Barcelona, Dezember 1957
In jenem Jahr brachen zur Weihnachtszeit alle Tage bleiern und raureifgetüncht an. Bläuliches Halbdunkel tönte die Stadt, und die bis zu den Ohren eingemummten Menschen zeichneten mit ihrem Atem Dampfspuren in die Kälte. In diesen Tagen blieben nur wenige vor dem Schaufenster von Sempere & Söhne stehen, um sich in seine Auslagen zu vertiefen, und noch weniger rafften sich dazu auf, einzutreten und nach dem verlorenen Buch zu fragen, das ein Leben lang auf sie gewartet hatte und dessen Verkauf, von seinem poetischen Rang einmal abgesehen, den misslichen Finanzen der Buchhandlung ein wenig hätte aufhelfen können.
»Ich glaube, heute ist es so weit. Heute wird sich unser Schicksal wenden«, verkündete ich, beflügelt vom ersten Kaffee des Tages — reiner Optimismus in flüssiger Form.
Mein Vater, der seit acht Uhr früh mit Bleistift und Radiergummi der Buchhaltung beizukommen versuchte, schaute vom Ladentisch auf und beobachtete die vorbeirauschende Masse der Kunden.
»Dein Wort in Gottes Ohr, Daniel — wenn es so weitergeht und wir das Weihnachtsgeschäft verpassen, können wir im Januar nicht einmal die Stromrechnung bezahlen. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.«
»Gestern hatte Fermín eine Idee«, sagte ich. »Er findet es einen meisterhaften Plan, um den Laden vor dem drohenden Bankrott zu retten.«
»Um Himmels willen.«
Ich zitierte wörtlich:
»›Vielleicht käme, wenn ich das Schaufenster in Unterhosen dekorierte, die eine oder andere literaturbeflissene, nach starken Emotionen lechzende Frau herein und würde kräftig einkaufen, denn laut den Sachverständigen liegt die Zukunft der Literatur bei den Frauen, und mein Gott, ich möchte das Weibsbild sehen, das dem wilden Sog dieses knorrigen Körpers widerstehen kann.‹«
Hinter mir hörte ich den Bleistift meines Vaters zu Boden fallen, und ich wandte mich um.
»Fermín dixit«, fügte ich hinzu.
Ich hatte gehofft, dieser Fermín-Einfall würde meinen Vater zum Lachen bringen, aber er verharrte in seinem Schweigen, und ich schaute ihn verstohlen an. Sempere senior schien diese Albernheit nicht nur überhaupt nicht lustig zu finden, sondern hatte auch ein nachdenkliches Gesicht aufgesetzt, als überlegte er, ob er das ernstlich in Betracht ziehen sollte.
»Sieh mal einer an, da hat Fermín vielleicht den Vogel abgeschossen«, murmelte er.
Ich starrte ihn an. Möglicherweise hatte die geschäftliche Dürre, die uns in den vorangegangenen Wochen gegeißelt hatte, mittlerweile den Verstand meines Vaters angegriffen.
»Willst du etwa sagen, du erlaubst ihm, in Unterhosen im Laden rumzuspazieren?«
»Nein, nein, darum geht es nicht. Das Schaufenster! Du hast mich auf eine Idee gebracht… Vielleicht ist es noch nicht zu spät, das Weihnachtsgeschäft zu retten.«
Er verschwand im hinteren Raum und kam nach kurzer Zeit in seiner Winteruniform zurück: demselben Mantel, Schal und Hut, die ich seit Kindesbeinen an ihm kannte. Bea sagte immer, vermutlich habe er sich seit 1942 keine Kleider mehr gekauft, und alle Indizien wiesen darauf hin, dass meine Frau recht hatte. Während er in die Handschuhe schlüpfte, lächelte er vage, und in seinen Augen erschien das fast kindliche Leuchten, das nur große Vorhaben auszulösen vermochten.
»Ich lass dich eine Weile allein«, verkündete er. »Ich muss etwas erledigen.«
»Darf ich fragen, wohin du gehst?«
Er blinzelte mir zu.
»Das ist eine Überraschung. Du wirst schon sehen.«
Ich folgte ihm zur Tür und sah ihn entschlossenen Schrittes auf die Puerta del Ángel zugehen, eine Gestalt unter vielen in der grauen Flut der Passanten, die sich durch einen weiteren langen Winter aus Schatten und Asche pflügten.
Ich nutzte das Alleinsein, um ein wenig Radiomusik zu genießen, während ich nach meinem Gutdünken die Buchreihen in den Regalen neu ordnete. Mein Vater war der Ansicht, das Radio laufen zu lassen, wenn Kunden im Laden waren, gehöre sich nicht, und stellte ich es in Gegenwart Fermíns an, so begann dieser sogleich zu jeder Melodie irgendwelche andalusischen Bittgesänge zu trällern oder, noch schlimmer, »sinnliche Rhythmen aus der Karibik«, wie er sie nannte, zu tanzen, was mich in wenigen Minuten auf hundert brachte. Aufgrund dieser praktischen Schwierigkeiten war ich zum Schluss gekommen, dass ich den Genuss der Ätherwellen auf die seltenen Momente beschränken musste, in denen außer mir und Zehntausenden von Büchern niemand im Laden war.
An jenem Vormittag brachte Radio Barcelona den heimlichen Mitschnitt eines Fans von dem großartigen Weihnachtskonzert, das der Trompeter Louis Armstrong und seine Band drei Jahre zuvor im Hotel Windsor Palace in der Avenida Diagonal gegeben hatten. Nach den Werbepausen mühte sich der Sprecher immer damit ab, diese Klänge als Jatz zu etikettieren, und machte darauf aufmerksam, dass einige dieser Synkopen nicht unbedingt das Richtige für den spanischen Hörer seien, der ja doch eher auf die vorherrschenden Couplet, Bolero und den eben aufkommenden Yéyé abgerichtet war.
Fermín sagte immer, wäre Isaac Albéniz als Schwarzer geboren worden, so wäre der Jazz genau wie die Dosenkekse in Camprodón erfunden worden, und zusammen mit den spitzen Büstenhaltern, wie sie seine vergötterte Kim Novak in einigen der Filme trug, die wir in den Vormittagsvorstellungen des Kinos Fémina sahen, sei dieser Sound eine der wenigen echten Errungenschaften der Menschheit im bisherigen 20. Jahrhundert. Darüber mochte ich nicht mit ihm streiten. In die Magie dieser Musik und den Geruch der Bücher gehüllt, ließ ich den Rest des Vormittags verstreichen und genoss in stiller Zufriedenheit meine einfache, aber gewissenhaft ausgeführte Arbeit.
Fermín hatte den Vormittag freigenommen, um, wie er sagte, letzte Vorbereitungen für seine auf Anfang Februar angesetzte Hochzeit mit der Bernarda zu treffen. Als er das Thema knapp zwei Wochen zuvor zum ersten Mal zur Sprache gebracht hatte, hatten wir alle gesagt, er überstürze das Ganze und Eile führe nirgends hin. Mein Vater hatte ihn zu überzeugen versucht, die Trauung wenigstens zwei oder drei Monate hinauszuschieben, mit dem Argument, Hochzeiten seien etwas für den Sommer und schönes Wetter, aber Fermín hatte an dem Datum festgehalten, denn ein Typ wie er, abgehärtet im rau-trockenen Klima der extremadurischen Hügel, gerate über die Maßen ins Schwitzen, sobald der Sommer die mediterrane, seiner Meinung nach semitropische Küste erreiche, und es mache sich schlecht, seine Verehelichung mit tortengroßen Flecken unter den Armen zu feiern.
Allmählich dachte ich, es müsse etwas Merkwürdiges im Gange sein, dass Fermín Romero de Torres, lebende Standarte des bürgerlichen Widerstands gegen die heilige Mutter Kirche, die Banken und die guten Sitten in diesem von Messe und Wochenschau geprägten Fünfziger-Jahre-Spanien, es mit der kirchlichen Trauung so eilig hatte. In seinem Voreheeifer hatte er sogar mit dem neuen Pfarrer der Santa-Ana-Kirche, Don Jacobo, Freundschaft geschlossen, einem Priester aus Burgos mit entspannter Ideologie und den Manieren eines pensionierten Boxers, den er mit seiner maßlosen Dominoleidenschaft angesteckt hatte. Sonntags nach der Messe lieferte er sich mit ihm im Restaurant El Almirall historische Partien, und der Geistliche lachte herzlich, als ihn mein Freund zwischen zwei Gläsern Montserrat-Likör fragte, ob er eigentlich die Gewissheit habe, dass Nonnen Schenkel hätten, und wenn ja, ob sie so zart zu beknabbern seien, wie er es sich seit seiner Jugend vorstelle.
»Sie bringen es noch fertig, exkommuniziert zu werden«, tadelte ihn mein Vater. »Nonnen sind weder zum Anschauen noch zum Berühren da.«
»Aber der Pfarrer steht ja fast noch mehr auf Frauen als ich«, wehrte sich Fermín. »Wäre da nicht die Uniform…«
Während ich mich an diese Diskussion erinnerte und zu Meister Armstrongs Trompete vor mich hin summte, hörte ich das träge Klingeln der Glocke über der Eingangstür. Ich schaute auf in der Erwartung, meinen Vater von seiner Geheimmission zurückkommen zu sehen oder Fermín, der den Nachmittagsdienst übernähme.
»Guten Tag«, hörte ich von der Schwelle her eine tiefe, schrundige Stimme.
Im Gegenlicht glich seine Silhouette einem vom Wind gepeitschten Baumstamm. Er trug einen altmodisch geschnittenen dunklen Anzug und gab, wie er sich so auf einen Stock stützte, eine finstere Gestalt ab. Unübersehbar hinkend, tat er einen Schritt vorwärts. Im hellen Licht der Lampe über dem Ladentisch zeigte sich ein von der Zeit zerfurchtes Gesicht. Der Besucher musterte mich in aller Ruhe; sein geduldig berechnender Blick erinnerte an einen Raubvogel.
»Sind Sie Señor Sempere?«
»Ich bin Daniel. Señor Sempere ist mein Vater, aber er ist im Moment nicht da. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Der Besucher überhörte meine Frage und begann durch die Buchhandlung zu humpeln, um mit einem an Habgier grenzenden Interesse Spanne für Spanne alles zu erforschen. Sein Hinken ließ vermuten, dass die Verletzungen, die sich unter seinen Kleidern verbargen, nicht gering einzuschätzen waren.
»Kriegsandenken«, sagte der Besucher, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ich folgte ihm mit dem Blick bei der Inspizierung des Ladens und ahnte schon, wo er vor Anker gehen würde. Und tatsächlich blieb er vor der Ebenholzvitrine stehen, einer Reliquie aus der Gründungszeit des Buchladens im Jahr 1888, als Urgroßvater Sempere, damals ein soeben von seinen Abenteuern in der Karibik wohlhabend zurückgekehrter junger Mann, Geld aufgenommen hatte, um einen alten Handschuhladen zu kaufen und zur Buchhandlung umzubauen. In dieser Vitrine, die einen Ehrenplatz im Laden einnahm, verwahrten wir seit eh und je unsere wertvollsten Exemplare.
Der Besucher trat so nahe an sie heran, dass unter seinem Atem die Scheibe beschlug. Er zog eine Brille hervor, setzte sie sich auf die Nase und begann den Inhalt der Vitrine zu studieren. Seine Gebärde erinnerte mich an ein Wiesel, das in einem Hühnerstall die frisch gelegten Eier begutachtet.
»Schönes Stück«, murmelte er. »Muss einen ordentlichen Batzen kosten.«
»Das ist ein Familienerbstück. Es hat vor allem einen ideellen Wert«, antwortete ich. Mir war nicht wohl, wie dieser eigenartige Kunde selbst die Luft, die wir einatmeten, zu taxieren schien.
Nach einer Weile steckte er die Brille wieder ein und sagte gemessen:
»Soviel ich weiß, arbeitet bei Ihnen ein Herr von gefeiertem Esprit.«
Da ich nicht sogleich antwortete, wandte er sich um und schenkte mir einen dieser Blicke, die den Empfänger altern lassen.
»Wie Sie sehen, bin ich allein. Wenn mir der Herr vielleicht sagen würde, welches Buch er wünscht, werde ich es mit großem Vergnügen suchen.«
Der Unbekannte deutete ein alles andere als freundliches Grinsen an und nickte.
»Wie ich sehe, haben Sie ein Exemplar des Grafen von Monte Christo in dieser Vitrine.«
Er war nicht der Erste, der dieses Buch bemerkte. Ich servierte ihm den offiziellen Diskurs, den wir für solche Fälle auf Lager hatten.
»Der Herr hat ein sehr gutes Auge. Es ist eine wunderbare Ausgabe, nummeriert und mit Bildtafeln von Arthur Rackham, und stammt aus der Privatbibliothek eines bedeutenden Madrider Sammlers. Es ist ein einzigartiges, katalogisiertes Stück.«
Der Besucher studierte eingehend die Beschaffenheit der Ebenholzbretter des Regals und zeigte damit unverhohlen, dass ihn meine Worte anödeten.
»Für mich sehen alle Bücher gleich aus, aber mir gefällt das Blau des Einbands«, antwortete er verächtlich. »Ich nehme es.«
Unter anderen Umständen hätte ich Freudensprünge vollführt, wenn ich das wahrscheinlich teuerste Buch im ganzen Laden hätte verkaufen können, doch bei der Vorstellung, es gerate in die Hände dieses Menschen, drehte sich mir der Magen um. Ich hatte das Gefühl, wenn dieses Exemplar den Laden verließe, würde nie wieder jemand auch nur den ersten Abschnitt lesen.
»Es ist eine sehr kostspielige Ausgabe. Wenn der Herr es wünscht, kann ich ihm andere Ausgaben desselben Werks in einwandfreiem Zustand und zu erschwinglicherem Preis zeigen.«
Leute mit kleiner Seele versuchen immer, die anderen herabzusetzen, und der Unbekannte, der die seine zweifellos in einem Stecknadelkopf hätte unterbringen können, warf mir den verächtlichsten aller Blicke zu.
»Und die ebenfalls einen blauen Einband haben«, ergänzte ich.
Er überhörte meinen ironischen Tonfall.
»Nein, danke. Ich will das da. Der Preis ist Nebensache.«
Widerwillig nickte ich, ging auf die Vitrine zu und schloss die Glastür auf. Ich spürte, wie sich die Augen des Unbekannten in meinen Rücken bohrten.
»Immer ist alles Gute unter Verschluss«, bemerkte er leise.
Ich nahm das Buch und atmete tief ein.
»Ist der Herr ebenfalls Sammler?«
»Das könnte man so sagen. Aber nicht von Büchern.«
Den Grafen in der Hand, wandte ich mich um.
»Und was sammelt der Herr?«
Er ignorierte meine Frage und streckte den Arm aus, um das Buch entgegenzunehmen. Ich musste gegen den Impuls ankämpfen, es in die Vitrine zurückzustellen und wieder einzuschließen. Aber in diesen Zeiten hätte es mir mein Vater nicht verziehen, wenn ich mir die Gelegenheit eines solchen Verkaufs hätte entgehen lassen.
»Es kostet fünfunddreißig Peseten«, verkündete ich, bevor ich ihm das Buch aushändigte, und hoffte, bei dieser Summe ändere er seine Meinung.
Ohne mit der Wimper zu zucken, nickte er und zog einen Hundert-Peseten-Schein aus der Tasche seines Anzugs, der bestimmt keine fünfundzwanzig gekostet hatte. Ich fragte mich, ob es nicht Falschgeld war.
»Ich fürchte, für einen so großen Schein habe ich kein Wechselgeld, mein Herr.«
Normalerweise hätte ich ihn gebeten, einen Moment zu warten, und wäre zur nächsten Bank gegangen, um den Schein zu wechseln und zugleich auf seine Echtheit prüfen zu lassen, aber ich mochte ihn nicht allein im Laden lassen.
»Keine Sorge. Er ist echt. Wissen Sie, wie Sie das feststellen können?«
Er hielt die Note gegen das Licht.
»Beachten Sie das Wasserzeichen. Und diese Linien. Die Textur…«
»Ist der Herr ein Experte in Fälschungen?«
»Alles auf dieser Welt ist falsch, junger Mann. Alles außer dem Geld.« Er gab mir den Schein in die Hand, schloss meine Faust darum und tätschelte mir die Knöchel. »Das Wechselgeld lasse ich Ihnen als Anzahlung da für meinen nächsten Besuch.«
»Das ist viel Geld, der Herr. Fünfundsechzig Peseten…«
»Ein paar Münzen.«
»Ich stelle Ihnen auf jeden Fall eine Quittung aus.«
»Ich vertraue Ihnen.«
Der Unbekannte betrachtete das Buch gleichgültig.
»Es ist ein Geschenk. Ich bitte Sie, es persönlich zu überbringen.«
Ich zögerte einen Augenblick.
»Im Prinzip machen wir keine Hauslieferungen, aber in diesem Fall übergeben wir es natürlich sehr gern persönlich und ohne zusätzliche Kosten. Darf ich fragen, ob es in Barcelona selbst ist oder…?«
»Hier.« Sein eisiger Blick verriet Jahre von Wut und Hass.
»Möchte der Herr eine Widmung oder sonst ein paar persönliche Worte hineinschreiben, bevor ich es einpacke?«
Umständlich schlug der Besucher das Buch auf der ersten Seite auf. Da sah ich, dass seine linke Hand eine Prothese aus gefärbtem Porzellan war. Er zog einen Füllfederhalter hervor und schrieb ein paar Worte auf die Seite. Dann gab er mir den Band zurück und drehte sich um. Während er zur Tür humpelte, beobachtete ich ihn.
»Wären Sie so freundlich und würden Sie mir Namen und Adresse angeben, wo wir das Buch hinbringen sollen?«, fragte ich.
»Es steht alles da«, sagte er, ohne zurückzuschauen.
Ich schlug das Buch auf der Seite mit dem handschriftlichen Eintrag auf:
Für Fermín Romero de Torres, der von den Toten auferstanden ist und den Schlüssel zur Zukunft hat.
13
Da hörte ich die Türglocke, und als ich aufschaute, war der Besucher weg.
Ich eilte zum Ausgang und schaute auf die Straße hinaus. Der Besucher humpelte davon und verschmolz mit den Gestalten, die den bläulichen Nebelschleier in der Calle Santa Ana durchdrangen. Ich wollte ihm etwas nachrufen, biss mir aber auf die Zunge. Ich hätte ihn einfach gehen lassen können, aber der Instinkt und mein üblicher Mangel an Vorsicht und Sinn fürs Praktische waren stärker.
Ich hängte das »Geschlossen«-Schild an die Tür, drehte den Schlüssel um und machte mich auf, den Unbekannten in der Menge zu verfolgen. Ohne jeden Zweifel bekäme ich von meinem Vater, wenn er zurückkehrte und entdeckte, dass ich, kaum hatte er mich allein gelassen, trotz der Verkaufsflaute die Stellung aufgegeben hatte, einen scharfen Verweis, aber unterwegs würde mir sicher irgendeine Ausrede einfallen. Sein schnell verfliegender Zorn war mir lieber, als die durch diese unheimliche Figur in mir hervorgerufene Beunruhigung herunterzuschlucken und darüber im Ungewissen zu bleiben, was ihn mit Fermín verband.
Ein Berufsbuchhändler kann nicht oft vor Ort die hohe Kunst erlernen, einen Verdächtigen zu beschatten, ohne entdeckt zu werden. Abgesehen davon, dass ein großer Teil seiner Kundschaft der Zunft der säumigen Zahler angehört, beschränkte sich sein Kontakt zur Welt der Delinquenz auf die Lektüre von Detektivgeschichten und Groschenromanen in den eigenen Regalen. Kleider machen keine Leute, Verbrechen aber — oder ein Verdacht — machen Detektive, vor allem Amateurdetektive.
Während ich dem Fremden in Richtung Ramblas folgte, frischte ich in meinem Kopf die Grundregeln auf, indem ich zuerst einmal gut zwanzig Meter Abstand zwischen uns einhielt, mich hinter einem korpulenteren Artgenossen tarnte und immer ein rasches Versteck in einem Hauseingang oder Laden im Visier hatte, falls der Gegenstand meiner Verfolgung unversehens stehen blieb und sich umwandte. Bei den Ramblas angekommen, überquerte der Fremde den Seitenstreifen und ging auf dem Mittelstück Richtung Hafen weiter. Wie immer war die Promenade weihnachtlich geschmückt, und in vielen Schaufenstern prangten Lichter, Sterne und Engel, Verkünder einer Prosperität, mit der es seine Richtigkeit haben musste, wenn das Radio es so sagte.
In jenen Jahren hatte Weihnachten noch einen Anstrich von Magie und Geheimnis. Das pulverisierte Winterlicht, der Blick und die Sehnsucht der in Schatten und Stille lebenden Menschen verliehen dieser Szenerie einen leichten Hauch von Wahrheit, an die man noch glauben konnte, wenigstens die Kinder und diejenigen, die zu vergessen gelernt hatten.
Vielleicht hob sich aus diesem Grund die so unweihnachtliche, so aus dem Rahmen fallende Gestalt, die ich verfolgte, noch deutlicher von dieser ganzen Traumwelt ab. Der Mann hinkte langsam weiter und blieb mehrmals vor einem der Vogel- oder Blumenkioske stehen, um Wellensittiche oder Rosen zu bestaunen, als hätte er noch nie welche gesehen. Zweimal trat er an einen der Zeitungskioske, die die Ramblas sprenkelten, studierte die Titelseiten von Zeitungen und Zeitschriften und brachte die Postkartenkarussells zum Rotieren. Er wirkte wie ein Kind oder ein Tourist, der erstmals auf den Ramblas spazieren geht, wobei Kinder und Touristen in solchen Momenten voller Naivität einen Fuß vor den anderen setzen, während jenes Individuum weder Naivität noch den Segen des Jesuskinds ausstrahlte, an dessen Bildnis er jetzt auf der Höhe der Bethlehem-Kirche vorbeikam.
Nun blieb er wieder stehen, ganz offensichtlich fasziniert von einem blassrosa gefiederten Kakadu, der ihn aus dem Käfig eines der Tierkioske bei der Einmündung der Calle Puertaferrisa anblinzelte. Der Fremde trat so nahe an den Käfig heran wie in der Buchhandlung an die Vitrine und flüsterte dem Vogel etwas zu. Dieser, ein großköpfiges Exemplar mit der Flügelweite eines luxusfedrigen Kapauns, überlebte den Schwefelatem des Fremden und konzentrierte sich voller Interesse auf seine Worte. Als gälte es Zweifel auszuräumen, nickte er mehrmals und sträubte sichtlich erregt einen rosa Federkamm.
Offensichtlich zufrieden mit seiner ornithologischen Zwiesprache, setzte der Fremde nach wenigen Minuten seinen Weg fort. Als ich keine dreißig Sekunden später am Vogelkiosk vorbeikam, herrschte dort ein aufgeregtes Hin und Her. Der verwirrte Verkäufer deckte den Kakadukäfig eilig mit einer schwarzen Haube zu, um den Vogel davon abzuhalten, in perfekter Aussprache den Vers Franco, du elender Wicht, warum steht er dir denn nicht? zu rezitieren, den er zweifellos soeben gelernt hatte. Wenigstens verriet der Fremde einen gewissen Sinn für Humor und riskante Überzeugungen, was in jener Zeit ebenso selten war wie Rocksäume oberhalb des Knies.
Abgelenkt von diesem Zwischenfall, glaubte ich ihn schon aus den Augen verloren zu haben, doch bald entdeckte ich seine finstere Gestalt vor dem Schaufenster des Juweliers Bagués. Verstohlen näherte ich mich einem der Schreiberhäuschen, die den Eingang zum Virreina-Palast säumten, und beobachtete ihn aufmerksam. Seine Augen glänzten wie Rubine, und das Schauspiel von Gold und Edelsteinen hinter der kugelsicheren Scheibe schien eine größere Lüsternheit in ihm geweckt zu haben, als es eine Riege Revuegirls aus dem Criolla in dessen Glanzjahren geschafft hätte.
»Ein Liebesbrief, eine Eingabe, eine Bitte an die Exzellenz Ihrer Wahl, ein spontanes Bei-uns-alles-gut für die Verwandten im Dorf, junger Mann?«
Der Schreiber des Häuschens, das ich als Versteck auserkoren hatte, streckte den Kopf heraus wie ein Beichtvater und schaute mich an, begierig darauf, seine Dienste an den Mann zu bringen. Das Schild über dem Fenster besagte:
OSWALDO DARÍO DE MORTENSSEN
Literat und Denker
Liebesbriefe, Gesuche, Testamente, Gedichte, Schmähschriften, Glückwünsche, Bitten, Todesanzeigen, Hymnen, Diplomarbeiten, Bittschriften, Eingaben und verschiedenartigste Dichtungen in sämtlichen Stilen und Metren
Zehn Céntimos pro Satz (Reime extra)
Preisnachlass für Witwen, Versehrte und Minderjährige
»Na, junger Mann? Ein Liebesbrief von der Art, bei der die heiratsfähigen jungen Damen mit den Ausflüssen des Verlangens den Unterrock nässen? Ich mache Ihnen einen Sonderpreis, weil Sie es sind.«
Ich hielt ihm den Ehering unter die Nase. Unerschrocken zuckte der Schreiber Oswaldo die Schultern.
»Wir leben in einer modernen Zeit«, sagte er. »Wenn Sie wüssten, in welchen Scharen verheiratete Männer und Frauen vorbeikommen…«
Ich las das Schild noch einmal, irgendetwas klang bei mir an, aber ich wusste es nicht einzuordnen.
»Ihr Name kommt mir bekannt vor…«
»Ich hatte auch schon bessere Zeiten. Vielleicht von damals.«
»Ist das Ihr richtiger Name?«
»Ein Nom de Plume. Ein Künstler braucht einen Beinamen, der seiner Aufgabe gerecht wird. In meinem Geburtsschein steht Jenaro Rebollo, aber wer vertraut schon jemandem mit einem solchen Namen das Verfassen seiner Liebesbriefe an… Was halten Sie vom Angebot des Tages? Ein leidenschaftlicher oder sehnsüchtiger Brief gefällig?«
»Ein andermal.«
Der Schreiber nickte resigniert. Er folgte meinem Blick und runzelte neugierig die Stirn.
»Sie beobachten das Hinkebein, nicht wahr?«
»Kennen Sie ihn denn?«
»Seit etwa einer Woche sehe ich ihn täglich hier vorbeikommen und dann vor dem Schaufenster des Juweliers haltmachen und verzückt hineinstarren, als wäre statt Ringe und Halsketten der Hintern der Bella Dorita ausgestellt.«
»Haben Sie einmal mit ihm gesprochen?«
»Einer meiner Kollegen hat ihm neulich einen Brief ins Reine geschrieben — da ihm Finger fehlen…«
»Wer war das?«
Der Schreiber schaute mich zögernd an, wohl weil er befürchtete, mit einer Antwort einen potentiellen Kunden zu verlieren.
»Luisito. Der dort drüben, neben der Casa Beethoven, der aussieht wie ein Priesterseminarist.«
Zum Dank wollte ich ihm ein paar Münzen geben, doch er lehnte ab.
»Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit der Feder, nicht mit dem Schnabel. Davon gibt’s mehr als genug in der Gegend. Wenn Sie eines Tages etwas in grammatischer Richtung benötigen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«
Er reichte mir eine Visitenkarte, getreues Abbild des Schildes an seinem Häuschen.
»Montag bis Samstag, von acht bis acht«, ergänzte er. »Oswaldo, Soldat des Wortes, Ihnen und Ihren Briefangelegenheiten zu dienen.«
Ich steckte die Karte ein und bedankte mich für seine Hilfe.
»Da läuft Ihnen Ihr Tauberich davon«, sagte er.
Ich wandte mich um und sah, dass sich der Fremde wieder in Gang gesetzt hatte. Eilig holte ich den Abstand auf und folgte ihm die Ramblas hinunter bis zum Eingang des Boquería-Markts, wo er abermals stehen blieb und das Schauspiel von Ständen und das Treiben der Menschen betrachtete, die beladen mit appetitlich aussehenden Lebensmitteln entweder herein- oder herausströmten. Er humpelte zur Pinocho-Theke und hievte sich mühsam, aber eifrig auf einen der Hocker. Eine halbe Stunde lang versuchte er all die Köstlichkeiten zu verzehren, die Juanito, der Benjamin des Hauses, nach und nach vor ihn hinstellte, aber ich hatte den Eindruck, dass ihm die Gesundheit kein großes Prassen erlaubte und dass er vor allem mit den Augen aß, als erinnerte er sich beim Bestellen der Tapas und Häppchen an Zeiten kräftigeren Zulangens. Der Gaumen genießt nicht, er erinnert sich bloß. Sich in seine gastronomische Abstinenz und die stellvertretende Betrachtung fremden Kostens und Lippenleckens schickend, bezahlte der Unbekannte schließlich und setzte seine Wanderung bis zur Mündung der Calle Hospital fort, wo durch eine Fügung von Barcelonas unnachahmlicher Geometrie eines der großen Opernhäuser des alten Europas und eines der heruntergekommensten Hurenviertel der nördlichen Hemisphäre aufeinandertrafen.
Zu dieser Stunde wagte sich die Besatzung so mancher im Hafen vor Anker liegenden Frachter und Kriegsschiffe ramblasaufwärts, um Gelüste unterschiedlichster Art zu befriedigen. Angesichts der großen Nachfrage hatte sich an der Ecke bereits das Angebot in Form einer Reihe von Mietdamen formiert, denen man den hohen Kilometerstand ebenso ansah wie ihren durchaus erschwinglichen Grundtarif. Ich guckte scheu auf die taillierten Röcke über Krampfadern, auf purpurne Blässen, deren Anblick weh tat, und welke Gesichter — ein Gesamteindruck von letzter Station vor dem Ruhestand, der alles andere als Wollust auslöste. Um hier anzubeißen, musste ein Seemann viele Monate auf hoher See zubringen, dachte ich, doch zu meiner Überraschung blieb der Fremde stehen, um mit zwei dieser von vielen blütenlosen Lenzen rücksichtslos gebeutelten Damen zu kokettieren.
»Na, Herzchen, wenn ich dir einen runterhole, biste gleich zwanzig Jahre jünger«, hörte ich eine von ihnen sagen, die als Großmutter des Schreibers Oswaldo hätte durchgehen können.
Damit bringst du ihn nur um, dachte ich. Wohl in einer Anwandlung von Einsicht lehnte der Unbekannte die Einladung ab.
»Ein andermal, Süße«, antwortete er und bog ins Raval ein.
Ich folgte ihm etwa hundert Meter weiter, bis er vor einem dunklen schmalen Hauseingang fast gegenüber der Pension Europa stehen blieb. Nachdem er darin verschwunden war, wartete ich eine halbe Minute und ging ihm dann nach.
Drinnen erwartete mich ein düsteres Treppenhaus, das sich im Innern des Gebäudes verlor; dieses schien nach Backbord zu krängen und, seiner stinkend feuchten Luft und seinem Abwasserproblem nach zu schließen, drauf und dran zu sein, in den Katakomben des Ravals unterzugehen. Auf einer Seite des Vestibüls saß in einer Art Pförtnerloge ein schmieriger Mensch im Unterhemd. Zwischen den Lippen hatte er einen Zahnstocher und neben sich einen Transistor, aus dem ein Stierkampfprogramm quoll. Er warf mir einen forschenden Blick zu.
»Kommen Sie allein?«, fragte er fast feindselig.
Man musste kein Luchs sein, um zu merken, dass man sich im Entree eines Stundenhotels befand und dass die einzige Dissonanz meines Besuchs in der Abwesenheit einer der Damen bestand, wie sie an der Ecke patrouillierten.
»Wenn Sie wollen, schick ich Ihnen ein Mädchen«, erbot er sich und bereitete schon das Bündel aus Tuch, Seife und etwas Gummiähnlichem oder sonst einem Verhütungsmittel vor.
»Eigentlich wollte ich bloß etwas fragen«, setzte ich an.
Der Portier verdrehte die Augen.
»Macht zwanzig Peseten die halbe Stunde, und die Braut bringen Sie mit.«
»Sehr verlockend. Vielleicht ein andermal. Was ich Sie fragen wollte, ist, ob vor zwei Minuten ein Herr hinaufgegangen ist. Schon älter. Nicht besonders gut in Form. Er ist allein gekommen, ohne Braut.«
Der Portier zog die Brauen zusammen. In einem einzigen Augenblick degradierte mich sein Blick vom Kunden zur lästigen Fliege.
»Ich hab niemand gesehen. Und jetzt verduften Sie, bevor ich den Tonet hole.«
Vermutlich war der Tonet kein sehr umgänglicher Mensch. Ich legte die mir verbleibenden Münzen auf den Tisch und lächelte dem Portier versöhnlich zu. Das Geld verschwand in seinen gummihütchenbesetzten Fingern so schnell wie ein Insekt auf der Zunge eines Chamäleons.
»Was wollen Sie wissen?«
»Wohnt hier der Herr, von dem ich Ihnen sprach?«
»Er hat seit einer Woche ein Zimmer gemietet.«
»Wissen Sie, wie er heißt?«
»Er hat einen Monat zum Voraus bezahlt, also hab ich ihn nicht gefragt.«
»Wissen Sie, woher er kommt, was er macht?«
»Ich bin kein Briefkastenonkel. Wer zum Bumsen herkommt, den fragen wir nichts. Und der bumst nicht mal. Machen Sie sich Ihren Reim darauf.«
Ich dachte nach.
»Alles, was ich weiß, ist, dass er ab und zu für eine Weile rausgeht und dann wiederkommt. Manchmal lässt er sich eine Flasche Wein, Brot und etwas Honig raufbringen. Er zahlt gut und sagt keinen Piep.«
»Und Sie erinnern sich wirklich an keinen Namen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gut. Danke, und entschuldigen Sie die Störung.«
Ich wollte eben gehen, als er mir zurief:
»Romero.«
»Wie bitte?«
»Ich glaube, er sagte, er heißt Romero oder so ähnlich…«
»Romero de Torres?«
»Genau.«
»Fermín Romero de Torres?«, wiederholte ich ungläubig.
»So ist es. Hat es vorm Krieg nicht einen Torero gegeben, der so hieß?«, fragte er. »Ich sag ja, dass mir das gleich irgendwie bekannt vorkam…«
Auf dem Rückweg zur Buchhandlung war ich noch verwirrter als zuvor. Als ich am Virreina-Palast vorbeikam, winkte mir der Schreiber Oswaldo zu.
»Erfolg gehabt?«, fragte er.
Leise verneinte ich.
»Versuchen Sie’s doch bei Luisito, vielleicht erinnert der sich an etwas.«
Ich nickte und ging zum Häuschen von Luisito, der gerade seine Federnsammlung reinigte. Er lächelte mir zu und lud mich ein, Platz zu nehmen.
»Was darf’s denn sein? Liebe oder Arbeit?«
»Ihr Kollege Oswaldo schickt mich.«
»Unser aller Meister«, sagte Luisito, der noch keine fünfundzwanzig sein konnte. »Ein großer Homme de Lettres, dessen Meriten die Welt nicht erkannt hat, und da sitzt er nun, auf der Straße, wo er im Dienste des Analphabeten am Wort wirkt.«
»Oswaldo hat mir erzählt, Sie hätten neulich einen älteren Herrn bedient, hinkend und ziemlich verwahrlost, dem eine Hand fehlt und an der anderen einige Finger…«
»Ich erinnere mich an ihn. An die Einhänder erinnere ich mich immer. Wegen Cervantes, wissen Sie.«
»Natürlich. Und können Sie mir sagen, aus welchem Grund er zu Ihnen kam?«
Unbehaglich rutschte Luisito auf seinem Stuhl hin und her, die Wendung des Gesprächs passte ihm offensichtlich nicht.
»Sehen Sie, das ist nahezu ein Beichtstuhl. Die Vertraulichkeit hat Vorrang vor allem anderen.«
»Das ist mir bewusst. Es geht aber um etwas Wichtiges.«
»Wie wichtig?«
»Wichtig genug, um das Wohlbefinden von Leuten zu gefährden, die mir sehr viel bedeuten.«
»Ja schon, aber…«
Er reckte den Hals und suchte den Blick von Meister Oswaldo auf der anderen Seite des Patio. Ich sah Oswaldo nicken, und Luisito entspannte sich.
»Der Herr ist mit einem Brief gekommen, den er verfasst hatte und der in Schönschrift ins Reine gebracht werden sollte — mit seiner Hand ist ja…«
»Und im Brief war die Rede von…«
»Daran kann ich mich kaum noch erinnern, vergessen Sie nicht, dass wir hier täglich viele Briefe schreiben…«
»Strengen Sie sich ein wenig an, Luisito. Wegen Cervantes.«
»Ich glaube, und auf die Gefahr hin, ihn mit dem Brief eines anderen Kunden zu verwechseln, dass es irgendwie um eine große Geldsumme ging, die der einhändige Herr bekommen oder wiederbekommen sollte oder so was. Und irgendwas von einem Schlüssel.«
»Einem Schlüssel.«
»Genau. Er hat nicht im Einzelnen erklärt, ob es um einen Schrauben-, einen Noten- oder einen Hausschlüssel ging.«
Er lächelte mir zu, sichtlich zufrieden, zum Gespräch eine Prise Witz beigesteuert zu haben.
»Erinnern Sie sich an sonst noch was?«
Nachdenklich leckte er sich die Lippen.
»Er sagte, die Stadt habe sich sehr verändert.«
»In welchem Sinn verändert?«
»Ich weiß nicht. Verändert. Ohne Tote auf der Straße.«
»Tote auf der Straße? Das hat er gesagt?«
»Wenn mich die Erinnerung nicht trügt…«
Ich bedankte mich bei Luisito für die Information und brachte eilig das letzte Stück Weges zum Laden hinter mich, um mit etwas Glück vor meinem Vater da zu sein. Das »Geschlossen«-Schild hing noch an der Tür. Ich schloss auf, nahm das Schild ab und stellte mich wieder hinter den Ladentisch; sicher war in der letzten knappen Dreiviertelstunde meiner Abwesenheit kein einziger Kunde gekommen.
Da ich nichts zu tun hatte, begann ich darüber nachzudenken, was ich mit dem Band des Grafen von Monte Christo tun und wie ich das Thema gegenüber Fermín anschneiden sollte, wenn er käme. Ich mochte ihn nicht über Gebühr beunruhigen, doch der Besuch des Unbekannten und mein fruchtloser Versuch, dessen Absichten zu ergründen, ließen mir keine Ruhe. In jedem anderen Fall hätte ich ihm ohne weiteres erzählt, was geschehen war, aber diesmal hielt ich Fingerspitzengefühl für angezeigt. Seit einiger Zeit war Fermín sehr niedergeschlagen und hatte eine Stinklaune. Und seit einiger Zeit versuchte ich, ihn mit meinen müden Witzchen aufzumuntern, aber nichts vermochte ihm ein Lächeln zu entlocken.
»Fermín, entstauben Sie die Bücher nicht allzu sehr, sonst bleibt in den wenigen einschlägigen Exemplaren, die man uns liefert, bald nichts mehr vom schwarzen Humor übrig.«
Fermín war weit davon entfernt, solch armselige Scherze mitleidig zu belächeln, sondern nutzte jeden beliebigen Anlass für seine Mutlosigkeits- und Überdrussapologien.
»In Zukunft wird der Humor überhaupt nur noch schwarz sein, denn für das dominierende Aroma in der zweiten Hälfte dieses blutrünstigen Jahrhunderts sind Falschheit und Seelenschwärze noch Euphemismen«, philosophierte er.
Es geht schon wieder los, dachte ich. Die Offenbarung des heiligen Fermín Romero de Torres.
»So schlimm wird es wohl nicht sein, Fermín. Sie sollten mehr an die Sonne gehen. Neulich hat in der Zeitung gestanden, dass Vitamin D den Glauben an den Nächsten stärkt.«
»Es hat dort auch gestanden, dass irgendein Gedichtschmöker eines Franco-Schützlings die Sensation des internationalen Literaturpanoramas ist, wo er doch in keiner Buchhandlung außerhalb Madrids verkauft wird«, antwortete er.
Wenn sich Fermín mit allen Organen dem Pessimismus hingab, warf man ihm besser keinen Köder hin.
»Wissen Sie, Daniel, manchmal denke ich, Darwin hat sich geirrt, und in Wirklichkeit stammt der Mensch vom Schwein oder vom Hund ab, denn in acht von zehn Hominiden steckt ein Schweinehund, der darauf wartet, rausgelassen zu werden.«
»Fermín, Sie gefallen mir besser, wenn Sie eine humanistischere, positivere Sicht der Dinge zum Ausdruck bringen, wie letzthin, als Sie sagten, es sei keiner wirklich schlecht, er habe bloß Angst.«
»Das muss ein Absinken des Blutzuckerspiegels gewesen sein. So ein Schwachsinn.«
Der Spaßvogel Fermín, an den ich mich so gern erinnerte, befand sich in jenen Tagen auf dem Rückzug, und seine Stelle schien ein Mann eingenommen zu haben, der von Sorgen und Widrigkeiten geplagt wurde, die ich nicht teilen mochte. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet wähnte, hatte ich den Eindruck, er schrumpfe in einer Ecke, von Angst verzehrt, förmlich zusammen. Er hatte Gewicht verloren, und da er ohnehin fast nur aus Knorpeln bestand, sah er allmählich besorgniserregend aus. Ich hatte es ihm einige Male gesagt, aber er bestritt, dass es irgendein Problem gab, und wich mit seltsamen Ausreden aus.
»Es ist nichts, Daniel. Aber seit ich darauf verfallen bin, die Liga zu verfolgen, sackt mir jedes Mal der Blutdruck ab, wenn Barça verliert. Ein Stückchen Manchegokäse, und ich bin gleich wieder der alte Stier.«
»Sind Sie sicher? Sie sind doch Ihrer Lebtag noch nie zu einem Fußballspiel gegangen.«
»Das glauben Sie. Kubala und ich sind sozusagen zusammen aufgewachsen.«
»Mir kommen Sie jedenfalls im Moment wie ein Stück schlecht abgehangenes Fleisch vor. Entweder sind Sie krank, oder Sie achten überhaupt nicht auf Ihre Gesundheit.«
Zur Antwort zeigte er mir zwei Bizepse in Zuckermandelgröße und grinste wie ein Zahnpastavertreter.
»Fassen Sie’s ruhig an — na, los schon. Gehärteter Stahl, wie das Schwert des Cid.«
Mein Vater schrieb seine schlechte Form der Nervosität wegen der Heirat zu und allem, was das mit sich brachte, bis hin zum Fraternisieren mit dem Klerus und der Suche nach einem Restaurant oder Ausflugslokal für das Bankett, aber ich hatte es in der Nase, dass diese Melancholie tiefer gründete. Hin- und hergerissen, ob ich Fermín von der Episode am Vormittag berichten und ihm das Buch zeigen oder einen günstigeren Moment abwarten sollte, sah ich ihn mit einer wahren Leichenbittermiene zur Tür hereintreten. Als er mich erblickte, quälte er sich ein schwaches Lächeln ab und deutete einen militärischen Gruß an.
»Sieh einer an, Fermín. Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr.«
»Als ich am Uhrenladen vorbeikam, hat mich Don Federico mit so einer Klatschgeschichte aufgehalten, dass heute Vormittag jemand Señor Sempere sehr schmuck in der Calle Puertaferrisa unterwegs zu einem unbekannten Ziel gesehen haben wollte. Don Federico und das dumme Stück von Merceditas haben gefragt, ob er sich eine Geliebte zugelegt habe, das sei ja jetzt schick geworden bei den Händlern des Viertels, und wenn das Mädchen auch noch Coupletsängerin ist, umso mehr.«
»Und was haben Sie geantwortet?«
»Dass Ihr Herr Vater in seinem beispielhaften Witwertum in einen Zustand urtümlicher Jungfräulichkeit zurückgekehrt ist, die von der Wissenschaftlergemeinde mit höchstem Interesse studiert wird und ihm beim Erzbistum einen Eilantrag auf Präkanonisierung eingetragen hat. Über das Privatleben von Señor Sempere spreche ich weder mit Vertrauten noch mit Fremden, weil das nur ihn etwas angeht. Und wer mir mit Zoten kommt, der kriegt eine geklebt, und damit basta.«
»Sie sind ein Gentleman der alten Schule, Fermín.«
»Wer von der alten Schule ist, das ist Ihr Vater, Daniel. Denn unter uns gesagt, es würde ihm ehrlich guttun, sich ab und zu eine Eskapade zu leisten. Seit bei uns der Ofen aus ist, schließt er sich den ganzen Tag mit diesem ägyptischen Totenbuch im Hinterzimmer ein.«
»Sie meinen das Geschäftsbuch«, stellte ich richtig.
»Was auch immer. Seit Tagen trage ich mich mit dem Gedanken, wir sollten ihn ins Molino mitschleppen und dann einen draufmachen, denn obwohl der Held dieser Geschichte fader ist als eine Kohlpaella, glaube ich, so eine richtige Begegnung mit einer drallen Jungfer, die über einen guten Kreislauf verfügt, würde sein Mark aufwecken«, sagte er.
»Und das sagen ausgerechnet Sie! Die Freude des Obstgartens. Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, dann sind Sie es, der mir Sorgen macht«, protestierte ich. »Seit Tagen sehen Sie aus wie ein Kakerlak im Regenmantel.«
»Tatsächlich ein trefflicher Vergleich, Daniel, denn obwohl der Kakerlak nicht das Komödiantengesichtchen hat, das die frivolen Regeln dieser dümmlichen Gesellschaft fordern, in der wir leben dürfen, so charakterisieren doch sowohl der glücklose Gliederfüßler wie meine Wenigkeit uns durch einen unvergleichlichen Überlebensinstinkt, durch unmäßige Gefräßigkeit und die Libido eines Löwen, die selbst bei höchster Verstrahlung nicht schwindet.«
»Mit Ihnen kann man einfach nicht diskutieren, Fermín.«
»Ich habe eben eine dialektische Veranlagung, die dazu neigt, beim geringsten Anzeichen von Täuschung oder Vertrottelung andere zu ärgern, mein Freund, Ihr Vater dagegen ist ein zartheikles Blümchen, und ich glaube, wir sollten jetzt eingreifen, ehe er gänzlich zum Fossil wird.«
»Und was für eine Art von Eingreifen soll das sein, Fermín?«, unterbrach uns die Stimme meines Vaters. »Sagen Sie bloß nicht, Sie wollen mich zu Kaffee und Kuchen mit der Rociíto verführen.«
Wir wandten uns um wie zwei ertappte Pennäler. Streng und keineswegs wie ein zartheikles Blümchen beobachtete uns mein Vater von der Tür aus.
»Und woher wissen Sie das mit der Rociíto?«, murmelte Fermín verdutzt.
Mein Vater ergötzte sich an unserem Erschrecken und blinzelte uns dann freundlich lächelnd zu.
»Ich mag ja ein Fossil werden, aber noch habe ich gute Ohren. Gute Ohren, und der Kopf funktioniert ebenfalls. Darum habe ich beschlossen, etwas zu unternehmen, um das Geschäft wieder flottzukriegen«, verkündete er. »Das Molino kann warten.«
Erst jetzt fiel uns auf, dass er zwei enorme Tüten und eine große, in Packpapier geschlagene und dick verschnürte Schachtel mitgebracht hatte.
»Du wirst mir aber nicht sagen, dass du gerade die Bank an der Ecke überfallen hast«, fragte ich.
»Den Banken versuche ich wenn immer möglich aus dem Weg zu gehen, denn wie Fermín sehr richtig sagt, sind normalerweise sie es, die einen überfallen. Nein, ich komme vom Santa-Lucía-Markt.«
Fermín und ich wechselten einen verblüfften Blick.
»Wollt ihr mir nicht helfen? Das ist schwer wie eine Leiche.«
Wir verfrachteten den Inhalt der Tüten auf den Ladentisch, während mein Vater das Papier von der Schachtel entfernte. Die Tüten waren voll kleiner, ebenfalls in Packpapier steckender Gegenstände. Fermín wickelte einen aus und betrachtete ihn verständnislos.
»Was ist denn das?«, fragte ich.
»Ich würde sagen, es handelt sich um einen ausgewachsenen Esel im Maßstab 1:100«, antwortete Fermín.
»Was bitte?«
»Ein Esel, Grautier oder Langohr, liebenswerter einhufiger Vierfüßler, der charmant und selbstbewusst die Fluren unseres Spanien tüpfelt, nur eben en miniature, wie die Spielzeugeisenbähnchen aus der Casa Palau«, erklärte Fermín.
»Es ist ein Esel aus Ton, eine Krippenfigur«, sagte mein Vater.
»Was denn für eine Krippe?«
Wortlos öffnete mein Vater die Schachtel und zog eine riesige Krippe mit Lichtchen hervor, die er, wie ich ahnte, als Weihnachtsreklame ins Schaufenster stellen wollte. Inzwischen hatte Fermín schon mehrere Ochsen, Kamele, Schweine, Enten, morgenländische Monarchen, Palmen, einen heiligen Joseph und eine Jungfrau Maria ausgepackt.
»Sich vermittelst der Zurschaustellung von Krippenfigürchen und Ammenmärchen dem Joche des Nationalkatholizismus und seinen ihm innewohnenden Indoktrinationstechniken zu ergeben scheint mir nicht die Lösung zu sein«, sagte Fermín.
»Erzählen Sie doch keinen Unsinn, Fermín, das ist eine schöne Gepflogenheit, und zur Weihnachtszeit sehen die Leute gern Krippen«, unterbrach ihn mein Vater. »Dem Laden hat der Farben- und Freudefunken gefehlt, dessen diese Zeiten bedürfen. Wenn Sie einen Blick auf die Geschäfte des Viertels werfen, werden Sie sehen, dass wir im Vergleich dazu wie ein Bestattungsinstitut daherkommen. Los, helfen Sie mir, wir stellen sie ins Schaufenster. Und lassen Sie diese ganzen Bände der Säkularisierung des Mendizabal vom Ladentisch verschwinden, das vergrault ja jeden.«
»Na also«, murmelte Fermín.
Zu dritt hievten wir die Krippe aus der Schachtel und platzierten die Figuren. Widerwillig half Fermín mit, runzelte die Stirn und brachte ununterbrochen Einwände gegen das Projekt vor.
»Bei allem Respekt, Señor Sempere, aber dieses Jesuskind ist dreimal so groß wie sein angeblicher Vater und hat fast keinen Platz in der Krippe.«
»Macht doch nichts. Die kleinen waren ihnen ausgegangen.«
»Also neben der Muttergottes kommt er mir vor wie einer dieser japanischen Freistilringer mit Gewichtsproblemen, pomadisiertem Haar und den im Schritt geschnürten Unterhosen.«
»Die heißen Sumo-Ringer«, sagte ich.
»Genau die meine ich.«
Mein Vater seufzte kopfschüttelnd.
»Und dann schauen Sie sich mal seine Augen an. Der sieht ja aus wie ein Besessener.«
»So, Fermín, jetzt reicht’s — schalten Sie die Beleuchtung ein.« Mein Vater reichte ihm das Kabel der Krippe.
In einem seiner Akrobatikakte gelang es Fermín, unter dem Tisch mit der Krippe hindurch zur Steckdose am anderen Ende des Ladentischs zu rutschen.
»Und es ward Licht«, verkündete mein Vater, während er begeistert die neue Leuchtkrippe von Sempere & Söhne betrachtete. »Sich erneuern oder sterben«, fügte er befriedigt hinzu.
»Sterben«, murmelte Fermín.
Noch war keine Minute seit der offiziellen Erleuchtung vergangen, als eine Mutter mit drei Kindern an den Händen vor dem Schaufenster stehen blieb, um die Krippe zu bewundern, und nach einem Moment des Zögerns eintrat.
»Guten Tag«, sagte sie. »Haben Sie Erzählungen über das Leben der Heiligen?«
»Aber natürlich«, antwortete mein Vater. »Erlauben Sie mir, Ihnen die Sammlung Unser Herr Jesus zu zeigen, die wird Ihren Kindern ganz sicher gefallen. Reich illustriert und mit einem Vorwort von keinem Geringeren als Don José María Pemán.«
»Oh, wie schön. Ehrlich gesagt, es ist heutzutage so schwer, Bücher mit einer positiven Botschaft zu finden, solche, bei denen man sich wohl fühlt, ohne die ganzen Verbrechen und Morde und all die Sachen, die keiner versteht… Finden Sie nicht auch?«
Fermín verdrehte die Augen. Als er schon den Mund aufklappen wollte, konnte ich ihn eben noch rechtzeitig von der Kundschaft entfernen.
»Da haben Sie vollkommen recht«, stimmte mein Vater bei, während er mir aus dem Augenwinkel und mit einer Grimasse bedeutete, Fermín zu fesseln und zu knebeln — diesen Umsatz wollten wir uns um nichts auf der Welt entgehen lassen.
Ich drängte Fermín ins Hinterzimmer und versicherte mich, dass der Vorhang zugezogen war, so dass mein Vater das Geschäft in aller Ruhe abwickeln konnte.
»Fermín, ich weiß auch nicht, was für eine Laus Ihnen über die Leber gelaufen ist, aber wenn ein Jesuskind von der Größe einer Straßenwalze und ein paar Tonschweine meinen Vater ermutigen und uns zudem Kunden zuführen, muss ich Sie bitten, Ihre existentialistischen Kanzelreden zu vergessen und wenigstens in den Geschäftsstunden ein zufriedenes Gesicht aufzusetzen, auch wenn ich weiß und respektiere, dass diese Krippengeschichte Sie nicht überzeugt.«
Fermín seufzte und nickte beschämt.
»Darum geht es nicht, lieber Daniel. Verzeihen Sie mir. Um Ihren Vater glücklich zu machen und die Buchhandlung zu retten, schreite ich nötigenfalls den Jakobsweg in Stierkämpfertracht ab.«
»Es reicht, wenn Sie ihm sagen, Sie finden die Sache mit der Krippe eine gute Idee, und ihm den Willen tun.«
Er nickte.
»Aber natürlich. Nachher werde ich Señor Sempere um Verzeihung bitten für meine unangebrachten Bemerkungen und als Akt der Reue ein Krippenfigürchen beisteuern, um zu beweisen, dass mir in puncto weihnachtlichen Geistes nicht einmal die Warenhäuser das Wasser reichen können. Ich habe einen Freund im Untergrund, der Francos Gattin als Tonscheißerfigur herstellt, mit einem so realistischen Finish, dass man Gänsehaut kriegt.«
»Passt bestimmt phantastisch zu einem Lämmchen oder einem König Balthasar.«
»Was immer Sie meinen, Daniel. Und jetzt, wenn es Ihnen recht ist, tue ich was Nützliches und öffne die Kisten mit dem Posten der Witwe Recasens, die seit einer Woche Staub ansetzen.«
»Soll ich Ihnen helfen?«
»Keine Sorge, Sie haben ja ebenfalls zu tun.«
Er ging aufs Lager am Ende des Hinterzimmers zu und schlüpfte in den blauen Arbeitskittel.
»Fermín«, setzte ich an.
Er wandte sich um und sah mich aufmerksam an. Ich zögerte einen Augenblick.
»Heute ist etwas geschehen, was ich Ihnen erzählen möchte.«
»Nur zu.«
»Ich weiß nicht recht, wie ich es erklären soll, ehrlich gesagt. Da ist jemand gekommen und hat nach Ihnen gefragt.«
»War sie hübsch?« Er versuchte eine scherzhafte Miene aufzusetzen, die aber den Schatten in seinen Augen nicht zu übertünchen vermochte.
»Es war ein Herr. Ziemlich verwahrlost und ein wenig merkwürdig, um ehrlich zu sein.«
»Hat er einen Namen hinterlassen?«
»Nein. Aber er hat etwas anderes für Sie dagelassen.«
Fermín blickte finster. Ich reichte ihm das Buch, das der Besucher ein paar Stunden zuvor gekauft hatte. Fermín ergriff es und studierte den Einband, ohne zu verstehen.
»Aber das ist doch der Dumas, den wir für sieben Duros in der Vitrine stehen hatten, oder?«
Ich nickte.
»Schlagen Sie die erste Seite auf.«
Er tat wie geheißen. Als er die Widmung las, wurde er bleich und schluckte. Einen Moment lang schloss er die Augen, dann schaute er mich wortlos an. Es kam mir vor, als sei er in fünf Sekunden fünf Jahre gealtert.
»Ich bin ihm von hier aus gefolgt«, sagte ich. »Er wohnt seit einer Woche in einem schäbigen Stundenhotel in der Calle Hospital, gegenüber der Pension Europa, und soweit ich habe herausfinden können, benutzt er einen falschen Namen, nämlich Ihren: Fermín Romero de Torres. Von einem der Schreiber vor dem Virreina-Palast habe ich erfahren, dass er einen Brief hat abschreiben lassen, in dem von einer großen Geldsumme die Rede ist. Kommt Ihnen irgendetwas von alledem bekannt vor?«
Er war mit jedem Wort dieser Geschichte mehr zusammengeschrumpft, als hätte er mit der Schaufel einen Schlag nach dem anderen auf den Kopf bekommen.
»Daniel, folgen Sie diesem Menschen auf keinen Fall mehr, und sprechen Sie auch nicht mehr mit ihm. Tun Sie gar nichts. Halten Sie sich von ihm fern. Er ist sehr gefährlich.«
»Wer ist dieser Mann, Fermín?«
Er klappte das Buch zu und versteckte es in einem Regal hinter einigen Schachteln. Zum Ladenlokal spähend, wo mein Vater noch mit der Kundin beschäftigt war und uns nicht hören konnte, trat er dicht an mich heran und sagte leise:
»Bitte, erzählen Sie Ihrem Vater nichts davon und auch sonst niemandem.«
»Fermín…«
»Tun Sie mir den Gefallen. Ich bitte Sie um unserer Freundschaft willen darum.«
»Aber, Fermín…«
»Bitte, Daniel. Nicht hier. Vertrauen Sie mir.«
Ich nickte widerwillig und zeigte ihm den Hundert-Peseten-Schein, mit dem der Unbekannte bezahlt hatte. Ich brauchte ihm nicht zu sagen, woher er stammte.
»Dieses Geld ist verflucht, Daniel. Geben Sie den Schein den Barmherzigen Nonnen oder einem Bettler auf der Straße. Oder noch besser, verbrennen Sie ihn.«
Ohne ein weiteres Wort zog er den Kittel wieder aus, schlüpfte in seinen abgetragenen Regenmantel und stülpte sich eine Baskenmütze auf seinen Streichholzkopf, der aussah wie eine geschmolzene Paellapfanne auf einem Bild von Dalí.
»Gehen Sie schon?«
»Sagen Sie Ihrem Vater, es sei mir etwas dazwischengekommen. Bitte.«
»Natürlich, aber…«
»Jetzt kann ich es Ihnen nicht erklären, Daniel.«
Als hätte er einen Knoten im Gedärm, griff er sich mit einer Hand an den Magen, und mit der anderen begann er zu gestikulieren, wie wenn er Worte, die er nicht über die Lippen brachte, im Flug aufschnappen wollte.
»Fermín, wenn Sie es mir erzählen, kann ich Ihnen vielleicht helfen…«
Er zögerte einen Augenblick, doch dann schüttelte er den Kopf und ging davon. Ich folgte ihm zur Tür und sah ihn im Sprühregen davongehen, ein kleines Männchen, auf dessen Schultern die Welt lastete, während die Nacht schwärzer denn je über Barcelona hereinbrach.
Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass jedes wenige Monate alte Baby in der Lage ist, mit unfehlbarem Instinkt genau den Moment abzupassen, in dem seine Eltern des Nachts endlich haben einschlummern können, und dann zu seinem Geheule anzuheben und sie so daran zu hindern, länger als dreißig Minuten durchzuschlafen.
Diese Nacht erwachte der kleine Julián wie fast immer gegen drei Uhr und verkündete sein Dasein augenblicklich aus voller Lunge. Ich öffnete die Augen und drehte mich um. Leuchtend im Halbdunkel, rekelte sich Bea neben mir in einem langsamen Erwachen, das es mir erlaubte, die Konturen ihres Körpers unter den Laken zu betrachten, und murmelte etwas Unverständliches. Ich widerstand dem natürlichen Impuls, ihren Hals zu küssen und sie aus diesem endlos langen Panzernachthemd zu befreien, das ihr mein Schwiegervater, gewiss in voller Absicht, zum Geburtstag geschenkt hatte und das auch mit List und Tücken nicht aus dem Wäscheschrank zu verbannen war.
»Ich geh schon«, flüsterte ich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie drehte sich nur um und steckte den Kopf unters Kissen. Eine Weile genoss ich die geschwungene, gegen Ende sanft abfallende Linie ihres Rückens, die sämtliche Nachthemden der Welt nicht hätten zähmen können. Nun war ich schon fast zwei Jahre mit diesem wunderbaren Wesen verheiratet, und noch immer überraschte es mich, neben ihr zu erwachen und ihre Wärme zu spüren. Schon war ich dabei, das Laken beiseitezuschieben und diese samtenen Waden zu liebkosen, als Bea mir die Fingernägel ins Handgelenk bohrte.
»Nicht jetzt, Daniel. Der Kleine weint.«
»Ich wusste doch, dass du wach bist.«
»In diesem Haus ist es schwierig zu schlafen, weil die Männer nicht aufhören können, zu weinen oder einer armen Unglückseligen den Hintern zu befummeln, so dass sie nicht mehr als zwei Stunden Schlaf pro Nacht bekommt.«
»Du verpasst etwas.«
Ich stand auf und ging durch den Flur nach hinten zu Juliáns Zimmer. Kurz nach der Heirat waren wir in die Dachgeschosswohnung oberhalb der Buchhandlung gezogen. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte hier Don Anacleto, der Hochschuldozent, gewohnt, und nun hatte er beschlossen, in den Ruhestand und zurück in seine Heimatstadt Segovia zu gehen, um im Schatten des Aquädukts pikante Gedichte zu verfassen und die Technik des Spanferkelbratens zu studieren.
Der kleine Julián empfing mich mit Geheul, dessen hohes Register mir das Trommelfell zu durchlöchern drohte. Ich nahm ihn auf den Arm, und nachdem ich der Windel angerochen hatte, dass die Luft ausnahmsweise rein war, tat ich, was jeder frischgebackene und einigermaßen vernunftbegabte Vater tun würde: Ich raunte ihm dummes Zeug ins Ohr und tanzte mit ihm in lächerlichen Sprüngen im Zimmer herum. Auf einmal entdeckte ich Bea auf der Schwelle, wo sie uns missbilligend zuschaute.
»Gib ihn mir, du weckst ihn ja nur noch mehr auf.«
»Er beklagt sich jedenfalls nicht.« Widerwillig legte ich ihr den Kleinen in die Arme.
Sie wiegte ihn sanft und summte ihm dabei eine Melodie ins Ohr. Fünf Sekunden später hörte er auf zu weinen und setzte dieses dümmliche Lächeln auf, das ihm seine Mutter immer zu entlocken wusste.
»Geh jetzt«, sagte Bea leise. »Ich komm gleich nach.«
Auf diese Weise aus dem Zimmer vertrieben und deutlich meiner Unfähigkeit überführt, mit Kleinkindern im Kriechalter umzugehen, kehrte ich ins Schlafzimmer zurück und legte mich wieder ins Bett. Für den Rest der Nacht würde ich sicher kein Auge mehr zutun. Ein wenig später erschien Bea und legte sich seufzend zu mir.
»Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«
Ich umarmte sie, und einige Minuten verharrten wir schweigend.
»Ich habe nachgedacht«, sagte sie dann.
Mach dich auf was gefasst, Daniel, dachte ich. Bea richtete sich auf und hockte sich auf dem Bett vor mich hin.
»Wenn Julián etwas größer ist und sich meine Mutter einige Stunden am Tag um ihn kümmern kann, ich glaube, dann will ich wieder arbeiten.«
Ich nickte.
»Wo denn?«
»Im Laden.«
Die Vorsicht gebot mir zu schweigen.
»Ich glaube, das käme euch allen gelegen«, fügte sie hinzu. »Für sein Alter arbeitet dein Vater zu viele Stunden, und ich glaube, ich kann, du entschuldigst schon, geschickter mit den Kunden umgehen als du und Fermín — der scheint mir in letzter Zeit die Leute eher zu vergraulen.«
»Das kann ich nicht bestreiten.«
»Was ist denn los mit dem armen Kerl? Neulich habe ich die Bernarda auf der Straße getroffen, und sie hat gleich angefangen zu heulen. Ich habe sie in eines der Cafés in der Petritxol entführt, und nachdem ich sie mit Sahnekakao abgefüllt hatte, hat sie mir erzählt, Fermín sei höchst seltsam. Anscheinend weigert er sich seit ein paar Tagen, die Papiere der Kirchgemeinde für die Heirat auszufüllen. Ich habe das Gefühl, der will nicht heiraten. Hat er dir etwas gesagt?«
»Mir ist schon auch etwas aufgefallen«, log ich. »Vielleicht übt die Bernarda zu viel Druck auf ihn aus…«
Bea betrachtete mich schweigend.
»Was?«, fragte ich schließlich.
»Die Bernarda hat mich gebeten, es niemandem zu sagen.«
»Was nicht zu sagen?«
Sie schaute mich fest an.
»Dass sie diesen Monat zu spät dran ist.«
»Zu spät? Hat sie sich zu viel Arbeit aufgebürdet?«
Bea schaute mich an wie einen Unterbelichteten, und da wurde es bei mir hell.
»Die Bernarda ist schwanger?«
»Red leiser, sonst weckst du Julián wieder auf.«
»Ist sie nun schwanger oder nicht?«, wiederholte ich mit hauchdünner Stimme.
»Wahrscheinlich.«
»Und weiß es Fermín?«
»Sie hat es ihm noch nicht sagen wollen. Sie hat Angst, dass er dann das Weite sucht.«
»Das würde er nie tun.«
»Alle Männer würden das tun, wenn sie könnten.«
Die Härte in ihrer Stimme überraschte mich, aber gleich wurde diese Stimme wieder weich und von einem gefügigen, wenn auch unglaubwürdigen Lächeln begleitet.
»Wie wenig du uns doch kennst.«
Im Halbdunkel stand sie auf, zog wortlos das Nachthemd aus und ließ es neben das Bett fallen. Einige Sekunden lang durfte ich sie betrachten, dann beugte sie sich langsam über mich und leckte mir gemächlich die Lippen.
»Wie wenig ich euch doch kenne«, flüsterte sie.
Am nächsten Tag erwies sich die Leuchtkrippe tatsächlich als zugkräftige Werbung, und zum ersten Mal seit Wochen sah ich meinen Vater lächeln, während er im Geschäftsbuch ein paar Verkäufe notierte. Von den ersten Vormittagsstunden an tröpfelten einige alte Kunden herein, die sich lange nicht mehr hatten blicken lassen, sowie Lesewillige, die uns zum ersten Mal aufsuchten. Ich überließ sie alle meinem Vater und seiner Erfahrung und sah mit Freuden, wie er es genoss, ihnen Titel zu empfehlen, wie er ihre Neugier weckte und ihre Vorlieben und Interessen erahnte. Das versprach ein guter Tag zu werden, der erste seit vielen Wochen.
»Daniel, wir werden die Reihe mit den illustrierten Klassikern für Kinder wieder hervorholen müssen. Die Vértice-Ausgaben mit dem blauen Rücken.«
»Ich glaube, die sind im Keller. Hast du die Schlüssel?«
»Bea hat kürzlich danach gefragt, um irgendwelche Kindersachen runterzubringen. Ich glaube, sie hat sie mir nicht zurückgegeben. Schau doch mal in der Schublade nach.«
»Da sind sie nicht. Ich geh eben mal hoch und suche sie.«
Ich ließ meinen Vater mit einem Herrn allein, der gerade eingetreten war und ein Buch über die Geschichte der Barceloneser Cafés suchte, und ging durch das Hinterzimmer ins Treppenhaus. Unsere Dachgeschosswohnung war nicht nur sehr hell, sondern stärkte durch das viele Treppensteigen auch Seele und Schenkel. Unterwegs begegnete ich der Witwe Edelmira aus dem dritten Stock, einer ehemaligen Tänzerin, die jetzt in Heimarbeit Müttergottes und Heilige malte, um sich das tägliche Brot zu verdienen. Allzu viele Jahre auf den Brettern des Arnau-Theaters hatten ihr die Knie zuschanden gerichtet, und jetzt musste sie sich mit beiden Händen am Geländer festklammern, um ein schlichtes Stück Treppenhaus zu bewältigen. Trotzdem hatte sie immer ein Lächeln auf den Lippen und einige nette Worte bereit.
»Wie geht’s denn deiner hübschen Frau, Daniel?«
»Nicht so hübsch wie Sie, Doña Edelmira. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Wie immer lehnte Edelmira mein Angebot ab und gab mir Grüße für Fermín mit, der stets eine Schmeichelei für sie zur Hand hatte und ihr bei jeder Begegnung unziemliche Anträge machte.
Als ich die Wohnungstür öffnete, roch es noch nach Beas Parfüm und nach dieser Duftmischung, wie sie von Kindern und ihren Requisiten ausgeht. Bea stand immer früh auf und führte Julián in dem funknagelneuen Jané-Wägelchen spazieren, das uns Fermín geschenkt hatte und das alle den Mercedes nannten.
»Bea?«, rief ich.
Die Wohnung war klein, und das Echo kam zurück, bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Sie war schon gegangen. Im Esszimmer stehend, versuchte ich den Gedankengang meiner Frau zu rekonstruieren und auf diese Weise herauszufinden, wo sie die Kellerschlüssel deponiert haben mochte. Sie war sehr viel ordentlicher und methodischer als ich. Zuerst suchte ich in den Buffetschubladen, wo sie Quittungen, zu beantwortende Briefe und Münzen zu verwahren pflegte. Dann ging ich weiter zu den kleinen Tischen, Obstschalen und Regalen.
Nächste Station war die Küche, wo Bea in einer Vitrine Notizen und Gedächtnishilfen hinterließ. Das Glück war mir nicht hold, und so endete ich im Schlafzimmer; ich blieb vor dem Bett stehen und blickte mich analytischen Sinnes um. Bea belegte fünfundsiebzig Prozent von Schrank, Schubladen und anderen Schlafzimmereinrichtungen, mit dem Argument, ich ziehe mich ja sowieso immer gleich an, also reiche ein Eckchen im Kleiderschrank für mich. Die Systematik ihrer Schubladen war von einer Raffinesse, vor der ich kapitulierte. Ein gewisses Schuldgefühl befiel mich, als ich das Reich meiner Frau durchforstete, aber nachdem ich glücklos alle sichtbaren Möbel abgesucht hatte, hatte ich die Schlüssel immer noch nicht gefunden.
Rekonstruieren wir doch den Ablauf, sagte ich mir. Vage erinnerte ich mich an eine Bemerkung von Bea, sie wolle eine Schachtel mit Sommerkleidern hinunterbringen. Das war vor zwei Tagen gewesen. Wenn mich die Erinnerung nicht täuschte, trug sie an jenem Tag den grauen Mantel, den ich ihr zu unserem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Ich musste lachen über meine Kombinationsgabe und öffnete den Schrank, um unter Beas Kleidern den Mantel zu suchen. Da war er. Wenn alles von Sir Arthur Conan Doyle und seinen Adepten Gelernte stimmte, befanden sich die Kellerschlüssel in einer der Manteltaschen. Ich steckte die Hand in die rechte und stieß auf zwei Münzen und einige Mentholpastillen, wie man sie in den Apotheken geschenkt bekommt. Dann untersuchte ich die andere Tasche und sah meine These mit Befriedigung bestätigt — meine Finger berührten den Schlüsselbund.
Und noch etwas.
In der Tasche befand sich noch etwas. Ich zog die Schlüssel hervor und beschloss zögernd, auch das andere ans Tageslicht zu befördern. Eine von Beas Einkaufslisten konnte es nicht sein, dafür war es zu dick.
Es erwies sich als Kuvert. Ein Brief. Er war an Beatriz Aguilar gerichtet und laut dem Poststempel eine Woche alt. Darauf stand die Adresse von Beas Eltern, nicht die der Wohnung in der Calle Santa Ana. Ich drehte ihn um, und als ich den Namen des Absenders las, fielen mir die Schlüssel aus der Hand.
Pablo Cascos Buendía
Ich setzte mich auf die Bettkante und schaute verwirrt diesen Umschlag an. Pablo Cascos Buendía war in den Tagen, als wir zu turteln begonnen hatten, Beas Verlobter gewesen. Einer begüterten Familie entstammend, die in El Ferrol mehrere Werften und Industriebetriebe besaß, hatte dieser Mensch, den ich so wenig hatte leiden können wie er mich, damals als Leutnant Militärdienst geleistet. Nachdem ihm Bea schriftlich die Auflösung der Verlobung mitgeteilt hatte, hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört. Bis zu diesem Tag.
Was hatte ein Brief jüngsten Datums von Beas ehemaligem Verlobten in ihrer Manteltasche zu suchen? Der Umschlag war geöffnet, aber einen Moment lang hielten mich die Skrupel zurück, den Brief hervorzuziehen. Es war mir klar, dass ich Bea zum ersten Mal nachspionierte, und schon wollte ich den Umschlag wieder in den Mantel zurückstecken und mich verziehen. Mein tugendhafter Moment dauerte wenige Sekunden. Noch ehe ich am Ende des ersten Absatzes angelangt war, verflog jeder Anflug von Schuldgefühl und Scham.
Liebe Beatriz,
ich hoffe, es geht dir gut und du bist glücklich in deinem neuen Leben in Barcelona. Obwohl schon einige Monate vergangen sind, habe ich keine Antwort auf meine Briefe bekommen, und manchmal frage ich mich, ob ich mir etwas habe zuschulden kommen lassen, dass du nichts mehr von mir wissen willst. Ich verstehe ja, dass du eine verheiratete Frau und Mutter eines Kindes bist und dass es vielleicht nicht angebracht ist, dir zu schreiben. Dennoch muss ich dir gestehen, dass es mir, soviel Zeit auch verstrichen ist und trotz aller Anstrengung, nicht gelingt, dich zu vergessen, und ich schäme mich nicht, zu gestehen, dass ich immer noch in dich verliebt bin.Auch mein Leben hat eine neue Richtung eingeschlagen. Vor einem Jahr habe ich eine Stelle als kaufmännischer Direktor eines wichtigen Verlagsunternehmens angetreten. Ich weiß, wie viel dir Bücher immer bedeutet haben, und zwischen Büchern zu arbeiten gibt mir das Gefühl, dir näher zu sein. Mein Büro befindet sich in der Madrider Filiale, aber meine Arbeit führt mich oft durch ganz Spanien.Ich denke fortwährend an dich, an das Leben, das wir hätten teilen, an die Kinder, die wir zusammen hätten haben können… Täglich frage ich mich, ob dich dein Mann glücklich machen kann und ob du ihn nicht nur umständehalber geheiratet hast. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir das bescheidene Leben, das er dir bietet, tatsächlich wünschst. Ich kenne dich genau. Wir sind Kollegen und Freunde gewesen, und zwischen uns hat es keine Geheimnisse gegeben. Kannst du dich an unsere gemeinsamen Nachmittage am San-Pol-Strand erinnern? Kannst du dich an die Pläne, an die Träume erinnern, die wir geteilt, an die Versprechen, die wir uns gegeben haben? Nie habe ich mich mit jemandem so gefühlt wie mit dir. Seit der Auflösung unserer Verlobung war ich mit einigen Mädchen befreundet, doch mittlerweile weiß ich, dass keine an dich heranreicht. Immer wenn ich andere Lippen küsse, denke ich an die deinen, und immer wenn ich eine andere Haut liebkose, spüre ich die deine.In einem Monat werde ich unser Verlagsbüro in Barcelona besuchen und mit dem Personal eine Reihe von Gesprächen über eine künftige Restrukturierung des Unternehmens führen. Eigentlich hätte ich diese Formalitäten auch per Post und telefonisch erledigen können. Der wirkliche Grund meiner Reise ist kein anderer als die Hoffnung, dich sehen zu können. Ich weiß, du wirst denken, ich sei verrückt, aber besser so, als dass du denkst, ich hätte dich vergessen. Ich komme am 20. Januar und werde im Ritz in der Gran Vía absteigen. Ich möchte dich zu gern sehen, und sei es nur eine Weile, damit ich dir persönlich sagen kann, was ich im Herzen trage. Ich habe für den 21. im Hotelrestaurant auf zwei Uhr einen Tisch reserviert. Dort werde ich dich erwarten. Wenn du kommst, wirst du mich zum glücklichsten Menschen auf Erden machen, und ich werde die Gewissheit haben, dass meine Träume, deine Liebe wiederzuzugewinnen, nicht hoffnungslos sind.
Dich seit je liebend
Pablo
Einige Sekunden lang blieb ich weiter auf dem Bett sitzen, das ich erst vor ein paar Stunden noch mit Bea geteilt hatte. Dann steckte ich den Brief wieder in den Umschlag, und als ich aufstand, hatte ich das Gefühl, ich hätte eben einen Faustschlag in den Magen bekommen. Ich rannte ins Bad und erbrach den Morgenkaffee ins Waschbecken. Dann klatschte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Im Spiegel schaute mich das Gesicht des sechzehnjährigen Daniel an, dessen Hände gezittert hatten, als er Bea zum ersten Mal liebkost hatte.
Als ich in den Laden zurückkam, warf mir mein Vater einen forschenden Blick zu und schaute auf die Armbanduhr. Vermutlich fragte er sich, wo ich die letzte halbe Stunde gesteckt haben mochte, doch er sagte nichts. Seinem Blick ausweichend, gab ich ihm die Kellerschlüssel.
»Aber wolltest nicht du runtergehen und die Bücher holen?«, fragte er.
»Ja, klar, entschuldige. Ich geh gleich.«
Er sah mich misstrauisch an.
»Ist alles in Ordnung, Daniel?«
Ich nickte, scheinbar erstaunt über die Frage. Bevor er sie wiederholen konnte, machte ich mich zum Keller auf. Der Zugang befand sich ganz hinten im Hausflur. Eine mit einem Vorhängeschloss verriegelte Metalltür unter dem ersten Treppenstück öffnete sich zu einer Wendeltreppe, die sich im Dunkeln verlor und nach Feuchtigkeit roch und an etwas Undefinierbares wie gestampfte Erde oder verwelkte Blumen erinnerte. An der Decke hing eine Reihe anämisch flackernder Glühbirnen, die das Ganze gleichsam zu einem Luftschutzkeller machten. Ich stieg hinunter und tastete an der Kellerwand nach dem Lichtschalter.
Über meinem Kopf hing eine gelbliche Birne und erhellte notdürftig eine Art größenwahnsinnige Rumpelkammer. Mumien herrenloser Fahrräder, von Spinnweben überzogene Bilder und gestapelte Kartonschachteln in von der Feuchtigkeit aufgeweichten Holzregalen bildeten eine Kulisse, die nicht unbedingt zu längerem Verweilen einlud. Erst jetzt ging mir auf, wie merkwürdig es war, dass Bea selbst da herunterzukommen beschlossen hatte, statt mich um diesen Gang zu bitten. Ich fragte mich, was der Raum außer all dem Gerümpel sonst noch für Geheimnisse bergen mochte.
Als mir bewusst wurde, in was ich mich da hineinsteigerte, seufzte ich. Die Worte dieses Briefes tropften mir stetig in den Geist wie Säure. Ich nahm mir das Versprechen ab, zwischen diesen Schachteln nicht nach Bündeln parfümierter Briefe dieses Individuums zu suchen. Dieses Versprechen hätte ich schon nach wenigen Sekunden gebrochen, hätte ich auf der Treppe nicht Schritte gehört. Ich schaute auf und erblickte Fermín, der die Szenerie angeekelt betrachtete.
»Na, hier riecht’s ja nach wurmstichiger Leiche. Sie bewahren doch nicht etwa in einer dieser Kisten zwischen Häkelmustern die einbalsamierte Mutter der Merceditas auf?«
»Wenn Sie schon da sind, helfen Sie mir doch ein paar Schachteln für meinen Vater hinaufzutragen.«
Fermín krempelte sich die Ärmel hoch. Ich deutete auf zwei Schachteln mit dem Siegel des Vértice-Verlags, und wir fassten beide je eine.
»Daniel, Sie sehen ja elender aus als ich. Ist was?«
»Das müssen die Ausdünstungen dieses Kellers sein.«
Er ließ sich von meinem Versuch zu scherzen nicht täuschen. Ich stellte die Schachtel wieder hin und setzte mich darauf.
»Darf ich Sie etwas fragen, Fermín?«
Nun benutzte auch er seine Schachtel als Hocker. Ich schaute ihn an, wollte reden, brachte aber kein Wort über die Lippen.
»Probleme im Ehebett?«, fragte er.
Ich errötete, als ich feststellte, wie gut mich mein Freund kannte.
»So was Ähnliches.«
»Fehlt es der Señora Beatriz, gebenedeit unter den Frauen, an Gefechtslust, oder hat sie im Gegenteil zu viel davon, und Sie schaffen mit Mühe und Not den Dienst nach Vorschrift? Vergessen Sie nicht, dass bei jungen Müttern eine Hormonbombe im Blut gezündet worden ist. Eines der großen Geheimnisse der Natur ist, wie sie es schaffen, in den zwanzig Sekunden nach der Geburt nicht den Verstand zu verlieren. Das alles weiß ich, weil die Geburtshilfe eines meiner Hobbys ist, gleich nach dem Sonett.«
»Nein, das ist es nicht. Soviel ich weiß.«
Er schaute mich erstaunt an.
»Ich muss Sie bitten, nicht weiterzuerzählen, was ich Ihnen sagen werde.«
Er bekreuzigte sich feierlich.
»Gerade eben habe ich zufällig in Beas Manteltasche einen Brief gefunden.«
Meine Pause schien ihn nicht zu beeindrucken.
»Und?«
»Der Brief stammt von ihrem ehemaligen Verlobten.«
»Dem Verflossenen? Ist der denn nicht nach des Caudillos El Ferrol gegangen, um eine spektakuläre Karriere als Herrensöhnchen zu absolvieren?«
»Das dachte ich auch. Aber nun schreibt er in seiner Freizeit meiner Frau Liebesbriefe.«
Fermín schoss auf.
»Gottverdammte Scheiße«, knurrte er, empörter als ich.
Ich zog den Brief aus der Tasche und reichte ihn ihm. Fermín beroch ihn, ehe er ihn entfaltete.
»Bin ich das, oder schreibt dieser Hurenbock seine Briefe auf parfümiertem Papier?«
»Ich habe nicht drauf geachtet, aber wundern würde es mich nicht. Der Mann ist so. Das Beste kommt noch. Lesen Sie, los…«
Fermín las leise, den Kopf schüttelnd.
»Das ist nicht nur ein fieses Schwein, sondern auch ein gewaltiger Lackaffe. ›Andere Lippen küssen‹, das reicht eigentlich schon, um ihn für eine Nacht hinter Gitter zu bringen.«
Ich steckte den Brief wieder ein und schleifte den Blick über den Boden.
»Sie werden mir ja wohl nicht sagen, dass Sie Señora Bea verdächtigen…?«, fragte er ungläubig.
»Nein, natürlich nicht.«
»Schwindler.«
Ich stand auf und begann im Keller Runden zu drehen.
»Was würden denn Sie tun, wenn Sie in der Tasche der Bernarda einen solchen Brief fänden?«
Fermín dachte lange nach.
»Was ich täte, wäre, der Mutter meines Kindes Vertrauen schenken.«
»Vertrauen schenken?«
Er nickte.
»Ich will Sie nicht beleidigen, Daniel, aber Sie haben das klassische Problem der Männer, die ein Superweib heiraten. Señora Bea, die für mich eine Heilige ist und immer sein wird, da kann man nur, um es volkstümlich auszudrücken, das Brot tunken und den Teller mit den Fingern auswischen. Also ist vorherzusehen, dass Lustmolche, Unglückliche, Muskelprotze und typische Angeber aller Gattungen hinter ihr her sind. Mit Ehemann und Kind oder nicht, das ist dem in einem Anzug steckenden Affen, den wir wohlwollend Homo sapiens nennen, vollkommen wurscht. Sie werden es nicht bemerken, aber ich verwette meine Unterhose, dass Ihre heilige Frau von mehr Fliegen umschwirrt wird als ein Honigtopf auf der Aprilmesse. Dieser Kretin ist doch bloß ein Aasvogel, der mit Steinen um sich wirft, um zu sehen, ob einer irgendwo landet. Hören Sie auf mich, eine Frau mit Köpfchen und dem Unterrock am rechten Fleck riecht Typen dieses Schlages von weitem.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Der Zweifel beleidigt. Glauben Sie denn, wenn Ihnen Doña Beatriz Hörner aufsetzen wollte, müsste sie warten, bis ihr ein halbseidener Schleimer aufgewärmte Boleros schickt, um sie zu verführen? Wenn ihr nicht jedes Mal, wenn sie mit dem Kleinen und ihrem hübschen Gesichtchen spazieren geht, zehn Freier schöne Augen machen, macht ihr keiner welche. Glauben Sie mir — ich weiß, wovon ich rede.«
»Ich weiß nicht recht, ob mir das im Moment ein großer Trost ist.«
»Passen Sie auf, Sie stecken jetzt diesen Brief wieder in die Manteltasche, wo Sie ihn gefunden haben, und vergessen das Ganze. Und kommen Sie mir ja nicht auf die Idee, Ihrer Frau etwas davon zu sagen.«
»Das würden Sie tun?«
»Was ich tun würde, wäre, diesen Idioten heimsuchen und ihm einen solchen Tritt in die Schamteile geben, dass er, wenn man sie ihm aus dem Genick operiert, bloß noch in einem Kartäuserkloster verschwinden will. Aber ich bin ich. Und Sie sind Sie.«
Ich spürte, wie sich die Angst in mir ausbreitete wie ein Öltropfen auf klarem Wasser.
»Ich weiß nicht, ob Sie mir damit helfen, Fermín.«
Er zuckte die Schultern, stemmte die Schachtel hoch und verschwand treppauf.
Den Rest des Vormittags gingen wir den Obliegenheiten der Buchhandlung nach. Nachdem ich zwei Stunden über den Brief nachgegrübelt hatte, kam ich zum Schluss, dass Fermín recht hatte. Ob er allerdings wirklich darin recht hatte, dass ich vertrauen und schweigen sollte oder ob ich mir diesen Mistkerl nicht besser vorknöpfen und ihm ein neues Gesicht verpassen sollte, war mir letztlich nicht klar. Der Kalender über dem Ladentisch zeigte den 20. Dezember an. Ich hatte einen Monat Zeit für eine Entscheidung.
Der Tag verlief rege und mit bescheidenen, aber konstanten Verkäufen. Fermín ließ sich keine Gelegenheit entgehen, meinen Vater für den Segen der Krippe und dieses Jesuskinds mit der Statur eines baskischen Gewichthebers zu loben.
»Da ich sehe, dass Sie ein echtes Verkaufsgenie sind, ziehe ich mich nach hinten zurück, um sauberzumachen und die Sammlung durchzusehen, die uns die Witwe neulich anvertraut hat.«
Ich packte die Gelegenheit beim Schopf, folgte Fermín nach hinten und zog den Vorhang zum Laden zu. Er schaute mich einigermaßen beunruhigt an, und ich lächelte versöhnlich.
»Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen.«
»Wie Sie belieben, Daniel.«
Einige Minuten lang packten wir die Bücherkartons aus und stapelten den Inhalt nach Gattung, Zustand und Größe. Fermín öffnete die Lippen keinen Spaltbreit und wich meinem Blick aus.
»Fermín…«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass Sie sich wegen des Briefes keine Sorgen zu machen brauchen. Ihre Frau Gemahlin ist kein Flittchen, und wenn sie Sie eines Tages sitzenlassen will, und da sei Gott vor, wird sie es Ihnen ins Gesicht sagen, ohne Groschenromanintrigen.«
»Botschaft angekommen, Fermín. Aber es ist nicht das.«
Er schaute bekümmert auf, da er ahnte, was kommen würde.
»Ich habe gedacht, wir beide könnten heute Abend nach Ladenschluss essen gehen«, begann ich. »Um über unsere Angelegenheiten zu plaudern. Über den Besuch von neulich. Und über das, was Ihnen Sorgen macht — ich spüre es im Urin, dass es da einen Zusammenhang gibt.«
Fermín legte das Buch, das er gerade saubermachte, auf den Tisch. Er schaute mich mutlos an und seufzte.
»Ich stecke in der Klemme, Daniel«, murmelte er schließlich. »Und ich weiß nicht, wie ich da rauskommen soll.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Unter dem Kittel war nichts weiter zu spüren als Haut und Knochen.
»Dann erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen. Wenn man sie gemeinsam angeht, sehen solche Dinge gleich etwas weniger schlimm aus.«
Er schaute mich verloren an.
»Bestimmt haben wir schon aus größeren Schwierigkeiten herausgefunden, Sie und ich«, setzte ich nach.
Er lächelte traurig, wenig überzeugt von meiner Diagnose.
»Sie sind ein guter Freund, Daniel.«
Nicht halb so gut, wie er es verdiente, dachte ich.
Zu jener Zeit hauste Fermín noch in der alten Pension in der Calle Joaquín Costa, wo, wie ich aus sicherer Quelle wusste, die anderen Untermieter in engem Zusammenwirken mit der Rociíto und ihren Kampfgefährtinnen einen Junggesellenabschied für ihn vorbereiteten, der in die Geschichte eingehen würde. Fermín erwartete mich schon vor dem Hauseingang, als ich ihn kurz nach neun Uhr abholte.
»Großen Hunger habe ich eigentlich nicht«, sagte er zur Begrüßung.
»Schade, ich hatte gedacht, wir könnten ins Can Lluís gehen«, schlug ich vor. »Heute Abend gibt’s gekochte Kichererbsen mit Schweinekopf und — füßchen…«
»Na ja, man darf auch nicht allzu voreilig sein«, stimmte er zu. »Gutes Essen ist wie junge Mädchenblüte — nur Schwachköpfe wissen es nicht zu schätzen.«
Mit dieser Perle aus dem Aphorismenschatz des vortrefflichen Don Fermín Romero de Torres als Motto spazierten wir zum Can Lluís hinunter, das unter allen Lokalen in Barcelona wie auch im Großteil der restlichen bekannten Welt eines der Lieblingslokale meines Freundes war. Es lag in der Calle de la Cera 49, auf der Schwelle zum Herzstück des Raval-Viertels. Sich schlicht gebend, mit einem Hauch von Wanderbühnennostalgie und randvoll von den Geheimnissen des alten Barcelona, zeichnete sich das Can Lluís durch eine hervorragende Küche, einen Service wie aus dem Lehrbuch und durch selbst für Fermín oder mich erschwingliche Preise aus. Unter der Woche versammelte sich da abends eine Bohemegemeinde — Theater- und Literaturmenschen und weitere Kreaturen, die gut oder elend lebten und alle miteinander anstießen.
Im Can Lluís trafen wir einen Stammkunden des Ladens an, Professor Alburquerque, stadtbekannter Gelehrter, Dozent an der philosophischen Fakultät und feinsinniger Kritiker und Artikelschreiber, der hier sein zweites Zuhause hatte und jetzt an der Theke zur Zeitungslektüre dinierte.
»Sie lassen sich selten blicken, Professor«, sagte ich im Vorbeigehen. »Besuchen Sie uns doch mal wieder, um Ihre Bestände aufzustocken — der Mensch lebt nicht von der Lektüre der Todesanzeigen in der Vanguardia allein.«
»Das würde ich nur zu gern tun. Das sind diese verflixten Diplomarbeiten. Bei dem ganzen Schwachsinn, den dieses eingebildete Pack heute zusammenstottert, werde ich über kurz oder lang legasthenisch.«
Da servierte ihm ein Kellner den Nachtisch: einen runden Flan, der in einem Tränenmeer aus gebranntem Zucker wabbelte und nach delikater Vanille roch.
»Diese Anwandlung dürfte Euer Hochwohlgeboren nach zwei Löffeln von diesem Wunderwerk sogleich vergehen«, sagte Fermín, »wo es mit seinem Karamellwackeln dermaßen Doña Margarita Xirgus Busen gleicht.«
Der gelahrte Dozent betrachtete seine Nachspeise im Lichte dieser Überlegung und stimmte verzückt bei. Wir überließen ihn dem Genuss der zuckersüßen Reize der Bühnendiva und fanden an einem Ecktisch im hinteren Speisesaal ein Unterkommen. Nach kurzer Zeit wurde uns ein üppiges Essen aufgetragen, das Fermín wie ein Scheunendrescher wegputzte.
»Und ich dachte, Sie hätten keinen Hunger«, warf ich hin.
»Es ist der Muskel, der Kalorien heischt«, erklärte er, während er mit dem letzten Stück Brot den Teller auf Hochglanz polierte, aber ich hatte das Gefühl, es sei pure Beklemmung, was ihn aufzehrte.
Pere, unser Kellner, trat an den Tisch und erkundigte sich nach unserem Ergehen. Als er sah, dass Fermín keinen Stein auf dem anderen gelassen hatte, reichte er ihm die Dessertkarte.
»Ein Nachtischchen, um das Werk zu vollenden, Meister?«
»Also zu zwei Flans nach Art des Hauses, wie ich vorher einen gesehen habe, würde ich nicht nein sagen, nach Möglichkeit mit je einer blutroten Sauerkirsche.«
Pere nickte und erzählte, als der Wirt gehört habe, wie Fermín die Konsistenz und die metaphorische Kraft dieses Rezepts glossierte, habe er beschlossen, den Flan in Margarita umzutaufen.
»Für mich nur einen kleinen Kaffee«, sagte ich.
»Der Chef sagt, Dessert und Kaffees gehen aufs Haus«, sagte Pere.
Wir prosteten mit den Weingläsern dem Wirt zu, der sich hinter der Theke mit Professor Alburquerque unterhielt.
»Ein guter Mensch«, murmelte Fermín. »Manchmal vergisst man geradezu, dass es auf dieser Welt nicht nur Gesindel gibt.«
Die Härte und Bitterkeit seines Tons überraschte mich.
»Warum sagen Sie das, Fermín?«
Mein Freund zuckte die Achseln. Gleich darauf kamen die beiden Flans, auf denen sich die Sauerkirschen verführerisch in prekärem Gleichgewicht hielten.
»Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie in ein paar Wochen heiraten, und dann ist Schluss mit den Margaritas«, scherzte ich.
»Ich Ärmster«, sagte er. »Ich bin bloß noch Mundwerk. Ich bin nicht mehr der von früher.«
»Keiner von uns ist der von früher.«
Wonniglich genoss er seine beiden Flans.
»Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wo, aber einmal habe ich gelesen, dass wir im Grunde nie die von früher gewesen sind, dass wir uns nur an das erinnern, was nie geschehen ist…«, sagte Fermín.
»Das stammt aus dem Anfang eines Romans von Julián Carax«, antwortete ich.
»Stimmt. Was mag wohl aus dem guten Carax geworden sein? Fragen Sie sich das nie?«
»Jeden Tag.«
Fermín lächelte, als er sich an unsere Abenteuer aus früheren Zeiten erinnerte. Dann deutete er mit dem Finger fragend auf meine Brust.
»Tut es noch weh?«
Ich knöpfte ein Stück weit das Hemd auf und zeigte ihm die Narbe, die Inspektor Fumeros Kugel hinterlassen hatte, nachdem sie mir an jenem weit zurückliegenden Tag in den Ruinen der Nebelburg in die Brust gedrungen war.
»Manchmal.«
»Narben verschwinden nie, nicht wahr?«
»Sie kommen und gehen, glaube ich. Fermín, schauen Sie mich an.«
Fermíns scheuer Blick blieb an meinem hängen.
»Wollen Sie mir jetzt erzählen, was los ist?«
Er zögerte einige Sekunden.
»Haben Sie gewusst, dass die Bernarda guter Hoffnung ist?«, fragte er.
»Nein«, log ich. »Ist es das, was Ihnen Sorgen macht?«
Er schüttelte den Kopf, löffelte den zweiten Flan zu Ende und schlürfte den Rest des gebrannten Zuckers auf.
»Sie hat es mir noch nicht sagen wollen, das arme Ding, weil sie sich Sorgen macht. Aber mich wird sie zum glücklichsten Mann der Welt machen.«
Ich schaute ihn aufmerksam an.
»Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, jetzt und aus nächster Nähe, glücklich sehen Sie überhaupt nicht aus. Ist es wegen der Hochzeit? Macht Ihnen die kirchliche Trauung und all das Bauchweh?«
»Nein, Daniel. Ich freue mich wirklich darauf, obwohl Pfaffen mit im Spiel sind. Die Bernarda würde ich jeden Tag heiraten.«
»Also?«
»Wissen Sie, was als Erstes von einem verlangt wird, wenn man heiraten will?«
»Der Name«, sagte ich spontan.
Er nickte bedächtig. Dieser Gedanke war mir bisher noch nicht gekommen. Schlagartig begriff ich das Problem, dem sich mein guter Freund gegenübersah.
»Wissen Sie noch, was ich Ihnen vor Jahren erzählt habe, Daniel?«
Ich konnte mich bestens erinnern. Während des Bürgerkriegs und dank den unheilvollen Machenschaften Inspektor Fumeros, der, bevor er bei den Faschisten anheuerte, als gedungener Killer der Kommunisten wirkte, war mein Freund im Gefängnis gelandet, wo er beinahe den Verstand und das Leben verloren hätte. Als es ihm gelang herauszukommen, wie durch ein Wunder noch am Leben, beschloss er, eine neue Identität anzunehmen und die Vergangenheit auszulöschen. Todkrank hatte er sich einen Namen ausgeliehen, den er auf einem alten Stierkampfplakat bei der Monumental-Arena gesehen hatte. So war Fermín Romero de Torres geboren worden, ein Mann, der seine Geschichte täglich neu erfand.
»Darum wollten Sie also die Papiere der Kirchgemeinde nicht ausfüllen«, sagte ich. »Weil Sie den Namen Fermín Romero de Torres nicht benutzen können.«
Er nickte.
»Ich bin sicher, dass wir einen Weg finden, neue Papiere für Sie zu beschaffen. Erinnern Sie sich noch an Leutnant Palacios, der den Polizeidienst aufgegeben hat? Jetzt erteilt er Sportunterricht an einer Schule der Bonanova, aber einmal ist er im Laden vorbeigekommen und hat allerlei erzählt, unter anderem, dass es einen regelrechten Schwarzmarkt gibt für Leute, die eine neue Identität brauchen, weil sie jahrelang im Ausland gelebt haben und nun nach Spanien zurückkommen. Und er kenne jemand mit einer Werkstatt in der Nähe der Atarazanas, der Kontakte zur Polizei habe und einem für hundert Peseten einen neuen Personalausweis beschaffe und diese Identität im Ministerium registrieren lasse.«
»Das weiß ich. Er hieß Heredia. Ein Künstler.«
»Hieß?«
»Vor zwei Monaten hat man ihn im Hafen gefunden, im Wasser treibend. Es hieß, er sei auf der Fahrt zum Wellenbrecher von einem der Ausflugsboote gefallen. Die Hände auf dem Rücken gefesselt. Faschohumor.«
»Haben Sie ihn gekannt?«
»Wir haben miteinander verkehrt.«
»Aber dann haben Sie ja Papiere, die Sie als Fermín Romero de Torres ausweisen…«
»Heredia hat sie mir anno 39 beschafft, gegen Kriegsende. Damals war es noch einfacher, alles war ein einziges Tohuwabohu, und als die Leute merkten, dass das Schiff unterging, haben sie einem für zwei Duros sogar das Namensschildchen verkauft.«
»Warum können Sie dann Ihren Namen nicht verwenden?«
»Weil Fermín Romero de Torres 1940 gestorben ist. Das waren schlechte Zeiten, Daniel, sehr viel schlechter als heute. Kein Jahr hat es der Arme ausgehalten.«
»Er ist gestorben? Wo? Wie?«
»Im Gefängnis des Kastells von Montjuïc. In Zelle 13.«
Ich erinnerte mich an die Widmung, die der Unbekannte für Fermín in den Grafen von Monte Christo geschrieben hatte.Für Fermín Romero de Torres, der von den Toten auferstanden ist und den Schlüssel zur Zukunft hat.13
»An jenem Abend habe ich Ihnen nur einen kleinen Teil der Geschichte erzählt, Daniel.«
»Ich dachte, Sie hätten Vertrauen zu mir.«
»Ihnen würde ich mit geschlossenen Augen mein Leben anvertrauen. Darum geht es nicht. Wenn ich Ihnen nur einen Teil der Geschichte erzählt habe, dann, um Sie zu schützen.«
»Um mich zu schützen? Wovor?«
Geschlagen senkte Fermín die Augen.
»Vor der Wahrheit, Daniel…, vor der Wahrheit.«