzt einsetzen, solange der Vorteil der Überraschung noch auf unserer Seite ist.«

»Richtig!« stimmte Stevie Drei zu. »Wer schert sich schon um ein paar tote Normale?«

»Wir zum Beispiel«, erwiderte einer der Klone. »Unser Argument lautete stets, daß wir mehr als bloße Sachen sind; wir sind Menschen. Und wir werden nicht unsere Menschlichkeit riskieren, indem wir die Verantwortung für ein Massensterben übernehmen!«

»Ihr wart schon immer Träumer!« sagte Stevie Eins. »Wir können nicht friedlich mit Normalen zusammenleben. Wir sind zu verschieden!«

»Auf Nebelwelt scheint das Zusammenleben reibungslos zu funktionieren.«

»Ja, ja, Nebelwelt. Nach allem, was ich über Nebelwelt gehört habe, muß es die reinste Hölle sein«, entgegnete Stevie Eins. »Ich möchte nicht für alles Geld der Welt dort leben müssen.«

»Wir kommen schon wieder vom Thema ab«, mischte sich Evangeline in die Diskussion. »Mir scheint, es gibt noch immer zu viele offene Fragen, was die Droge betrifft. Erstens können wir nicht sicher sein, daß die Sterblichkeitsrate wirklich nur zwanzig oder vierzig Prozent beträgt, wenn wir eine derart große Menge von diesem Zeug ins Trinkwasser geben.

Es könnte sich herausstellen, daß noch weit mehr Menschen daran sterben. Irgendwann würde sich herumsprechen, wer dafür die Verantwortung trägt, das ist ganz unvermeidlich.

Und dann werden uns die Normalen mehr hassen als je zuvor.

Zweitens denke ich, daß es ein gutes Stück schwieriger sein wird, das Mittel an allen Kontrollen und Filtern vorbeizuschmuggeln, als Ihr alle annehmt. Ein Mann allein könnte kaum darauf hoffen, alle Sicherheitsmaßnahmen zu überlisten. Ich denke, man sollte die Kyberratten bitten, zuerst einige Computersimulationen laufen zu lassen. Und in der Zwischenzeit sollten wir uns meiner Meinung nach darauf konzentrieren, einflußreiche Leute für unsere Sache zu gewinnen.

Der wirkliche Krieg wird in den Köpfen und Herzen der Leute überall ausgetragen und entschieden, und sonst nirgends.

Die Eiserne Hexe kann nicht ewig leben, und vielleicht kann eine Koalition aus den richtigen Leuten sie irgendwann ablösen.«

»Ja, genau«, sagte Stevie Drei. »Eine Koalition. Das würde Euch gefallen, was? Zweifellos mit Euch an der Spitze?«

»Es könnte schlimmer kommen«, sagte Huth.

»Wir haben genug gehört«, entschied der Drache. Er streckte sich langsam, und eine leichte Welle rann über seine goldenen Schuppen. »Evangeline Shreck hat die Stimme der Vernunft erhoben, wie immer. Wir lehnen den Plan nicht rundweg ab, aber es scheint jetzt klar, daß wir noch viel mehr Forschungsanstrengungen unternehmen müssen, bevor wir ein derartiges Unternehmen durchführen dürfen. Die Angelegenheit ist vertagt.« Er bedachte die Stevie Blues mit einem strengen Blick, und sie funkelten zurück. Aber keine der drei Frauen widersprach. Zumindest nicht im Augenblick. Der Drache nickte bedächtig. »Kommen wir nun zum nächsten Punkt: dem Schicksal des Verräters Erwin Burgess. Führt ihn herein!«

Evangelines Kopf fuhr herum, als ein Mann langsam aus einem niedrigen Eingang kam. Er stolperte unsicher in die Mitte der Kammer. Seine Bewegungen schienen unbeholfen und bedacht. Er wurde eindeutig von außen kontrolliert. Burgess war ein kleiner, nichtssagender Bursche mit geistesabwesendem, leerem Gesicht und Furcht in den Augen. Auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen, und seine Kleidung wies dunkle, feuchte Flecken auf. Als er näher kam, konnten sie hören, daß er leise wimmerte. Schließlich blieb er genau in der Mitte der großen Kaverne reglos stehen. Unnatürlich reglos.

»Erwin Burgess«, sagte eine kalte, körperlose Stimme scheinbar aus jeder Richtung zugleich. »Du bist des Verrats gegen deine Brüder und Schwestern angeklagt, und die Informationen in deinem Bewußtsein sind Beweis genug. Du wolltest den Ort dieses Treffens an die Imperialen Sicherheitskräfte verraten, und wir konnten dies nur durch eine rechtzeitige Warnung unseres Verbündeten Huth verhindern.

Erzähl uns, warum du das getan hast. War es Geld?«

»Zum Teil«, gestand Burgess, und auf seinem Gesicht zeigte sich Verzweiflung und Panik, als die Kontrolle über sein Bewußtsein ein wenig gelockert wurde. »Aber hauptsächlich, weil ich es so satt war, immer nur Angst haben zu müssen.

Bei jedem Klopfen an meiner Tür bekam ich beinahe einen Herzinfarkt, weil ich dachte, daß man mir auf die Spur gekommen wäre und mich endlich abholen würde. Am Schluß ging ich freiwillig zu ihnen. Ich hielt den Druck nicht mehr länger aus. Doch auch danach wurde es nicht besser; jetzt hatte ich noch mehr Angst wegen dem, was mit mir geschehen würde, wenn Ihr von meinem Verrat erfahren würdet. Die Sicherheitsleute sagten, sie würden mich beschützen, aber ich wußte es besser. Und als Eure Leute schließlich kamen und mich holten, da fühlte ich mich beinahe erleichtert.«

»Wir verstehen«, sagte die Stimme. »Aber wir dürfen keine Gnade walten lassen. Du hast zu viele Leben aufs Spiel gesetzt. Wir alle haben Angst, Erwin, aber wir sind nicht daran zerbrochen. Wie viele tausend wären verraten worden, wenn die Sicherheitstruppen uns hier überrascht hätten? Die gesamte Bewegung wäre zerschmettert worden, und wir hätten uns nie wieder von diesem Schlag erholt.«

»Meint Ihr nicht, ich wüßte das nicht selbst?« Burgess’

Stimme klang hohl und tonlos. Er schien keine Hoffnung und keine Furcht mehr zu haben. »Ich habe meine Lektion gelernt.

Ich werde nicht wieder schwach sein. Ich würde es nicht wagen.«

»Es tut uns leid«, sagte die Stimme. »Aber wir müssen ein Exempel statuieren.«

»Dann macht es wenigstens schnell«, sagte Burgess.

»Ja«, erwiderte die Stimme. »Das machen wir.«

Burgess explodierte. Sein Körper barst auseinander, und eine Wolke von Blut, Gewebefetzen und Knochensplittern flog durch die Luft. Evangeline zuckte unwillkürlich zurück, doch die Trümmer kamen nicht weit. Die gleiche Kraft, die Burgess hatte explodieren lassen, hielt nun die Fragmente zurück. Sie fielen in einer Reihe leiser, sanfter Geräusche zu Boden. Alles war genauso schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Eine der Kyberratten pfiff anerkennend. Valentin machte einen Schritt nach vorn und stieß mit der Stiefelspitze gegen einen blutigen Muskelklumpen.

»Nun seht Euch das nur an«, sagte er. »Er hatte tatsächlich ein Herz! Wer hätte das gedacht?«

Und dann ging auf einmal alles drunter und drüber. Eine Alarmsirene schrillte laut und durchdringend, und das Geräusch von Disruptorfeuer erklang in der Ferne. Die Kyberratten auf den Bildschirmen an den Wänden der Kaverne verschwanden urplötzlich, als sie sich aus dem System ausklinkten. Einen Augenblick lang war nur das Rauschen leerer Bildschirme zu sehen, dann klärten sie sich nacheinander und zeigten in rascher Folge Bilder bewaffneter Soldaten, die sich durch die Zugangstunnel bewegten. Sie schienen aus allen Richtungen zugleich zu kommen, füllten die Gänge aus, und ihre Disruptoren entluden sich auf unsichtbare Verteidiger.

Aber was auch immer die Verteidiger unternahmen, es schien die voranstürmenden Sicherheitstruppen nicht im mindesten aufzuhalten.

»Warum benutzen sie keine Illusionen, um die Soldaten zu stoppen?« fragte Evangeline. »Ich dachte, dazu wären sie da!«

»Seht auf die Schirme«, erwiderte Valentin ruhig. »Sie führen ESP-Blocker mit sich. Unser toter Freund Burgess scheint seinen Verrat noch begangen zu haben, bevor er erwischt wurde. Seht Euch die Uniformen an. Das sind Imperiale Truppen. Die Sicherheitsleute der Eisernen Hexe persönlich.

Sie scheint zu wissen, daß hier unten ein wichtiges Treffen abläuft.«

Auf einmal riefen alle durcheinander und versuchten, sich gegenseitig zu übertönen. David Todtsteltzer und Kit Sommer-Eiland hatten ihre Pistolen und Schwerter gezogen, doch nur der Sommer-Eiland schien bereit, sie auch zu benutzen, Huth blickte reglos von einem Schirm zum andern, als könne er nicht glauben, was er dort sah. Evangeline war blaß geworden, die Hände zu weißen Fäusten geballt. Sie blickte hilfesuchend zu Valentin, aber der lächelte nur verlegen und wedelte ratlos mit den Händen. Hinter Valentins errötender Fassade rasten die Gedanken. Er hatte reichlich Kampfdrogen in seinen Reservoirs, die er innerhalb von Sekundenbruchteilen in den Kreislauf spülen konnte, doch er zögerte, seine sorgfältig errichtete Maske als dekadenter Aristokrat einfach wegzuwerfen, bevor es absolut notwendig war. Der Gedanke gefiel ihm nicht, daß sich die Nachricht verbreiten könnte, er wäre nicht der unfähige Stutzer, den alle in ihm zu sehen glaubten. Die Leute würden beginnen, darüber nachzudenken, was er sonst noch alles verbergen mochte. Andererseits konnte er sich aus genau dem gleichen Grund auch nicht erlauben, daß die Soldaten ihn gefangennahmen. Er beschloß, erst mal abzuwarten und zu sehen, wie groß die Gefahr wirklich war. Und dann verschwanden die Esper-Vertreter von einem Augenblick zum andern, und Luft rauschte in das Vakuum, das sie hinterlassen hatten.

»Diese Feiglinge!« schrie Stevie Eins. »Sie sind einfach hinausteleportiert und überlassen uns unserem Schicksal!«

Die Kaverne besaß insgesamt sechs Eingänge, von denen keiner groß genug war, um mehr als zwei Männer gleichzeitig hindurchzulassen. Die Stevie Blues sicherten drei davon. Aus ihren Händen sprangen bedrohliche psionische Flammen. Kit Sommer-Eiland postierte sich vor einem vierten Eingang und bedeutete David Todtsteltzer, den fünften zu decken. Der junge Lord Sommer-Eiland grinste breit. David hingegen sah aus, als wäre er lieber woanders, doch seine Augen blickten ruhig, und sein Mund war zu einem entschlossenen Strich zusammengepreßt. Er hielt das Schwert und den Disruptor, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Schließlich war er ein Todtsteltzer.

Ein Ausgang blieb ungedeckt. Huth stand noch immer wie angewurzelt an Ort und Stelle und beobachtete die Bildschirme an den Wänden. Evangeline setzte sich in Richtung des Ausgangs in Bewegung, als wolle sie jeden Augenblick davonrennen. Valentin legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

»Nicht«, murmelte er. »Wegzulaufen wäre wirklich eine sehr dumme Idee. Seht nur auf die Schirme. Die Soldaten haben alle Fluchtwege abgeriegelt, und im Augenblick

schießen sie auf alles, was sich bewegt. Ihr könnt nicht fliehen.«

»Aber Ihr versteht nicht!« rief Evangeline. »Ich kann mir nicht leisten, gefaßt zu werden!«

Valentin hob eine Augenbraue. »Ich denke, das gilt für uns alle gleichermaßen. Und wenn Ihr mich jetzt entschuldigt, ich glaube, ich sichere besser den verbleibenden Eingang.«

Evangeline blickte ihn zweifelnd an. »Ihr? Was wollt Ihr denn tun? Die Soldaten mit Drogen bestechen?«

»Oh, ich denke, da weiß ich etwas Besseres«, erwiderte Valentin ruhig. »Außerdem – wer soll es denn sonst tun, wenn nicht ich?«

Evangeline blickte zu Huth, der an seinem Platz anscheinend Wurzeln zu schlagen schien, bevor sie die Augen niederschlug.

»Gebt mir ein Messer«, forderte sie Valentin leise auf. »Sie werden mich nicht lebend in die Hände bekommen.«

Valentin musterte sie einen langen Augenblick, bevor er ein Stilett aus dem Stiefel zog und es ihr gab. Evangeline nahm es mit einem schweigenden Nicken entgegen und ging hinüber zu Huth, wo sie die Schirme beobachtete. Valentin schlenderte lässig zu dem letzten unbewachten Eingang hinüber. Seine Gedanken rasten noch immer. Er hatte soviel Zeit und Mühe darauf verwandt, seine Rolle als Dandy aufzubauen, und es schien tatsächlich so, als müßte er sie jetzt einfach wegwerfen. Es war wie immer: Der Mensch denkt, die Herrscherin lenkt. Aber dann kam ihm ein neuer Gedanke, und er grinste.

Worüber machte er sich eigentlich Sorgen? Die Chancen standen nicht schlecht, daß er an Ort und Stelle sterben würde.

Die Idee munterte ihn eigenartigerweise auf, und Valentin überprüfte den Inhalt seiner Pillendose auf eine spezielle Kleinigkeit hin. Einige der Soldaten würden jedenfalls eine sehr unangenehme Überraschung erleben.

Die ersten bewaffneten Truppen kamen um die Ecke und fanden sich Angesicht in Angesicht mit Stevie Eins, die den Eingang bewachte. Sie hoben ihre Pistolen, und die Elfe traf sie mit einem Blitz aus Höllenfeuer. Die Soldaten schrien auf, als Flammen den Tunnel ausfüllten und die Luft aus ihren Lungen saugten, während ihr Fleisch verbrannte. In den angrenzenden Eingängen erschienen noch mehr Soldaten und fanden sich Stevie Zwo und Drei gegenüber. Sie ereilte das gleiche Schicksal wie ihre Kameraden. Die vordersten Reihen der Imperialen Truppen starben grausame Tode. Evangeline beobachtete das Geschehen auf dien Bildschirmen. Sie konnte die Augen nicht abwenden. Der Ansturm der Überlebenden kam zum Erliegen, als die Nachricht vom Tod ihrer Kameraden die Runde gemacht hatte. Sie warteten ab.

»Sie bringen ESP-Blocker nach vorn!« schrie Stevie Zwo auf einmal. »Ich kann spüren, wie sie näher kommen. Mein Feuer wird bereits schwächer!«

Weitere Soldaten stürmten durch einen anderen Eingang heran und sahen sich Kid Death gegenüber. Er erschoß die vordersten Männer mit beinahe lässiger Präzision, dann steckte er die Waffe ein und stapfte mit beidhändig geführtem Schwert zwischen seine Gegner. In dem engen Durchgang konnten sie sich ihm nur zu zweit entgegenstellen, und das bedeutete keine Gefahr für Kid Death. Er lachte, während er den Tod austeilte; ein helles, gehauchtes, entsetzliches Lachen.

David Todtsteltzer ging in den Zornmodus, und alle Nervosität schien von ihm abzufallen. Die Soldaten hatten ihm genausowenig entgegenzusetzen wie Kid Death. Aber sie waren so viele, und weder Kid noch David machten sich Illusionen über den Ausgang des Kampfes und ihr Schicksal.

Wenn die Soldaten mehr Disruptoren dabeigehabt hätten, wäre der Kampf inzwischen bereits vorüber gewesen.

Dann schrie Evangeline auf und deutete auf die Bildschirme. Valentin hörte ein Brausen, das ihm recht bekannt erschien. Das Geräusch kam tief aus den Tunneln. Er blickte sich zu den Schirmen um und lachte laut. Die Soldaten im Tunnel hörten sein Gelächter, und sie hörten auch das dumpf brüllende Donnern, das immer näher kam. Sie wandten sich um und sahen, wie eine Wand aus Wasser rauschend auf sie zuraste und den gesamten Tunnel bis zur Decke ausfüllte.

Einen Augenblick lang dachte Valentin, es wäre schon wieder nur eine Illusion, ein letzter Verteidigungstrick der Esper, doch dann fiel ihm ein, daß das unmöglich der Fall sein konnte. Alle Esper waren inzwischen tot oder zumindest durch die ESP-Blocker außer Gefecht gesetzt. Das Wasser mußte echt sein. Und auf den Bildschirmen war zu sehen, wie die Flutwelle über den Soldaten zusammenbrach und sie mit sich riß.

Sie hatten nicht die Spur einer Chance.

Valentin zog sich vom Eingang zurück und stellte sich neben Huth und Evangeline. Er beobachtete auf den Schirmen, wie die Soldaten starben. Das Wasser riß sie mit sich fort wie Blätter in einem angeschwollenen Strom, warf sie mit zerschmetternder Gewalt gegen die Wände der Tunnels und trieb sie vor sich her. Einige versuchten, sich an irgendwelchen Handgriffen festzuhalten, die in die Tunnelwände eingelassen waren, aber der Druck des Wassers war einfach zu stark, und es gab nirgendwo Luft zum Atmen. Wenn sie Glück hatten, ertranken sie schnell. Ihre Leichen wurden von der tobenden Flut davongespült. David Todtsteltzer und Kit Sommer-Eiland fällten ihre letzten Gegner, dann blickten sie sich verwirrt um.

David atmete schwer und zitterte sichtbar, als er den Zorn versiegen ließ, auf seinem Gesicht jedoch zeichnete sich Hochgefühl ab. Kid Death lächelte zufrieden, und sein Atem ging keine Spur schneller als zuvor. In den Augen der beiden leuchtete das gleiche Feuer, das gleiche zufriedene

Vergnügen. Sie warfen sich einen verschwörerischen Blick zu wie zwei Männer, die ein Geheimnis teilten.

Eine der Stevie Blues jubelte begeistert, und die beiden anderen stimmten ein.

»Die ESP-Blocker wurden zerstört oder davongeschwemmt!« sagte Stevie Eins. »Ich kann sie nicht mehr spüren. Wir sind in Sicherheit.«

»Das sehe ich anders«, entgegnete Valentin mit überraschend ungerührter Stimme. Er deutete auf die Bildschirme.

»Das ganze Wasser ist auf dem Weg hierher, und wir haben keinerlei Möglichkeit, es aufzuhalten.«

Sie sahen es auf den Schirmen, und sie wichen von den Eingängen zurück. Das Donnern des Wassers war inzwischen zu einem ohrenbetäubenden Lärm angewachsen, wie ein Donnerschlag, der einfach nicht aufhörte. Jeder konnte den Druck der sich vor der großen Woge aufstauenden Luft

spüren. Auf den Schirmen trieben tote Soldaten wie schlaffe Puppen blicklos durch die Fluten. Sie wichen noch weiter von den Eingängen zurück und sammelten sich in der Mitte der Kaverne, weil es keinen anderen Weg für sie gab. Sie blickten dem Tod auf den Bildschirmen entgegen. Keiner von ihnen hatte noch etwas zu sagen. Die Stevie Blues hielten sich an den Händen, und Evangeline Shreck faßte Valentins Arm. Er lächelte schwach und ließ es geschehen.

Dann krachte die Flutwelle gegen eine unsichtbare Barriere und stockte. Das Wasser auf den Bildschirmen kochte, aber es fand keinen Weg in die Kaverne. Die Luft schimmerte, und plötzlich waren die Vertreter der Esper wieder zurück. Mister Perfekt lächelte über die überraschten Gesichter.

»Ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, wir würden Euch einfach im Stich lassen, oder? Wir bereiteten die Flutwelle in den Abwasserkanälen vor, nachdem Burgess seinen Verrat gestanden hatte. Es erschien uns als vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Nur für den Fall, wenn Ihr versteht?«

»Wenn ich mich nicht so verdammt gut fühlen würde«, knurrte David Todtsteltzer, »dann würde ich Euch jetzt alle töten! Vielleicht mache ich es auch noch, einfach aus Prinzip.«

»Verdammt richtig!« stimmte Kid Death ihm zu. »Ich bin in den letzten Minuten bestimmt um zwanzig Jahre gealtert. Euer Glück, daß es mir so gut steht.«

Die beiden Männer lachten sich freundschaftlich zu. Auch die Stevie Blues lachten. Evangeline bemerkte, daß sie sich noch immer an Valentins Arm klammerte und ließ los. Er verbeugte sich höflich vor ihr. Huth schüttelte langsam den Kopf.

»Man sollte glauben, ich hätte mich inzwischen an diese Esper und ihre verschlagenen Methoden gewöhnt«, sagte er müde. »Ich nehme an, Ihr habt auch an einen Weg gedacht, das Wasser wieder aus den Gängen zu entfernen, damit wir gehen können?«

»Aber selbstverständlich«, erwiderte der Drache. »Es dauert nicht mehr lange, und Ihr könnt alle nach Hause gehen.«

»Aber ich würde trotzdem vorsichtig sein, wo ich hintrete«, sagte Valentin Wolf. »Heutzutage weiß man nie, was man so alles im Wasser findet…«

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