KAPITEL ZWÖLF IN DER HÖLLE DES WURMWÄCHTERS

Finlay Feldglöck floh um sein Leben, gejagt und gehetzt, das Rudel immer dicht auf den Fersen. Er war jetzt der Feldglöck, letzter Sproß einer niedergemetzelten Linie, und die Wolfs waren hinter ihm her, gnadenlos und zu allem entschlossen.

Mit aberwitziger Geschwindigkeit lenkte er den gestohlenen Gravschlitten zwischen den verspiegelten Fensterfronten der eng beieinanderstehenden Türme des Stadtzentrums hindurch.

Hinter ihm auf der Ladepritsche lag Adrienne in ihrem eigenen Blut, zusammengerollt um die schwere Wunde in ihrem Leib, die sie langsam tötete. Der rauschende Fahrtwind trieb Tränen in Finlays Augen, und er wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, um zusammen mit dem Schlitten auch noch eine Brille zu stehlen. Aber er hatte diese Zeit nicht gehabt.

Es war schon lange her, daß er einen Gravschlitten gesteuert hatte, doch die alten Reflexe und Erinnerungen kamen bereits wieder. Finlay grinste wild und riß das Fahrzeug zwischen den Türmen hin und her wie ein Flößer, der über Stromschnellen den Fluß hinunterfuhr und im Weg stehenden Felsen auswich. Er preßte alles an Geschwindigkeit aus den ächzenden Antrieben, was er nur konnte. Die Wolfs blieben dicht hinter ihm, sieben Schlitten voller blutrünstiger Jäger. Hin und wieder fuhr ein Disruptorstrahl zischend an ihm vorbei, aber bei dieser Geschwindigkeit machten die schnellen Bewegungen der Fahrzeuge ein genaues Zielen unmöglich. Seine Verfolger feuerten trotzdem weiter. Ein Glückstreffer würde vollkommen ausreichen. Finlay fluchte unterdrückt, während sein Verstand raste, um einen Ausweg zu finden, eine Fluchtmöglichkeit aus der Hölle, in die er so unvermutet geraten war.

Das Wissen, wie man einen Gravschlitten flog, hatte er während seiner Ausbildung in der Arena erworben. Im Prinzip nicht mehr als eine weitere Waffe, die es zu beherrschen galt – schließlich konnte man nie wissen, was seine Gegner als nächstes gegen ihn aufstellen würden. Der Maskierte Gladiator hatte alle Waffen zu beherrschen, also hatte Finlay nur mit den Schultern gezuckt und gelernt, was er wissen mußte. Damals hatte er gedacht, daß es vielleicht eines Tages sein Leben retten könnte, aber eine Situation wie diese hätte er sich nicht im Traum vorstellen können: Sein Vater und seine gesamte Familie tot, niedergestreckt von den verräterischen Wolfs, und ihm selbst blieb nichts als die Flucht, wenn er nicht auch noch sterben wollte. Er war der letzte Überlebende aus der Führungsriege des Feldglöck-Clans, ohne Freunde oder Verbündete, die er um Hilfe bitten konnte, und mit einem zu allem entschlossenen Feind dicht auf den Fersen. Ein gestürztes Haus besaß keine Freunde. Niemand wollte mit Versagern zu tun haben; es könnte ja ansteckend sein. Und Adrienne, seine oft verfluchte, verachtete Ehegattin, hatte ein Schwert in die Hand genommen und versucht, den Clan zu verteidigen. Finlay warf einen hastigen Blick nach hinten auf die Pritsche.

Seine Frau lag noch immer dort, in ihrem eigenen Blut, halb bei Bewußtsein, Obszönitäten fluchend. Sie benötigte medizinische Hilfe, und zwar bald; doch selbst wenn es ihm irgendwie gelang, seine Verfolger abzuschütteln – er hatte keine Ahnung, wo er sie hinschaffen sollte. Er war jetzt der Feldglöck, und das bedeutete, daß seine Frau genauso Ziel seiner Feinde war wie er selbst. Kein Hospital wäre sicher, kein Zufluchtsort, dessen Unantastbarkeit nicht gebrochen werden würde. Vendetta kennt keine Gnade.

Finlay schwang den Schlitten in einer plötzlichen, scharfen Kurve herum, wappnete sich gegen den Anpreßdruck der Fliehkraft und nutzte die aufwärtsgerichteten thermischen Strömungen, die zwischen den Türmen kamen und gingen.

Der Schlitten beschrieb eine Schleife, und Finlay gab wieder Gas. Das Manöver hatte ihn schräg von hinten über einen einzelnen Wolf gebracht, der den Fehler begangen hatte, sich zu weit vorzuwagen. Finlays Mund verzog sich zu dem humorlosen, wilden Grinsen, das normalerweise nur unter dem stählernen Helm des Maskierten Gladiators zu sehen war – wenn jemand unter den Helm hätte sehen können. Niemand aus seiner Familie hätte ihn jetzt noch erkannt, aber sicher hätten alle zugeben müssen, daß es ihm sehr gut zu Gesicht stand. Er lenkte das Fahrzeug dichter an den verzweifelt Haken schlagenden Wolf-Schlitten und aktivierte die eingebauten Waffen.

Der Strahl aus der Zwillingskanone fuhr krachend in das Heck des Wolfs, und die massive Stahlpanzerung flog funkensprühend auseinander. Splitter fetzten gefährlich dicht an Finlay vorbei, und die Wolfs schrien entsetzt, als die Maschine ihres Schlittens plötzlich stotterte und erstarb. Der Schlitten sackte wie ein Stein dem weit entfernten Erdboden entgegen. Seine Insassen schrien auf dem gesamten Weg nach unten.

Finlay beschleunigte durch den Wald aus Türmen und war zuversichtlich, daß die restlichen Verfolger zumindest für eine Weile einen gewissen Sicherheitsabstand einhalten würden.

Aber die Zeit lief gegen ihn; sie konnten warten, bis sich eine günstige Gelegenheit bot. Ihr Opfer hatte plötzlich Klauen und Zähne entwickelt, und sie waren gewarnt. So sollte es auch sein. Sie jagten schließlich nicht den berüchtigten Stutzer Finlay Feldglöck. Sie waren Kämpfer, aber er war der Maskierte Gladiator. Sie besaßen nicht seine Erfahrung eines Kampfes auf Leben und Tod. Sie waren daran gewöhnt, Angreifer zu sein, und sie waren dumm und langsam, weil sie sich auf die Stärke und Überlegenheit verließen, die ihre hohe Übermacht ihnen vorgaukelte. Finlay grinste breit, und seine Hände huschten mit neuem Selbstvertrauen über die Steuerkonsole. Der Shreck-Turm lag ganz in der Nähe, und Evangeline besaß ein Apartment dort. Er zögerte ein wenig, seine heimliche Geliebte in seine Schwierigkeiten zu verwickeln, doch ihm blieb keine andere Wahl. Adrienne lag im Sterben, und in Evangelines Apartment stand eine Regenerationsmaschine. Er hatte sie vor einiger Zeit dorthin schaffen lassen, und sie versteckte die Maschine für ihn, für den Fall, daß er in Not geriet.

Finlay besaß zwar seinen eigenen Apparat in seinem Quartier in den Katakomben der Arena, aber zu viele Leute wußten davon. Es bestand immer die Möglichkeit, daß jemand die Maschine sabotierte. Der Maskierte Gladiator hatte sich eine Menge Feinde innerhalb wie außerhalb der Arena geschaffen, die jede Gelegenheit genutzt hätten, um sich für seine vielen Siege an ihm zu rächen. Es lag nicht an ihm, sondern am Geschäft selbst. Familien, die einen geliebten Angehörigen verloren hatten, Spieler, die ein Vermögen gegen ihn gesetzt und verloren hatten… Also war er insgeheim hingegangen und hatte sich eine zweite Regenerationsmaschine besorgt. Er hatte sie im Apartment von Evangeline Shreck aufgestellt, als Reserve sozusagen, für den Notfall. Niemand würde auf die Idee kommen, dort nach ihr zu suchen, weil nämlich niemand von ihm und Evangeline wußte. Niemand durfte je etwas davon erfahren. Evangeline mußte unter allen Umständen geschützt werden, koste es, was es wolle.

Finlay verzog unglücklich das Gesicht, als ihm die Konsequenzen seiner Gedanken bewußt wurden. Er würde die Verfolger abschütteln oder töten müssen, bevor er wagen durfte, den Shreck-Turm anzusteuern. Auf der anderen Seite lief Adrienne die Zeit davon. Wenn er ihr nicht bald half, wäre alles zu spät.

Er fluchte leidenschaftslos. Finlay konnte es nicht allein schaffen, und ihm fiel nur eine einzige Person ein, die ihm vielleicht helfen würde. Eine Person, die allen Grund hatte, ihn bis ins Mark zu hassen. Er schaltete sich über sein Implantat in das Komm-Gerät des Gravschlittens und wählte eine Verbindung an, von der er noch bis vor weniger als einer Stunde geglaubt hatte, daß er sie so bald nicht mehr benutzen würde.

»Hier spricht Finlay Feldglöck, letzter Überlebender der Ersten Familie des Clans Feldglöck. Ich erbitte Loyalität, Blut um Blut. Robert, kannst du mich empfangen?«

Eine lange Pause, dann erklang plötzlich eine trockene Stimme in seinem Kopf. »Hier spricht Robert. Du hast dir eine höllisch unpassende Zeit ausgesucht, um anzurufen.«

»Es tut mir leid. Ich weiß, daß du noch immer wegen Letitia trauerst.«

»Vergiß es, ich hab’ keine Zeit zum Trauern! Hier geht alles zum Teufel! Die ganze Familie wird angegriffen! Wolfs und Feldglöcks kämpfen es unter sich aus, überall, selbst auf der Straße, bis hinunter zum entferntesten Vetter. Ich habe mich in meinem eigenen Haus verbarrikadiert. Die Wolfs haben uns die Vendetta erklärt: Tod allen Feldglöcks, bis hin zum letzten Mann, der letzten Frau und dem letzten Kind. Sie stecken unsere Fabriken und Geschäfte in Brand und greifen unsere Firmen an. Ich bin dabei, eine improvisierte Verteidigung zu organisieren, aber sie haben uns mit heruntergelassenen Hosen erwischt. Zum Glück besitze ich ein paar Freunde bei der Armee, die mir helfen. Die Behörden halten sich aus der Sache heraus und warten ab. Sie wollen sich nicht in Familienstreitigkeiten verwickeln lassen. Unterm Strich betrachtet: Wir sind in der Unterzahl, wurden überrascht, und eine Menge unserer Leute sind bereits tot. Wie sieht es bei dir aus, Finlay? Und wer ist jetzt eigentlich der Feldglöck?«

»Im Augenblick fliehe ich auf einem gestohlenen Gravschlitten um mein Leben. Die Wolfs sind mir dicht auf den Fersen und schreien nach Blut. Ich bin jetzt der Feldglöck, wenn überhaupt noch jemand. Die anderen sind alle tot. Können deine Leute helfen, wenn ich es bis zu euch schaffe?«

»Negativ, Finlay. Wir sind von allen Seiten umzingelt. Du mußt alleine klarkommen.«

Finlay lachte kurz, ein kaltes, hartes Geräusch. »Nichts ändert sich jemals. Also gut, hör zu! Ich habe Adrienne bei mir, und sie ist schwer verwundet. Ich bringe sie zum Shreck-Turm. Ich kenne dort jemanden, der ihr helfen wird. Stell jetzt keine Fragen; dazu bleibt nicht genügend Zeit. Ich werde Adrienne bei Evangeline Shreck zurücklassen und untertauchen. Wenn ich erst verschwunden bin, der letzte aus der herrschenden Familie, solltest du imstande sein, um Frieden nachzusuchen. Die Imperatorin wird der Vendetta sowieso nicht lange zusehen. Sie darf nicht zulassen, daß ein einzelner Clan so mächtig wird. Aber vorher mußt du mit deinen Leuten einen Ausbruchversuch starten, zum Shreck-Turm gehen und Adrienne schützen, bis sie wieder aufstehen kann. Ich weiß, daß ich eine ganze Menge von dir verlange, aber ich bitte nicht für mich selbst. Wirst du kommen?«

»Ich versuch’s«, erwiderte Robert. »Sie war gut zu mir. Können wir Hilfe von den Shrecks erwarten?«

»Das wage ich zu bezweifeln.«

Robert lachte auf. »Du verlangst nicht viel, was? Wohin gehst du?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte. Ich suche mir ein Loch und mache es hinter mir zu. Ich muß für eine Weile von der Bildfläche verschwinden. Und das bedeutet, daß du der Feldglöck wirst. Ich hab’ zwar keine Ahnung, was von dem Clan noch übrig sein wird, den du leiten wirst, wenn sich die Unruhe erst gelegt hat, aber vergiß nicht: Du hast die verdammte Pflicht, alles Nötige zu tun, um den Clan zu schützen und ihm zu dienen. Schließ einen Handel mit den Wolfs ab.

Versprich ihnen, was du willst. Die Zeit der Rache kommt später.«

»Ich werde tun, was ich kann«, erwiderte Robert. Seine Stimme klang müde und zugleich amüsiert. »Ist das nicht komisch? Ich bin jetzt der Feldglöck? Nach allem, was auf der Hochzeit passiert ist! Ich war soweit, mich von der Familie zu trennen, einen neuen Namen anzunehmen und mein Leben bei der Armee zu verbringen. Aber das geht jetzt nicht mehr, wie?

Die Familie hat mich wieder in ihren verdammten Klauen.

Also gut, Finlay. Ich werde mit einigen Freunden beim Militär sprechen. Vielleicht können sie mir Deckung geben, wenn ich durch das Chaos in den Straßen zum Shreck-Turm gehe. Ich komme, so schnell ich kann.«

Finlays Komm-Implantat schaltete sich ab, und er kaute nachdenklich auf der Innenseite seiner Backe. Nicht soviel Hilfe, wie er sich erhofft hatte, aber immerhin mehr, als er nach der Lage der Dinge erwarten durfte. Die Familie hatte Robert ziemlich mies behandelt. Finlay lächelte dünn. Hoffentlich würde Robert die Familie besser behandeln, nun, da er der Feldglöck war. Er blickte auf die Steuerkonsole des Schlittens und registrierte zufrieden, daß das Gerät noch immer mit Höchstgeschwindigkeit flog. Finlay wußte, daß die Maschine der Beanspruchung nicht lange standhalten konnte.

Gravschlitten waren nicht für derart extremen Gebrauch konstruiert. Er zuckte innerlich mit den Schultern. Entweder hielt der Schlitten durch oder nicht. Es lag nicht in seiner Hand, und er konnte sich nicht leisten, deshalb besorgt zu sein. Er mußte nachdenken.

Wenn es ihm gelang, Adrienne sicher zum Turm der Shrecks und zu Evangeline zu bringen, dann konnte er vielleicht einen Ausweg aus diesem Chaos finden. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Schlitten seiner Verfolger hingen noch immer hinter ihm, aber sie hielten vorsichtigen Abstand.

Sie befanden sich zwar noch in Disruptorreichweite, doch bei der Geschwindigkeit, mit der sie jetzt zwischen den Türmen hindurchrasten, war die Wahrscheinlichkeit eines Treffers extrem gering. Und außerdem – wenn ihre Schüsse danebengingen, dann standen die Chancen gar nicht schlecht, daß Unschuldige getötet wurden, und die Forderungen der betroffenen Familien nach Schadenersatz wären gewaltig. Trotzdem durften die Wolf-Söldner sich nicht mehr viel weiter zurückfallen lassen, weil sie sonst befürchten mußten, Finlay zu verlieren. Er konnte sie nicht abschütteln, bevor er beim Turm der Shrecks ankam. Finlay verzog das Gesicht. Er würde sich jetzt mit seinen Verfolgern auseinandersetzen müssen, jetzt und hier, solange der Vorteil der Überraschung noch auf seiner Seite lag. Und er mußte es schnell erledigen, Adriennes wegen.

Er hatte bereits einen Plan gefaßt, während er mit Robert verbunden gewesen war. Einen gefährlichen Plan, der sehr stark von Glück und Täuschung abhing, aber ein besserer fiel ihm nicht ein. Er beugte sich rasch über die Steuerkonsole, damit er keine Zeit hatte, es sich anders zu überlegen, riß den Gravschlitten in eine enge Kurve und nahm Kurs auf die Glas-und-Stahl-Fassade des nächstgelegenen Turms. Er wappnete sich gegen den Aufprall, als die Mauer des Bauwerks wie eine riesige leuchtende Fliegenklatsche auf ihn zuraste. Hinter einem erleuchteten Fenster erblickte er einen langen Korridor und Menschen, die stehenblieben und in seine Richtung gestikulierten. Andere nahmen die Beine in die Hand und rannten weg. Finlay aktivierte den Disruptor und feuerte auf das Fenster.

Das schwere Panzerglas zersprang, als der Energiestrahl hineinfuhr, und ein tödlicher Schauer scharfkantiger Splitter fetzte durch den dahinter liegenden Gang. Menschen sanken blutüberströmt zu Boden und blieben reglos liegen. Finlay hatte keine Zeit, sich deswegen Gedanken zu machen. Sicher, sie waren unbeteiligte Dritte, aber ihr Pech, daß sie nicht zur Familie gehörten. Er steuerte den Schlitten durch das große gezackte Loch in der Turmfassade und verzögerte mit allem, was die Bremsen hergaben. Nach der Hälfte des langen Korridors kam das Gefährt ächzend zum Stehen. Beinahe wäre Finlay doch noch hinuntergeschleudert worden. Adriennes bewußtloser Körper rollte über die Ladepritsche und drückte von hinten gegen seine Beine, und das rettete ihn.

Einen Augenblick stützte er sich auf die Konsole und rang nach Atem. Er zitterte am ganzen Leib, und murmelte die beruhigenden Sprechgesänge, die der vorherige Maskierte Gladiator ihm beigebracht hatte. Kontrollierte Ruhe war alles in der Arena. Rings um ihn herum schrien und stöhnten Menschen, aber bis jetzt waren noch keine Sicherheitsleute aufgetaucht. Finlay wendete den Schlitten, so daß er mit der Nase auf das Loch in der Wand zeigte. Die Schlitten der Wolfs waren ein Stück vor dem beschädigten Turm zum Halten gekommen. Sie schwebten in der Luft, und die Besatzungen beobachteten argwöhnisch, was Finlay als nächstes tun würde.

Sie schienen sich nicht allzu viele Gedanken zu machen. Wohin wollte er schon entkommen? Er hatte sich selbst in die Falle begeben. Finlays breites Totenkopfgrinsen zeigte sich wieder auf seinem Gesicht, als er sich bückte und die Platte mit Plastiksprengstoff aus dem Stiefelschaft zog, die er seit dem Tag mit sich führte, an dem er der Maskierte Gladiator geworden war. Er hatte stets damit gerechnet, daß das Geheimnis seiner Identität irgendwann bekannt werden und er sich gegen eine große Übermacht von Feinden verteidigen mußte. Der Sprengstoff war sozusagen sein letztes As im Ärmel. Finlay war gerne vorbereitet, innerhalb der Arena genauso wie außerhalb.

Er steckte die Platte in seinen Gürtel, wo er sie schnell und leicht ergreifen konnte, und grinste die Wolfs auf ihren Schlitten an. Sollten sie nur kommen. Schließlich war er nur Finlay Feldglöck, der berüchtigte Stutzer, oder? Was konnte jemand wie er schon über Taktik und Fallen wissen?

Die Wolfs berieten sich kurz, und dann näherte sich einer der Schlitten vorsichtig dem Loch in der Fassade. Sie schienen zu ahnen, daß er ihnen eine Falle gestellt hatte und auf sie wartete, aber sie konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie die Falle aussehen mochte. Finlay grinste, bis seine Wangen schmerzten. Kommt nur, ihr Bastarde. Nur noch ein wenig näher… Der Schlitten glitt durch das zerbrochene Fenster und in den Korridor. Finlay hämmerte auf das Steuerpult, und sein Schlitten machte einen Satz nach vorn.

Die Wolfs feuerten ihre Bordwaffen ab, aber zu spät. Die Karossen der beiden Schlitten prallten aufeinander, und die Wolfs fielen wie Kegel durcheinander. Finlay war auf den Zusammenstoß vorbereitet gewesen und hatte sich an einem Griff festgehalten. Jetzt hob er seinen Disruptor und schoß auf den gegnerischen Piloten. Der Strahl fuhr durch die Brust des Wolfs und riß ihn seitlich vom Schlitten. Die anderen griffen nach ihren Waffen, doch Finlay war bereits mitten unter ihnen und hielt das Schwert in der Hand. Er schlug wild um sich, nicht elegant, aber schnell wie der Blitz, und Blut spritzte auf.

Die Wolfs hatten weder genug Platz noch genug Zeit, ihre Schwerter zu ziehen, und mit den Disruptoren hätten sie sich wahrscheinlich nur gegenseitig erschossen. Sie wehrten sich verzweifelt, aber sie waren überrascht worden, und Finlay war der Maskierte Gladiator.

Sie hatten nicht den Hauch einer Chance.

Finlay stach den letzten Überlebenden mit kalter Berechnung nieder, trat den Körper von der Pritsche herunter und steckte sein Schwert weg. Die Schlitten der anderen Wolfs schossen vor. Die Soldaten schrien vor Wut und Ärger. Disruptorstrahlen schossen rechts und links an Finlay vorbei. Er zog den Plastiksprengstoff aus dem Gürtel, knallte ihn auf den Boden der Ladefläche, damit er haftenblieb, und aktivierte den eingebauten Näherungszünder. Dann sprang er zurück, drehte den präparierten Schlitten und steuerte ihn den heranstürmenden Gegnern entgegen. Er schätzte sorgfältig den richtigen Zeitpunkt, bevor er absprang. Finlay prallte hart auf den Boden und rollte sich hinter einem massiven Schreibtisch in Deckung. Der Schlitten krachte mitten in die Fahrzeuge der Wolfs und explodierte in einem Feuerball, der die anderen Schlitten verschlang. Minutenlang erschütterten Folgeexplosionen das Gebäude, als die Antriebe hochgingen, und ein gefährlicher Regen aus Schrapnell fetzte durch den Gang, durchsetzt mit weichen, blutigen Fetzen, die einmal die feindlichen Wolfs gewesen waren. Ein letzter Feuerball flammte auf, der rasch wieder in sich zusammenfiel und erstarb.

Finlay hatte sich hinter dem Schreibtisch ganz flach auf den Boden gelegt und die Hände fest auf die Ohren gepreßt, um sie gegen den überwältigenden Krach der Explosionen zu schützen. Als er bemerkte, daß plötzlich alles still geworden war, nahm er zögernd die Hände herunter und erhob sich eben weit genug, um über den Schreibtisch hinweg nach vorn zu spähen. Überall im Korridor waren kleinere Feuer ausgebrochen. Tote und Verwundete lagen herum, und einige von ihnen brannten. Finlay beachtete sie kaum. Er kannte sie nicht.

Jetzt zählte nur Adrienne, und sonst nichts. Er erblickte ein rotes Licht, das über der Tür blinkte, und wunderte sich warum er bisher keine Alarmglocken gehört hatte. Nur langsam dämmerte ihm, daß auch sonst nichts zu hören war. Die Alarmglocken schrillten wahrscheinlich sehr wohl, nur hatten die Explosionen ihn vorübergehend taub werden lassen. Zumindest hoffte er, daß es nur vorübergehend war. Sein Bedarf an Problemen war bereits gedeckt.

Schmerzerfüllt kämpfte er sich auf die Beine und stolperte zu seinem eigenen Schlitten, der noch immer dort schwebte, wo er ihn zurückgelassen hatte. Rings um Adrienne lagen brennende Wrackteile auf der Pritsche, aber seine Frau schien keine weiteren Verletzungen erlitten zu haben. Finlay wischte die Trümmer mit dem Arm vom Schlitten und kletterte an Bord. Die Feuer im Korridor breiteten sich rasch aus, und allmählich wurde es ungemütlich warm. Seine nackte Haut schmerzte bereits von der sengenden Hitze. Die Besitzer des Turms hätten besser Geld für eine automatische Löschanlage ausgegeben. Der Gedanke amüsierte Finlay, und er kicherte unwillkürlich. Dann riß er sich zusammen. Er blickte auf Adrienne hinunter. Das Deck, wo es nicht gebrannt hatte, war schlüpfrig von ihrem Blut, und Adriennes Hände glänzten naß und purpurn, wo sie ihre Eingeweide zusammenhielten. Ihr Gesicht war im krassen Gegensatz dazu leichenblaß. Wenigstens atmete sie noch, zwar flach, aber spürbar. Finlay setzte den Schlitten in Bewegung. Mit höchster Beschleunigung schoß er durch das zerfetzte Fenster hinaus und nahm Kurs auf den Turm der Shrecks.

Evangeline machte sich fertig, um zu Bett zu gehen, obwohl es eigentlich noch früh war. Papa hatte sich zu einem seiner kleinen ›Besuche‹ angemeldet. Es war erst wenige Minuten her. Er meldete sich immer sehr kurzfristig an, damit sie sich keine Entschuldigungen ausdenken konnte. Andererseits genoß er es, wenn sie ein wenig auf seinen Besuch warten mußte. Dann konnte sie über das nachdenken, was auf sie zukam.

Und so saß sie in ihrem langen weißen Nachthemd vor ihrer Schminkkommode, bürstete lustlos das Haar und dachte

darüber nach, sich das Leben zu nehmen. Sie wußte, daß sie es nicht tun würde. Wenn man von Papa einmal absah, gab es eine ganze Menge, für das sich zu leben lohnte, und außerdem würde es Finlay sehr weh tun. Ihre depressive Stimmung würde wieder vergehen, wie schon so oft – doch im Augenblick brachte ihr der Gedanke Trost, alles hinter sich zu lassen und keine Sorgen mehr haben zu müssen. Keine Sorgen, daß man sie als Klon enttarnen könnte. Keine Sorgen, daß man ihre Verbindungen zum Untergrund entdeckte. Keine Angst, Finlay in der Arena sterben zu sehen. Nie wieder unter Papas kleinen ›Besuchen‹ leiden müssen. Es wäre so schön, so schön…

Evangeline stieß einen tiefen Seufzer aus, legte ihre Bürste auf die Kommode vor sich und betrachtete sie für ein paar Sekunden, als sei sie ein völlig fremder Gegenstand, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Wie konnte sie einfach hier sitzen und ihre Haare bürsten, eine derart banale, alltägliche Handlung, während ihr Leben doch ein solcher Alptraum war? Von Finlay abgesehen natürlich. Seine Liebe war alles, was sie noch aufrecht hielt. Selbst ihre Leidenschaft für den Kampf der Untergrundbewegung erlosch hin und wieder. Finlay gab ihr die Kraft, immer wieder weiterzumachen, selbst in Anbetracht von Papa und seiner klebrig-kalten Hände.

Der Shreck kam nicht in jeder Nacht. Manchmal konnte eine ganze Woche vergehen, ohne daß er ihr die Ehre seines Besuchs gewährte. Gregor Shreck grinsend, schwitzend, neben ihr im Bett selbstgefällige Reden haltend, wie er sie mit dem Namen ihrer Mutter anredete. Sie hatte Finlay nie davon erzählt, nie auch nur eine Andeutung gemacht. Bestenfalls hätte er Papa zu einem Duell herausgefordert und ihn getötet, und dann wäre Finlays geheime Identität als der Maskierte Gladiator ans Licht gekommen – zusammen mit der Tatsache, daß sie ein Klon war. Und schlimmstenfalls würde er sie nicht mehr mit den gleichen Augen sehen wie zuvor, wenn er erst wußte, wer sonst noch ihr Bett teilte.

Es lag in Gregor Shrecks bestem Interesse, das alles geheimzuhalten. Für das Klonen seiner toten Tochter drohte ihm eine schwere Strafe, aber Inzest? Der gesamte Adel würde sich von ihm abwenden. Die Gentechnologie hatte die Gefahren der Inzucht beseitigt, aber sie bildete trotzdem noch immer ein Tabu, und wenn nur aus dem Grund, daß selbst die Aristokratie ein paar Regeln benötigte, die sie nicht ungestraft brechen durfte. Inzest war ein geschmackloses Verbrechen.

Wenn die Gesellschaft das mit ihr und Papa herausfand, würde niemand ihn zur Rechenschaft ziehen, aber es würde auch keiner mehr mit ihm sprechen. Sie würden ihn schneiden, sogar im Clan und in der Familie, und das war für einen Aristokraten eine schlimmere Strafe als der Tod.

Sicher, wenn sie herausfanden, daß er seine Frau und seine Tochter ermordet hatte… Evangeline seufzte müde. So viele Geheimnisse in einer einzigen Familie. Unvermittelt aktivierte sich ihr Komm-lmplantat, und sie versteifte sich vor dem Spiegel der Kommode. Sie hatte alle öffentlich zugänglichen Kanäle abgeschaltet, und außer ihrem Vater kannte nur ein Mann ihren privaten Kode.

»Evangeline, hier ist Finlay. Ich stecke bis zum Hals in Schwierigkeiten. Kann ich zu dir kommen?«

»Natürlich.« Sie dachte nicht eine Sekunde daran, seine Bitte abzuschlagen. »Wo steckst du?«

»Direkt vor deinem Fenster. Machst du mir auf? Es ist verdammt kalt hier draußen.«

Sie sprang auf und rannte zu ihrem Fenster. Die Vorhänge zogen sich auf einen Wink hin zurück und enthüllten einen blutbesudelten Finlay auf einem Gravschlitten, der auf der anderen Seite des Panzerglases schwebte. Trotz der Überraschung seines unerwarteten Auftauchens und des Schrecks, den der Anblick seiner blutverschmierte Gestalt ihr einjagte, war ihr erster Gedanke, wie er es geschafft hatte, an den Sicherheitsleuten des Turms vorbeizukommen. Er hatte wahrscheinlich eine ganze Menge Alarme ausgelöst, indem er einfach nur da war, wo er nicht sein sollte. Bei aller Liebe zu Finlay – sie war schließlich immer noch eine Shreck.

Evangeline verdrängte den Gedanken und betätigte den Notschalter im Rahmen des gepanzerten Fensters. Die schwere Scheibe glitt zur Seite, und Finlay steuerte den Gravschlitten in ihr Zimmer. Das Gefährt nahm eine Menge Platz in Anspruch, und obwohl es noch immer ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte und leicht zur Seite zu schieben war, mußte Evangeline sich dünn machen, um sich an ihm vorbei zum Fenster zu quetschen und es wieder zu schließen.

»Mach dir keine Sorgen wegen der Wachen«, sagte Finlay, als er vom Schlitten sprang. »Ich besitze ein kleines Gerät, das sich um derartige Dinge kümmert. Es hilft mir, meine Geheimnisse zu wahren. Die Wachen werden nie erfahren, daß ich überhaupt hier war.«

Evangeline zappelte ungeduldig. Ein Dutzend Fragen lagen ihr auf der Zunge, die ihr jedoch im Hals stecken blieben, als sie sah, wie Blut vom Schlitten auf ihre dicken Teppiche tropfte. Im ersten Augenblick dachte sie, daß er schlimmer verletzt war, als es ausgesehen hatte, aber dann fiel ihr Blick auf die zusammengekrümmte Gestalt, die in einer Ecke der Ladepritsche lag. Ihr Herz drohte auszusetzen, als sie erkannte, wer das war. Adrienne Feldglöck. Die Frau, die sie wahrscheinlich mehr haßte als jeden anderen Menschen auf der Welt, mit Ausnahme von Papa. Und Finlay brachte sie ausgerechnet zu ihr!

Finlay hob seine Frau unter angestrengtem Stöhnen auf die Arme, und das zeigte Evangeline mehr als alles andere, wie erschöpft und ausgebrannt er war. Er trug Adrienne zu Evangelines Bett und legte sie vorsichtig hinein. Dann setzte er sich neben sie. Der letzte Rest an Kraft schien ihn verlassen zu haben. Sein Kinn sank auf die Brust, und die Schultern hingen schlaff herab. Irgendwie ertappte sich Evangeline bei dem Gedanken, wie sie nur all das Blut je wieder aus ihren Teppichen und dem Bettzeug entfernen sollte, ohne ein Dutzend neuer Dienerinnen einzustellen. Aber dann riß sie sich zusammen und konzentrierte sich auf das, was im Augenblick wichtig war. Finlay brauchte ihre Hilfe. Sie eilte zum Barschrank, goß einen großen Cognac aus und brachte ihn zu ihrem Geliebten. Sie mußte das Glas in seine Hand drücken und ihn beinahe zum Trinken nötigen. Der Alkohol brachte wieder Farbe in sein Gesicht, und sein Blick wurde klarer. Evangeline kniete sich vor ihm auf den blutverschmierten Teppich.

»Was ist geschehen, Finlay? Warst du das?«

»Nein! Nein, das waren die Wolfs. Sie stirbt, Evangeline! Ich muß sie retten. Ich brauche die Regenerationsmaschine.«

»Ja, natürlich. Aber…«

»Ich weiß, was du denkst. Aber ich kann sie nicht einfach sterben lassen. Bitte, Evie.«

»Also gut. Ich tue es. Dir zuliebe.«

Evangeline erhob sich, ging zu der Spiegelkommode und schob sie zur Seite. Dann aktivierte sie die versteckten Kontrollen per Hand, indem sie sorgfältig einen geheimen Kode eingab. Ein Teil der Zimmerwand glitt zur Seite, und Finlays Regenerationsmaschine rollte aus der freigegebenen Nische.

Gregor war nicht der einzige Shreck, der Geheimnisse besaß.

Evangeline öffnete den langgestreckten, schmalen Apparat, der für ihren Geschmack zu sehr an einen Sarg erinnerte, und schob ihn hinüber zum Bett, wo Finlay bei seiner Frau saß. Er hob Adrienne sehr vorsichtig hoch und ließ sie in die Maschine gleiten, wobei er sich erneut über und über mit frischem Blut beschmierte. Der Verschluß senkte sich wie ein Sargdeckel auf Adrienne herab, und das war alles. Ihr Schicksal lag nun in den Händen der Maschine, und Finlay konnte nur noch abwarten und hoffen. Er zog einen Stuhl heran und fiel darauf wie eine Marionette, der man alle Fäden durchgeschnitten hat.

Evangeline stand bei ihm, hoch aufgerichtet, den Mund zu einem Strich zusammengepreßt. Sie mußte nichts sagen.

Finlay atmete tief durch. »Adrienne und ich sind die letzten Überlebenden der ersten Familie des Feldglöck-Clans. Alle anderen sind tot. Die Wolfs haben uns überfallen. Sie haben uns die Vendetta erklärt und uns in unserem eigenen Turm niedergemetzelt. Sie sind auch hinter mir her, aber ich konnte sie abschütteln. Ich hätte nicht herkommen dürfen, doch ich wußte nicht, wo ich sonst hingehen sollte.«

»Natürlich durftest du herkommen«, widersprach Evangeline.

»Jetzt bist du erst mal in Sicherheit. Niemand kann dir etwas tun, solange du bei mir bist. Ich bin so froh, daß du überhaupt fliehen konntest. O Finlay! Deine gesamte Familie?«

»Ja. Nur die Nebenzweige und entfernte Vettern und Basen sind noch übrig, und die Wolfs lauern in den Straßen und jagen auch sie. Der Feldglöck-Clan existiert nicht mehr.«

»Und Adrienne? Was ist mit ihr? Warum mußtest du sie herbringen?«

»Kid Death stach sie nieder, als sie meinen Bruder retten wollte. Eines Tages wird er dafür sterben. Ihre einzige Hoffnung besteht in der Regenerationsmaschine, die ich hier bei dir gelassen habe.«

»Aber warum? Warum mußtest du sie herbringen?« fragte Evangeline tonlos. »Warum hast du sie nicht einfach sterben lassen? Sie hat immer zwischen uns gestanden, und du sagst selbst, daß du sie nie geliebt hast. Das ist unsere Chance, Finlay! Wir müssen nichts weiter tun, als die Maschine abschalten und warten. Sieh mich nicht so an! Du hast ja keine Ahnung, wie schwer es für mich gewesen ist, alleine, ohne dich. Du hast keine Ahnung.«

»Ich kann sie nicht einfach sterben lassen«, erwiderte Finlay. »Das verdient sie nicht. Sie hat so tapfer gekämpft. Und was uns beide angeht – jetzt, wo es den Feldglöck-Clan nicht mehr gibt, ist auf meinen Kopf ein Preis ausgesetzt. Wir werden uns niemals zusammen in der Gesellschaft zeigen können, meine Liebste, weil ich nicht mehr zur Gesellschaft gehöre.

Sobald ich den Kopf aus der Deckung nehme und mich in der Öffentlichkeit zeige, bin ich ein toter Mann. Robert wird der neue Feldglöck sein, und er kann nur versuchen zu retten, was zu retten ist, und so viel von der Familie zu erhalten, wie nur irgend möglich. Er kann mir nicht helfen. Er darf es einfach nicht riskieren.

Aber vielleicht kann er Adrienne retten, wenn sie überlebt.

Er ist auf dem Weg hierher und bringt Unterstützung mit.

Meine einzige Chance besteht darin, ein Gesetzloser zu werden, vogelfrei, und in den Untergrund zu gehen. Du hast immer gesagt, du würdest mir überallhin folgen, ganz egal was geschieht. Denkst du noch immer so? Willst du wirklich alles wegwerfen, all deinen Reichtum aufgeben und mit mir in den Untergrund gehen? Willst du vogelfrei werden wie ich?«

Evangeline setzte sich zu ihm und drückte ihren Geliebten so fest sie konnte. »Natürlich will ich das, Finlay. Du bist alles, was ich je wollte.«

Eine Weile saßen sie schweigend beieinander und hielten sich in den Armen. Dann gab die Regenerationsmaschine eine Reihe drängender Geräusche von sich. Finlay und Evangeline erhoben sich zögernd und gingen hin, um die Anzeigen zu kontrollieren. Finlay nickte langsam, und Evangeline verbarg sorgfältig ihre wahren Gefühle.

»Sie ist schlimm dran, trotzdem hat die Maschine sie stabilisiert«, sagte Finlay schließlich. »Es wird eine Zeitlang dauern, bis die Maschine mit ihrer Arbeit fertig ist, aber wir können nicht so lange warten.«

»Du sagst, daß Robert herkommt?«

»Mit ein paar Freunden vom Militär. Sie werden nach Adrienne sehen und sie beschützen.«

»Die Wachen werden ihn nicht hineinlassen. Papa leidet seit der… Geschichte mit Letitia noch mehr an Paranoia als gewöhnlich, und seine Leute haben strikte Anweisung, jeden zu erschießen, der mich besuchen will und nicht zur Familie gehört. Du hast doch so ein Gerät…«

»Ein Implantat, Liebes. Nichts, was Robert helfen könnte.

Aber jemand muß bei Adrienne bleiben. Ich kann sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Das hat sie nicht verdient.«

»Schon gut. Laß mich nachdenken.« Evangeline verschränkte die Arme vor der Brust und ging im Zimmer auf und ab. »Hier… hier gehen mehr Dinge vor, als du auch nur ahnst, Finlay. Dinge, von denen ich dir noch nie etwas erzählt habe. Dinge, die mich betreffen…«

Finlay lächelte. »Ich weiß alles, was ich wissen muß.«

»Halt den Mund, Finlay. Du verstehst nicht. Ich mußte es geheimhalten, sogar vor dir. Ich bin ein Klon, und ich bin außerdem Mitglied der Untergrundbewegung.« Sie bemerkte, wie sich sein Gesicht verfinsterte, trotzdem blickte sie ihm weiter unverwandt in die Augen. »Die ursprüngliche Evangeline Shreck starb durch einen Unfall. Papa konnte den Gedanken nicht ertragen, ohne sie zu leben, und so ließ er mich klonen. Heimlich. Sieh mich nicht so an, Finlay. Bitte! Ich bin noch immer die gleiche Person, die ich immer war.«

»Wirklich?« erwiderte Finlay. »Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Wann ist das geschehen? Wie lange ist das her? Ist die Frau tot, die ich einmal liebte? Habe ich mich von einer Kopie zum Narren halten lassen?«

»Nein! Das alles geschah lange, bevor wir uns zum ersten Mal sahen und ineinander verliebten. Es hat immer nur dich und mich gegeben!«

»Wie kann ich jemals sicher sein?«

»Kannst du nicht. Du wirst mir vertrauen müssen.«

»Wie soll ich dir nach dieser Geschichte vertrauen? Ich habe dir alles von mir erzählt, sogar über den Maskierten Gladiator. Und du hast mir die Wahrheit verschwiegen.«

»Ich mußte es tun! Ich wußte, daß du so reagieren würdest!«

»Was sonst hast du mir noch verheimlicht?«

»Nichts, gar nichts! Ich habe dir alles gesagt, Finlay. Es gibt nichts sonst.«

Sie standen sich eine kleine Ewigkeit gegenüber und starrten sich schweigend an. Als Evangeline schließlich wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme so ruhig und entschlossen wie nur möglich.

»Wir können nicht hierbleiben. Ich kann dich in den Untergrund führen. Sie werden dich aufnehmen, wenn ich mich für dich verbürge. Die Wolfs können dir nicht dorthin folgen, und du bist in Sicherheit. Außerdem ist Valentin Wolf auch im Untergrund aktiv.«

»Also kann er mir auch dort gefährlich werden. Ich würde in eine Falle laufen!«

»Nein. Die Untergrundbewegung würde es nicht erlauben.

Wir haben sehr strenge Regeln, was interne Konflikte angeht.

Das ist auch nötig, weil wir sonst nichts bewegen könnten.

Wenn man in den Untergrund geht, läßt man sein altes Leben zurück. Wir könnten noch einmal anfangen, Finlay, ganz von vorn!«

»Also gut«, erwiderte Finlay. »Also gut. Ich kann jetzt nicht vernünftig über all das nachdenken. Wir werden später weiterreden, vorausgesetzt, daß es ein Später gibt. Was machen wir wegen Robert? Er wird sicher bald mit seiner kleinen Armee hier eintreffen und nach Adrienne sehen wollen. Die Wachen deines Vaters werden versuchen, ihn aufzuhalten, und ich glaube nicht, daß er in der Stimmung ist, ›Nein‹ als Antwort gelten zu lassen. Es wird zum Kampf kommen, und es hat genug Blutvergießen gegeben. Wie können wir ihn hereinbekommen? Kannst du die Befehle deines Vaters außer Kraft setzen? Nehmen seine Leute Befehle von dir entgegen?«

»Nein. Papa vertraut mir nicht, wenn es um wichtige Dinge geht.«

»Dann wirst du mit ihm reden müssen. Ruf ihn an und bitte ihn um Hilfe.«

Evangeline sah Finlay fest in die Augen. »Du weißt nicht, was du da verlangst.«

»Ich bitte die Frau um Hilfe, die sagt, daß sie mich liebt. Ich weiß, daß du und dein Vater nicht miteinander auskommen, aber… Sieh mal, es ist nicht wegen Adrienne. Es ist wegen mir.«

»Also gut«, erwiderte Evangeline zögernd. »Ich tue es für dich.«

Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und bereitete sich innerlich auf die Begegnung vor. Sie würde stark sein müssen, wie schon so oft. Evangeline ging zu ihrer Schminkkommode und setzte sich, wobei sie ganz automatisch ihr Nachthemd zurechtrückte. Sie mußte hübsch sein für Papa. Dann aktivierte sie den Kommlink und wählte die Privatnummer ihres Vaters. Der Spiegel ihrer Kommode flackerte und verwandelte sich in einen Bildschirm. Evangeline veränderte die Brennweite, so daß nur ihr Gesicht und ihre Schultern zu sehen waren. Der Schirm flackerte ein weiteres Mal, und dann saß sie ihrem Vater gegenüber. Gregor Shreck räkelte sich in einem bequemen Sessel, und das lange Nachthemd, mit dem er bekleidet war, trug nichts dazu bei, seine Leibesfülle zu verbergen. Er runzelte die Stirn, als er erkannte, wer ihn da angerufen hatte, und seine tief in den Höhlen liegenden Augen verschwanden fast unter den Fettschichten in seinem Gesicht.

»Evangeline, meine Liebe! Ich habe dir doch gesagt, daß ich bald kommen werde. Warum denn so ungeduldig?«

Seine Stimme klang genauso fett und widerlich, wie er aussah, aber sie ließ sich ihren Abscheu nicht anmerken. »Ich brauche deine Hilfe, Papa. Adrienne Feldglöck ist zu mir in meine Wohnung gekommen und hat mich um Hilfe gebeten.

Sie ist die einzige Überlebende eines Angriffs der Wolfs auf ihre Familie. Sie ist verletzt und verzweifelt. Ich habe ihr gestattet, einen ihrer entfernteren Verwandten anzurufen und um Hilfe zu bitten, und er ist mit einigen Freunden unterwegs nach hier, um sie zu schützen. Du mußte den Wachen Bescheid geben, daß sie ihn hereinlassen.«

Der Shreck hob eine Augenbraue. »Ich wußte gar nicht, daß du mit Adrienne Feldglöck befreundet bist?«

»Wir sind keine engen Freundinnen. Sie ist schließlich eine Feldglöck, oder? Aber ich glaube, sie wußte nicht, wo sie sonst hingehen sollte. Außerdem mochte ich die Wolfs noch nie so recht. Sie waren immer sehr unhöflich dir gegenüber.«

»Ja, das waren sie, meine Liebe. Das waren sie wirklich. Ich weiß trotzdem nicht so recht, Schätzchen. Du verlangst da eine ganze Menge. Es ist niemals gut, sich in eine Vendetta einzumischen, und außerdem scheinen die Wolfs zu gewinnen. Wenn die Feldglöcks erst am Boden liegen, sind die Wolfs in einer sehr mächtigen Position, und nur ein Dummkopf macht sich überflüssige Feinde.«

»Ich bitte dich um einen besonderen Gefallen, Papa.«

»Wirklich, mein kleiner Liebling?« Der Shreck beugte sich mit glitzernden Augen in seinem Sessel vor. »Und wie dankbar wirst du sein?«

»Ich werde die besonderen Sachen tragen, die dir so gefallen, und wir können all die Dinge tun, die du so magst. Ich werde deine liebende, gehorsame Tochter sein…«

Gregor Shreck lächelte. »Natürlich wirst du das, mein Liebling. Also gut, ich werde anordnen, daß man die Feldglöcks hineinläßt. Aber dafür wirst du schon sehr nett sein müssen, Evangeline.«

»Ja, Papa. Ich weiß.«

Sie schaltete den Kommlink ab, und ihr Vater wurde gegen ihr eigenes Bild im Spiegel ausgetauscht. Evangeline betrachtete das ernste, entschlossene Gesicht eine Weile und erkannte die Person dahinter nicht wieder. Das war nicht sie, jedenfalls nicht ihr wirkliches Ich. Andererseits – sie hatte schon so viele Dinge getan, die nicht ihrem wirklichen Ich entsprachen.

Sie wandte sich ab und blickte leidenschaftslos zu Finlay. Er saß auf der Bettkante und starrte, tief in Gedanken versunken, auf seine verschränkten Hände. Er war über und über mit Blut verschmiert, ein Teil davon sein eigenes, aber er hatte kein Wort von seinen Verletzungen gesagt. Er würde nie erfahren, wieviel seine Bitte sie kosten würde; was sie dafür hatte versprechen müssen. Er durfte es niemals erfahren. Finlay würde sein Leben wegwerfen, um ihren Vater zu töten, und das durfte sie nicht erlauben. Sie brauchte ihn zu sehr. Aber sie fragte sich, ob ihre Gefühle für ihn je wieder so sein würden wie früher.

»Was denkst du?« fragte sie leise.

»Meine Familie«, erwiderte er ohne aufzublicken. »Sie sind alle tot. Ich vermisse sie. Mein Vater starb, und ich hatte nie eine Gelegenheit, ihm mein wahres Ich zu zeigen. Er hat nie gewußt, daß ich ein guter Kämpfer bin, genauso wie er selbst.

William und Gerold sind auch tot. Sie waren da, mein ganzes Leben, haben sich um mich gekümmert und halfen mir, wenn ich sie brauchte. Jetzt sind sie alle nicht mehr, und nur ich bin übrig. Und ich bin nicht einmal mehr ein Feldglöck. Ich weiß nicht, was ich bin.«

»Du bist der Mann, den ich liebe«, sagte Evangeline. »Der Mann, der mich liebt. Ich bin jetzt dein Leben. Oder reicht dir das nicht?«

Endlich hob er den Blick. »Ich habe immer gesagt, daß du alles bist, wonach ich mich wirklich sehne. Scheint, daß ich zuerst alles andere verlieren mußte, um herauszufinden, wie sehr das stimmt. Ich liebe dich, Evie; daran darfst du niemals zweifeln. Aber ich habe auch meine Familie geliebt, auf eine andere Weise, und ein Teil von mir ist mit ihnen gestorben.

Mein Leben ist aus dem Ruder gelaufen, und ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.«

»Wir werden weiterleben, so oder so. Du wirst eine neue Aufgabe im Untergrund finden. Mir ging es genauso. Und jetzt laß uns von hier weggehen. Ich denke, es ist am besten, wenn wir verschwunden sind, bevor dein Vetter mit seiner kleinen Armee eintrifft.«

Finlay runzelte die Stirn. »Du meinst, wir sollen Adrienne einfach in der Maschine zurücklassen? Wird sich dein Vater denn nicht fragen, was die Maschine hier zu suchen hat?«

»Ich werde mir schon eine plausible Erklärung für ihn einfallen lassen. Laß uns jetzt endlich gehen, Finlay. Wir haben alles für deine Frau getan, was wir tun konnten.«

Finlay nickte zögernd und erhob sich. »Ja, du hast sicher recht; das sehe ich ein. Du gehst voraus, Evie, und ich folge dir.«

Evangeline lächelte. »Genau so stelle ich mir einen Mann vor.« Sie machte einen Schritt an ihrer Spiegelkommode vorbei auf die Wand zu. Ein Licht schaltete sich ein und enthüllte einen getarnten Aufzug. »Das war ursprünglich ein Fluchtweg für den Fall eines Feuers. Ein paar befreundete Kyberratten haben ihn aus den Dateien gelöscht, und nur ich weiß noch von seiner Existenz. Der Lift bringt uns ins zweite Kellergeschoß. Dort geht nie jemand hin. Deshalb hat auch nie jemand den versteckten Tunnel gefunden, der von dort in die Katakomben unter der Stadt führt. Du bist nicht der einzige mit Geheimnissen, Finlay. Der Tunnel ist ein sicherer Weg zum Untergrund, und ich habe ihn schon oft benutzt. Und jetzt komm endlich mit mir, Finlay Feldglöck. Oder möchtest du lieber bei deiner Frau bleiben?«

Finlay setzte sich in Bewegung und trat zu Evangeline. Er wollte seine Arme ausstrecken und sie drücken, aber als er die Kälte in ihren Augen und ihr starres Gesicht erblickte, hielt er in der Bewegung inne. Seine Arme fielen kraftlos an den Seiten herab. »Es tut mir leid, Evangeline. Ich weiß, was in dir vorgeht, was das für dich und uns beide bedeutet. Doch ich konnte sie einfach nicht liegen und sterben lassen. Es ist eine Frage der Familienehre, selbst wenn die Familie nicht länger existiert. Ich habe Adrienne nie geliebt, aber ich bewunderte sie. Sie hatte nie Angst, stark zu sein und zu sagen, was sie fühlte, ganz egal, wie die Konsequenzen aussehen mochten.

Auf ihre Art und Weise war sie immer ehrenhaft.«

»Und du stellst deine Familienehre über uns und unsere gemeinsame Zukunft?«

»Was ist denn mit deiner eigenen Familienehre? Wir hätten genausogut einfach verschwinden können, und Robert und seine Leute hätten sich den Weg in euren Turm freigekämpft, aber das wolltest du nicht zulassen. Du hast lieber einen Handel mit deinem verachteten Vater abgeschlossen, als zuzulassen, daß bewaffnete Männer aus einem anderen Clan auf das Haus deiner Familie losgehen. Es wäre falsch gewesen, und du wußtest das. Bitte, Liebling, laß uns nicht länger darüber streiten. Laß uns einfach gehen. Es gibt nichts mehr, das uns hier noch länger hält.«

Evangeline nickte schweigend, weil sie ihrer eigenen Stimme nicht vertraute, und betrat den Aufzug. Finlay folgte ihr, und die Türen glitten lautlos hinter ihnen zu. Evangeline hämmerte mit der Faust auf den ›Abwärts‹-Knopf, und der Lift setzte sich in Bewegung. Zum ersten Mal seit Finlays Auftauchen entspannte sie sich ein wenig. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Unterwegs kommen wir an einem Versteck vorbei, wo wir uns umziehen und ein wenig frisch machen können«, sagte sie, ohne den Blick von den geschlossenen Türen abzuwenden. »Wir sehen beide nicht gerade salonfähig aus, oder? Bist du schwerverletzt? Es gibt eine Erste-Hilfe-Ausrüstung, aber das ist alles.«

»Mir fehlt nichts«, erwiderte Finlay. »Ich heile ziemlich schnell.«

Evangeline sah ihn fragend an. »Laß mich raten – ein weiteres Implantat?«

Er zuckte die Schultern. »So etwas Ähnliches. In der Arena muß man jeden noch so kleinen Vorteil ausnutzen. Die Regenerationsmaschine vollbringt wahre Wunder, aber man muß lange genug leben, um zu ihr zu kommen.«

»Die Spiegelkommode schiebt sich von alleine wieder an ihren Platz zurück, und niemand wird sich erklären können, wohin wir verschwunden sind. Papa wird überrascht sein, wenn er bemerkt, daß ich nicht auf ihn warte, aber bis dahin sollte dein Vetter Robert Adrienne schon erreicht haben.«

»Wird dein Vater sehr wütend sein?« fragte Finlay.

»O ja, sehr. Kann dein Vetter mit ein wenig Druck umgehen?«

»Sicher. Robert ist ein ganzes Stück härter geworden als damals, der arme Kerl. Was wird dein Vater sagen, wenn du wieder zurück bist?«

»Ich weiß noch nicht, ob ich zurückgehe. Du wirst meine Hilfe benötigen bei deinem neuen Leben im Untergrund. Und der liebe Papa kann sich meinetwegen zur Hölle scheren. Ich hätte mein Bündel schon lange gepackt und mich ganz in den Untergrund geflüchtet, wenn du nicht gewesen wärst. Und wenn ich nicht eine so nützliche Kontaktperson für den Untergrund gewesen wäre. Aber ich schätze, dieser Teil meines Lebens ist vorbei. Was von jetzt an auch geschehen mag, wir werden Zusammensein, du und ich. Und das ist alles, was wirklich zählt.«

Evangeline blickte noch immer unverwandt auf die Tür, aber ihre Hand war an der richtigen Stelle, als er die seine ausstreckte.

Die beiden Liebenden standen beieinander und fühlten sich durch die Gegenwart des anderen sicher und geborgen, während der Lift immer weiter in die Tiefe sank. Schließlich glitt die Tür wieder zur Seite und gab den Blick auf das Tiefgeschoß frei, einen leeren, kahlen Betonraum, der mit Abfällen und Müll übersät war. Evangeline rührte Finlay zu einer weiteren verborgenen Tür, und sie marschierten durch enge, niedrige Gänge und Tunnel in die Unterstadt, in die miteinander in Verbindung stehenden unterirdischen Systeme, in denen der Untergrund zu Hause war. Normalerweise verspürte Evangeline auf dem Weg nach unten ein Gefühl von Freiheit und Freude, weil sie ihre Rolle als brave Tochter mitsamt all ihren offiziellen Verpflichtungen hinter sich ließ, doch diesmal war es anders. Trotz all ihrer mutigen Worte wußte sie, daß sie mindestens noch ein einziges Mal in den Shreck-Turm würde zurückkehren müssen, um das Versprechen ihrem Vater gegenüber einzuhalten. Wenn sie das nicht tat, wenn sie sich statt dessen einfach bis ans Ende aller Tage unter der Stadt verbarg, wie sie es am liebsten getan hätte, dann würde er sich schrecklich an Adrienne und dem jungen Robert Feldglöck rächen und an all den schwächeren Feldglöcks, die er finden konnte. Sie hatte seine rasende Wut bereits erlebt. Niemand durchkreuzte je die Pläne des Shreck und kam ungeschoren davon. Und so schlimm war der Preis auch wieder nicht, den sie zu zahlen hatte. Schließlich hatte sie ihn schon oft genug gezahlt. Beim ersten Mal hatte sie noch gedacht, sich umbringen zu müssen, aber sie hatte es dann doch nicht getan. Sie war nicht stark genug gewesen. Finlay durfte es nie erfahren.

Zu seinem eigenen Besten.

Und wer wußte schon, was die Zukunft bringen würde?

Vielleicht würde sie eines Tages einen neuen Anfang machen können, zusammen mit Finlay, und sicher vor den kalten, feuchten Händen ihres Vaters. Evangeline lächelte verträumt.

Sie hatte jetzt soviel, dessentwillen sich das Leben lohnte.

Finlay, die Untergrundbewegung und vielleicht sogar die Gelegenheit zur Rache, irgendwann in ferner Zukunft…

Finlay betrachtete den Versammlungsort mit wachem Interesse. Eine verlassene Werkstatt, wie es den Anschein hatte, die mit halb zerlegten, überflüssigen Ersatzteilen vollgestopft war. Kabel baumelten von der hohen Decke herab, und verschlissene Bildschirme standen aufgereiht an den Wänden.

Sie knisterten vor Statik. Evangeline hatte ihrem Geliebten erzählt, daß sie hier die Anführer der Esper treffen würden, wo sie ihn einer Prüfung unterziehen und eine Entscheidung treffen konnten, aber Finlay erblickte nicht die kleinste Spur von ihnen, was er nur allzugut verstand. Der Ort war ein einziger Müllhaufen, und alles starrte vor Dreck. In ihm regte sich der starke Verdacht, er könnte sich allein durch seine bloße Anwesenheit bereits eine ansteckende Krankheit einfangen. Wenn das hier typisch war für die unterirdischen Anlagen, dann würde er sich zweimal überlegen, ob er blieb.

Alles hatte seine Grenzen.

Unvermittelt erschienen aus dem Nichts die Anführer der Esper in der Halle, und für einen Augenblick drohte Finlay die Fassung zu verlieren. Er starrte offenen Mundes und mit weitaufgerissenen Augen auf die Gestalten vor sich. Dann wurde ihm sein Benehmen bewußt, und er riß sich zusammen.

Finlay wußte, daß der erste Eindruck entscheidend war, und erinnerte sich an einen der Leitsätze der Aristokraten: Bewahre unter allen Umständen deine Würde. Er hoffte, daß niemand seinen Lapsus bemerkt hatte.

»Keine Angst«, flüsterte Evangeline neben ihm. »So geht es jedem, wenn er die Anführer zum ersten Mal zu Gesicht bekommt.«

Finlay konnte das gut verstehen. Ein Wasserfall schien gurgelnd und rauschend aus dem Nichts zu kommen und verschwand kurz über dem Torbogen genauso wieder. Dann erschien ein abstraktes Muster, das sich unendlich in sich selbst wiederholte, und ein gewaltiges Schwein, das größte, das Finlay je gesehen hatte, mit kleinen tückischen Augen und Blut an den Hauern. Und schließlich eine mehr als drei Meter

große Frau in einem Umhang aus schimmerndem Licht. Sie alle musterten ihn mit kaltem Desinteresse. Evangeline hatte Finlay gewarnt, daß die Anführer ihre wahre Identität aus Sicherheitsgründen hinter Illusionen verbargen, aber er hatte nicht erwartet, daß diese Illusionen so… so real sein könnten. Finlay schluckte mühsam und hielt den Kopf hoch erhoben.

»Interessante Freunde, die du da hast, Evie«, sagte er leichthin. »Normalerweise muß ich Valentin um ein paar seiner bunten Pillen bitten, wenn ich so etwas sehen will…«

»Halt den Mund, Finlay Feldglöck«, unterbrach Evangeline ihren Geliebten genauso energisch wie leise. »Du bist hier nur geduldet, vergiß das nicht. Der Untergrund hat nichts übrig für die Familien. Zu viele gute Männer und Frauen wurden in ihrem Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit von den Mächtigen getötet, und die Tatsache, daß ich bei dir bin, ist der einzige Grund, warum man dich nicht augenblicklich erschossen hat. Und sie haben nicht immer soviel Geduld mit mir. Also sei jetzt endlich still und laß mich versuchen, ein gutes Wort für uns beide einzulegen, ja?«

»Ich bin jetzt ein Gesetzloser«, erwiderte Finlay. »Und das bedeutet, daß sie mich aufnehmen müssen, oder etwa nicht?«

»Keineswegs«, meldete sich das riesige Schwein zu Wort.

»Nein, das bedeutet es nicht.« Seine Stimme war ein rumpelndes Dröhnen, das Finlay bis ins Mark drang. »Es gibt immer wieder Spione und Verräter, die versuchen, uns von innen her zu zersetzen.«

»Und was geschieht mit ihnen, wenn sie entdeckt werden?«

»Ich fresse sie auf«, erwiderte das Schwein.

Finlay beschloß, Evangeline die weitere Unterhaltung zu überlassen. Er setzte ein respektvolles Gesicht auf, während sie mit den Anführern sprach, und er achtete sorgfältig darauf, daß seine Hände nicht in die Nähe von Schwert oder Pistole kamen. Finlay musterte die normal aussehenden Leute auf der gegenüberliegenden Seite der großen ehemaligen Werkstatt, dann setzte er sich in Bewegung und gesellte sich zu ihnen.

Er verbeugte sich höflich und stellte sich vor: »Ich bin Finlay Feldglöck, oder genauer gesagt, ich war es. Ich vermute, ich bin nicht mehr berechtigt, diesen Namen zu führen. Seid Ihr auch Mitglieder der Untergrundbewegung?«

»Mein Name ist Huth«, antwortete ein großer Mann ohne Gesicht. »Ich bin Berater.«

Er war mit einem langen Umhang bekleidet und hatte eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Wahrscheinlich ein weiterer Esper, dachte Finlay. Er wandte seine Aufmerksamkeit den drei Frauen zu, die offensichtlich Drillinge waren, und schenkte ihnen sein charmantestes Lächeln.

»Verschwendet es nicht an uns«, sagte die linke von ihnen.

»Wir sind verheiratet.«

»Wirklich?« fragte Finlay. »Und mit wem?«

»Mit uns«, erwiderte die Frau in der Mitte. »Wir sind die Stevie Blues. Nennt uns Eins, Zwei und Drei, aber verwechselt uns nicht! Wir reagieren sehr jähzornig, wenn uns jemand verwechselt. Und wir sind wirklich sehr verschieden.«

»Jawohl, das sind wir«, stimmte die Frau zu, die ganz rechts stand. »Aber eines haben wir alle gemeinsam: Wir mögen keine Aristos.«

»So geht es heutzutage den meisten«, entgegnete Finlay.

»Vielleicht kann ich Euch davon überzeugen, daß wir nicht alle schlecht sind.«

»Das wagen wir zu bezweifeln«, sagten die drei Stevie Blues einstimmig. »Und wenn Ihr jetzt noch behauptet, daß einige Eurer besten Freunde Klone sind, muß ich kotzen«, fügte Stevie Eins hinzu.

Finlay beschloß, die Unterhaltung vorzeitig zu beenden und gesellte sich wieder zu Evangeline, die anscheinend am Ende ihres Plädoyers angekommen war. Klone. Wie Evangeline. Er wußte nicht recht, was er davon halten sollte. Er hoffte noch immer, daß er genug Zeit zum Nachdenken fand, aber die Dinge entwickelten sich für seinen Geschmack viel zu rasch.

Als er am Morgen als ältester Sohn und Erbe einer der mächtigsten Familien des Imperiums aufgestanden war, hätte er nicht im Traum daran gedacht, daß er am Abend hier unten enden könnte, von allen gejagt und vollkommen hilflos, während ein Klon mit ein paar Espern um sein Leben diskutierte.

Finlay hatte nie viel über Klone und Esper nachgedacht. Sie waren Gebrauchsgegenstände wie andere Dinge auch die seiner Familie gehörten. Und jetzt stand er hier und liebte einen Klon. Was auch immer sich an diesem Tag geändert hatte – seine Gefühle für Evangeline waren die gleichen geblieben.

Er hatte seine Familie verloren, zusammen mit seinem Platz in der Gesellschaft, und die Imperatorin, der sein ganzes Leben lang zu dienen er geschworen hatte, gehörte jetzt zu seinen unversöhnlichen Feinden. Aber seine Evangeline war ihm geblieben. Und am Ende war das wahrscheinlich auch alles, was zählte. Seine Geliebte sprach noch immer lebhaft für ihn und stritt mit den Anführern, und weil sonst niemand in der ehemaligen Werkstatt herumstand, mit dem er ein Gespräch hätte beginnen können, schlenderte er zögernd wieder zu Huth und den drei Stevie Blues. Ob es ihm nun gefiel oder nicht –

Leute wie sie würden seine zukünftigen Begleiter sein, also lernte er besser möglichst rasch, mit ihnen auszukommen.

Er war jetzt ein Gesetzloser, genau wie Owen Todtsteltzer.

Finlay wünschte, er hätte sich mehr Gedanken um Owen gemacht, als man den Todtsteltzer für vogelfrei erklärt hatte.

Jetzt erst verstand er, was in jemandem vorging, der verstoßen wurde. Er verdrängte den Gedanken an Owen und seine eigene Zukunft und nickte dem Mann ohne Gesicht zu. In seiner Zeit bei Hofe hatte Finlay mit allen Arten von Wahnsinnigen und Exzentrikern Konversation betrieben. Ein paar Klone und ein Esper sollten ihm da keine Schwierigkeiten bereiten. Und wenn mit seiner Aufnahme in den Untergrund etwas danebengehen sollte, konnte er immer noch Evangeline packen und sich den Weg nach draußen freikämpfen. Finlay war schließlich der Maskierte Gladiator, und er hatte schon stärkeren Gegnern getrotzt als diesen hier. Oder? Genaugenommen wahrscheinlich nicht, dachte er, aber er war fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so bei Euch hereingeplatzt bin«, wandte er sich an Huth, »doch das Leben an der Oberfläche drohte ein wenig zu ungemütlich zu werden.

Überall Disruptorfeuer und Meuchelmörder auf unseren Fersen. Aber Ihr wißt sicher selbst, wie das ist.«

»Ja«, erwiderte Huth. »Wir wissen, wie das ist. Aus diesem Grund sind wir schließlich alle hier. Aber die Tatsache, daß Ihr verfolgt werdet, gewährt Euch nicht automatisch Aufnahme in die Untergrundbewegung.«

»Richtig«, meldete sich Stevie Drei zu Wort. Finlay bewunderte ihre Kleider aus Leder und Eisen und erwischte sich bei dem Gedanken, wie Evangeline wohl darin aussehen mochte.

Er bemerkte, daß der Klon noch immer redete, und konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Stevie Drei grinste häßlich, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Soweit es uns betrifft, seid Ihr lediglich ein weiterer verdammter Aristo, der sich die Finger verbrannt hat und weinend in den Untergrund gerannt kommt, um dort Hilfe zu finden.«

»Nicht daß Ihr denkt, wir wären völlig ohne Mitgefühl«, sagte Stevie Zwei. »Ein Feind der Eisernen Hexe kann nicht ganz so schlecht sein. Aber wir gehen keine Risiken mehr ein.

Wir wurden zu oft enttäuscht.«

»Richtig«, stimmte Stevie Drei zu.

»Und wir können hier unten keine Schmarotzer gebrauchen«, sagte Stevie Eins. »Ganz gleich, wer Eure Feinde sind.

Was seid Ihr wert? Was könnt Ihr zu unserer Sache beitragen?«

Finlay errötete, und der aufsteigende Ärger ließ seine Hände instinktiv in Richtung der Waffen zucken. Zum Glück hatte er sich rechtzeitig wieder im Griff. Sie hatten ihm schließlich nur eine faire Frage gestellt, sonst nichts. Wenn sie seinen Namen bereits gehört hatten – wenn überhaupt –, kannten sie ihn nur als den berüchtigten Stutzer und Taugenichts. Die blutverschmierte Kleidung, in der er im Augenblick steckte, war nicht gerade ein Beweis für das Gegenteil. Es war schon lange her, daß Finlay sich vor jemand anderem hatte rechtfertigen müssen, und so überlegte er eine Weile, bevor er schließlich antwortete. Daß er mehrere Sprachen beherrschte und sich bei Tisch zu benehmen wußte, war sicher nicht die Antwort, die sie hören wollten.

»Ich bin ein Kämpfer«, sagte er. »Alle Waffen, alle Gegner.

Ich bin der Beste, den Ihr je gesehen habt.«

Die drei Stevie Blues warteten, und als sie erkannten, daß das alles war, was er zu diesem Thema sagen würde, grinsten sie. Huth kicherte leise. Es war kein angenehmes Geräusch.

»Vielleicht kommt Eure Chance, das zu beweisen, Feldglöck«, sagte er. »Und vielleicht kommt sie viel schneller, als Ihr glaubt.«

»Was ist mit Eurem Gesicht?« fragte Finlay. »Habt Ihr Euch beim Rasieren geschnitten?«

Huth wandte sich schweigend ab. Das Grinsen der drei Stevies verstärkte sich noch. Der große Mann ging zu Evangeline hinüber und unterbrach sie ohne Entschuldigung mitten im Wort. »Der Feldglöck bringt nur Schwierigkeiten. Valentin Wolf ist sein Feind, und das letzte, was wir hier unten gebrauchen können, ist eine blutige Fehde zwischen zwei Aristos.

Ganz besonders nicht dann, wenn so entscheidende Dinge bevorstehen. Schickt ihn weg!«

»Er ist zu uns gekommen, weil er in Not ist«, entgegnete der Wasserfall. »Genau wie einst Ihr selbst. Und er hat uns wenigstens sein Gesicht gezeigt und seinen Namen genannt, im Gegensatz zu Euch. Und da sollen wir ihm nicht dieselbe Güte gewähren, die wir Euch gewährten? Die ganze Welt dort oben ist jetzt sein Feind, genau wie der unsere. Sie würden ihn töten, genau wie sie uns töten würden. Wir nehmen ihn auf.

Vorläufig jedenfalls. Beweist Euch, Finlay Feldglöck, und Ihr werdet willkommen sein. Betrügt uns oder versagt, und wir töten Euch.«

»Verfügt über mich«, erwiderte Finlay. »Mein Schwert gehört Euch.«

Das gewaltige Schwein nickte, grunzte laut und wandte seinen massiven Kopf zu Huth. »Ihr sagtet, Ihr hättet eine wichtige Angelegenheit mit uns zu besprechen. Wir sind hier, also fangt an!«

»In seiner Gegenwart?« fragte Huth und deutete mit einer geringschätzigen Geste auf Finlay. »Ich muß schon sagen! Ich protestiere!«

»Er ist jetzt einer von uns. Akzeptiert ihn, wie wir Euch akzeptieren. Und jetzt fangt an!«

»Wie Ihr wünscht. Wir denken nun schon seit geraumer Zeit über einen Weg nach, wie wir die Esper- und Klonkameraden befreien können, die für unsere Sache zum Tode verurteilt wurden und im Gefängnis sitzen. Die meisten von ihnen werden in Silo Neun festgehalten, auch bekannt unter dem Namen Wurmwächterhölle. Ein Hochsicherheitsgefängnis, das von Dutzenden von ESP-Blockern und einer kleinen Armee von Wachen abgeschirmt wird. Es gilt als ausbruchsicher, und keinem unserer Leute gelang jemals die Flucht. Niemand kam je lebend hinein und wieder heraus, um davon zu berichten.

Wir wollten die Wurmwächterhölle schon oft stürmen, aber wir mußten unseren Angriff jedesmal abbrechen. Die voraussichtlichen Verluste waren einfach zu hoch. Jetzt jedoch bin ich in den Besitz zuverlässiger Informationen gekommen, die alles ändern. Heute abend werden die Wachen komplett ausgetauscht, genau um einundzwanzig Uhr, und neue Sicherheitseinrichtungen werden eingebaut. Für kurze Zeit wird das reinste Chaos ausbrechen, überall fremde Gesichter, die alte Apparate auswechseln und neue einbauen. Der perfekte Zeitpunkt für uns, um einen Angriff durchzuführen und all unsere Kameraden zu befreien, die in der Wurmwächterhölle verrotten. Aber wir müssen uns rasch entscheiden. Wir müssendem zuschlagen, wenn wir den Vorteil nutzen wollen. Die Behörden wissen, wie verwundbar sie während dieser Zeit sein werden, und genau aus diesem Grund wurde die Aktion bis zum allerletzten Augenblick vor praktisch jedermann geheimgehalten. Ich bin nur durch einen glücklichen Zufall dahintergekommen. Ich habe mich bereits mit all unseren Leuten in Verbindung gesetzt, die ich in der Kürze der Zeit erreichen konnte, und sie sind bereit zum Handeln, aber ich kann einen solchen Angriff nicht ohne Eure Genehmigung durchführen.

Wir müssen einfach zuschlagen! Wir werden nie wieder eine bessere Gelegenheit bekommen.«

Die Anführer wandten sich einander zu, und obwohl kein Wort zu hören war, konnte Finlay förmlich spüren, wie telepathische Ströme zwischen ihnen knisterten. Er stellte sich zu Evangeline und sprach mit gedämpfter Stimme. »Was hat das alles zu bedeuten, Evie? Ein Hochsicherheitsgefängnis nur für Esper und Klone? Wie kommt es, daß ich davon noch nie etwas gehört habe?«

»Nicht viele wissen es. Die Eiserne Hexe will verheimlichen, daß die berühmte Konditionierung genauso oft versagt, wie sie gelingt. Die meisten Esper oder Klone sterben bei dem Versuch, sich von ihrer Konditionierung zu befreien, aber eine ständig wachsende Anzahl überlebt. Man hat versucht, die mentalen Blocks und Kontrollen mit Hilfe von technischen Implantaten oder Chemikalien zu verstärken, sie richten mehr Schaden an, als sie nutzen, und es gibt einen dringenden Bedarf an Espern. Wir sind so nützlich, weißt du? Die ›Versager‹ werden in Gefängnisse gesteckt, bis man sich ihrer entledigen kann. Man macht sich nicht die Mühe, Gerichte anzurufen. Klone und Esper sind schließlich keine Personen, sondern Besitz. Silo Neun ist der Ort, wohin die hartnäckigen Fälle geschickt werden. Diejenigen, welche die Kühnheit besessen haben, ihre Befehle in Frage zu stellen, oder die es wagten, eigene Gedanken zu äußern. Und natürlich auch diejenigen, die verdächtig und für schuldig befunden wurden, für den Untergrund gearbeitet zu haben. Offiziell existiert Silo Neun überhaupt nicht. Was bedeutet, daß man mit seinen Insassen tun und lassen kann, was man will. Die Gefangenen sind nichts weiter als lebendiges Fleisch, das man ungestraft für alle Arten von Experimenten mißbrauchen kann. Das Imperium besitzt großes Interesse daran, seine Vorräte an Espern ständig zu vergrößern oder die Methoden zu verfeinern, mit denen man sie kontrollieren und disziplinieren kann. Wir reden hier von Gedankenwäsche, genetischer Manipulation und allen möglichen Arten von mentaler oder körperlicher Folter, die man sich nur denken kann. Manche Methoden funktionieren, manche nicht, aber es gibt immer genügend Lebendfleisch, mit dem man experimentieren kann. Manchmal führt das Imperium auch sogenannte wissenschaftliche Versuche mit ihnen durch. Einige von uns wurden in Silo Neun in wahre Monster verwandelt.«

»Und wer ist der Wurmwächter?« fragte Finlay.

»Er leitet Silo Neun. Er war einmal ein Mensch, aber das ist lange her. Der Wurmwächter besitzt künstlich verstärkte Esperfähigkeiten, die weit über alles hinausgehen, was je ein natürlicher Esper entwickelt hat. Er macht das Gefängnis erst zu der Hölle, die es ist, und er empfindet dabei richtiges Vergnügen. Das Leid und die Verzweiflung anderer machen ihn stark. Er ist der Grund, aus dem noch nie jemand lebend aus Silo Neun entkommen konnte.«

Finlay schüttelte langsam den Kopf. »Davon wußte ich nichts.«

»Du hast nie danach gefragt. Solange es immer ausreichend Klone und Esper für dich zum freien Gebrauch gab, hast du das System nicht in Frage gestellt, das sie hervorgebracht hat.

Und du hast dich auch nie gefragt, was mit dem Abfall geschah, den du weggeworfen hast, oder?«

»Ja, ja, schon gut! Es gibt eine ganze Menge Fragen, die ich mir nie gestellt habe, aber jetzt frage ich! Ich will alles wissen. Hat jemals jemand versucht, in dieses Gefängnis einzubrechen?«

»Niemand, der überlebt hätte, um davon zu berichten. Silo Neun besitzt Sicherheitseinrichtungen auf dem neuesten Stand der Technik. Immer. Wir waren noch nie imstande, an ihnen vorbeizukommen, doch das hier könnte die Gelegenheit sein, für die wir gebetet haben. Eine ganze Menge von uns wären ohne Zögern bereit, ihr Leben für eine Chance zu opfern, den Wurmwächter mitsamt seiner Hölle zu vernichten.«

Finlay blickte Evangeline fest in die Augen. Ich dachte immer, ich wäre dein Leben? »Du hast jemanden in Silo Neun verloren, stimmt’s? Jemanden, der dir nahestand.«

»Ja. Wir alle haben jemanden verloren. Sie war meine Freundin, bevor ich als Klon lebte, und später auch noch. Sie half mir, in meine Rolle als Evangeline zu schlüpfen. Der einzige Mensch, mit dem ich je über alles reden konnte. Sie holten sie eines Tages mitten in der Nacht ab, und ich sah sie nie wieder. Papa hat alles versucht, um herauszufinden, was mit ihr geschehen ist – aus Furcht, sie könnte reden –, aber selbst er hat nicht erfahren, was mit denen geschieht, die in der Hölle des Wurmwächters landen.«

Evangeline verstummte, und Finlay wußte nicht, was er auf ihre Worte erwidern sollte. Sie blickten zu Huth, der noch immer eifrig versuchte, die Anführer von seinem Plan zu überzeugen.

»Ich habe einige meiner eigenen Leute in die Reihen der neuen Sicherheitskräfte einschleusen können, und ich habe ein paar tapfere Kyberratten dazu bewegen können, ein elektronisches Störfeuer zu entfachen, das mit unserem Angriff einhergeht. Sie werden die Sicherheitsanlagen sabotieren, während wir unsere Leute befreien, und damit die Wachen daran hindern, Hilfe von außen herbeizurufen.«

»Also gut«, sagte das riesige Schwein. »Wir sind überzeugt.

Setzt alles in Bewegung, Huth. Wir werden die Nachricht über das Esper-Netz verbreiten, während Ihr die Klone organisiert. Unser Angriff auf Silo Neun beginnt in genau einer Stunde. Los, setzt Euch in Bewegung!«

Huths leere Kapuze nickte knapp, dann drehte er sich um und verschwand aus der Kammer, ohne noch weitere Notiz von Finlay oder Evangeline zu nehmen. Finlay blickte Evangeline fragend an.

»Das geht mir alles zu schnell. Ihr habt wirklich vor, auf das bloße Wort dieses Mannes hin einen Angriff auf ein Hochsicherheitsgefängnis zu starten?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Evangeline. »Wir vertrauen Huth. Er hat uns in der Vergangenheit wertvolle Informationen geliefert. Wir planen seit Jahren einen Angriff auf die Hölle des Wurmwächters, und wir waren bereit zuzuschlagen, sobald sich auch nur eine winzige Gelegenheit bot. Wir träumen seit langem davon, Finlay Feldglöck. Viele Blutschulden werden heute eingelöst werden.«

»Aber was ist, wenn etwas schiefgeht?«

»Dann geht es schief! Wir können eine solche Chance nicht einfach verstreichen lassen! Vielleicht ist es die letzte für Jahrzehnte! Du kannst dir nicht vorstellen, wie es in diesem Höllenloch aussieht, Finlay. Keiner von uns kann das!«

»Das stimmt nicht ganz«, mischte sich das schwebende Mandala mit kühler, emotionsloser Stimme ein. Finlay bekam schon alleine vom Betrachten des Musters Kopfschmerzen, also blickte er zur Seite und konzentrierte sich auf die Stimme, als das Mandala fortfuhr. »Wir stehen in Kontakt mit einer unserer Verbündeten in Silo Neun. Sie hat sich freiwillig gemeldet und darauf bestanden, sich gefangennehmen und in die Hölle des Wurmwächters stecken zu lassen. Wir haben eine Menge Zeit damit verbracht, sie auf das vorzubereiten, was sie dort erwartete. Es sollte danach aussehen, als zerbräche sie bei ihrer Vernehmung, aber in Wirklichkeit sollte der verborgenste Teil ihres Selbst frei bleiben. Wir können in sie hineinlauschen, aber wir können nicht mit ihr reden. Sie wußte, daß sie mit ziemlicher Sicherheit in den Tod geht, trotzdem meldete sie sich freiwillig. Nur damit wir eine Gelegenheit bekamen, Nutzen aus ihr zu ziehen. Sie war bereit, Jahre im Gefängnis zu ertragen, wenn es sein mußte. Habt Ihr je ein derartiges Opfer in Eurem Leben erbracht, Finlay Feldglöck?

Habt Ihr je ein derartiges Risiko auf Euch genommen?«

»Jedesmal, wenn ich die Arena betreten habe«, erwiderte Finlay. »Aber das war nur für mich alleine. Ich habe mich nie um jemand anderen geschert, bis ich Evangeline kennenlernte. Und dann kümmerte ich mich nur um uns beide. Vielleicht ändert sich das jetzt alles, wer kann das schon sagen? Ich weiß noch nicht, was alles auf mich zukommt. Ich… ich glaube, ich kann gar nicht richtig ermessen, was das Leben hier unten für Euch bedeuten muß.«

Dann laß es uns dir zeigen, meldeten sich die Stimmen der Anführer in seinem Kopf, und ein Sturm brach über Finlay herein wie eine unwiderstehliche Flut aus blendendem Licht.

Er wurde in einem Ansturm von Emotionen und Bildern davongespült, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Finlay konnte Evangelines Gegenwart trotz des wirbelnden Malstroms spüren, und das beruhigte ihn so weit, daß er seine Gegenwehr aufgab und den Anführern erlaubte, ihn zu leiten.

Er lauschte in sich hinein, und nach einer Weile stiegen Gedanken in ihm auf, die nicht seine eigenen waren.

Johana Wahn war nicht ihr wirklicher Name. Sie hatte ihren wirklichen Namen aufgegeben, als sie sich zu diesem Auftrag gemeldet hatte. Sie hatte noch eine Menge mehr verloren, als die Eiserne Hexe sie in die Hölle des Wurmwächters hatte werfen lassen, aber irgendwie klammerte sie sich an ihren wirklichen Namen, das letzte Geheimnis, tief in ihr verborgen, wo ihre Folterknechte es nicht finden konnten, nicht einmal der Wurmwächter selbst. Für ihre Wärter war sie niemand anderes als Johana Wahn, die gefangene Terroristin. Ganz genau so, wie es die Anführer der Esper geplant hatten, obwohl sie davon nichts mehr wußte. Sie hatte eine Menge vergessen. Es war der einzige Weg zu überleben.

Johana lag zusammengekrümmt auf dem Betonboden ihrer Zelle, nackt und frierend. Die Zelle war leer, keine Möbel, kein Bett, nicht die geringste Annehmlichkeit, nur vier kahle Betonwände, die einen Raum von vielleicht der doppelten Größe eines normalen Sarges umschlossen, mit einer Decke, die so niedrig war, daß Johana nicht aufrecht stehen konnte, ohne sich den Kopf zu stoßen. Sie hatten sie in diese Zelle geworfen und das Licht ausgeschaltet, hatten laut gelacht und waren dann gegangen. Johana war allein in der Dunkelheit zurückgeblieben. Wasser und Brot war alles, was man ihr zu essen gab; sie steckten es durch ein Loch in der Decke, aber niemand sprach jemals auch nur ein Wort.

Mit Ausnahme des Wurmwächters.

Sie wußte, daß man sie nie wieder aus dieser Zelle lassen würde, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie sterben müßte, doch sie hatte keine Ahnung, wann das war. So kam es, daß Johana jedesmal zusammenzuckte, wenn sie die Wachen kommen hörte. Sie hatte Angst, die Wärter würden wegen ihr kommen, und sie kroch in eine Ecke ihrer Zelle und preßte sich ganz dicht an die Wand, als könne sie sich dort vor ihren Schergen verstecken. Aber sie gaben ihr immer nur Wasser und Brot und gingen wieder. Manchmal war es in ihrer Zelle heiß, manchmal kalt. Licht gab es nie. Sie hatte keine Ahnung, wie sie inzwischen aussah, wahrscheinlich ziemlich schlecht. Johana hatte sich kein einziges Mal waschen können, seit man sie hergebracht hatte, wie lange das auch immer hersein mochte. Sie hatte versucht, ihre Mahlzeiten zu zählen, aber schon bald den Faden verloren. Auf dem Boden in der Ecke ihrer Zelle befand sich ein Metallrost, der ihr als Abtritt diente. Johana hatte jedesmal Angst, wenn sie den Rost benutzte.

Manchmal hörte sie Geräusche von unten. Bewegungen. Tiere, die von ihr lebten.

Wie der Wurmwächter.

Am Anfang hatte sie sich die Seele aus dem Hals geschrien, doch das hatte nur dazu geführt, daß sie heiser wurde, und so hatte sie wieder damit aufgehört. Dann hatte sie begonnen, mit sich selbst zu reden, aber irgendwann war ihr der Gesprächsstoff ausgegangen, und sie hatte auch damit wieder aufgehört. Gelegentlich sang sie noch, ein letztes kleines Zeichen von Aufsässigkeit, aber allmählich beunruhigte sie der Klang ihrer eigenen Stimme. Sie stank. Der Gestank in ihrer Zelle nahm zu und ab, gerade soviel, daß sie sich nicht an den Geruch gewöhnen konnte. Johana hatte den Verdacht, daß ihr Wächter es absichtlich so eingerichtet hatte. Es war genau die Art von Spaß, die der Wurmwächter sich mit seinen Gefangenen leistete.

Sie hatten sie ganz leicht gefangennehmen können. Johana glaubte, daß es einen bestimmten Grund dafür gegeben haben mußte, obwohl sie nichts mehr davon wußte. Sie war ein Esper, doch ihre Fähigkeiten waren nur schwach entwickelt, und so hatte man ihr die Aufgabe angetragen, ungeborene Kinder im Mutterleib zu überprüfen und zu testen, ob sich ESP in ihnen entwickelte. Wenn die Antwort positiv ausfiel, wurden die Kinder entweder vor der Geburt abgetrieben oder nach der Geburt ihren Müttern weggenommen, um einem Leben der Ausbildung und Konditionierung zugeführt zu werden. Die Entscheidung war natürlich abhängig davon, ob das entdeckte ESP nützlich schien oder nicht. Die Methode war nicht narrensicher; trotzdem wurden die meisten entdeckt.

Die Mütter hatten Johana alle mit der gleichen beherrschten Verzweiflung angesehen, und sie hatte ihnen allen das gleiche leere Lächeln geschenkt. Für lange Zeit hatte sie nichts anderes als ihre Arbeit getan und sich genau an das gehalten, was man ihr gesagt hatte, ohne je Fragen zu stellen. Genau wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hatte – aber der konstante Umgang mit so vielen unschuldigen, reinen Kinderseelen war schließlich zuviel geworden. Sie hatte begonnen, ihre Begabung zu nutzen, um das ESP der Säuglinge zu verschleiern.

Es war ihr nicht schwergefallen. Die ESP-Fähigkeiten würden sich bei den Erwachsenen immer noch bemerkbar machen, doch auf diese Weise hatten sie wenigstens eine Chance auf ein halbwegs sicheres, normales Leben in Freiheit. Die Sicherheitsleute waren ihr auf die Schliche gekommen. Sie hatte sich nicht einmal besondere Mühe gegeben, ihre Vergehen zu tarnen. Vielleicht aus Aufsässigkeit. Vielleicht auch, weil unter all ihrer Konditionierung ihr eigenes Selbst hervorgekommen war, oder sonst etwas, das sie vergessen hatte, seit sie hier in der Wurmwächterhölle saß. Egal. Was auch immer es gewesen sein mochte, man hatte sie geschnappt.

Und jetzt war sie hier, allein in der Dunkelheit ihrer Zelle in Silo neun, mit einem Wurm in ihrem Kopf.

Licht fiel von irgendwo in den kleinen Raum. Ein gelbes, ungesundes Licht, das in ihr Assoziationen mit Krankheit und Niedergang hervorrief. Johana blickte an sich hinab und sah die Narben und Blutergüsse auf ihrer fahlen Haut. Der Gestank wurde plötzlich unerträglich, und sie würgte. Ihr Magen zog sich zu einem schmerzhaften Knoten zusammen, als die Fötusse kamen. Sie waren in ihrer Zelle, krochen durch die Schatten und Pfützen aus hellrotem Blut, kahle, rundliche Wesen mit Stummelarmen und -beinen, und sie näherten sich immer weiter, krochen über sie wie eine lebende Decke aus unerbittlichem lebendem Fleisch. Unfertige Fötusse zuckten periodisch auf dem kahlen Beton, während sie versuchten, sich zwischen Johana und den Boden zu zwängen, als wollten sie in ihre Mütterleiber zurückkriechen, aus denen sie so vorzeitig gerissen worden waren.

Johana wollte sie lieben, diese armen, unschuldigen Kreaturen, aber sie wußte bereits, was als nächstes kommen würde.

Der Wurmwächter hatte sie geschickt.

Zähne erschienen in den Säuglingsmündern, scharfe Haifischzähne, die durch blutige Gaumen wuchsen, und ganz langsam, ganz bewußt begannen die Fötusse, Johana mit ihren Haifischzähnen bei lebendigem Leibe aufzufressen. Jedesmal schwor sie sich aufs neue, nicht zu schreien, aber jedesmal schrie sie am Ende doch.

Die Zähne rissen ihr das Fleisch von den Knochen, und sie schrie und schrie und schrie, und ihr Blut floß in Strömen über den kalten Beton. Und während Schmerz und Entsetzen weiter zunahmen, begannen kleine Stummelfinger an ihren fest zusammengepreßten Augenlidern zu fummeln, um an die dahinter liegenden Augäpfel zu kommen…

Obwohl sie wußte, daß nichts davon real war, schrie Johana jedesmal, bis aus ihrer Kehle nur noch ein heiseres Krächzen kam.

Der Wurmwächter liebte seine kleinen Spielchen. Und Spiele mit dem Verstand seiner Gefangenen machten am meisten Spaß von allen.

Der Wurmwächter füllte einen riesigen Saal aus, ein niemals schlafendes, immer wachsames genetisch manipuliertes Monstrum aus schmierigen Fettmassen, das eher an eine Nacktschnecke als an einen Menschen erinnerte. Breite, schwabbelige Massen bleichen Fleisches nahmen den Raum ein, und sein gewaltiger, deformierter Schädel stieß an die Decke.

Lange, dicke Schläuche ragten an zahlreichen Stellen aus seinem Körper, versorgten ihn mit Nahrung und transportierten die Exkremente ab. Er hätte niemals selbst genug essen können, um seinen gewaltigen Hunger zu stillen, und so kümmerten sich die Behörden um seinen Leib, damit sein Geist frei durch die Zellen von Silo Neun streifen konnte. Die Eltern des Wurmwächters waren ganz normale Menschen gewesen, doch die Imperialen Wissenschaftler hatten an ihm gearbeitet und ihn genetisch manipuliert, als er noch ein Embryo gewesen war, um die Talente des vollkommenen Gefängniswärters zu schärfen und auszubilden. Der Wurmwächter kontrollierte und beherrschte den gesamten Betrieb, von den Lektronen, die die Sicherheitsanlagen von Silo Neun steuerten, über die Wachen, die seine Befehle entgegennahmen und durchsetzten, bis hin zu den kleinen Tierchen, die ihm Zutritt zu den Gedanken jedes einzelnen seiner tausend Gefangenen verschafften.

Jedesmal, wenn jemand nach Silo Neun geschickt wurde, aus welchem Grund auch immer, wurde in sein Gehirn ein kleiner, gentechnisch hergestellter, patentierter Wurm eingepflanzt. Der Wurm des Wurmwächters. Die Würmer blockierten die Kräfte der Esper, so daß sie niemanden mehr angreifen konnten, und sie schieden zahlreiche nützliche Substanzen in das Gehirn ihrer Wirte aus, die halfen, die Esper und Klone ruhigzustellen und gefügig zu halten. Und wenn hin und wieder ein Esper oder Klon genügend Kraft fand, gegen die Chemikalien anzukämpfen und einen Fluchtversuch zu wagen, verbrannte der Wurm ihm einfach das Gehirn.

Die Tierchen waren auch in anderer Hinsicht von Nutzen.

Der Wurmwächter verschaffte sich mit ihrer Hilfe Zugang zu dem Verstand der Aufsässigen und Widerspenstigen und sandte ihnen Alpträume, die nicht von der Realität zu unterscheiden waren, mit Ausnahme der Tatsache, daß man durch sie nicht starb – ganz gleich, wie sehr man unter dem Eindruck des umgebenden Entsetzens den Tod herbeisehnte. Der Wurmwächter sandte seine Träume aus, um zu lehren oder zu überzeugen, zu strafen und zu züchtigen – oder einfach nur, weil es ihm Freude bereitete. Es gab niemanden, der ihm das hätte verbieten können, und selbst wenn – es kümmerte keinen. Die Gefangenen würden so oder so sterben. Seine Würmer gaben ihm alle Macht der Welt, und sie waren weitaus billiger und einfacher einzusetzen als Hunderte individueller ESP-Blocker. Ihr Schöpfer hatte einen hochdotierten wissenschaftlichen Preis gewonnen, bevor er selbst in Silo Neun verschwunden war, um sicherzustellen, daß er niemandem seine Geheimnisse verraten konnte.

Der Wurmwächter genoß es, sich unter seine Monster zu mischen, mit denen er die mißgestalteten, schrecklichen Ergebnisse der Experimente mit Klonen und Espern heimsuchte.

Seine Gefangenen waren zu gefährlich, um jemals wieder freigelassen zu werden, und sie waren zu nützlich, um sie auf der Stelle zu töten, und deshalb befanden sie sich hier in Silo Neun und tobten und schrien in ihren Zellen und kratzten sich die Finger an den Betonwänden blutig. Sie waren nicht länger menschlich, aber sie waren auch keine Tiere; sie waren wild und furchterregend, kannten keinen Schmerz und keine Furcht, und manche von ihnen widersetzten sich selbst den stärksten Anstrengungen des Wurmwächters. Aber er gab nie auf, und sein massiver Geist streifte frei durch die Gänge zwischen den speziell verstärkten Zellen, wo er in den Köpfen seiner Opfer auf und ab spazierte, und sie schrien und schrien und schrien und heulten mit einer Wut, die die Wände beben ließ. Sie erkannten ihn nie; für sie war er immer nur ein Monster unter vielen, und der Wurmwächter lachte und lachte und lachte.

Sein Verstand streifte frei in den Köpfen der Gefangenen von Silo Neun umher und kontrollierte jeden Verstand, in dem ein Wurm wohnte; eine schleimige mentale Liebkosung, eine vorbeistreifende Berührung wie ein kalter Wind in einer Leichenhalle: der Überbringer der Alpträume, mächtig und schrecklich, entsetzlich und ohne jede Gnade, ein erbarmungsloser Teufel in seiner eigenen, privaten Hölle.

Finlay Feldglöck lag zusammengekrümmt auf dem Boden der ehemaligen Werkstatt und wimmerte leise. Sein Körper zitterte und schüttelte sich. Evangeline kniete neben ihm nieder, legte ihre kühlenden Hände auf sein fiebrig heißes Gesicht und murmelte ihm beruhigend zu. Finlay fühlte sich elend, befleckt und verletzt bis in den letzten Winkel seines Körpers und seines Verstandes. Die Gedanken des Wurmwächters waren wie vergifteter Stacheldraht durch sein Fleisch gefahren, und sie hatten all seine Gegenwehr erstickt, als er alles nachlebte, was Johana Wahn zugestoßen war, Weder der Wurmwächter noch Johana hatten seine Anwesenheit bemerkt, aber dadurch fühlte er sich nur noch hilfloser und unfähiger, Johana oder einem der anderen Opfer der geistigen Vergewaltigung durch den Wächter zu helfen. Finlays Hände ballten sich zu Fäusten, und sein Gesicht verzog sich zu dem vertrauten Totenkopfgrinsen, als er einen Entschluß faßte. Er würde das Monster in seinem Nest aufstöbern, und er würde es töten. Erst dann, und nur vielleicht, würde er sich wieder rein fühlen.

Finlay summte die beruhigenden Sprechgesänge, de er in der Arena gelernt hatte, und nach und nach verebbte sein Zittern. Seine Selbstbeherrschung kehrte zurück wie ein kühlender, vertrauter Mantel, und er setzte sich auf. Evangeline war noch immer besorgt über ihn gebeugt, aber er brachte bereits wieder ein kleines Lächeln zustande.

»Es geht schon, Evie. Ich bin wieder da. Ich schwöre dir, ich wußte nichts davon. Ich habe nie etwas über einen Ort wie Silo Neun oder seinen entsetzlichen Meister, den Wurmwächter, gehört, geschweige denn über die schrecklichen Dinge, die dort geschehen. Wenn das Parlament oder die Versammlung der Lords eine Ahnung hätten…«

»Viele von ihnen wissen Bescheid«, unterbrach ihn Evangeline. »Inoffiziell jedenfalls. Es ist ihnen egal, oder wenn nicht, dann schaffen sie es, jeden Gedanken daran aus ihrem Kopf zu verbannen. Klone und Esper sind keine Personen, erinnerst du dich? Wir sind nur Besitztum. Das Imperium hat uns geschaffen, und sie können mit uns tun, was immer ihnen beliebt.«

»Aber die Bevölkerung! Wenn die Leute Bescheid wüßten, wenn wir es ihnen erzählen würden… wenn sie verständen…«

»Man würde dir nicht erlauben, es zu erzählen. Die Produktion von Espern und Klonen ist für viele Leute zu wichtig.

Unterbinde den Handel, und Millionäre wären über Nacht bettelarm. Und was würde erst aus dem Imperium, das auf allen Ebenen von Espern abhängig ist? Es hat ein elementares Interesse daran, den Status quo unter allen Umständen zu erhalten. Warum sonst sollten sie deiner Meinung nach soviel Zeit und Geld darauf verwenden, den Untergrund als eine Bande rücksichtsloser, blutrünstiger Terroristen hinzustellen?

Es tut mir leid, Finlay. Mag sein, daß das alles neu ist für dich, aber wir leben bereits unser ganzes Leben damit.«

»Ich werde nicht erlauben, daß es so weitergeht«, sagte Finlay. »Es ist falsch. Es ist obszön. Es ist abgrundtief böse, und es verstößt gegen alles, an das zu glauben und zu ehren wir gelehrt wurden. Die Familien haben die Verpflichtung, ihre Völker gegen derartigen Mißbrauch zu schützen und sie gegen ein derartiges Entsetzen zu verteidigen!«

»Selbst Klone und Esper?« fragte Evangeline.

»Du hattest recht«, erwiderte Finlay. »Auch Klone und Esper sind Menschen.«

Evangeline lächelte ihn an. »Willkommen bei unserer Rebellion, Finlay Feldglöck. Der Angriff auf Silo Neun beginnt bald. Wirst du uns helfen?«

Finlay lächelte zurück, doch seine Augen waren kalt wie der Tod. »Versuch nur, mich aufzuhalten.«

Und so kam es, daß Finlay Feldglöck nun mit gezückter Pistole und erhobenem Schwert durch einen engen Wartungstunnel stapfte und eine kleine Armee von Rebellen durch die untereinander verbundenen Räume unter der Stadt führte; Evangeline ging an seiner Seite, und die große Waffe sah irgendwie unpassend aus in ihrer kleinen, zierlichen Hand. Finlay hatte nicht den geringsten Zweifel, daß sie nicht zögern würde, den Disruptor zu benutzen. Auch sie war in Johana Wahns Bewußtsein gewesen. Allein der Gedanke daran ließ Finlay die Hände um seine Waffen verkrampfen. Er hatte sich bei seinem Namen und seiner Ehre geschworen, die gequälte Frau zu befreien oder bei dem Versuch zu sterben. Es amüsierte ihn ein wenig, als er überlegte, wie er noch vor wenigen Stunden schon bei dem bloßen Gedanken außer sich gewesen wäre, einen Todesschwur wegen Klonen und Espern abzulegen.

Unvorstellbar! Sein Vater hätte ihn auf der Stelle enterbt.

Oder vielleicht auch nicht, wenn er gesehen hätte, was sein Sohn gesehen hatte. Der Feldglöck war ein harter, pragmatischer Mann gewesen, aber selbst für ihn wäre mit Silo Neun die Grenze überschritten gewesen. Der Feldglöck war trotz all seiner Fehler und Intrigen immer ein ehrenhafter Mann geblieben.

Finlay blickte sich um, doch es gab nur die nackten Wände und eine Decke zu sehen, die so niedrig hing, daß er gebückt gehen mußte, um sich nicht laufend den Kopf zu stoßen. Vor ihnen lag Dunkelheit, und hinter ihnen auch, aber die Gruppe von vielleicht fünfzig Männern und Frauen marschierte in einer Kugel hellen, goldenen Lichtes, das scheinbar aus dem Nichts kam und durch reine Gedankenkraft der Esper erzeugt wurde. Finlay hatte nicht gewußt, daß es Esper gab, die so etwas konnten. Allmählich beschlich ihn das Gefühl, daß er über Esper noch eine ganze Menge zu lernen hatte. Der Verdacht war zum erstenmal in ihm aufgestiegen, als einer der Esper-Anführer ihn angesehen und Finlay plötzlich einen Plan des langen, verschlungenen Weges im Kopf gehabt hatte, der ihn und seine Gruppe zu Silo Neun bringen würde. Die Karte befand sich noch immer in seinem Kopf, deutlich und klar, obwohl er noch nie hier unten gewesen war. Und sie verriet ihm auch, daß sie nicht mehr weit von den äußeren Verteidigungseinrichtungen des Gefängnisses entfernt waren.

Die etwa fünfzig Männer und Frauen, mit denen er unterwegs war (jedesmal, wenn er nachzählte, kam er auf ein anderes Ergebnis, weil einige von ihnen nicht die ganze Zeit bei der Gruppe waren), schienen eine Menge Lärm zu machen, aber Evangeline hatte ihm versichert, daß sie alle telepathisch vor Entdeckung abgeschirmt wären, während befreundete Kyberratten die technischen Systeme störten. Die Rebellen waren tatsächlich unsichtbar, bis ihr eigentlicher Angriff beginnen würde; zu diesem Zeitpunkt wären sie allerdings bereits tief im Herzen der Wurmwächterhölle, und es wäre viel zu spät, sie noch zu stoppen.

Huth stapfte auf der anderen Seite neben Finlay her. Er strahlte Ruhe und Zuversicht aus. Unter der Kapuze des großen Mannes war noch immer kein Gesicht zu sehen, was Finlay jedesmal höllisch erschreckte; aber Evangeline vertraute Huth, und so fand Finlay sich damit ab. Jedenfalls zeigte der Mann keine Anzeichen von Furcht oder Zweifel, trotz der Übermacht, der sie gegenübertreten würden, und das erkannte Finlay an. Von allen Dingen, die ein guter Kämpfer benötigte, war ein kühler Kopf in einer gefährlichen Situation eines der wichtigsten.

Die drei Stevie Blues gingen ein Stück weit voraus, an der Grenze zwischen Helligkeit und Dunkelheit, arrogant wie üblich und im perfekten Gleichschritt wie Soldaten. In ihren Rüstungen aus Leder und Eisen bildeten sie einen furchterregenden Anblick. Wie wilde junge Rachegeister auf dem Weg zur Vergeltung. Finlay wäre noch viel mehr beeindruckt gewesen, wenn er nicht die Überzeugung gehabt hätte, daß alle drei vollkommene Psychopathen waren. Aber wahrscheinlich war das genau die Art von Truppe, die man an seiner Seite benötigte, wenn man sich in die Tiefen der Hölle begab.

Es gab noch weitere Rebellengruppen, die alle auf unterschiedlichen Wegen die von Huths Leuten arrangierten Lücken in den Sicherheitssystemen des Gefängnisses überwanden, aber es gab keine Methode, um festzustellen, wie sie vorankamen. Alle Formen von Kommunikation, seien es technische oder telepathische, waren unsicher und konnten abgehört werden. Huths Plan beruhte auf einer Serie von gleichzeitigen Angriffen aus einem Dutzend verschiedener Richtungen, um in Silo Neun einzudringen, den Wurmwächter zu töten, die Gefangenen zu befreien und dann so rasch wieder zu verschwinden, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her, bevor größere Verstärkungskräfte eintreffen und die Rebellen aufreiben konnten. Nach außen hin war Finlay mit dem Plan einverstanden. Er besaß zumindest den Vorteil der Unkompliziertheit. Insgeheim jedoch konnte Finlay nicht anders, als sich an die Worte seines Lehrers aus der Arena zu erinnern, daß ein Plan, und sei er noch so gut, nur selten den Kontakt mit dem Feind überlebte. Wenn der Kampf erst begann, herrschte meist das Chaos. Doch Huth schien fest davon überzeugt zu sein, daß es keine größeren Zusammenstöße geben würde, wenn den Rebellen die Überraschung gelang. Finlay wünschte, er wäre genauso zuversichtlich.

Die drei Stevie Blues blieben unvermittelt stehen, hoben ihre Disruptoren und spähten mißtrauisch in die Dunkelheit vor sich. Stevie Eins wandte den Kopf zu den anderen um, als die Gruppe hinter ihnen anhielt. Jedenfalls glaubte Finlay, daß es Stevie Eins war.

»Hier ist eine Tür, die auf der Karte nicht existiert. Sie ist groß und massiv und ganz definitiv verschlossen. Soll ich sie in die Luft jagen?«

»Nie im Leben!« sagte Finlay schnell. »Wir befinden uns in unmittelbarer Nähe des Gefängnisses, wenn der fest der Karte stimmt. Ein Schuß mit einem Disruptor würde sämtliche Alarmanlagen gleichzeitig auslösen, und selbst die Kyberratten könnten daran nichts mehr ändern. Huth, es ist Eure Karte und Euer Plan. Was sollen wir tun?«

»Kein Problem«, erwiderte Huth. »Mein Leute warten auf der anderen Seite. Sie werden die Tür öffnen.«

Er trat vor und klopfte zweimal an die stählerne Tür. Sie glitt nach oben, und – grelles Scheinwerferlicht fiel in den Wartungstunnel und enthüllte eine Armee bewaffneter Wachen! Huth lachte laut und löste sich in Luft auf.

»Es ist eine Falle!« schrie Finlay. »Alles zurück! Huth hat uns in eine Falle gelockt!«

Und genau in diesem Augenblick brach das Chaos aus. Ein wirres Durcheinander von Stimmen, Schreien, Rufen und konfusen Befehlen erscholl in dem engen Tunnel, und dann brach nackte Panik aus. Die am weitesten hinten Stehenden wandten sich zur Flucht, aber eine weitere schwere Stahltür krachte von der Decke herab und versperrte ihnen den Rückweg. Soviel also zur telepathischen Unsichtbarkeit, dachte Finlay.

Er packte Evangeline am Arm und zog sie hinter sich in Deckung. Jetzt stand er zwischen ihr und den Bewaffneten.

Einen Augenblick lang wunderte er sich, warum sie noch nicht das Feuer eröffnet hatten und warum sie Masken trugen, als auch schon dichte Wolken übelriechenden Gases aus verborgenen Ventilen in den Gang strömten. Der erste Atemzug reichte bereits aus, um die ungeschützten Rebellen keuchend und hustend außer Gefecht zu setzen. Finlay versuchte, vor den Wolken zurückzuweichen, aber der Rückweg war abgeschnitten.

Und dann fuhr ein brüllender Wind durch den Korridor und wehte das Gas vor sich her zu den Wachen, verteilte und zerstreute es. Die verborgenen Ventile explodierten in Funkenschauern und hörten auf zu funktionieren, und kein neues Gas strömte mehr nach. Esperkräfte knisterten in der Luft wie flackernde Blitze, so dicht und intensiv, daß selbst ein normaler Mensch wie Finlay sie spüren konnte. Die Wachen erkannten schließlich, daß ihr Gasangriff zu nichts führte, und richteten ihre Waffen auf die Rebellen. Finlay hob in einem Reflex den Arm und schlug auf das Armband an seinem Handgelenk, das seinen persönlichen Energieschirm aktivierte. Das Brüllen der Disruptorstrahlen war in dem beengten Raum ohrenbetäubend und mischte sich mit dem Schreien sterbender und verwundeter Rebellen. Der Gestank verbrannten Fleisches und schmelzenden Metalls legte sich auf Finlays Schleimhäute, als Energiestrahlen durch Körper fetzten und von den Wänden aus verstärktem Stahl abprallten.

Sie wußten, daß wir durch diesen Tunnel kommen würden, dachte Finlay. Sie haben uns in eine Todesfalle gelockt. Er zielte beinahe ohne nachzudenken und schoß einer der Wachen durch den Kopf. Die Schädeldecke des Mannes explodierte in einem Schauer aus kochendem Blut und Hirn, und seine Kameraden wichen schreiend und schockiert zurück. Sie hatten nicht damit gerechnet, auf Widerstand zu treffen. Finlay grinste wild. Wenn du im Zweifel bist, tu das Unerwartete.

Er stürmte mit geschwungenem Schwert vor und rief den anderen zu, ihm zu folgen, und niemand war mehr überrascht als er selbst, als die Rebellen seiner Aufforderung tatsächlich nachkamen. Evangeline befand sich plötzlich an seiner Seite, den Kampfschrei ihres Clans auf den Lippen und ein Schwert in der Hand, und sie sah verdammt noch mal ganz danach aus, als wüßte sie genau, was man damit machte. Die überlebenden Esper und Klone stürmten direkt hinter ihm heran, feuerten ihre Disruptoren ab, wenn sie welche hatten, und wüteten mit telepathischer Macht unter den Wachen.

Schwerter krachten auf Schwerter, und die Wachen versuchten verzweifelt, dem wütenden Ansturm zu widerstehen.

Aber selbst nach ihren schweren anfänglichen Verlusten durch den heimtückischen Hinterhalt waren ihnen die Rebellen noch immer haushoch überlegen. Die Stevie Blues standen beieinander, auf den gleichen Gesichtern den gleichen grimmig entschlossenen Ausdruck, und brüllendes Feuer entsprang ihren Händen. Wachen ließen ihre Schwerter fallen und rannten in Panik schreiend davon, als ihre Kleider und Haare sich entzündeten. Andere wurden von Esperkräften übernommen und prallten mit tödlicher Gewalt gegeneinander. Blut spritzte durch die Luft, Knochen brachen, und Schädeldecken platzten unter dem unaufhaltsamen mentalen Druck, und einige Wachen standen einfach nur wie erstarrt da und starrten die Szenerie aus entsetzt aufgerissenen Augen an, während Telepathen nackte Todesangst in ihre Gehirne trugen, verbunden mit anbrandenden Wogen von Depression und Selbstvorwürfen.

Und die Rebellen, die wie Finlay keine Esperfähigkeiten besaßen, nahmen mit gezückter Klinge ihre tödliche Rache unter den hilflosen Gegnern.

Schließlich blickte Finlay sich nach einem weiteren Feind um und bemerkte, daß keiner mehr lebte. Verstreut auf dem Boden lagen Leichen in seltsam verkrümmten, unnatürlichen Haltungen in ihrem eigenen Blut wie zerbrochene Spielzeugpuppen, die gelangweilte Kinder einfach weggeworfen hatten.

Nur noch Rebellen standen auf den Beinen und blickten verstört um sich, und voller Trauer bemerkte Finlay, wie wenige von ihnen noch übrig waren. Von den fünfzig oder mehr Leuten, die ihn zu Beginn auf dem Weg nach Silo Neun begleitet hatten, lebten nur noch neunzehn, und drei von ihnen waren Stevie Blues. Er atmete tief durch, schaltete seinen Energieschild ab und wischte das Blut von seinem Schwert.

Irgend jemand mußte das Kommando übernehmen, und es sah ganz danach aus, als wäre Finlay dieser Jemand.

Er hatte keine autorisierte Befehlsgewalt, aber er hatte genug Zeit in der Arena verbracht, um zu wissen, daß Zuversicht manchmal alles bedeutete.

»Also gut, hört alle zu. Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß weitere Wachen auf dem Weg hierher sind, noch während ich spreche, und sie werden mit Sicherheit bis an die Zähne bewaffnet sein. Wir müssen einen Verteidigungskreis bilden.

Jeder, der ESP-Kräfte besitzt, sucht sich einen Korridor und bewacht ihn. Alle anderen schnappen sich einen Disruptor.

Wenn sich jemand nähert, dann ist es mit Sicherheit ein Gegner, also schießt, sobald Ihr ihn seht. Wenn Ihr die falsche Person tötet, dann könnt Ihr Euch später noch immer entschuldigen. Und jetzt setzt Euch in Bewegung!«

Die Stevie Blues und eine Handvoll anderer nickten ohne Widerspruch und eilten davon. Finlay wandte sich zu Evangeline. Auf ihrer Wange klebte das Blut eines anderen, und sie starrte wie betäubt auf die Berge von Toten, die überall herumlagen. Auf ihren Kleidern war noch mehr Blut, ein Teil davon ihr eigenes. Finlay nahm sie am Arm und drehte sie zu sich.

»Werde mir jetzt bloß nicht ohnmächtig, Evie«, sagte er.

»Ich muß wissen, was du weißt. Wie viele andere Gruppen wie die unsere sind an diesem Überfall beteiligt?«

»Fünf«, erwiderte Evangeline mit schwacher Stimme. Sie schluckte schwer und kämpfte sichtlich darum, ihre Fassung zurückzugewinnen.

»Können wir mit ihnen in Kontakt treten und erfahren, ob auch sie in einen Hinterhalt geraten sind?«

»Sind sie«, meldete sich eine leise Stimme von hinten. Es war ein kleiner, leicht übergewichtiger Mann mit großen Augen und einem offenen Gesicht. Er hätte ein Buchhalter sein können, wenn nicht das Schwert in seiner Hand und das Blut gewesen wäre, das seinen Ärmel bis zum Ellbogen durchtränkt hatte. »Ich bin Telepath. Denny Pindar ist mein Name.

Ich habe gehört, wie die meisten von ihnen starben.«

»Dann sind wir jetzt auf uns allein gestellt«, sagte Finlay.

»Ich sage, unsere Mission ist hiermit offiziell gescheitert, und ich sage weiter, daß wir so schnell wie möglich von hier verschwinden… als wäre der Leibhaftige persönlich hinter uns her.«

»Nein!« widersprach Evangeline mit aller Entschiedenheit.

»Wenn wir uns jetzt einfach umdrehen und wegrennen, sind die anderen umsonst gestorben.«

»Wenn wir uns ohne guten Grund auf feindlichem Territorium der feindlichen Übermacht stellen, dann sterben wir ebenfalls!«

»Ohne guten Grund?« Evangeline blickte ihm fest in die Augen. »Du hast einen Eid auf dein Leben geschworen, diesen Ort zu zerstören, Finlay Feldglöck! Ist dein Wort so wenig wert?«

»Verdammt. Ich hatte gehofft, du würdest mich nicht daran erinnern. Du hast wie üblich recht, Evie. Andererseits – was können wir schon erreichen mit der Handvoll Leute, die noch übrig sind?«

»Den Wurmwächter finden und töten. Er ist es, der diesen Ort zur Hölle macht. Ohne ihn fällt alles auseinander. Wir können die Gefangenen befreien und uns unseren Weg nach draußen freikämpfen.«

»Großartiger Plan«, sagte Finlay. »Bleibt uns noch genügend Zeit, um vorher ein Testament aufzusetzen? Also gut, werfen wir einen Blick auf die Lage. Pindar, könnt Ihr versteckte Kameras oder andere Überwachungsapparaturen erkennen?«

Der Esper konzentrierte sich und deutete nach einer Pause auf eine Stelle in der Wand, die sich durch nichts von ihrer Umgebung unterschied. Stevie Eins blickte von ihrer Position an einem der Korridore kurz zurück, und die Stelle ging in Flammen auf. Finlay nickte ihr anerkennend zu.

»Evie, können wir irgendwie Kontakt mit den Kyberratten aufnehmen? Vielleicht wissen sie mehr über das, was hier vor sich geht?«

»Nein. Der Plan sah vor, daß sie mit uns Kontakt aufnehmen können, aber nicht umgekehrt. Ihre Kommunikationsanlagen sind speziell abgeschirmt, im Gegensatz zu den unseren.«

»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf die Karte zu verlassen und zu hoffen, daß sie nicht auch Bestandteil der Falle ist.« Dann kam ihm eine Idee, und er blickte zu Pindar.

»Wie kommt es eigentlich, daß sie keine ESP-Blocker gegen uns einsetzen? Wir wären alle schon lange tot, wenn sie das getan hätten.«

Der Telepath schüttelte den Kopf. »In Silo Neun gibt es keine ESP-Blocker. Sie würden den Wurmwächter ebenfalls lahmlegen. Die Sicherheitsleute haben sich wahrscheinlich auf das Gas und ihre Übermacht verlassen. Bei den anderen Gruppen hat es ja auch funktioniert. Unsere Leute hatten keine Chance, sich zu verteidigen. Wenn Ihr nicht die Initiative an Euch gerissen und uns zuerst zum Angriff geführt hättet, hätten wir auch nur dagestanden und wären gestorben wie die anderen…« Er unterbrach sich, und seine Augen schweiften blicklos in die Ferne. »Wir kriegen Besuch.«

Finlay blickte automatisch zu den Stevie Blues. »Könnt Ihr etwas sehen?«

»Niemand kann sie sehen«, sagte Pindar. »Sie sind abgeschirmt. Es sind Kampfesper.«

»O Scheiße«, entfuhr es Evangeline. »Wir sind tot.«

Finlay funkelte sie an. »Wir sind erst dann tot, wenn ich es sage. Also gut, es sind Kampfesper – na und? Wir gehen ihnen einfach aus dem Weg.«

»Das wird nicht möglich sein«, entgegnete Pindar. »Sie kommen aus allen Richtungen.«

Finlay starrte den Telepathen an. »Könnt Ihr eigentlich nie etwas Positives von Euch geben? Können wir sie bekämpfen?«

»Nur, wenn du sie wirklich böse machen willst«, sagte Evangeline. »Kampfesper sind speziell ausgebildet und konditioniert, um gegen andere Esper zu kämpfen. Man kann nicht mit ihnen sprechen oder argumentieren, und sie machen keine Gefangenen. Sie töten und töten und töten, bis nichts mehr lebt außer ihnen selbst.«

»Es muß einfach einen Weg geben, sie zu bekämpfen«, brummte Finlay. »Es muß! Was ist mit Euch, Pindar? Könnt Ihr Euer ESP benutzen, um sie aufzuhalten?«

»Wenn es unbedingt sein muß«, erwiderte der Telepath und blinzelte eulenhaft. »Aber sie haben viel stärkere Kräfte als jeder von uns. Und sie sind in der Überzahl, sogar in sehr großer Überzahl.«

»Nur dann, wenn wir hier stehenbleiben und darauf warten, bis sie da sind«, widersprach Finlay. »Also werden wir ihnen entgegentreten. Pindar, welche der sich nähernden Gruppen ist die kleinste?«

Der Esper lauschte einen Augenblick in sich hinein, dann deutete er auf eine der Öffnungen im Tunnel. »Dort entlang. Vierundzwanzig Kampfesper, die näher sind als der Rest. Keine Wachen.«

»Dann also los«, entschied Finlay. »Stevie Blues, Ihr geht voraus. Röstet alles, was sich bewegt.«

»Klingt vernünftig«, sagte Stevie Eins.

»Recht hast du«, sagte Stevie Zwei.

»Ja«, stimmte Stevie Drei ihren Schwestern zu.

Die drei Esper-Klone setzten sich in Bewegung und trotteten vorsichtig den Korridor entlang. Ihre Eisenketten klapperten und rasselten laut und angsteinflößend. Finlay eilte hinter ihnen her, Pindar und Evangeline zu seiner Rechten und Linken, und der Rest der Gruppe schloß sich ihnen an. Finlay machte sich Gedanken, weil sie seine Befehle so schnell und widerspruchslos akzeptierten. Es bedeutete, daß sie wahrscheinlich noch immer unter Schock standen. Wenn sie wirklich gegen Kampfesper antreten müßten, konnten sie sich keine Schwäche leisten. Es würde ihren sicheren Tod bedeuten.

Finlay bemerkte überrascht, wie viel ihm das ausmachte. Sie hatten tapfer gekämpft. Sie verdienten, am Leben zu bleiben.

Ich werde allmählich sentimental, dachte er.

Die Rebellen stapften durch den Korridor und überprüften jede Abzweigung und jede Nische, an der sie vorbeikamen, aber nirgendwo lauerte ein Hinterhalt. Finlay stellte zu seiner Überraschung und Zufriedenheit fest, daß sie noch immer der ursprünglichen Route durch die unterirdischen Gänge folgten.

Wenn sie nicht abgedrängt wurden, würden sie genau dort herauskommen, wo der Wurmwächter zu finden war. Vielleicht. Ihm machte Sorgen, daß sie nicht auf weitere Wachen gestoßen waren. Anscheinend hatte man sie abgezogen, damit sie den Kampfespern nicht in den Weg geraten konnten.

Sie umrundeten eine Biegung, und die Stevie Blues blieben wie angewurzelt stehen, als Pindar ihnen eine Warnung zurief. Die restliche Gruppe hielt ebenfalls stolpernd an. Pistolen wurden gezückt und Schwerter erhoben, während alle angestrengt in die Dunkelheit starrten. Pindar runzelte die Stirn.

Finlay trat neben ihn und begann mit gedämpfter Stimme zu sprechen.

»Was ist los? Könnt Ihr etwas sehen?«

»Nein, aber genau das ist es. Mir macht Sorgen, daß ich nichts sehe. Überhaupt nichts. Und es ist zu still. Normalerweise hört man immer zumindest eine Art mentales Hintergrundrauschen, aber jetzt? Nichts, absolut gar nichts.«

Finlay wandte sich zu den Stevie Blues. »Röstet den Korridor vor uns, bis er glüht!«

Stevie Eins grinste ihn an. »Das gefällt mir. Genau meine Art von Plan!«

»Richtig«, stimmte ihr Stevie Drei zu.

Die drei konzentrierten sich, und eine brüllende Flammenwalze rollte durch den Korridor davon und sengte die Wände, bis sie purpurn glühten. Und dann blieb das Feuer stehen wie von einer unsichtbaren Barriere aufgehalten. Ein Esper direkt hinter Finlay begann zu zittern und sich zu schütteln. Andere wichen ängstlich vor ihm zurück, als er konvulsivisch zuckte und Blut aus Mund, Nase und Ohren schoß. Finlay versuchte den Esper an den Schultern zu packen, aber das gewaltige Zittern entriß ihn aus seinem Griff. Evangeline zog Finlay weg. Der Esper explodierte in einem purpurnen Nebel, der den gesamten Korridor ausfüllte und die Umstehenden mit Blut und Eingeweiden überzog. Finlay zielte und feuerte in einer fließenden Bewegung und beobachtete ungläubig, wie der Strahl aus seinem Disruptor von einem unsichtbaren Schirm abprallte.

»Kampfesper«, flüsterte Pindar. »Ausgebildet bis zur Perfektion und über Schwächen und Furcht hinweg konditioniert.

Sie kämpfen bis zum Tod, unserem oder ihrem eigenen.

Wahrscheinlich benötigen wir eine Kanone, um ihren Schild zu durchbrechen, aber selbst dann noch würde ich gegen die Kanone wetten.«

»Allmählich werde ich Eurer Unkenrufe überdrüssig«, brummte Finlay. »Ihr sagt immer nur Dinge, die niemand

hören will. Habt Ihr nicht zur Abwechslung einmal einen konstruktiven Vorschlag zu machen?«

»Ja«, entgegnete der Telepath. »Wir sollten sie packen, bevor sie uns packen.«

Er trat einen Schritt vor und bildete gemeinsam mit den anderen Espern eine Linie. Schweigend standen sie nebeneinander und starrten den Korridor hinunter. Plötzlich wurde die Gruppe von Kampf espern sichtbar, und für einen scheinbar endlosen Augenblick standen sich die beiden Gruppen reglos gegenüber und taten scheinbar nichts weiter, als sich gegenseitig anzustarren. An Pindars linkem Nasenloch erschien ein dünner Faden Blutes, und ein weiterer Rebellen-Esper begann unkontrolliert zu zucken. Weitere Esper traten vor, um sich den Imperialen Kampfespern zu stellen. Der Boden des Korridors riß auf, und ein tiefer Spalt pflanzte sich bis zu der gegnerischen Gruppe fort, wo er plötzlich wie von Geisterhand aufgehalten wurde. Jetzt waren nur noch die Stevie Blues übrig, um dem geistigen Kampf eine Wende zu geben. Sie traten simultan vor, wischten mit einer simultanen Bewegung die Haare aus der Stirn und verzogen das Gesicht zu der gleichen Grimasse, als sie sich konzentrierten. Hitze sammelte sich in der Luft vor ihnen, wild und knisternd. Die Wände an den Seiten begannen in einem dumpfen Rot zu glühen. Die Luft flackerte. Von ihren Gesichtern rannen Bäche von Schweiß, und Finlay wußte nicht zu sagen, ob wegen der Hitze oder der angestrengten Konzentration. Schließlich setzte sich das wütende Glühen auf den stählernen Wänden in Richtung der Kampfesper in Bewegung. Es kam bis zur Hälfte der Distanz, wurde langsamer und verharrte schließlich an Ort und Stelle, ganz gleich, wie sehr die Stevie Blues sich auch anstrengten.

Finlay blickte sich um. Er und Evangeline waren die einzigen aus der Gruppe, die noch nicht in das verbissene, lautlose Duell verwickelt waren. Er streckte den Arm nach einem der reglosen Esper, entwand ihm die Pistole aus der schlaff herabhängenden Hand und versuchte einen weiteren Schuß auf die Imperialen. Der Energiestrahl verlosch, bevor er die Distanz überbrücken konnte, aber Finlay gewann den Eindruck, daß er ein wenig näher herangekommen war als sein erster Schuß. Er griff nach einer weiteren Pistole.

»Nein«, sagte Evangeline. »Mit Energiewaffen kommen wir nicht weiter. Die Esper können Energie kontrollieren und absorbieren.«

»Und was schlägst du vor?« fragte er.

»Es sieht nach einem Patt aus. Die Kampfesper sind durch Drogen und mentale Implantate so aufgeputscht, daß sie eher sterben würden, als auch nur einen Schritt zurückzuweichen.

Aber mit ein wenig Glück bedeutet das auch, daß sie auf mentaler Ebene so sehr mit ihrer Verteidigung und dem Kampf beschäftigt sind, daß sie ganz vergessen, sich gegen einen rein physischen Angriff zu schützen.«

»Was soll ich also deiner Meinung nach tun?« fragte Finlay.

»Soll ich vielleicht zu ihnen gehen und ihnen die Köpfe zusammenschlagen?«

»Ich dachte eher an etwas… Drastischeres.«

Sie wühlte in einer ihrer Taschen und brachte ein eiförmiges Objekt zum Vorschein. »Eine Splittergranate. Einfach, effektiv und auf kurze Distanz extrem bösartig.«

Evangeline drückte auf den Zündknopf, kniete nieder und rollte die Granate über den Boden in Richtung der Kampfesper. Sie schien langsamer und langsamer zu werden, aber schließlich kam sie doch an. Finlay packte Evangeline, riß sie zu Boden und warf sich über sie, um sie zu schützen.

Eine ohrenbetäubende Explosion donnerte durch den engen Gang, und Splitter prallten singend von den massiven Wänden ab wie ein stählerner Regen. Plötzlich war der Druck in seinem Kopf verschwunden, und Finlay erhob sich unsicher auf die Beine. Seine Ohren klingelten, und sein Gleichgewichtssinn schien irgendwie gestört. Er entdeckte einen scharfkantigen Metallsplitter in seinem Oberschenkel, betrachtete ihn leidenschaftslos und zog ihn heraus. Die Wunde blutete nicht besonders heftig. Evangeline stand neben ihm auf, und er versicherte sich, daß ihr nichts fehlte. Sie hatte einen bösen Schnitt auf der Stirn, und Blut rann über ihr Gesicht, aber sonst schien sie unverletzt. Sie funkelte ihn wütend an.

»Wann wirst du endlich aufhören, mich dauernd in der Gegend herumzuschubsen, Finlay Feldglöck?« sagte sie zornig.

»Ich bin sehr wohl alleine imstande, mich zu ducken, weißt du?«

Ihre Stimme klang rauh und weit entfernt, als befänden sie sich beide unter Wasser. Finlay spürte, wie ein Grinsen seine Mundwinkel nach oben zu biegen begann, doch er verkniff sich eine Antwort. Evangeline schien nicht in der Stimmung für Scherze.

»Woher hast du die Granate?« fragte er schließlich.

»Papa hat in letzter Zeit immer darauf geachtet, daß die weiblichen Familienmitglieder voll bewaffnet aus dem Haus gehen«, erwiderte sie, »nachdem die Eiserne Hexe eine meiner Cousinen entführt hat. Und ich dachte mir, daß ein Disruptor ein wenig zu offensichtlich wäre. Man findet ihn sofort und kann zu leicht dagegen Vorkehrungen treffen, also entschied ich mich für Granaten. Ich weiß, sie sind nicht besonders subtil, aber ich denke, es zeigt, daß ich meines Vaters Tochter bin. Meinst du nicht?«

Finlay entschloß sich, das Thema nicht weiter zu verfolgen, jedenfalls nicht im Augenblick, und ging zu den langsam wieder zu sich kommenden Espern, um ihre Verletzungen zu begutachten. Die Explosion hatte alle von den Beinen gerissen, aber niemand war ernsthaft verwundet worden. Einige litten an Nasenbluten und Kopfschmerz, und die meisten hatten einen oder mehrere umherfliegende Splitter abbekommen; das war alles. Finlay atmete auf und ging den Korridor hinunter, um nachzusehen, was von den Kampfespern übriggeblieben war. Ein paar der zerrissenen Leichen waren noch erkennbar – die meisten nicht. Er hörte Schritte hinter sich und blickte sich um, in der Erwartung, Evangeline zu sehen. Aber es war Stevie Zwei. Finlay erkannte sie an dem bunten Band im Haar. Sie blickte ungerührt auf den blutigen Brei auf dem Boden.

»Hier stehe ich, Gott sei Dank, und ich bin frei. Meine Schwestern und ich wurden nämlich nur aus einem einzigen Grund geschaffen: Wir sollten die nächste Generation von Kampfespern abgeben. Wir konnten entwischen, aber viele unserer Freunde blieben zurück. Ich frage mich, ob ich ein paar bekannte Gesichter finde, wenn ich genauer hinsehe.«

»Besser, Ihr laßt das«, entgegnete Finlay. »Besser, es nicht zu wissen.«

Sie nickte, wandte sich um und kehrte zu ihren Schwestern zurück. Finlay folgte ihr und gesellte sich zu Pindar und Evangeline.

»Also gut«, sagte er barsch. »In welche Richtung gehen wir als nächstes? Ihr könnt darauf wetten, daß Verstärkungen unterwegs sind, und ich glaube nicht, daß einer von uns erneut einer größeren Anzahl von Kampfespern gegenübertreten möchte.«

»Der Plan hat sich jedenfalls nicht geändert«, sagte Evangeline. »Wir finden den Wurmwächter, töten ihn und befreien die Gefangenen.«

»Nur wir allein?« fragte Finlay.

»Siehst du sonst noch jemanden?«

»Was ist mit dieser Johana Wahn?« fragte Pindar.

»Was soll mit ihr sein?« Evangeline runzelte die Stirn. »Wir befreien sie, wenn wir die anderen auch befreien.«

»Ich denke, wir brauchen ihre Hilfe«, erwiderte Pindar.

»Die Untergrundbewegung hat sie aus einem ganz bestimmten Grund in Silo Neun eingeschleust. Sie besitzt sehr starke Kräfte. Viel stärker, als sie selbst auch nur ahnt. Sie sollte den Wurm Wächter töten.«

»Aber wir haben keine Zeit dafür, und wir haben keine Zeit für sie«, sagte Evangeline. »Johana Wahn wird sich gedulden müssen. Von hier aus geht es auf geradem Weg zum Wurmwächter. Wir müssen ihn erwischen, bevor das Imperium seinen Schutz verstärken kann.«

»Ich schätze, wir können ruhig davon ausgehen, daß das bereits in dem Augenblick geschehen ist, als wir in den äußeren Bezirk von Silo Neun eingedrungen sind«, entgegnete Finlay.

»Und jemand – oder sollte ich besser sagen etwas? – wie der Wurmwächter wird bestimmt nicht so ohne weiteres zu töten sein. Ich denke, wir benötigen jede Hilfe, die wir finden können.«

»Aber das ist nicht der Grund, aus dem du sie befreien willst«, sagte Evangeline kühl. »Du hast deinen Eid wegen ihr geschworen, und du siehst dich als den Helden, der in das Gefängnis einbricht und sie befreit. Finlay, du kannst es dir nicht leisten, eine persönliche Sache daraus zu machen. Das sind alles Johana Wahns in dieser Hölle. Sie leiden alle gleich, und sie verdienen alle, daß man sie befreit. Und der beste Weg dazu ist noch immer, das Monstrum zu töten, das sie hier festhält.«

Finlay runzelte die Stirn und dachte nach. Dann wandte er sich zu Pindar. »Könnt Ihr mit Johana in Kontakt treten? Kann sie uns empfangen?«

»Ich wüßte nicht, was dagegen spricht«, entgegnete der Telepath. »Auf diese kurze Entfernung müßte es sogar möglich sein, einen vollen Kontakt herzustellen.«

Sein Blick wurde leer, als sein Verstand sich suchend ausbreitete. Dann erhellte sich sein Ausdruck. Er hatte sie gefunden. Johana, hier ist der Untergrund. Wir sind gekommen, um dich zu befreien.

Johana Wahn erwachte zum ersten Mal seit ihrer Einlieferung in die Hölle des Wurmwächters zu vollem Bewußtsein, und das änderte alles. Ihr Verstand loderte hell wie eine Sonne, blendend und mächtig, und es bereitete Pindar beinahe Schmerzen, sie mit seinem geistigen Auge anzusehen. Die anderen Esper schlugen vergeblich ihre Hände vor die Ohren, als ihre Stimme wie Donner in ihr Bewußtsein drang. Selbst Finlay und Evangeline, die keinerlei ESP besaßen, konnten sie hören, als würde sie direkt vor ihnen im Korridor stehen.

Ich erinnere mich. Ich erinnere mich, wer ich bin, und ich erinnere mich, aus welchem Grund ich hierherkam. Geht zu dem Wurmwächter. Zerstört ihn, und ich werde die Gefangenen befreien.

Plötzlich war die gottähnliche Stimme wieder aus den Köpfen der Rebellen verschwunden, und langsam, einer nach dem anderen, senkten die Esper die Hände und warfen sich fassungslose Blicke zu. Sie waren vorübergehend telepathisch taub vom Donner der Stimme, und so redeten sie laut durcheinander. Finlay versuchte, einen Sinn in ihren Worten zu erkennen, aber außer einem Namen, der sich laufend wiederholte, konnte er nichts verstehen. Mater Mundi. Die Weltenmutter. Einmal mehr wandte er sich zu Evangeline und Pindar um und blickte sie fragend an.

»Was zur Hölle war das? Du hast mir schon wieder etwas verschwiegen, nicht wahr, Evie? Wer ist sie? Ich will eine Antwort!«

»Unsere Mutter Aller Seelen«, sagte Pindar. Er schien noch immer ein wenig außer Atem. »Die mächtigste Telepathin, die es je gab. Sie gründete die Untergrundbewegung. Kein Wunder, daß niemand wissen durfte, wer Johana Wahn in Wirklichkeit war, sie selbst eingeschlossen. Wenn die Eiserne Hexe gewußt hätte, daß sie hier in Silo Neun steckt, hätte sie ohne zu Zögern die gesamte Stadt mit Atomwaffen vernichten lassen, nur um sicherzugehen, Mater Mundi zu erwischen.

Wenn die Weltenmutter will, daß wir uns den Wurmwächter schnappen, dann schnappen wir uns den Wurmwächter. Man diskutiert nicht mit Gott, wenn man einen direkten Befehl von ihm erhält. Jedenfalls nicht, solange man nicht als brennender Strauch enden möchte.«

»Ihr glaubt, sie ist Gott?« fragte Finlay erstaunt.

»Jedenfalls das nächstliegende lokale Äquivalent dazu«, sagte Evangeline. »Mein Kopf fühlt sich an, als hätte jemand mit Stahlwolle darin herumgekratzt. Sie ist mehr als nur eine Telepathin, Finlay. Sie ist eine Naturgewalt. Wir sollten gehen und den Wurmwächter suchen. Welche Richtung müssen wir einschlagen?«

»Links«, sagte Stevie Drei.

Dank der Karte, die in ihren Köpfen hell und deutlich leuchtete wie ein Gral, dauerte es nicht lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Die Korridore vor ihnen lagen seltsam leer und verlassen. Keine Spur war mehr zu sehen von weiteren Kampf espern oder bewaffneten Sicherheitskräften. Das einzige Geräusch in ganz Silo Neun war das ihrer Schritte auf dem metallenen Fußboden, das seltsam hallend von den Wänden zurückgeworfen wurde. Finlay gefiel die Stille überhaupt nicht, und er hielt sein Schwert und seinen Disruptor fest umklammert. Wenn all die anderen Esper freigelassen werden würden, hätte ihr Lärm eigentlich das gesamte Gefängnis erfüllen müssen.

Der Gang, durch den sie sich im Augenblick bewegten, schien zum Verwaltungstrakt zu gehören. Ein verlassenes Büro hinter dem anderen. In den Zellentrakten hing die Decke viel niedriger. Immer noch wurden sie auf Schritt und Tritt von Überwachungskameras verfolgt. Finlay hatte den Stevie Blues verboten, sie weiterhin in Flammen aufgehen zu lassen.

Sie würden all ihre Kräfte dringend brauchen, wenn die Gruppe erst dem Wurmwächter gegenüberstand. Die Kameras ärgerten ihn trotzdem. Was zur Hölle war bloß mit den Kyberratten passiert? Sie sollten das Silo elektronisch stören und die Sicherheitssysteme in den Wahnsinn treiben. Die Fallen, die Huth gestellt hatte, hätten ihre Arbeit nicht beeinträchtigen dürfen.

»Versuch doch bitte noch einmal, mit den Kyberratten Verbindung aufzunehmen«, wandte er sich erneut an Evangeline.

»Ich versuche es die ganze Zeit, Finlay. Ich kriege einfach keine Antwort.«

»Schön, versuch’s halt noch einmal.«

Evangeline funkelte ihn an, aber sie besaß nicht mehr genügend Kraft, um sich wirklich zu ärgern. »An was ist dein letzter Sklave eigentlich gestorben, Feldglöck?«

»Er hat keine Verbindung aufgenommen, als ich es ihm sagte«, entgegnete Finlay. »Mach schon, Evie.«

Sie seufzte und betätigte erneut ihr Komm-Implantat, um sich auf den Kanal der Kyberratten aufzuschalten. »Evangeline an die Ratten, meldet Euch. Was ist los?«

Plötzlich plapperte in ihren Köpfen eine aufgeregte Stimme.

Sie war kaum zu verstehen, so eilig sprudelten die Worte hervor.

»Es ist eine Falle! Eine Falle! Sie warteten bereits auf uns.

In der Matrix. Imperiale KIs. Sie waren groß und mächtig und hell wie die Sonne. Wir waren auf der Stelle blind. Die meisten unserer Leute sind verschwunden, und ein paar sind definitiv tot. Wir können Euch nicht mehr helfen. Wir können nicht einmal uns selbst helfen. Ihr seid auf Euch selbst angewiesen.«

Danke sehr, dachte Finlay, als die Stimme verstummte. Er blickte zu Evangeline. »Dieser Bastard Huth hat uns nicht nur verraten, sondern auch eine verdammt gemeine Falle aufgestellt. Meiner Meinung nach müssen wir davon ausgehen, daß die anderen Gruppen inzwischen entweder tot oder gefangen sind. Unsere Gruppe ist alles, was noch übrig ist.«

»Nein«, widersprach Evangeline. » Mater Mundi ist bei uns.

Mehr brauchen wir nicht, Finlay. Du mußt Vertrauen haben.«

Finlay schwieg diplomatisch und folgte den drei Stevie Blues, die den Weg durch die Verbindungsgänge von Silo Neun voranschritten. Noch immer war keine Spur von irgendwelchen Wachen zu sehen, und die Korridore lagen so still und leise wie ein Dschungel, wenn die darin lebenden Raubtiere sich so eben außer Sichtweite auf die Lauer gelegt hatten und geduldig auf den geeigneten Augenblick zum Zuschlagen warteten. Die kleine Gruppe beeilte sich, einen nackten Gang mit stählernen Türen zu durchqueren. Irgend etwas an den Türen bereitete Finlay Unbehagen. Sie sahen solide aus, wie Türen, die sich nicht gerade häufig öffneten. Er blickte fragend zu Evangeline.

»Hast du vielleicht eine Idee, was hinter diesen Türen liegt?«

»O ja«, erwiderte sie leise. »Hier halten sie die Monster gefangen. Die Esper und Klone, mit denen die sogenannten Wissenschaftler von Silo Neun ihre Experimente durchgeführt haben. Die bedauernswerten Kreaturen sind nicht länger menschlich, weder in ihrer Gestalt noch Verstandesmäßig.

Wir können nichts tun, um sie zu retten. Was mit ihnen geschehen ist, kann niemand mehr rückgängig machen.«

»Und wenn schon, wir können sie doch nicht einfach in ihren Zellen verrotten lassen! Warum sprengen wir nicht die Türen aus sicherer Entfernung auf und lassen sie los? Dann haben sie wenigstens eine Chance, zu entfliehen, und die Behörden wären beschäftigt.«

»Nein. Vergiß nicht, sie haben trotz allem Würmer in ihren Köpfen. Und so lange der Wurmwächter lebt, gehören sie ihm. Mit Leib und Seele. Am Ende führt immer wieder alles zu diesem Teufel, Finlay. Er ist das böse, faulige Herz von Silo Neun. Seine Träume sind es, die Monster ausbrüten. Und jetzt komm weiter und sei etwas leiser, sonst weckst du sie am Ende noch auf.«

Und so gingen sie weiter, durch lange, verlassene Gänge und über Treppen, die immer tiefer und tiefer nach unten führten, mitten hinein in die Hölle des Wurmwächters. Bis sie schließlich vor einer hohen, glatten Mauer standen und der Weg zu Ende war. Finlay zog die Karte in seinem Kopf zu Rate, aber sie befanden sich ganz definitiv in einer Sackgasse.

Hinter der Wand gab es nichts als leeren Raum. Dann studierte er die Karte etwas sorgfältiger und runzelte die Stirn. Für eine leere Halle führten verdammt viele Leitungen und Röhren und Energiekabel durch die Wände hinein und hinaus.

Und schließlich wurde ihm bewußt, was er die ganze Zeit bereits geahnt hatte, ohne es sich eingestehen zu wollen: Sie waren im Nest des Wurmwächters angekommen.

»All dieser Raum nur für ihn allein?« fragte er. »Wie groß ist er denn?«

»Man sagt, sie würden ihm ein neues Nest bauen«, antwortete Evangeline. »Er soll für das jetzige zu groß geworden sein.«

Finlay beschloß, im Augenblick lieber nicht darüber nachzudenken. »Also gut, und wie kommen wir hinein? Welche Verteidigungsmöglichkeiten besitzt er?«

»Er benötigt keine Verteidigungseinrichtungen«, erwiderte Pindar. »Er ist der Wurmwächter. Es gibt keine Wachen, keine hochentwickelten Sicherheitssysteme, nichts. Nur ihn. Und das ist genug. Er ist der stärkste Esper, den das Imperium je hervorgebracht hat. Sein Verstand ist so hoch entwickelt, daß wir ihn nicht einmal ansatzweise begreifen können. Dunkel, undurchsichtig und übermenschlich kraftvoll. Und mit aller Wahrscheinlichkeit vollkommen verrückt.«

Finlay funkelte Pindar böse an. »Ihr habt immer eine Menge guter Neuigkeiten auf Lager, was? Er kann nicht wirklich so mächtig sein. Oder vielleicht doch?«

»Niemand weiß es«, kam Evangeline Pindar zu Hilfe.

»Niemand ist ihm je so nahe gekommen wie wir jetzt. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß das Imperium mächtig übertreibt, so muß er doch ganz erstaunliche Fähigkeiten besitzen, um ein Gefängnis dieser Größe ganz alleine zu überwachen.

Er steht mit Hilfe seiner Würmer in ununterbrochenem mentalem Kontakt zu Tausenden von Gefangenen, und er weiß zu jedem Zeitpunkt ganz genau, was jeder einzelne von ihnen gerade denkt oder tut. Noch ein weiterer Grund, aus dem noch nie jemand aus dieser Hölle entkommen ist.«

»Das wird ja von Minute zu Minute besser«, beschwerte sich Finlay. Er hob sein Schwert und die Pistole, aber ihr vertrautes Gewicht hatte alle Kraft und allen Trost verloren. Finlay starrte auf die lange, glatte Mauer, und sie schien seinen Blick ungerührt zu erwidern, ohne ihr Geheimnis zu verraten.

»Alles stirbt, wenn man es nur hart genug und lange genug trifft. Wie kommen wir hinein? Gibt es irgendwo eine verborgene Tür?«

»Keine Türen«, antwortete Evangeline. »Keine Fenster. Der Wurmwächter verläßt niemals sein Nest. Sie haben die Halle rings um ihn hochgezogen und dann versiegelt. Wir müssen uns einen Weg schaffen.«

»Großartig, einfach großartig. Du hast nicht rein zufällig noch ein paar von deinen Granaten dabei?«

»Ihr braucht keine Granaten«, meldete sich Stevie Eins. »Ihr habt uns.«

»Ich hab’ noch nie eine Wand gesehen, die uns hätte widerstehen können«, stimmte Stevie Zwei zu.

»Richtig«, ergänzte Stevie Drei.

Die drei Stevie Blues bezogen Position vor der großen Wand und blickten sie nachdenklich an. Plötzlich begann die Temperatur im Korridor spürbar zu steigen, und Finlay und die anderen zogen sich in sichere Entfernung zurück. Die Wand vor den drei Stevie Blues glühte in feurigem Kirschrot, und Dampf stieg auf. Es wurde heißer und heißer im Korridor, bis schließlich kleine Bäche aus geschmolzenem Metall an der Mauer hinabliefen. Die Hitze vor den Stevie Blues mußte unerträglich sein, aber sie wichen keinen Zentimeter zurück.

Sie hielten sich gegenseitig an den Händen, und Schweiß stand auf ihren Gesichtern, als noch mehr geschmolzenes Metall zu Boden tropfte. Schließlich brach die Wand nach innen weg wie warmer Karamel, und ein Loch erschien. Ein schrecklicher Gestank von faulendem Fleisch und Exkrementen drang in den Korridor. Die drei Stevie Blues verzogen ihre Gesichter simultan zu der gleichen Grimasse und strengten sich noch mehr an. Das Loch wurde rasch größer, und das Metall schmolz jetzt dahin wie Eis in der Sonne. Dann sahen sie zum ersten Mal den Wurmwächter.

Finlay hob einen Arm vor das Gesicht, um sich vor der Hitze zu schützen, und drängte vor. In angeekelter Faszination starrte er auf die schier endlose Ausdehnung blassen Fleisches, die an zahlreichen Stellen von Schläuchen durchbohrt wurde, so dick wie der Arm eines Mannes. Die Wunden waren um die Einstichstellen herum verheilt, und dicke narbige Wülste hatten sich gebildet, über die kleine Ströme von Stoffwechselprodukten rannen. Finlay spähte durch die sich immer noch erweiternde Öffnung, die inzwischen so groß wie eine Tür war, und erkannte dicht unter der Decke das Profil eines gewaltigen, entfernt menschenähnlichen Kopfes. Die Haut war straff gespannt, so daß ein normaler Gesichtsausdruck nicht möglich schien. Während Finlay noch hinblickte, begann der Wurmwächter zu seiner Überraschung böse zu grinsen. Seine Lippen waren beinahe schwarz vom Druck des angestauten Blutes, und die großen Zähne waren von einer schmutzig grauen Farbe. Seine Augen lagen im Schatten verborgen, aber Finlay zweifelte nicht daran, daß der Wurmwächter sie entdeckt hatte.

Die Stevie Blues heulten in plötzlichem Schmerz auf und taumelten von dem Loch zurück, das sie geschaffen hatten.

Sie rissen die Hände hoch und faßten sich an die Köpfe. Finlay und der Rest der Gruppe wurden einen Augenblick später getroffen. Er schrie entsetzt auf, als das Fleisch an seinen Knochen zu verrotten begann. Die Schmerzen waren beinahe unerträglich und erstickten jeden klaren Gedanken. Seine Haut verlor alle Farbe, wurde rissig und spröde, und in den schwindenden Muskeln wimmelten plötzlich Maden. Eiter und faulendes Gewebe fiel von seinen Gliedmaßen ab. Irgendwo in seinem Hinterkopf wußte er, daß das alles nicht real sein konnte, doch sein Körper war anderer Meinung. Der Wurmwächter spielte eins seiner Spiele.

Finlays Hände verkrampften sich um seinen Disruptor und das Schwert, aber er besaß kein Gefühl mehr in ihnen. Wie zur Hölle brachte der Wurmwächter das zustande? Finlay trug keinen Wurm in seinem Kopf, und die Kreatur hatte keinen Zugang zu seinem Verstand wie bei Gefangenen. Er braucht keinen, flüsterten Pindars Gedanken in seinem Kopf. Er bezieht seine Macht aus den Espern, die er mit seinen Würmern kontrolliert. Unsere Kräfte sind im Vergleich zu den seinen weniger als nichts. Einige der Gefangenen versuchen, sich seinem Zugriff zu widersetzen, weil sie wissen, daß wir hier sind, aber er ist zu mächtig, viel zu mächtig. Du bist unsere einzige Chance, Finlay Feldglöck. Du unterliegst seinem Einfluß nicht so leicht, weil du kein ESP besitzt. Töte ihn, Finlay Feldglöck! Töte die Kreatur, bevor unsere Körper wirklich glauben, was man ihnen sagt, und zu faulen beginnen. Er ist dabei zu gewinnen, Finlay Feldglöck. Er tötet uns alle, wenn du nichts unternimmst. Töte ihn! Töte ihn!

Finlay hörte entfernte Schreie. Sie stammten von den Gefangenen des Wurmwächters in ihren Zellen, der sie mit Hilfe der Würmer in ihren Gehirnen antrieb, gegen Finlay und seine Gruppe vorzugehen. Sie standen im Begriff, ihre einzige Hoffnung zu töten, und irgendwie schienen sie es zu wissen.

Beinahe hätte Finlay sich selbst in dem weiten Meer aus anstürmenden Gedanken verloren, aber langsam, Stück für Stück, fand er zu sich zurück schloß jeden anderen aus seinem Verstand aus, indem er sich auf die Übungen des Arenakämpfers besann. Ein einziger Augenblick ohne vollkommene Konzentration kann den Tod bedeuten. Finlay zog sich immer weiter zurück, doch er stand der Macht der Wächters noch immer hilflos gegenüber. Sie alle waren hilflos und allein, allein in der Dunkelheit mit dem Monster, das Wurmwächter genannt wurde.

Und dann geschah ein Wunder. Eines der gequälten Gedankenmuster explodierte in einem alles versengenden Ball von Licht, der die Dunkelheit zurücktrieb. Ein einziges Bewußtsein, rein und mächtig, griff nach draußen, scharte alle Gefangenen um sich und vereinigte sie in einem einzigen Schrei der Wut. Früher Johana Wahn, jetzt Mater Mundi, gab sie ihnen Kraft und Hoffnung und bündelte sie zu einem einzigen gewaltigen Über-Ich, das dem stärksten Esper des Imperiums ebenbürtig war. Aber nur ebenbürtig und nicht mehr. Tausende von Bewußtheiten schwankten hin und her in diesem ÜberIch, zerrissen zwischen Mater Mundis schierer Kraft und den kontrollierenden Würmern direkt an den Synapsen in ihren Köpfen. Die Gefangenen bekämpften sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst.

Und auch Finlay wurde in das Über-Ich gesaugt. Er konnte Evangeline neben sich spüren, aber irgendwie blieb sie immer genau außerhalb seiner Reichweite. Die Kräfte des Wurmwächters tosten ringsum wie der Donner mächtiger Schwingen, aber die Kreatur war außerstande, ihn zu packen. Finlay trug keinen Wurm in seinem Kopf, und noch wichtiger: Er war nicht nur ein Bewußtsein, sondern zwei. Und als der Wurmwächter in seinen Kopf eindrang und Finlay zu absorbieren begann, da kam der Maskierte Gladiator frei, unbemerkt, unbeobachtet, lauernd, wartend. Finlay tauchte tief in das Bewußtsein des Wurmwächters ein, scheinbar ein weiterer kleiner Sieg über die Anstrengungen Mater Mundis, ein weiterer Funke, der in der Dunkelheit verlosch, aber im gleichen Augenblick, als der Wächter Finlay Feldglöck umklammerte, begann der Maskierte Gladiator zu handeln. Er sprang vor, wie immer in seinem konturlosen stählernen Helm, dem er seinen Namen verdankte, in der Hand sein Schwert Morgana. Der Wurmwächter bemerkte, daß etwas nicht stimmte, und er spannte sich in einem Reflex – aber er hatte seinen tödlichsten Feind bereits zu tief in sein eigenes Bewußtsein gesogen. Der Maskierte Gladiator erblickte das einzelne, finstere Licht in der Mitte des umgebenden Raums, das ureigene, private Selbst des Wurmwächters, sein Innerstes – seine Seele, wenn die Kreatur denn eine hatte –, und es schien ihm sehr klein und sehr leicht zu überwinden. Und wirklich, es war die leichteste Sache der Welt für den Maskierten Gladiator. Er trat einen Schritt vor, zog seinen Helm ab und blies das Licht aus wie eine Kerze.

Dunkelheit senkte sich herab, als der Wurmwächter starb, und sein letzter, verhallender Schrei erstickte unter dem Triumphgebrüll der Gefangenen von Silo Neun, die endlich frei von seiner Umklammerung waren. Und Finlay Feldglöck, wieder der alte, sah ihnen zu, wie sie aus ihren Gefängniszellen strömten, um ganz sicher zu gehen, daß niemand zurückblieb, und dann schlenderte er lässig aus der Dunkelheit in das Licht, um den Beifall und die Anerkennung der anderen entgegenzunehmen.

Nur, daß Finlay, als er wieder in seinen eigenen Kopf zurückgekehrt war und die Augen öffnete, um sich umzublicken, sich in einem unbeschreiblichen Chaos wiederfand. Menschen rannten hin und her, und die Beleuchtung ging flackernd an und aus. Evangeline hing an seinem Arm, brüllte ihm etwas ins Ohr, und Pindar starrte entsetzt in die Runde. Finlay schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf das, was Evangeline ihm mitzuteilen versuchte.

»Finlay, wir müssen von hier verschwinden! Die Gefangenen sind alle frei, und Mater Mundi bahnt uns einen Weg aus dem Gefängnis. Die Verantwortlichen haben Panik bekommen und die Imperialen zu Hilfe gerufen. Tausende von Soldaten kämpfen bereits gegen Esper und Klone. Die Imperialen beziehen Prügel, aber es sind viel zu viele. Sie sind einfach überall, und sie werden bald auch hiersein. Wir müssen verschwinden, Finlay, so lange wir noch können!«

»Also gut«, erwiderte Finlay. »Ich bin wieder da. Wie viele sind wir?«

»Nur noch wir drei. Die anderen kämpfen alle gegen die Imperialen. Die Stevie Blues sind ganz in ihrem Element.

Inzwischen muß bereits das halbe Gefängnis brennen.«

»Und wo liegt dann das Problem? Wir verschwinden einfach auf dem gleichen Weg, den wir gekommen sind, und entkommen im Schutz der Kämpfe.«

»Ihr versteht nicht!« mischte sich Pindar ein. »Sie schaffen ESP-Blocker herbei. Hunderte von ESP-Blockern. Unsere Leute werden hilflos sein, unbewaffnet. Die Wachen werden sie schlachten.«

Finlay hob eine Hand und bedeutete Pindar zu schweigen.

Er mußte nachdenken. Sie waren nicht so weit gekommen und hatten so viel erreicht, nur um jetzt zu scheitern.

»Ich habe eine Idee«, sagte er schließlich. »Ich besitze ein Implantat, ein sehr hoch entwickeltes Stück Technologie, das mir ermöglicht, mich an Sicherheitssystemen vorbeizuschmuggeln, ohne entdeckt zu werden. Ich werde es über mein Komm-Implantat mit den Gefängnissystemen koppeln und die Überwachung außer Gefecht setzen. Dann kann jeder losrennen. Eine Menge unserer Leute werden es wahrscheinlich nicht schaffen, aber die meisten sollten überleben. Es ist kein besonders schlauer Plan, ich weiß, aber es ist die einzige Chance, die uns bleibt.«

»Macht es so«, sagte Pindar. »Ich gebe den anderen Bescheid.«

Er wandte sich ab, und die beiden Männer konzentrierten sich auf ihre unterschiedlichen Aufgaben.

Finlay und Evangeline gelang die Flucht. Pindar schaffte es nicht. Er wurde von einem Imperialen Soldaten, den er nie sah, in den Unterleib geschossen. Finlay tötete den Imperialen, aber es spielte keine Rolle mehr. Sie schleppten Pindar, so weit sie konnten, und ließen ihn zurück, als er gestorben war.

Sie fanden keine Spur von Evangelines Freundin, nach der sie so verzweifelt gesucht hatte.

Die Stevie Blues schafften es ebenfalls. Sie schoben eine Wand aus Flammen vor sich her. Mehr als der Hälfte aller Gefangenen gelang die Flucht. Sie strömten unter den blinden Augen der Sicherheitssysteme in die Freiheit, bevor die Imperialen ihre ESP-Blocker einsetzen konnten. Aber Hunderte von ihnen starben, und viele wurden wieder gefangen. Sie wurden in Ketten gelegt und abgeführt, hilflos durch die ESP-Blocker. Viele begingen lieber Selbstmord, als daß sie sich wieder gefangennehmen ließen.

Der Mann, der als Huth den Untergrund verraten hatte, schlenderte ohne besondere Eile durch die Korridore von Silo Neun. Er hatte seine Kapuze zurückgeschlagen, so daß jeder ihn deutlich als den Hohen Lord Dram, Oberster Krieger des Imperiums, erkennen konnte. Einige der gefangenen Esper und Klone aus dem Untergrund bespuckten ihn, bevor die Wachen sie niederprügeln konnten, aber Dram lächelte nur.

Überall lagen Leichen herum, und er mußte über die Toten steigen, wo er ihnen nicht ausweichen konnte. Teile von Silo Neun brannten noch immer, und der Wurmwächter war tot.

Im ganzen betrachtet, so gestand er sich ein, war die Operation, die den Untergrund hatte zerschlagen sollen, nicht so erfolgreich verlaufen, wie er gehofft hatte.

Andererseits waren viele Esper und Klone tot, und die Wachen hatten mindestens genauso viele gefangen, wie entkommen konnten. Der Plan der Untergrundbewegung, alle Gefangenen zu befreien, war nicht aufgegangen. Das Gefängnis würde wieder instand gesetzt werden, und man würde einen neuen Wurmwächter züchten. Irgendwann. Aber was wichtiger war: Mater Mundi war gezwungen worden, ihre Identität zu enthüllen und das ganze Ausmaß ihrer Kräfte. Und das für sich allein genommen war schon den Tod von Hunderten seiner Imperialen Wachen wert. Die Weltenmutter würde jetzt ernsthafte Schwierigkeiten haben, eine neue Tarnung zu finden, unter der sie ihr strahlendes ESP verbergen konnte. Und der Untergrund hatte einen empfindlichen Rückschlag erlitten, dank Drams Kenntnissen über seine innere Organisation.

Drams Leute waren bereits dabei, alle entsprechenden Orte zu durchkämmen. Es würde Jahre dauern, bis der Untergrund sich von diesem Schlag erholt und neu organisiert hatte.

Und als Huth kannte er darüber hinaus viele Namen und Gesichter einschließlich Finlay Feldglöck, Evangeline Shreck und Valentin Wolf. Finlay Feldglöck spielte nach der Zerschlagung seines Clans keine Rolle mehr, aber die beiden anderen würden ihm viel Macht über die Clans der Wolfs und der Shrecks verleihen. Sie würden sich nur zu bereitwillig vor ihm beugen, um zu verhindern, daß ihre Namen in einen Skandal verwickelt wurden. Derartige Macht war nicht mit Gold aufzuwiegen.

Und schließlich würde die Herrscherin geeignete Schritte in die Wege leiten, um seine Operation in der Öffentlichkeit als großen Erfolg hinzustellen. Sie würde den Sieg feiern und die Verluste verschweigen, wie üblich. Es sollte mehr als ausreichen, um Löwenstein in die Lage zu versetzen, ihn offiziell als ihren Gemahl vorzustellen. Außerdem hatte er sogar ein paar Kyberratten gefangengenommen, die er Löwenstein übergeben konnte. Sie wären nur allzu bereit, ihr bei ihren Problemen in der Imperialen Matrix zu helfen. Sie würden eher kooperieren, als daß sie eine Konditionierung riskierten.

Und schließlich hatte er genügend Esper und Klone gefangen, die ganz hervorragendes Material für seine Experimente mit der Esper-Droge abgeben würden. Niemand würde wagen, dem Prinzgemahl der Herrscherin den Zugang zu den Gefangenen zu verwehren, oder danach fragen, was aus ihnen geworden wäre. Dram grinste und grinste und grinste, während er über die Leichen in den Gängen schlenderte, und die Wachen traten ihm sorgsam aus dem Weg. Ganz besonders, als er auch noch begann, laut vor sich hin zu kichern.

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