Barcelona, 1957
Die Morgendämmerung überraschte mich auf der Schwelle zum Schlafzimmer des kleinen Julián, der ausnahmsweise völlig unbeeindruckt von allem und allen und mit einem Lächeln auf den Lippen schlief. Ich hörte Beas Schritte über den Flur kommen und spürte dann ihre Hand auf der Schulter.
»Wie lange stehst du schon hier?«, fragte sie.
»Eine Weile.«
»Was machst du?«
»Ich schau ihn an.«
Bea trat zu Julián an die Wiege und beugte sich hinab, um ihn auf die Stirn zu küssen.
»Wann bist du denn gestern Nacht gekommen?«
Ich gab keine Antwort.
»Wie geht’s Fermín?«
»So lala.«
»Und dir?« Ich lächelte lustlos. »Wirst du’s mir erzählen?«, hakte sie nach.
»Ein andermal.«
»Ich dachte, wir haben keine Geheimnisse voreinander.«
»Das dachte ich auch.«
Sie sah mich befremdet an.
»Was meinst du damit, Daniel?«
»Nichts. Ich meine gar nichts. Ich bin sehr müde. Gehen wir ins Bett?«
Bea nahm meine Hand und zog mich ins Schlafzimmer. Wir legten uns hin, und ich umarmte sie.
»Heute Nacht habe ich von deiner Mutter geträumt«, sagte sie. »Von Isabella.«
An den Fensterscheiben begann der Regen zu kratzen.
»Ich war ein kleines Mädchen, und sie führte mich an der Hand. Wir waren in einem sehr großen, sehr alten Haus, mit riesigen Salons und einem Flügel und einer Veranda, die auf einen Garten mit Teich hinausging. Neben dem Teich stand ein kleiner Junge wie Julián, aber ich wusste, dass in Wirklichkeit du es warst, frag mich nicht, warum. Isabella kniete neben mir nieder und fragte mich, ob ich dich sehen könne. Du hast mit einem Papierschiffchen im Wasser gespielt. Ich bejahte. Da sagte sie, ich solle mich um dich kümmern. Ich solle mich für immer um dich kümmern, denn sie müsse weit weggehen.«
Wir schwiegen lange und lauschten dem Regen auf den Scheiben.
»Was hat dir Fermín gestern Abend gesagt?«
»Die Wahrheit. Er hat mir die Wahrheit gesagt.«
Sie hörte mir schweigend zu, während ich mich bemühte, Fermíns Geschichte zu rekonstruieren. Anfänglich spürte ich erneut Wut in mir aufsteigen, aber je weiter ich mit der Erzählung kam, desto mehr fiel ich in tiefe Traurigkeit und Verzweiflung. Für mich war all das neu, und ich wusste noch nicht, wie ich mit den Geheimnissen und dem, was sie mit sich brachten, würde leben können. Seit all diesen Ereignissen waren beinahe zwanzig Jahre vergangen, und die Zeit hatte mich zum reinen Zuschauer verdammt in einem Stück, in dem die Fäden meines Schicksals gesponnen worden waren.
Als ich geendet hatte, bemerkte ich, dass mich Bea besorgt und beunruhigt anschaute. Ihre Gedanken waren unschwer zu erraten.
»Ich habe meinem Vater versprochen, diesen Mann, Valls, nicht zu suchen, solange er lebt, und auch sonst nichts zu unternehmen«, fügte ich hinzu, um sie zu beruhigen.
»Solange er lebt? Und danach? Hast du nicht an uns gedacht? An Julián?«
»Natürlich habe ich an euch gedacht. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, log ich. »Nach dem Gespräch mit meinem Vater ist mir klargeworden, dass das alles vor sehr langer Zeit passiert ist und sich nicht ungeschehen machen lässt.«
Bea schien wenig überzeugt von meiner Aufrichtigkeit.
»Das ist die Wahrheit«, log ich abermals.
Einige Momente hielt sie meinem Blick stand, aber das waren die Worte, die sie hören wollte, und schließlich erlag sie der Versuchung, ihnen zu glauben.
Am selben Nachmittag, während der Regen weiter auf die menschenleeren Straßen mit ihren Pfützen niederprasselte, zeichnete sich vor dem Eingang der Buchhandlung die finstere, von der Zeit zerfressene Gestalt Sebastián Salgados ab. Die Lichter der Krippe über dem Gesicht, beobachtete er uns mit seinem unverwechselbaren gierigen Blick durchs Schaufenster. Er steckte im selben, jetzt allerdings klatschnassen Anzug wie bei seinem ersten Besuch. Ich ging zur Tür und machte auf.
»Reizend die Krippe«, sagte er.
»Wollen Sie nicht reinkommen?«
Ich hielt ihm die Tür auf, und er humpelte herein. Nach wenigen Schritten blieb er stehen, auf den Stock gestützt. Hinter dem Ladentisch schaute ihn Fermín misstrauisch an. Salgado lächelte.
»Wie lange ist das her, Fermín…«, sagte er.
»Ich hatte angenommen, Sie wären gestorben«, antwortete Fermín.
»Dasselbe dachte ich von Ihnen, so wie alle. Es ist uns ja auch so erzählt worden. Man habe Sie bei Ihrem Fluchtversuch geschnappt und mit einem Schuss erledigt.«
»Damit kann ich leider nicht dienen.«
»Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, hatte ich immer die Hoffnung, Sie seien entwischt. Sie wissen ja, Unkraut…«
»Sie rühren mich zu Tränen, Salgado. Wann sind Sie denn rausgekommen?«
»Vor etwa einem Monat.«
»Sie werden mir ja nicht weismachen, Sie seien wegen guter Führung entlassen worden.«
»Ich glaube, sie hatten einfach das Warten darauf satt, dass ich sterbe. Wissen Sie, dass ich begnadigt worden bin? Das habe ich auf einem von Franco höchstpersönlich unterschriebenen Dokument.«
»Ich nehme an, Sie haben es rahmen lassen.«
»Es nimmt einen Ehrenplatz ein — über der WC-Schüssel, für den Fall, dass mir das Papier ausgeht.«
Salgado trat einige Schritte näher an den Ladentisch heran und deutete auf den Stuhl in einer Ecke.
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich mich setze? Ich bin es noch nicht gewohnt, mehr als zehn Meter geradeaus zu gehen, und werde leicht müde.«
»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, forderte ich ihn auf.
Salgado ließ sich auf den Stuhl fallen und atmete tief, während er sein Knie massierte. Fermín schaute ihn an wie eine Ratte, die eben aufs WC geklettert ist.
»Ist ja schon bemerkenswert, dass der, von dem alle gedacht haben, er kratzt als Erster ab, der Letzte ist… Wissen Sie, was mich die ganzen Jahre am Leben erhalten hat, Fermín?«
»Wenn ich Sie nicht so gut kennte, würde ich sagen, die mediterrane Kost und die Meeresluft.«
Salgado hauchte eine Andeutung von Lächeln, das aus seinem Hals nach heiserem Husten und fast kollabierender Bronchie klang.
»Ganz der Alte, Fermín. Aus diesem Grund waren Sie mir immer so sympathisch. Was waren das noch für Zeiten. Aber ich will Sie nicht mit meinen alten Geschichten langweilen, schon gar nicht den jungen Mann da — diese Generation interessiert sich nicht mehr für unser Schicksal. Sie interessiert sich für Charleston oder wie das heute heißt. Wollen wir übers Geschäftliche reden?«
»Sie haben das Wort.«
»Eher Sie, Fermín. Ich habe schon alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Wollen Sie mir geben, was mein ist? Oder müssen wir einen Skandal veranstalten, an dem Ihnen nicht gelegen sein dürfte?«
Einige Momente reagierte Fermín nicht, und wir verharrten in unbehaglichem Schweigen. Salgado schaute ihn unentwegt an und schien gleich Gift spucken zu wollen. Fermín warf mir einen Blick zu, den ich nicht zu deuten wusste, und seufzte niedergeschlagen.
»Sie haben gewonnen, Salgado.«
Er zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche seines Arbeitskittels und gab ihn ihm. Einen Schlüssel. Den Schlüssel. Salgados Augen glühten auf wie bei einem Kind. Er erhob sich und trat langsam zu Fermín. Dann nahm er, zitternd vor Erregung, mit seiner einzigen Hand den Schlüssel entgegen.
»Falls Sie ihn sich wieder rektal einverleiben wollen, dann gehen Sie bitte zur Toilette — das hier ist ein allgemein zugänglicher Ort«, sagte Fermín.
Salgado, der wieder zur Farbe und zum Hauch früher Jugend zurückgefunden hatte, zerlief in einem Lächeln unendlicher Befriedigung.
»Wenn ich es recht bedenke, so haben Sie mir den Gefallen meines Lebens erwiesen, indem Sie ihn die ganzen Jahre hindurch behalten haben«, erklärte er.
»Dazu hat man Freunde. Gehen Sie mit Gott, und zögern Sie nicht, nie wieder hier vorbeizukommen.«
Salgado grinste und blinzelte uns zu. Dann ging er zum Ausgang, versunken in seine Hirngespinste. Bevor er auf die Straße hinaustrat, wandte er sich einen Augenblick um und hob die Hand zum versöhnlichen Gruß.
»Ich wünsche Ihnen Glück und ein langes Leben, Fermín. Und haben Sie keine Bange, Ihr Geheimnis bleibt unter Verschluss.«
Wir sahen ihn im Regen davonhinken — ein alter Mann, den alle für einen Todkranken gehalten hätten, der aber, dessen war ich mir sicher, weder die kalten Regentropfen auf dem Gesicht noch die Jahre des Eingesperrtseins und der Not spürte, die ihm im Blut saßen. Ich sah Fermín an, der wie festgenagelt dastand, blass und verwirrt durch die Begegnung mit seinem ehemaligen Zellengenossen.
»Wollen wir ihn einfach so gehen lassen?«, fragte ich.
»Haben Sie eine bessere Idee?«
Nach der sprichwörtlichen Vorsichtsminute traten wir auf die Straße hinaus, beide in einem dunklen Regenmantel und unter einem Regenschirm von den Ausmaßen eines Gartenschirms, den Fermín in einem Basar beim Hafen gekauft hatte, um ihn sowohl winters wie sommers für seine Eskapaden mit der Bernarda an den Strand der Barceloneta zu benutzen.
»Fermín, mit diesem Möbel krähen wir wie ein Gockelchor«, sagte ich.
»Seien Sie unbesorgt, das Einzige, was dieser unverschämte Kerl sieht, sind die Golddublonen, die es vom Himmel auf ihn herabregnet.«
Salgado war uns etwa hundert Meter voraus und legte die Calle Condal hinkend, aber leichtfüßig zurück. Wir holten ein wenig auf, um gerade rechtzeitig zu sehen, wie er sich anschickte, in eine Straßenbahn zu steigen, die die Vía Layetana hinauffuhr. Den Schirm zuklappend, rannten wir los und schafften es wie durch ein Wunder eben noch aufs hintere Trittbrett. Ganz in der Tradition der Zeit, legten wir die Fahrt mehr oder weniger dort hängend zurück. Salgado hatte im vorderen Teil einen Sitzplatz gefunden, den ihm ein ahnungsloser barmherziger Samariter überlassen hatte.
»So ist es eben, wenn man alt wird«, sagte Fermín. »Keiner denkt daran, dass man mal ein junger Spund war.«
Durch die Calle Trafalgar erreichte die Straßenbahn den Triumphbogen. Wir reckten ein wenig den Hals und sahen, dass Salgado noch fest in seinem Sitz saß. Der Schaffner beobachtete uns über seinem buschigen Schnurrbart mit gerunzelter Stirn.
»Glauben Sie ja nicht, nur weil Sie hier draußen hängen, kriegen Sie Rabatt — ich habe Sie im Auge, seit Sie eingestiegen sind.«
»Heutzutage weiß keiner mehr den sozialen Realismus zu schätzen«, murmelte Fermín. »Was für ein Land.«
Wir gaben dem Schaffner ein paar Münzen und erhielten dafür die Fahrkarten. Schon dachten wir, Salgado müsse eingeschlafen sein, doch als die Bahn den Weg zum Nordbahnhof einschlug, stand er auf und zog am Kabel, um aussteigen zu können. Noch während der Fahrer bremste, sprangen wir gegenüber dem modernistischen Prachtpalast ab, der die Büros des Wasserkraftwerks beherbergte, und folgten der Bahn zu Fuß bis zur Haltestelle. Mit der Hilfe zweier Fahrgäste stieg Salgado aus und schlug den Weg zum Bahnhof ein.
»Denken Sie dasselbe wie ich?«, fragte ich.
Fermín nickte. Wir gingen Salgado nach bis zur großen Bahnhofshalle, wo wir uns hinter Fermíns enormem Schirm tarnten oder vielmehr uns nur allzu deutlich zu erkennen gaben. Drinnen ging Salgado auf eine Reihe von metallenen Schließfächern zu, die eine der Wände einnahmen wie die Nischengräber eines großen Miniaturfriedhofs. Wir postierten uns auf einer Bank im Halbdunkeln. Salgado war vor den unzähligen Schließfächern stehen geblieben und betrachtete sie versonnen.
»Ob er vergessen hat, wo er seine Beute verwahrt?«, fragte ich.
»Der und so was vergessen. Seit zwanzig Jahren wartet er auf diesen Moment. Er genießt einfach die Vorfreude.«
»Wenn Sie meinen… Ich glaube, er hat es vergessen.«
Wir rührten uns nicht vom Fleck, beobachteten und warteten.
»Sie haben mir nie gesagt, wo Sie den Schlüssel versteckt hatten, nachdem Sie aus dem Kastell entkommen waren«, sagte ich.
Fermín warf mir einen feindseligen Blick zu.
»Ich habe nicht vor, auf dieses Thema einzugehen, Daniel.«
»Vergessen Sie es.«
Weitere Minuten vergingen.
»Vielleicht hat er einen Komplizen«, sagte ich, »und wartet auf ihn.«
»Salgado gehört nicht zu denen, die teilen.«
»Vielleicht gibt es sonst noch jemanden, der…«
»Schsch.« Fermín deutete auf Salgado, der sich endlich in Bewegung gesetzt hatte.
Der Alte ging auf eines der Schließfächer zu und legte die Hand auf die Metalltür. Dann klaubte er den Schlüssel hervor, steckte ihn ins Schloss, klappte die Tür auf und spähte hinein. In diesem Augenblick bog eine Zweierstreife der Guardia Civil von den Gleisen her um die Ecke in die Halle und ging auf Salgado zu, der etwas aus dem Schließfach zu zerren versuchte.
»Au weia…«, murmelte ich.
Salgado wandte sich um und grüßte die beiden Zivilgardisten. Nach einem kurzen Wortwechsel zog einer von ihnen einen Koffer heraus und stellte ihn zu Salgados Füßen auf den Boden. Der Alte bedankte sich herzlich für die Hilfe, und die Streife, mit dem Dreispitz grüßend, setzte ihre Runde fort.
»Spanien lebe hoch«, murmelte Fermín.
Salgado ergriff den Koffer und schleifte ihn zu einer anderen Bank am gegenüberliegenden Ende der Halle.
»Er wird ihn doch nicht hier aufmachen«, sagte ich.
»Er muss sich vergewissern, dass noch alles da ist«, antwortete Fermín. »Dieser Schuft hat viele Jahre durchlitten, um seinen Schatz wiederzubekommen.«
Salgado schaute sich immer wieder um, um sicher zu sein, dass niemand in der Nähe war, und fasste sich dann ein Herz. Wir sahen, wie er den Koffer um wenige Zentimeter aufklappte und hineinschaute.
Fast eine Minute verharrte er so, vollkommen reglos. Fermín und ich sahen uns verständnislos an. Dann klappte Salgado den Deckel wieder zu und stand auf. Vor dem leeren Schließfach ließ er den Koffer stehen und ging zum Ausgang.
»Aber was macht er?«, fragte ich.
Fermín stand auf und gab mir ein Zeichen.
»Holen Sie den Koffer, ich folge Salgado…«
Ohne mir Zeit für eine Antwort zu lassen, eilte Fermín zum Ausgang. Ich meinerseits ging rasch auf den Koffer zu. Ein Schlauberger, der auf einer Bank in der Nähe die Zeitung las, hatte ebenfalls ein Auge auf das Gepäckstück geworfen. Er schaute nach beiden Seiten, um sich zu vergewissern, dass ihm keiner zusah, stand auf und näherte sich dem Koffer wie ein Geier, der seine Beute umkreist. Ich beschleunigte meinen Schritt. Der andere wollte ihn sich eben schnappen, als ich ihm den Koffer entriss.
»Das ist nicht Ihr Koffer«, sagte ich.
Der Mann starrte mich feindselig an und klammerte sich am Griff fest.
»Soll ich die Guardia Civil rufen?«, fragte ich.
Erschrocken ließ der Spitzbube den Koffer los und verschwand in Richtung der Bahnsteige. Ich trug ihn zu meiner Bank, und nachdem ich festgestellt hatte, dass ich unbeobachtet war, öffnete ich ihn.
Er war leer.
Erst jetzt hörte ich den tumultartigen Lärm beim Ausgang. Ich stand auf und sah durch die Scheiben, wie sich die Zivilgardistenstreife einen Weg durch einen Kreis von Gaffern bahnte. Nun sah ich Fermín auf dem Boden kauern, Salgado in den Armen haltend. Der Alte hatte die Augen in den Regen geöffnet. Eine Frau, die eben die Halle betrat, hielt sich die Hand an den Mund.
»Was ist denn passiert?«, fragte ich.
»Ein armer Greis, der bewusstlos hingefallen ist…«, sagte sie.
Ich ging hinaus und näherte mich langsam der Gruppe der Gaffer. Fermín blickte auf und wechselte einige Worte mit den Zivilgardisten. Einer von ihnen nickte. Da schlüpfte Fermín aus dem Mantel und legte ihn über die Leiche, so dass Salgados Gesicht zugedeckt war. Als ich dazukam, sah ich unter dem Mantel eine Hand mit drei Fingern hervorlugen, und in der Handfläche lag ein Schlüssel, der im Regen glänzte. Ich hielt den Schirm über Fermín und legte ihm die Hand auf die Schulter. Langsam schritten wir davon.
»Geht es Ihnen gut, Fermín?«
Mein Freund zuckte die Schultern.
»Gehen wir nach Hause«, sagte er nur.
Wir verließen das Bahnhofsgelände. Ich zog den Regenmantel aus und legte ihn Fermín über die Schultern. Mein Freund schien nicht zu großen Spaziergängen fähig, und so hielt ich ein Taxi an. Ich half Fermín hinein, schloss die Tür und stieg auf der anderen Seite selbst ein.
»Der Koffer war leer«, sagte ich. »Irgendjemand hat Salgado hereingelegt.«
»Wer einen Dieb beklaut…«
»Wer mag es gewesen sein, was glauben Sie?«
»Vielleicht der, der ihm gesagt hat, ich habe seinen Schlüssel, und ihm auch erklärt hat, wo ich zu finden bin«, sagte er leise.
»Valls?«
Fermín seufzte niedergeschlagen.
»Ich weiß es nicht, Daniel. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.«
Ich bemerkte den wartenden Blick des Taxifahrers im Rückspiegel.
»Zur Plaza Real, von der Calle Fernando aus«, sagte ich.
»Fahren wir nicht zum Laden zurück?«, fragte Fermín, dem alle Energie aus dem Körper gewichen zu sein schien, selbst für eine Diskussion über eine Taxifahrt.
»Ich schon. Aber Sie gehen zu Don Gustavo und verbringen den Rest des Tages bei der Bernarda.«
Schweigend fuhren wir durch ein im Regen verschwimmendes Barcelona. Als wir in der Calle Fernando bei den Bögen ankamen, wo ich Fermín Jahre zuvor kennengelernt hatte, bezahlte ich die Fahrt, und wir stiegen aus. Ich begleitete ihn bis vor Don Gustavos Haustür und umarmte ihn.
»Passen Sie auf sich auf, Fermín. Und essen Sie etwas, sonst bohren Sie der Bernarda in der Hochzeitsnacht noch einen Knochen in den Leib.«
»Seien Sie unbesorgt. Wenn ich wirklich will, kann ich schneller zunehmen als ein Sopran. Sowie ich oben bin, stopfe ich mich mit den Staubküchlein voll, die Don Gustavo bei Quílez kauft, und morgen bin ich ein regelrechter Dicksack.«
»Das werden wir ja sehen. Grüßen Sie mir die Braut.«
»Ich werd’s ausrichten, obwohl ich mich bei dieser juristisch-administrativen Situation schon in Sünde leben sehe.«
»Davon kann keine Rede sein. Wissen Sie noch, was Sie mir einmal gesagt haben? Dass das Schicksal keine Hausbesuche macht, sondern dass man zu ihm gehen muss?«
»Ich gestehe, dass ich das aus einem Buch von Carax hatte. Es klang so schön.«
»Ich habe es jedenfalls geglaubt und glaube es immer noch. Und darum sage ich Ihnen, dass es Ihr Schicksal ist, die Bernarda nach allen Regeln der Kunst und am vorgesehenen Tag zu heiraten, mit Pfaffen, Reis, Namen und Vornamen.« Mein Freund schaute mich skeptisch an. »So wahr ich Daniel heiße, heiraten Sie mit Glanz und Gloria«, verhieß ich Fermín, der so niedergeschlagen war, dass ihn wahrscheinlich weder ein ganzes Paket Sugus-Bonbons noch ein Streifen im Kino Fémina mit einer Kim Nowak in spitzer, die Schwerkraft herausfordernder Brassière aufgemuntert hätte.
»Wenn Sie meinen, Daniel…«
»Sie haben mir die Wahrheit zurückgegeben«, sagte ich. »Ich werde Ihnen den Namen zurückgeben.«
Als ich an diesem Nachmittag in die Buchhandlung zurückkam, begann ich meinen Plan zur Rettung von Fermíns Identität umzusetzen. Als ersten Schritt machte ich mehrere Telefonanrufe aus dem Hinterzimmer und entwarf einen Zeitplan. Der zweite Schritt erforderte das Talent von anerkanntermaßen tüchtigen Spezialisten.
Am nächsten Mittag, es war ein sonniger, freundlicher Tag, machte ich mich auf den Weg zur Bibliothek in der Calle del Carmen, wo ich mit Professor Alburquerque verabredet war, in der Überzeugung, dass, was er nicht wusste, niemand wusste.
Ich fand ihn im großen Lesesaal, inmitten von Büchern und Papieren, konzentriert, die Feder in der Hand. Ich setzte mich ihm gegenüber und ließ ihn weiterarbeiten. Erst nach einer Minute bemerkte er meine Anwesenheit, hob den Kopf und schaute mich überrascht an.
»Es muss etwas Spannendes sein, was Sie da geschrieben haben«, wagte ich mich vor.
»Ich arbeite an einer Artikelserie über verdammte Barceloneser Schriftsteller«, erklärte er. »Erinnern Sie sich noch an einen gewissen Julián Carax, einen Autor, den Sie mir vor einigen Monaten in der Buchhandlung empfohlen haben?«
»Aber sicher.«
»Nun, ich bin ihm etwas nachgegangen — er hat eine unglaubliche Geschichte. Haben Sie gewusst, dass jahrelang eine diabolische Persönlichkeit die Welt nach Carax-Büchern abgeklappert hat, um sie zu verbrennen?«
»Was Sie nicht sagen!« Ich spielte den Überraschten.
»Ein höchst merkwürdiger Fall. Ich werde Ihnen den Artikel zukommen lassen, wenn ich fertig bin.«
»Sie müssten ein ganzes Buch schreiben über das Thema«, schlug ich vor. »Eine geheime Geschichte Barcelonas, basierend auf ihren verdammten und offiziell verbotenen Schriftstellern.«
Der Professor dachte offenbar angestachelt über die Idee nach.
»Das ist mir tatsächlich auch schon durch den Kopf gegangen, aber mit den Zeitungen und der Uni habe ich so viel zu tun…«
»Wenn nicht Sie es schreiben, wird es niemand tun.«
»Na, vielleicht setze ich mich über all das hinweg und mache es. Ich weiß zwar auch nicht, woher ich die Zeit nehmen soll, aber…«
»Sempere & Söhne bietet Ihnen seinen ganzen Fundus und alle erdenkliche Beratung an.«
»Ich nehme es zur Kenntnis. Na? Gehen wir essen?«
Für diesen Tag zog Professor Alburquerque die Segel ein, und wir machten uns auf den Weg zur Casa Leopoldo, wo wir bei einem Glas Wein und einer Tapa feinsten Serrano-Schinkens auf die Tagesspezialität warteten, den Ochsenschwanz.
»Wie geht’s denn unserem lieben Freund Fermín? Kürzlich im Can Lluís hat er sehr niedergeschlagen gewirkt.«
»Genau über ihn möchte ich mit Ihnen sprechen. Es ist eine äußerst heikle Angelegenheit, und ich muss Sie bitten, sie vertraulich zu behandeln.«
»Versteht sich. Was kann ich tun?«
Ich resümierte ihm knapp das Problem, ohne auf heikle oder überflüssige Details einzugehen. Der Professor ahnte, dass das Ganze sehr viel mehr Fleisch am Knochen hatte, als ich ihm zeigte, doch er gab sich beispielhaft diskret.
»Also, sehen wir mal, ob ich das richtig mitbekommen haben: Fermín kann seine Identität nicht benutzen, weil er vor fast zwanzig Jahren offiziell für tot erklärt worden ist und es ihn darum in den Augen des Staats gar nicht gibt.«
»Richtig.«
»Aber diese annullierte Identität war, wie ich Ihrer Darlegung entnehme, ebenfalls fiktiv, eine Erfindung von Fermín selbst, um im Krieg seine Haut zu retten.«
»Richtig.«
»Hier komme ich nicht mehr ganz mit. Helfen Sie mir, Daniel. Wenn Fermín schon einmal eine falsche Identität aus dem Ärmel geschüttelt hat, warum benutzt er dann jetzt nicht eine andere, um heiraten zu können?«
»Aus zwei Gründen, Professor. Der erste ist rein praktischer Natur — ob er nun seinen Namen oder einen erfundenen benutzt, Fermín hat so oder so keine Identität, und welche auch immer er zu benutzen sich entschließt, sie muss von null auf erschaffen werden.«
»Aber vermutlich will er weiterhin Fermín sein.«
»Ganz genau. Das ist der zweite Grund, und der ist nicht praktischer, sondern sozusagen spiritueller Natur und sehr viel triftiger. Fermín will weiterhin Fermín sein, denn das ist der Mensch, in den sich die Bernarda verliebt hat, und es ist der Mann, der unser Freund ist, den wir kennen und der er selbst sein will. Die Person, die er einmal gewesen war, gibt es für ihn seit vielen Jahren nicht mehr. Aus dieser Haut ist er schon vor langem geschlüpft. Nicht einmal ich, vermutlich sein bester Freund, weiß, auf welchen Namen er getauft wurde. Für mich, für alle, die ihn gernhaben, und vor allem für ihn selbst ist er Fermín Romero de Torres. Und im Grunde — wenn es darum geht, ihm eine neue Identität zu schaffen, warum dann nicht seine eigene?«
Professor Alburquerque nickte.
»Richtig.«
»Dann halten Sie es also für machbar, Professor?«
»Nun ja, das ist eine quijoteske Mission wie kaum eine zweite. Wie sollen wir den hageren Don Fermín de la Mancha mit Abstammung, Windhund und einem Packen gefälschter Papiere versehen, um ihn vor den Augen Gottes und des Standesamts mit seiner schönen Bernarda von Toboso zu verehelichen?«
»Ich habe nachgedacht und Gesetzesbücher konsultiert«, sagte ich. »In diesem Land setzt die Identität einer Person mit dem Taufschein ein, der, nimmt man ihn etwas genauer unter die Lupe, ein sehr schlichtes Dokument ist.«
Der Professor zog die Brauen in die Höhe.
»Was Sie da andeuten, ist heikel. Ganz davon zu schweigen, dass es ein gewaltiges Delikt ist.«
»Eher ein noch nie dagewesenes, wenigstens in den Gerichtsjahrbüchern. Das habe ich festgestellt.«
»Fahren Sie fort, das interessiert mich.«
»Nehmen wir mal an, ganz hypothetisch, jemand hätte Zugang zu den Büros des Standesamts und könnte sozusagen einen Taufschein in die Archive pflanzen… Wäre das keine ausreichende Grundlage für den Aufbau einer Identität?«
Der Professor schüttelte den Kopf.
»Vielleicht bei einem Neugeborenen, aber wenn wir, ganz hypothetisch, von einem Erwachsenen sprechen, müsste man einen vollständig dokumentierten Lebenslauf erschaffen. Selbst wenn Sie, rein hypothetisch, Zugang zum Archiv hätten, wo wollten Sie diese Dokumente herzaubern?«
»Nehmen wir mal an, Sie könnten eine Reihe glaubhafter Faksimiles herstellen. Hielten Sie das für möglich?«
Er dachte gewissenhaft nach.
»Das größte Risiko bestünde darin, dass jemand Lunte riecht und den Betrug auffliegen lassen möchte. Wenn wir berücksichtigen, dass in diesem Fall die, sagen wir, drohende Partei, die auf dokumentarische Unhaltbarkeit hätte hinweisen können, verstorben ist, so würde sich das Problem reduzieren auf erstens Zugang zum Archiv haben und eine Akte mit einem fiktiven, aber überprüfbaren Lebenslauf einschmuggeln, und zweitens die ganze Reihe notwendiger Dokumente erzeugen, um eine solche Identität zu begründen. Ich meine Papiere aller Art und Beschaffenheit, Taufscheine von Kirchgemeinden, Ausweise, Zertifikate…«
»Was den ersten Punkt betrifft, so schreiben Sie ja im Auftrag der Diputation für eine Denkschrift der Institution eine Reihe von Reportagen über die Wunder des spanischen Gesetzessystems. Ich habe ein wenig recherchiert und entdeckt, dass während der Bombardierungen im Krieg mehrere Archive des Standesamts zerstört wurden. Das heißt, Hunderte, Tausende von Personalien mussten neu zusammengeflickt werden. Ich bin kein Experte, aber ich wage die Annahme, dass sich hier die eine oder andere Lücke finden lässt, die sich jemand gut Informiertes mit Beziehungen und einem Plan zunutze machen könnte…«
Der Professor schaute mich aus dem Augenwinkel an.
»Ich sehe, Sie haben sich regelrecht als Sherlock Holmes betätigt, Daniel.«
»Verzeihen Sie die Dreistigkeit, Professor, aber mir ist Fermíns Glück das und noch viel mehr wert.«
»Und das ehrt Sie. Aber es könnte jemandem, der so etwas zu tun versucht und in flagranti ertappt wird, auch eine ordentliche Strafe eintragen.«
»Aus diesem Grund habe ich gedacht, wenn jemand, rein hypothetisch, zu einem dieser rekonstruierten Standesamtsarchive Zugang hätte, könnte er mit einem Gehilfen gehen, der sozusagen den riskantesten Teil der Operation übernähme.«
»In diesem Fall müsste der hypothetische Gehilfe in der Lage sein, dem Ermöglicher lebenslang auf den Preis jedes bei Sempere & Söhne erstandenen Buches zwanzig Prozent Rabatt zu gewähren. Und ihm eine Einladung zur Hochzeit des Neugeborenen zukommen lassen.«
»Gebongt. Und der Rabatt würde auf fünfundzwanzig Prozent erhöht. Obwohl ich im Grunde jemand kenne, der, ganz hypothetisch, allein aus Spaß, einem wurmstichigen, korrupten Regime eins auszuwischen, sogar bereit wäre, pro bono mitzuwirken, ohne etwas dafür zu bekommen.«
»Ich bin Wissenschaftler, Daniel. Sentimentale Erpressung verfängt bei mir nicht.«
»Also dann für Fermín.«
»Das ist was anderes. Gehen wir zum Technischen über.«
Ich zog den Hundert-Peseten-Schein hervor, den mir Salgado gegeben hatte, und zeigte ihn ihm.
»Das ist mein Budget für Expeditionsspesen und — formalitäten«, sagte ich.
»Ich sehe schon, Sie feuern mit königlichem Böller, indessen sollten Sie dieses Geld besser für andere Unterfangen aufheben, welche diese Großtat erfordert, denn meine Dienste bekommen Sie sonder Entgelt. Was mich am meisten mit Besorgnis erfüllt, werter Gehilfe, ist die erforderliche dokumentarische Verschwörung. Die neuen Zenturios des Regimes haben nicht nur die Stauseen und Messbücher, sondern auch eine an sich schon der schlimmsten Albträume des lieben Franz Kafka würdige Bürokratie verdoppelt. Wie gesagt, ein solcher Fall erfordert die Herstellung von Briefen, Eingaben, Gesuchen und anderen Dokumenten jeglicher Art, die nicht nur glaubhaft sind, sondern auch Beschaffenheit, Ton und Geruch eines typischen abgegriffenen, verstaubten und unanfechtbaren Dossiers aufweisen müssen.«
»Da sind wir wohl versehen.«
»Ich brauche die Liste der Komplizen in dieser Verschwörung, um sicher zu sein, dass Sie nicht allzu optimistisch sind.«
Hierauf setzte ich ihm den restlichen Plan auseinander.
»Es könnte klappen«, schloss er.
Als der Hauptgang aufgetragen wurde, war das Thema abgehakt, und das Gespräch schlug neue Wege ein. Während des ganzen Essens biss ich mir beinahe die Zunge ab, doch beim Kaffee konnte ich mich nicht mehr beherrschen und schnitt, scheinbar nur beiläufig interessiert, das Thema an:
»Übrigens, Professor, neulich hat ein Kunde im Laden über ein bestimmtes Thema gesprochen, und da ist der Name Mauricio Valls zur Sprache gekommen, der einmal Kulturminister gewesen ist und so. Was wissen Sie über ihn?«
Der Professor zog eine Braue in die Höhe.
»Über Valls? Vermutlich dasselbe wie alle Welt.«
»Sicherlich wissen Sie mehr als alle Welt, Professor. Sehr viel mehr.«
»Eigentlich habe ich diesen Namen jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr gehört, aber bis vor einiger Zeit war Mauricio Valls eine ausgesprochene Persönlichkeit. Wie Sie ja sagen, war er einige Jahre lang unser funkelnagelneuer renommierter Kulturminister, Leiter unzähliger Institutionen und Organismen, ein im Regime gut verankerter Mann mit großem Prestige auf seinem Gebiet, vieler Leute Gönner, gehätschelter Liebling in den Feuilletons der spanischen Presse… Und wie gesagt, eine angesehene Persönlichkeit.«
Ich lächelte matt, als wäre es eine angenehme Überraschung für mich.
»Und jetzt nicht mehr?«
»Offen gestanden, ist er vor einiger Zeit von der Landkarte verschwunden — oder mindestens aus der Öffentlichkeit. Ich bin nicht sicher, ob ihm eine Botschaft oder ein Amt in einer internationalen Organisation zugeteilt wurde, Sie wissen ja, wie so was geht, aber seit einiger Zeit habe ich seine Spur verloren… Ich weiß, dass er vor einigen Jahren mit ein paar Teilhabern einen Verlag gegründet hat. Der läuft glänzend und veröffentlicht am laufenden Band. Tatsächlich bekomme ich jeden Monat Einladungen zur Präsentation irgendwelcher seiner Titel…«
»Und nimmt Valls an diesen Veranstaltungen teil?«
»Vor Jahren ja. Wir witzelten immer, weil er mehr von sich selbst redete als von dem Buch oder Autor, die er vorstellte, aber das ist lange her. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Darf ich mich nach dem Grund Ihres Interesses erkundigen, Daniel? Ich wusste nicht, dass Sie sich für den kleinen Jahrmarkt der Eitelkeiten unserer Literaturszene interessieren.«
»Reine Neugier.«
»Aha.«
Während Professor Alburquerque die Rechnung beglich, schaute er mich schief an.
»Warum habe ich bloß immer den Eindruck, dass Sie mir nicht nur eine halbe, sondern eine Viertel Wahrheit auftischen?«
»Eines Tages erzähle ich Ihnen die ganze Wahrheit, Professor, ich verspreche es Ihnen.«
»Das würde ich Ihnen auch raten, denn Städte haben ein schlechtes Gedächtnis und brauchen jemanden wie mich, einen keinesfalls zerstreuten Professor, um es am Leben zu erhalten.«
»Das ist das Abkommen: Sie helfen mir, Fermíns Angelegenheit zu regeln, und ich werde Ihnen eines Tages Dinge erzählen, die Barcelona lieber vergäße. Für Ihre geheime Geschichte.«
Der Professor gab mir die Hand, und ich drückte sie.
»Ich nehme Sie beim Wort. Und um noch einmal auf das Thema Fermín und die Dokumente zurückzukommen, die wir aus dem Hut zaubern sollen…«
»Ich glaube, ich habe den geeigneten Mann für diese Mission«, sagte ich.
Oswaldo Darío de Mortenssen, Fürst der Barceloneser Schreiber und alter Bekannter von mir, genoss mit Cognackaffee und Zigarre die restliche Mittagspause nach Tisch in seinem Häuschen beim Virreina-Palast. Als ich auf ihn zuging, hob er die Hand zum Gruß.
»Der verlorene Sohn kehrt zurück. Haben Sie es sich anders überlegt? Machen wir uns an diesen Liebesbrief, der Ihnen Zugang zu Reiß- und anderen verbotenen Verschlüssen der ersehnten Jungfer ermöglicht?«
Wieder zeigte ich ihm meinen Ehering, und er nickte.
»Verzeihen Sie. Die Macht der Gewohnheit. Sie gehören eben noch zur alten Garde. Was kann ich für Sie tun?«
»Neulich habe ich mich daran erinnert, woher ich Ihren Namen kannte. Ich arbeite in einer Buchhandlung und bin auf einen Roman von Ihnen aus dem Jahr 33 gestoßen, Die Reiter der Dämmerung.«
Oswaldo ließ Erinnerungen auffliegen und lächelte sehnsüchtig.
»Was waren das noch für Zeiten. Diese beiden unverschämten Kerle, Barrido und Escobillas, meine Verleger, haben mich bis zum letzten Cent übers Ohr gehauen. Der Gottseibeiuns hab sie selig und halte sie unter Verschluss. Aber das Vergnügen beim Schreiben dieses Romans kann mir keiner mehr nehmen.«
»Wenn ich ihn mal mitbringe, schreiben Sie mir dann eine Widmung hinein?«
»Aber selbstverständlich. Das war mein Schwanengesang. Die Welt war nicht gefasst auf einen im Ebro-Delta angesiedelten Western mit Banditen im Kanu statt auf Pferden und Mücken von der Größe einer Wassermelone, die sich überall breitmachten.«
»Sie sind der Zane Grey unserer Küste.«
»Das wäre schön gewesen. Was kann ich für Sie tun, junger Mann?«
»Mir Ihre Kunst und Erfindungsgabe bei einem nicht weniger heroischen Unterfangen zur Verfügung stellen.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Sie müssen mir helfen, eine dokumentierte Vergangenheit zu erfinden, damit ein Freund von mir ohne gesetzliche Klippen die Frau heiraten kann, die er liebt.«
»Ein guter Mensch?«
»Der beste, den ich kenne.«
»Dann ist jedes weitere Wort überflüssig. Meine Lieblingsszenen waren immer Hochzeiten und Taufen.«
»Wir werden Gesuche, Gutachten, Eingaben, Zertifikate und all das Zeug brauchen.«
»Das wird kein Problem sein. Einen Teil der Logistik werden wir an Luisito delegieren, den Sie ja bereits kennen und der absolut vertrauenswürdig ist und ein Künstler in zwölf verschiedenen Schriftarten.«
Ich zog den Hundert-Peseten-Schein aus der Tasche, den der Professor abgelehnt hatte, und reichte ihn ihm. Oswaldo riss die Augen tellerweit auf und steckte ihn hurtig ein.
»Und da heißt es immer, in Spanien habe man als Schreiber kein Auskommen«, sagte er.
»Wird das die Betriebskosten decken?«
»Bei weitem. Sobald ich alles in die Wege geleitet habe, werde ich Ihnen sagen, auf wie viel sich der Spaß beläuft, aber einstweilen würde ich behaupten, dass fünfzehn Duros mehr als genug sind.«
»Das überlasse ich ganz Ihnen, Oswaldo. Mein Freund, Professor Alburquerque…«
»Eine Edelfeder«, unterbrach mich Oswaldo.
»Und ein noch edlerer Mensch. Wie gesagt, der Professor wird bei Ihnen vorbeikommen und Ihnen die Beschreibung der benötigten Dokumente und aller Details liefern. Wenn Sie irgendwas brauchen, finden Sie mich in der Buchhandlung Sempere & Söhne.«
Als er den Namen hörte, begann sein Gesicht zu leuchten.
»Das Heiligtum. Als junger Mensch ging ich jeden Samstag hin, um mir von Señor Sempere die Augen öffnen zu lassen.«
»Mein Großvater.«
»Jetzt bin ich seit Jahren nicht mehr hingegangen, weil meine Finanzen unter den Gefrierpunkt gesunken sind und ich zum Ausleihwesen Zuflucht genommen habe.«
»Dann erweisen Sie uns die Ehre eines Besuchs im Laden, Don Oswaldo, wir würden uns sehr freuen, und an den Preisen soll es nicht liegen.«
»Das werde ich tun.«
Wir gaben uns die Hand.
»Eine Ehre, mit den Semperes Geschäfte zu machen.«
»Möge es das erste von vielen sein.«
»Und was ist aus dem Hinkebein geworden, der so aufs Gold aus war?«
»Es zeigte sich, dass nicht alles Gold war, was glänzte«, sagte ich.
»Die Zeichen der Zeit…«
Barcelona, 1958
Dieser Januar war in kristallklare Himmel und ein eisiges Licht gehüllt, das Pulverschnee auf die Dächer blies. Tag für Tag entlockte eine strahlende Sonne den Fassaden eines transparenten Barcelonas Kanten von Glanz und Schatten, die zweistöckigen Autobusse verkehrten mit leerem Oberdeck, und die Straßenbahnen hinterließen auf den Gleisen einen Dunstschleier.
Die Weihnachtsbeleuchtung glitzerte in blauen Feuergirlanden über den Straßen der Altstadt, und die aus tausendundeinem Lautsprecher der Läden triefenden Adventslieder mit ihren süßlichen Wünschen von gutem Willen und Frieden drangen so tief ein, dass der Wachposten bei der Krippe, die die Stadtverwaltung auf die Plaza San Jaime gestellt hatte, einen Witzbold, der dem Jesuskind spontan eine Jakobinermütze überstülpte, nicht unter Ohrfeigen aufs Präsidium schleppte, wie von einer Gruppe Betschwestern gefordert, sondern ein Auge zudrückte, bis jemand vom erzbischöflichen Palais drei Nonnen losschickte, die wieder für Ordnung sorgten.
Die Weihnachtsverkäufe hatten zugenommen, und schwarze Zahlen im Geschäftsbuch von Sempere & Söhne garantierten uns wie ein Stern von Bethlehem die Begleichung der Strom- und Heizungsrechnung und mit etwas Glück wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag. Mein Vater war wieder munter und hatte beschieden, dass wir im nächsten Winter nicht bis zum letzten Moment warten dürften, um die Buchhandlung zu schmücken.
»Die Krippe bleibt uns also noch einige Zeit erhalten«, sagte Fermín ohne jegliche Begeisterung.
Nach dem Dreikönigstag hieß uns mein Vater die Schaufensterdekoration sorgsam einpacken und bis zum nächsten Weihnachten im Keller verstauen.
»Und zwar liebevoll«, mahnte er uns. »Ich will nachher nicht hören, dass Ihnen die Schachteln zufällig aus der Hand gefallen sind, Fermín.«
»Ich werde sie wie meinen Augapfel hüten, Señor Sempere. Ich garantiere mit meinem Leben für die Unversehrtheit der Krippe und sämtlicher Bauernhoftierchen rund um den bewindelten Messias.«
Sowie wir für alle Schachteln einen Platz gefunden hatten, betrachtete ich einen Augenblick den Keller und seine vergessenen Winkel. Als wir das letzte Mal hier gewesen waren, war das Gespräch in Bahnen verlaufen, die weder Fermín noch ich je wieder erwähnt hatten, die aber wenigstens mir nach wie vor in der Erinnerung lasteten. Fermín schien meine Gedanken zu lesen und schüttelte den Kopf.
»Sie werden ja wohl nicht immer noch an den Brief dieses Blödmanns denken.«
»Manchmal schon.«
»Aber Doña Beatriz haben Sie hoffentlich nichts gesagt.«
»Nein. Nein, ich habe ihn wieder in ihre Manteltasche gesteckt und keinen Piep gesagt.«
»Und sie? Hat sie nicht erwähnt, dass sie einen Brief von Don Juan Tenorio bekommen hat?«
Ich verneinte. Fermín rümpfte die Nase zum Zeichen, dass das gar kein gutes Omen war.
»Haben Sie beschlossen, was Sie unternehmen werden?«
»In welcher Hinsicht?«
»Stellen Sie sich doch nicht dumm, Daniel. Werden Sie Ihrer Frau zu diesem Rendezvous mit dem Typ im Ritz folgen und eine Szene machen oder nicht?«
»Sie nehmen also an, dass sie hingeht«, protestierte ich.
»Sie etwa nicht?«
Ich senkte den Blick, böse auf mich selbst.
»Was ist das für eine Art Ehemann, der kein Vertrauen hat zu seiner Frau?«, fragte ich.
»Soll ich Ihnen Namen und Vornamen nennen, oder genügt Ihnen die Statistik?«
»Ich habe Vertrauen zu Bea. Sie würde mich nicht betrügen. Sie ist nicht so. Wenn sie mir etwas zu sagen hätte, würde sie es mir ins Gesicht sagen, ohne falsche Spielchen.«
»Dann haben Sie also keinen Grund, sich Sorgen zu machen, nicht wahr?«
Irgendetwas in Fermíns Ton brachte mich auf den Gedanken, meine Verdächtigungen und Unsicherheiten hätten ihn enttäuscht und obwohl er es nie zugäbe, mache ihn die Vorstellung traurig, ich hänge stundenlang schäbigen Gedanken nach und zweifle an der Aufrichtigkeit einer Frau, die so etwas nicht verdiente.
»Sie halten mich bestimmt für einen Narren.«
Fermín schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich halte Sie für einen glücklichen Mann, wenigstens in Liebesdingen, und glaube, Sie sind sich dessen nicht bewusst, wie fast alle Männer in Ihrer Situation.«
Ein Klopfen an der Tür oben holte uns in die Wirklichkeit zurück.
»Falls ihr da unten nicht auf Öl gestoßen seid, dann kommt doch bitte endlich rauf, es gibt zu tun«, rief mein Vater.
Fermín seufzte.
»Seit er aus den roten Zahlen raus ist, ist er ein Tyrann geworden«, sagte er. »Die Verkäufe ermutigen ihn. Er ist nicht wiederzuerkennen…«
Die Tage vertropften. Am Ende hatte Fermín zugestimmt, die Vorbereitungen und Details von Bankett und Hochzeit an meinen Vater und Don Gustavo zu delegieren, die in der ganzen Angelegenheit die Rolle von Vaterfiguren übernommen hatten. Ich als Trauzeuge beriet das Direktorium, und Bea war die künstlerische Leiterin und führte alle Mitwirkenden mit eiserner Hand.
»Fermín, Bea trägt uns auf, in die Casa Pantaleoni zu gehen, damit Sie den Anzug anprobieren.«
»Solange es kein gestreifter ist…«
Ich hatte ihm hoch und heilig geschworen, dass er im gegebenen Moment einen ordnungsgemäßen Namen hätte und dass sein Pfarrerfreund das »Fermín, willst du die Bernarda…« anstimmen könnte, ohne dass wir alle gleich auf dem Polizeiposten landeten, doch je näher das Datum rückte, desto mehr verging er fast vor Angst und Unruhe. Die Bernarda überlebte die Spannung durch Beten und den Verzehr von Eierplätzchen, aber nachdem ein diskreter Arzt ihre Schwangerschaft bestätigt hatte, verbrachte sie einen großen Teil des Tages mit dem Kampf gegen Übelkeit und Schwindelgefühle, und alles deutete darauf hin, dass Fermíns Erster es ihnen bei seiner Ankunft nicht leichtmachen würde.
Die Ruhe dieser Tage war trügerisch — unter der Oberfläche war ich schon in einen trüben Strom geraten, der mich langsam in die Tiefen eines neuen, unausweichlichen Gefühls hinunterriss: zum Hass.
In der Freizeit entfloh ich, ohne es jemandem zu sagen, ins Athenäum in der Calle Canuda und folgte im Zeitungsarchiv und im Katalogfundus Mauricio Valls’ Spuren. Was über die Jahre nur ein uninteressantes, verschwommenes Bild gewesen war, bekam nun mit jedem Tag mehr Konturen, ja eine schmerzliche Präzision. Nach und nach rekonstruierte ich Valls’ öffentliche Karriere in den letzten fünfzehn Jahren. Seit seinen ersten Schritten im Regime war viel Wasser den Ebro hinuntergeflossen. Mit Zeit und Vitamin B hatte Don Mauricio Valls, wenn man denn den Zeitungen Glauben schenken durfte (was für Fermín identisch war mit dem Glauben, Fanta Orange erhalte man durch das Auspressen frischer Orangen aus Valencia), sein Trachten von Erfolg gekrönt gesehen und war zu einem glitzernden Stern am Firmament des künstlerischen und literarischen Spaniens geworden.
Sein Aufstieg war unaufhaltsam gewesen. Von 1944 an wurden ihm immer wichtigere Ämter und Ernennungen in den akademischen und kulturellen Institutionen des Landes zuerkannt. Seine Artikel, Reden und sonstigen Publikationen waren allmählich Legion. Jeder Wettbewerb, Kongress oder andere kulturelle Akt, der etwas auf sich hielt, rief nach Don Mauricios Beteiligung und Anwesenheit. 1947 gründete er mit zwei Teilhabern die Sociedad General Ariadna, ein Verlagshaus mit Niederlassungen in Madrid und Barcelona, das die Presse nachdrücklich zur »Prestigemarke« der spanischen Literatur erhob.
Seit 1948 sprach dieselbe Presse von Mauricio Valls nur noch als vom »brillantesten, angesehensten Intellektuellen des neuen Spaniens«. Die selbsternannte Intelligenz des Landes und die Leute, die ihr angehören wollten, schienen mit Don Mauricio eine leidenschaftliche Romanze zu erleben. Die Feuilletonjournalisten ergingen sich in Lobhudeleien und Liebedienerei, um seine Gunst zu gewinnen und mit Glück irgendein eigenes in einer Schublade vor sich hin dösendes Opus in seinem Verlag veröffentlicht zu sehen und sich so Zutritt zum offiziellen Auditorium Maximum zu verschaffen und vom Manna zu kosten, und sei es bloß eine Krume.
Valls hatte die Regeln gelernt und beherrschte das Spielbrett wie kein Zweiter. Anfang der fünfziger Jahre überbordeten sein Ruf und sein Einfluss bereits die offiziellen Kreise und begannen die sogenannte Zivilgesellschaft und ihre wichtigen Persönlichkeiten zu durchdringen. Seine Losungen waren zu einem Kanon offenbarter Wahrheiten geworden, die sich jeder der auserlesenen drei- oder viertausend Bürger, welche sich für gebildet hielten und auf ihre gewöhnlichen Mitmenschen hinabsahen, zu eigen machte und wie ein Musterschüler nachplapperte.
Unterwegs zum Gipfel, hatte Valls einen engen Kreis von ihm aus der Hand fressenden Gleichgesinnten um sich geschart, die mit der Zeit an die Spitze von Institutionen und in andere Machtpositionen vordrangen. Wagte irgendein Unglücksrabe Valls’ Worte oder seine Bedeutung in Frage zu stellen, wurde er in der Presse erbarmungslos gekreuzigt und aufs Groteskeste beschimpft, bis er als Aussätziger und Bettler dastand, dem alle Türen verschlossen und nur ein Leben in Vergessenheit oder das Exil blieben.
Ich las unendliche Stunden lang, über und zwischen den Zeilen, verglich Geschichten und Versionen, katalogisierte Daten und erstellte Listen mit Erfolgen und im Keller versteckten Leichen. Unter anderen Umständen, wenn mein Forschungsgegenstand rein anthropologischer Natur gewesen wäre, hätte ich vor Don Mauricio und seinen meisterlichen Schachzügen den Hut gezogen. Niemand konnte bestreiten, dass er gelernt hatte, das Herz und die Seele seiner Mitbürger zu lesen und an den Fäden zu ziehen, die ihre Sehnsüchte, Hoffnungen und Hirngespinste bewegten.
Wenn mir nach tagelangem Michversenken in die offizielle Version von Valls’ Leben etwas blieb, dann die Gewissheit, dass der Mechanismus zum Aufbau eines neuen Spaniens immer perfekter funktionierte und Don Mauricios kometenhafter Aufstieg zu den Altären der Macht beispielhaft war für ein zunehmend wichtiges, ein zukunftsträchtiges Muster, das ohne Zweifel das Regime überdauern und auf Jahrzehnte hinaus überall tiefe, unausrottbare Wurzeln schlagen würde.
Als Valls 1952 für drei Jahre Kulturminister wurde, hatte er den Gipfel der Macht erreicht und festigte in dieser Zeit seine Herrschaft und die seiner Lakaien, die er in die wenigen Positionen beförderte, die sie noch nicht kontrollierten. Sein Widerhall in der Gesellschaft nahm eine goldene Monotonie an. Seine Worte wurden als Quelle von Wissen und Gewissheit zitiert. Seine Präsenz in Jurys, Gerichten und bei Empfängen aller Art war sprichwörtlich. Unaufhörlich vermehrte sich sein Arsenal an Diplomen, Lorbeeren und Orden.
Und auf einmal geschah etwas Merkwürdiges.
Bei meiner ersten Durchsicht hatte ich es nicht bemerkt. Obwohl sich die Lobeshymnen und Meldungen über Don Mauricio immer mehr häuften, konnte man von 1956 an unter all dem Wust der Informationen ein Detail wahrnehmen, das von den vorher veröffentlichten Informationen abwich. Ton und Inhalt der Meldungen waren unverändert, aber nachdem ich jede einzelne gelesen und wiedergelesen und mit den anderen verglichen hatte, fiel mir etwas auf: Don Mauricio Valls war nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen. Sein Name, sein Prestige und seine Macht waren weiterhin auf Erfolgskurs. Es fehlte nur ein einziges Stück: seine Person. Nach 1956 gab es keine Fotos mehr, und seine Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen wurde nicht mehr erwähnt.
Der letzte Zeitungsausschnitt, der Mauricio Valls’ Auftreten bezeugte, datierte vom 2. November 1956, als ihm bei einem feierlichen Akt in der Gesellschaft der Schönen Künste in Madrid, an dem die höchsten Behördenmitglieder und die damalige Crème de la Crème teilnahmen, eine Auszeichnung für die beste verlegerische Arbeit des Jahres verliehen wurde. Der Text der Meldung folgte den üblichen, vorhersehbaren Regeln des Genres, mehr oder weniger eine Kurznachricht in Form eines Editorials. Das Interessanteste war das beigefügte Foto, das letzte, auf dem man Valls sah, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag. Er steckte in einem eleganten, gut geschnittenen Anzug und lächelte, während ihm das Publikum bescheiden und herzlich eine Ovation bescherte. Neben ihm sah man weitere Habitués bei derartigen Veranstaltungen, und hinter ihm, leicht unpassend und mit ernstem, undurchdringlichem Gesicht, waren zwei schwarzgekleidete, hinter einer dunklen Brille verschanzte Individuen zu erkennen. Sie schienen nicht wegen der Veranstaltung selbst da zu sein. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, ganz unkomödiantisch. Wachsam.
Nach diesem Abend in der Gesellschaft der Schönen Künste war Don Mauricio Valls nicht mehr abgelichtet oder in der Öffentlichkeit gesehen worden. Wie sehr ich auch suchte, ich fand keinen einzigen Auftritt mehr. Dessen überdrüssig, tote Gleise zu erforschen, kehrte ich an den Anfang zurück und rekonstruierte den Lebenslauf dieses Mannes, bis ich ihn auswendig konnte, als wäre es mein eigener. Ich witterte seiner Fährte nach in der Hoffnung, einen hilfreichen Hinweis auf den Aufenthaltsort dieses Menschen zu finden, der auf Fotos lächelte und seine Eitelkeit auf unendlichen Seiten spazieren führte, auf denen man einen servilen, nach Gefälligkeiten gierenden Hofstaat abgebildet sah. Ich suchte nach dem Mann, der meine Mutter umgebracht hatte, um die Scham vor seinem wahren Selbst zu verbergen, das offensichtlich auch sonst niemand aufzudecken in der Lage war.
An diesen einsamen Abenden in der alten Athenäumsbibliothek lernte ich zu hassen — an einem Ort, wo vor nicht allzu langer Zeit meine Sehnsüchte reineren Dingen gegolten hatten, der Haut meiner ersten unmöglichen Liebe, der blinden Clara, oder den Mysterien von Julián Carax und seinem Roman Der Schatten des Windes. Je schwerer Valls’ Spur zu finden war, desto weniger billigte ich ihm das Recht zu verschwinden und seinen Namen aus der Geschichte zu tilgen zu. Aus meiner Geschichte. Ich musste einfach wissen, was aus ihm geworden war. Ich musste ihm in die Augen sehen können, und sei es nur, um ihn daran zu erinnern, dass jemand, eine einzige Person auf der Welt, wusste, wer er wirklich war und was er getan hatte.
Eines Abends, als ich die Geisterjagd satthatte, verzichtete ich auf meine Sitzung in den Archiven und unternahm mit Bea und Julián einen Spaziergang durch ein reines, sonniges Barcelona, das ich schon fast vergessen hatte. Wir spazierten von zu Hause aus zum Ciudadela-Park. Ich setzte mich auf eine Bank und sah zu, wie Julián auf dem Rasen mit seiner Mutter spielte. Dabei wiederholte ich bei mir Fermíns Worte. Ein glücklicher Mann, ja, das war ich, Daniel Sempere. Ein glücklicher Mann, der in seinem Inneren einen blinden Groll hatte wachsen lassen, bis es ihn vor ihm selbst graute.
Ich schaute meinem Sohn zu, der sich einer seiner Leidenschaften hingab: auf allen vieren zu kriechen, bis er vollkommen schmutzig war. Bea folgte ihm dichtauf. Ab und zu hielt er inne und schaute zu mir hin. Ein Windstoß hob Beas Rock, und der Kleine lachte. Ich klatschte Beifall, was mir einen vorwurfsvollen Blick von ihr eintrug. Ich fand die Augen meines Sohnes und dachte, bald würde er mich anschauen, als wäre ich der weiseste und beste Mensch der Welt, der auf alles eine Antwort wusste. Da nahm ich mir vor, nie wieder Mauricio Valls’ Namen zu erwähnen oder seinen Schatten zu verfolgen.
Bea setzte sich neben mich, und Julián kroch ihr nach bis zur Bank. Als er bei mir angelangt war, nahm ich ihn auf die Arme und rieb seine Hände an meinen Rockaufschlägen sauber.
»Eben aus der Reinigung zurück«, sagte Bea.
Resigniert zuckte ich die Achseln. Sie lehnte sich an mich und nahm meine Hand.
»Tolle Beine«, sagte ich.
»Finde ich gar nicht lustig. Und das lernt dann dein Sohn. Zum Glück war niemand in der Nähe.«
»Na ja, da hatte sich so ein Opachen hinter einer Zeitung versteckt, der, glaube ich, vor Herzjagen ohnmächtig geworden ist.«
Auf dem Heimweg, uns ein paar Schritte voraus, sprühte Bea Funken.
Nachdem sie an diesem Abend, es war der 20. Januar, Julián zu Bett gebracht hatte, schlief sie auf dem Sofa neben mir ein, während ich einen der alten Romane von David Martín las, den Fermín in den Monaten des Exils nach seiner Flucht aus dem Gefängnis gefunden und dann über die ganzen Jahre hinweg behalten hatte. Wie immer genoss ich jede Wendung, nahm die Architektur jedes Satzes unter die Lupe, da ich dachte, wenn ich die Musik dieser Prosa entschlüsselte, würde ich etwas von dem Mann entdecken, den ich nie kennengelernt hatte und der, wie mir alle versicherten, nicht mein Vater war. An diesem Abend war ich jedoch nicht in der Lage dazu. Noch vor dem Ende eines Satzes flogen meine Gedanken von der Buchseite zu diesem Brief von Pablo Cascos Buendía, in dem er meine Frau am nächsten Tag um zwei Uhr nachmittags ins Ritz bestellte.
Schließlich klappte ich das Buch zu und betrachtete Bea, die neben mir schlief, und ahnte, dass in ihr tausendmal mehr Geheimnisse ruhten als in Martíns Geschichten und seiner unseligen Stadt der Verdammten. Mitternacht war vorüber, als sie die Augen öffnete und meinen forschenden Blick sah. Sie lächelte mir zu, obwohl offenbar etwas an meinem Gesicht eine leichte Unruhe in ihr weckte.
»Woran denkst du?«, fragte sie.
»Daran, wie glücklich ich bin.«
Sie sah mich lange an, Zweifel im Blick.
»Das sagst du so, als glaubtest du es selbst nicht.«
Ich stand auf und reichte ihr die Hand.
»Gehen wir ins Bett«, forderte ich sie auf.
Sie ergriff meine Hand und folgte mir durch den Flur ins Schlafzimmer. Dort legte ich mich aufs Bett und schaute sie schweigend an.
»Du bist seltsam, Daniel. Was ist eigentlich los mit dir? Habe ich irgendwas gesagt?«
Mit einem Lächeln weiß wie die Lüge schüttelte ich den Kopf. Sie nickte und zog sich langsam aus. Beim Entkleiden drehte sie mir nie den Rücken zu, versteckte sich auch nicht im Bad oder hinter der Tür, wie es die vom Regime propagierten Leitfäden für Ehehygiene forderten. Ich schaute ihr gelassen zu und las die Linien ihres Körpers. Sie sah mir in die Augen, schlüpfte in das verhasste Nachthemd und legte sich mit dem Rücken zu mir ins Bett.
»Gute Nacht«, sagte sie mit befangener und, für jemanden, der sie gut kannte, ärgerlicher Stimme.
»Gute Nacht«, brummelte ich.
Ihre Atemzüge verrieten mir, dass sie über eine halbe Stunde brauchte, um einzuschlafen, aber schließlich war die Müdigkeit stärker als mein befremdliches Benehmen. Ich blieb neben ihr liegen und war mir nicht darüber im Klaren, ob ich sie wecken und um Verzeihung bitten oder einfach küssen sollte. Ich tat gar nichts, sondern blieb reglos liegen, verfolgte die geschwungene Linie ihres Rückens und hörte die Schwärze in mir flüstern, in einigen Stunden werde Bea zu einem Rendezvous mit ihrem ehemaligen Verlobten gehen und diese Lippen und diese Haut würden einem anderen gehören, wie sein kitschiger Brief anzudeuten schien.
Als ich aufwachte, war Bea schon weg. Ich hatte erst am frühen Morgen einschlafen können, erwachte unsanft mit den Neun-Uhr-Schlägen der Kirche und zog die erstbesten Kleider an, die ich fand. Draußen erwartete mich ein kalter Montag, gesprenkelt mit Schneeflocken, die in der Luft schwebten und sich wie Spinnen aus Licht an unsichtbaren Fäden auf die Passanten hefteten. Als ich den Laden betrat, stand mein Vater auf dem Schemel, auf den er täglich kletterte, um das Kalenderdatum zu ändern. 21. Januar.
»Dass die Bettlaken an einem kleben, verfängt, glaube ich, nicht mehr, wenn man älter ist als zwölf«, sagte er. »Heute warst du dran mit Aufmachen.«
»Entschuldige. Eine schlimme Nacht. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Zwei Stunden lang bemühte ich mich, Kopf und Hände mit Buchhandlungsaufgaben zu beschäftigen, aber letztlich gab es in meinen Gedanken nur diesen vermaledeiten Brief, den ich mir tonlos immer wieder zitierte. Gegen Mittag kam Fermín heimlich zu mir und bot mir ein Sugus an.
»Heute ist der Tag, nicht wahr?«
»Schweigen Sie, Fermín«, fiel ich ihm so brüsk ins Wort, dass mein Vater die Brauen in die Höhe zog.
Ich flüchtete mich ins Hinterzimmer und hörte sie flüstern. Am Schreibtisch meines Vaters sitzend, schaute ich auf die Uhr. Dreizehn Uhr zwanzig. Ich versuchte, dem Verstreichen der Minuten zu folgen, doch die Uhrzeiger rückten einfach nicht vor. Als ich in den Laden zurückging, sahen mich Fermín und mein Vater besorgt an.
»Daniel, vielleicht möchtest du ja den Rest des Tages freinehmen«, sagte mein Vater. »Fermín und ich kommen schon zurecht.«
»Danke. Ich glaube, ja. Ich habe kaum geschlafen und fühle mich nicht sehr wohl.«
Ich hatte nicht den Mut, Fermín anzuschauen, bevor ich durchs Hinterzimmer entwischte. Mit bleiernen Füßen stieg ich die fünf Stockwerke hinauf. Als ich die Wohnungstür öffnete, hörte ich im Bad das Wasser laufen. Ich schlurfte zum Schlafzimmer und blieb auf der Schwelle stehen. Bea saß auf der Bettkante. Sie hatte mich nicht eintreten sehen und hören. Ich sah sie in ihre Seidenstrümpfe schlüpfen und sich anziehen, den Blick auf den Spiegel geheftet. Erst nach zwei Minuten wurde sie auf mich aufmerksam.
»Ich wusste nicht, dass du hier bist«, sagte sie halb überrascht, halb gereizt.
»Gehst du aus?«
Sie nickte, während sie ihre Lippen hochrot schminkte.
»Wohin gehst du denn?«
»Ich habe einiges zu erledigen.«
»Du hast dich sehr hübsch gemacht.«
»Ich mag nicht auf die Straße gehen und aussehen, als käme ich grade aus dem Bett.«
Sie legte Lidschatten auf. »Glücklicher Mann«, sagte die Stimme sarkastisch.
»Was musst du denn erledigen?«, fragte ich.
Sie wandte sich um und schaute mich an.
»Was?«
»Ich habe gefragt, was du erledigen musst.«
»Allerlei.«
»Und Julián?«
»Meine Mutter hat ihn abgeholt und geht mit ihm spazieren.«
»Aha.«
Sie trat zu mir, legte ihre Gereiztheit ab und sah mich besorgt an.
»Daniel, was ist mit dir?«
»Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«
»Warum machst du nicht eine Siesta? Die hast du nötig.«
Ich nickte.
»Gute Idee.«
Sie lächelte schwach und ging mit mir auf meine Seite des Betts. Dort half sie mir, mich hinzulegen, deckte mich mit dem Überwurf zu und küsste mich auf die Stirn.
»Ich komme spät«, sagte sie.
Ich sah sie davongehen.
»Bea…«
Mitten im Flur blieb sie stehen und wandte sich um.
»Liebst du mich?«, fragte ich.
»Natürlich liebe ich dich. Was für eine dumme Frage.«
Ich hörte, wie sich die Tür schloss und sich dann ihre katzenhaften Schritte und die Pfennigabsätze treppab verloren. Ich griff zum Telefon und wartete auf die Vermittlung.
»Das Hotel Ritz bitte.«
Nach einigen Sekunden kam die Verbindung zustande.
»Hotel Ritz, guten Tag, womit können wir Ihnen dienen?«
»Könnten Sie feststellen, ob ein bestimmter Gast bei Ihnen wohnt, bitte?«
»Wenn Sie so freundlich sind, mir den Namen zu nennen.«
»Cascos. Pablo Cascos Buendía. Er sollte eigentlich gestern angekommen sein…«
»Einen Augenblick, bitte.«
Eine lange Minute des Wartens, Geraune, Echos in der Leitung.
»Mein Herr…«
»Ja?«
»Im Moment finde ich keine Reservierung auf den von Ihnen genannten Namen…«
Unendliche Erleichterung befiel mich.
»Könnte es sein, dass die Reservierung auf den Namen einer Firma erfolgt ist?«
»Das haben wir gleich.«
Diesmal brauchte ich nicht lange zu warten.
»Tatsächlich, Sie haben recht. Señor Cascos Buendía. Da habe ich ihn. Suite Continental. Die Reservierung läuft auf den Namen der Ariadna Verlage.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte dem Herrn, dass Señor Cascos Buendías Reservierung auf den Namen der Ariadna Verlage läuft. Wünscht der Herr mit dem Zimmer verbunden zu werden?«
Der Hörer entglitt meiner Hand. Ariadna, Mauricio Valls’ vor Jahren gegründetes Verlagsunternehmen.
Cascos arbeitete für Valls.
Ich knallte den Hörer auf die Gabel und ging auf die Straße hinaus, um mit argwohnvergiftetem Herzen meiner Frau zu folgen.
In der Menschenmenge, die sich um diese Zeit durch die Puerta del Ángel in Richtung Plaza de Cataluña bewegte, sah ich keine Spur von Bea. Ich hatte einfach angenommen, sie sei diesen Weg zum Ritz gegangen, aber bei Bea wusste man nie. Sie probierte gern verschiedene Routen aus. Nach einer Weile gab ich die Suche auf. Vermutlich hatte sie ein Taxi genommen, was ohnehin besser zu der Galakleidung passte, in die sie sich gestürzt hatte.
In einer Viertelstunde war ich beim Ritz. Obwohl die Temperatur nicht mehr als zehn Grad betragen konnte, schwitzte ich und war außer Atem. Der Portier musterte mich verstohlen, hielt mir aber mit einer angedeuteten Verbeugung die Tür auf. Die Halle mit ihrer Spionagethriller- und Liebesromanzenatmosphäre verwirrte mich. Meine geringe Erfahrung mit Luxushotels hatte mich nicht gelehrt, zu erkennen, was was war. Ich erspähte eine Rezeptionstheke, hinter der mich ein wie aus dem Ei gepellter Empfangschef neugierig und leicht beunruhigt beobachtete. Ich trat zu ihm und lächelte ihn an.
»Das Restaurant, bitte?«
Er studierte mich mit höflicher Skepsis.
»Hat der Herr einen Tisch bestellt?«
»Ich bin mit einem Hotelgast verabredet.«
Er nickte mit frostigem Lächeln.
»Der Herr wird das Restaurant am Ende dieses Gangs finden.«
»Tausend Dank.«
Mit einer Faust ums Herz lief ich durch den Gang. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was ich sagen oder tun würde, wenn ich auf Bea und diesen Kerl träfe. Ein Oberkellner kam auf mich zu und stellte sich mir mit gepanzertem Lächeln in den Weg. Aus seinem Blick sprach die Geringschätzung, die ihm meine Aufmachung abnötigte.
»Hat der Herr einen Tisch bestellt?«
Ich schob ihn beiseite und trat in den Speisesaal. Die meisten Tische waren noch unbesetzt. Ein mumifiziertes Ehepaar unterbrach sein feierliches Suppenschlürfen, um mich missfällig anzuschauen. Zwei weitere Tische beherbergten als Geschäftsleute verkleidete Männer und die eine oder andere exquisite, unter Repräsentationsspesen abzubuchende weibliche Gesellschaft. Von Cascos und Bea keine Spur.
Hinter mir hörte ich die Schritte des Oberkellners und seiner Zwei-Kellner-Eskorte. Ich wandte mich um und lächelte gefügig.
»Hatte nicht Señor Cascos Buendía auf zwei Uhr einen Tisch bestellt?«, fragte ich.
»Der Señor hat Anweisung gegeben, in seiner Suite aufzutragen«, teilte der Oberkellner mit.
Ich schaute auf die Uhr. Zwanzig nach zwei. Ich ging auf den Gang mit den Aufzügen zu. Einer der Portiers hatte ein Auge auf mich geworfen, aber als er mich zu erwischen versuchte, hatte ich mich bereits in einen der Fahrstühle geschmuggelt. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sich die Suite Continental befand, und wählte eins der höheren Stockwerke.
»Fang einfach oben an«, sagte ich mir.
Im siebten Stock stieg ich aus und begann durch breite, menschenleere Korridore zu streifen. Nach einer Weile stieß ich auf eine Tür, die zur Feuertreppe führte, und stieg in den sechsten Stock hinunter. Auf der Suche nach der Suite Continental ging ich glücklos von Tür zu Tür. Die Uhr zeigte halb drei. Im fünften Stock stieß ich auf ein Zimmermädchen, das ein Wägelchen mit Staubwedeln, Seifen und Badetüchern vor sich herschob, und erkundigte mich nach der Suite. Sie schaute mich konsterniert an, aber mein Anblick erschreckte sie offenbar so sehr, dass sie nach oben deutete.
»Achter Stock.«
Ich mied die Aufzüge, falls das Hotelpersonal nach mir suchte. Drei Treppen und einen langen Gang später gelangte ich verschwitzt vor die Suite Continental. Dort blieb ich eine Minute stehen, versuchte mir vorzustellen, was hinter dieser Edelholztür vor sich ging, und fragte mich, ob ich wohl noch über genug gesunden Menschenverstand verfügte, um davonzulaufen. Ich hatte den Eindruck, am anderen Ende des Gangs beobachte mich jemand, und fürchtete, es sei einer der Portiers, doch als ich den Blick schärfte, verschwand die Gestalt um die Ecke, so dass ich in ihr einen anderen Hotelgast vermutete. Schließlich klingelte ich.
Schritte näherten sich der Tür. Durch meinen Kopf schoss das Bild von Bea, die sich die Bluse zuknöpfte. Ein Drehen im Schloss. Ich ballte die Fäuste. Die Tür ging auf. Ein Mensch mit pomadisiertem Haar in weißem Hausmantel und Fünf-Sterne-Pantoffeln machte auf. Jahre waren vergangen, doch Gesichter, die man entschlossen hasst, vergisst man nicht.
»Sempere?«, fragte er ungläubig.
Der Hieb landete zwischen Oberlippe und Nase. Ich spürte, wie unter der Faust Fleisch und Knorpel entzweigingen. Cascos hielt sich die Hände ans Gesicht und wankte. Zwischen seinen Fingern rann Blut hervor. Mit einem kräftigen Stoß warf ich ihn an die Wand und ging ins Zimmer hinein. Hinter mir hörte ich Cascos zu Boden plumpsen. Das Bett war gemacht, und auf dem Tisch vor der Terrasse mit Blick auf die Gran Vía stand ein dampfender Teller. Aufgedeckt war für eine einzige Person. Ich wandte mich um und stellte mich vor Cascos hin, der sich an einen Stuhl klammerte und sich aufzurappeln versuchte.
»Wo ist sie?«, fragte ich.
Seine Züge waren schmerzverzerrt. Das Blut floss ihm über Gesicht und Brust. Seine Lippe war aufgeplatzt, und gewiss war die Nase gebrochen. Da merkte ich, wie meine Knöchel brannten, und mit einem Blick auf meine Hand bemerkte ich, dass ich mich mit meinem Faustschlag ebenfalls verletzt hatte. Ich verspürte nicht die geringsten Gewissensbisse.
»Sie ist nicht gekommen. Zufrieden?«, spuckte er aus.
»Seit wann schreibst du meiner Frau Briefe?«
Ich hatte den Eindruck, er lache, und bevor er ein weiteres Wort von sich geben konnte, stürzte ich mich erneut auf ihn. Mit der ganzen angestauten Wut versetzte ich ihm einen zweiten Schlag. Der lockerte ihm die Zähne und betäubte meine Hand. Er gab ein agonisches Röcheln von sich und brach auf dem Stuhl zusammen, auf den er sich gestützt hatte. Ich neigte mich über ihn, und er bedeckte das Gesicht mit den Armen. Ich bohrte ihm die Hände in den Hals und drückte mit den Fingern zu, als wollte ich ihm die Gurgel zerreißen.
»Was hast du mit Valls zu schaffen?«
Erschrocken glotzte er mich an, überzeugt, ich bringe ihn hier und jetzt um. Er stammelte etwas Unverständliches, und der Speichel und das Blut aus seinem Mund bedeckten meine Hände. Ich drückte fester zu.
»Mauricio Valls. Was hast du mit ihm zu schaffen?«
Mein Gesicht war dem seinen so nahe, dass ich mich in seinen Pupillen gespiegelt sah. Unter der Hornhaut begannen seine Kapillargefäße zu platzen, und ein Netz schwarzer Linien brach sich zur Iris hin Bahn. Ich merkte, dass ich im Begriff war, ihn umzubringen, und ließ ihn schlagartig los. Beim Luftholen gab er einen gurgelnden Laut von sich und hielt sich die Hände an den Hals. Ich setzte mich ihm gegenüber aufs Bett. Meine Hände zitterten und waren voller Blut. Ich ging ins Bad und wusch sie. Dann ließ ich kaltes Wasser über Gesicht und Haar laufen, und als ich mich im Spiegel sah, erkannte ich mich kaum wieder. Beinahe hatte ich einen Menschen getötet.
Als ich ins Zimmer zurückkam, hing Cascos immer noch keuchend auf dem Stuhl. Ich füllte ein Glas mit Wasser und ging zu ihm. Sogleich wandte er in Erwartung eines weiteren Schlages den Körper ab.
»Da«, sagte ich.
Er öffnete die Augen und zögerte beim Anblick des Glases einen Moment.
»Da«, wiederholte ich. »Es ist bloß Wasser.«
Mit zitternder Hand ergriff er das Glas und führte es sich an die Lippen. In dem Moment sah ich, dass ich ihm mehrere Zähne ausgeschlagen hatte. Er wimmerte, und seine Augen füllten sich vor Schmerz mit Tränen, als ihm das kalte Wasser über das bloßliegende Fleisch unter dem Zahnhals rann. Über eine Minute verharrten wir in Schweigen.
»Soll ich einen Arzt holen?«, fragte ich schließlich.
Er schaute auf und schüttelte den Kopf.
»Mach, dass du fortkommst, bevor ich die Polizei rufe.«
»Sag mir, was du mit Mauricio Valls zu schaffen hast, und ich gehe.« Ich sah ihn kalt an.
»Er ist…, er ist einer der Teilhaber des Verlages, für den ich arbeite.«
»Hat er dich gebeten, diesen Brief zu schreiben?«
Er zögerte. Ich stand auf, tat einen Schritt auf ihn zu und zerrte ihn kräftig an den Haaren.
»Schlag mich nicht mehr«, flehte er.
»Hat dich Valls gebeten, diesen Brief zu schreiben?«
Er wich meinem Blick aus.
»Nicht er«, würgte er schließlich hervor.
»Wer dann?«
»Einer seiner Sekretäre. Armero.«
»Wer?«
»Paco Armero, ein Verlagsangestellter. Er sagte, ich solle wieder mit Beatriz Kontakt aufnehmen. Wenn ich es täte, spränge etwas dabei für mich raus — eine Belohnung.«
»Und wozu solltest du wieder mit ihr Kontakt aufnehmen?«
»Das weiß ich nicht.«
Ich machte Anstalten, ihn erneut zu ohrfeigen.
»Ich weiß es wirklich nicht«, wimmerte Cascos.
»Und dazu hast du sie hierherbestellt?«
»Ich liebe Beatriz noch immer.«
»Eine feine Art, es zu zeigen. Wo ist Valls?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie ist es möglich, dass du nicht weißt, wo dein Chef ist?«
»Weil ich ihn nicht kenne, ja? Ich habe ihn nie gesehen. Ich habe nie mit ihm gesprochen.«
»Werd etwas deutlicher.«
»Vor anderthalb Jahren habe ich bei Ariadna zu arbeiten angefangen, im Madrider Büro. In dieser ganzen Zeit habe ich ihn nie gesehen. Niemand hat ihn je gesehen.«
Langsam stand er auf und ging auf das Telefon zu. Ich hielt ihn nicht zurück. Er ergriff den Hörer und warf mir einen hasserfüllten Blick zu.
»Ich ruf jetzt die Polizei an…«
»Das wird nicht nötig sein«, war eine Stimme aus dem Flur zu hören.
Als ich mich umdrehte, erblickte ich Fermín in einem Anzug, der vermutlich meinem Vater gehörte. Er wedelte mit etwas, ähnlich einem amtlichen Ausweis.
»Inspektor Fermín Romero de Torres. Polizei. Es ist Tumult gemeldet worden. Wer von Ihnen kann die hier stattgefundenen Ereignisse resümieren?«
Ich weiß nicht, wer verwirrter war, Cascos oder ich. Diesen Moment nutzte Fermín, um Cascos’ Hand sanft den Hörer zu entwinden.
»Gestatten Sie.« Er schob ihn beiseite. »Ich benachrichtige das Präsidium.«
Er gab vor, eine Nummer zu wählen, und lächelte uns zu.
»Das Präsidium, bitte. Ja, danke.« Er wartete einige Sekunden. »Ja, Mari Pili, ich bin’s, Romero de Torres. Geben Sie mir Palacios, bitte. Okay, ich warte.«
Fermín hielt den Hörer mit einer Hand zu und zeigte mit der anderen auf Cascos.
»Und Sie, haben Sie einen Zusammenstoß mit der Badezimmertür gehabt, oder wollen Sie eine Aussage machen?«
»Dieser Rohling hat mich angegriffen und mich umzubringen versucht. Ich will auf der Stelle Anzeige erstatten. Der wird sein blaues Wunder erleben.«
Fermín schenkte mir einen Funktionärsblick und nickte.
»In der Tat. Von Ultramarin bis Indigo.«
Er gab vor, etwas aus dem Hörer zu vernehmen, und bedeutete Cascos zu schweigen.
»Jawohl, Palacios. Im Ritz. Ja. Ein 424er. Ein Verletzter. Vor allem im Gesicht. Kommt drauf an. Ich würde sagen, wie eine Landkarte. Okay. Ich nehme den Verdächtigen sogleich fest.«
Er hängte auf.
»Alles in Butter.«
Fermín trat auf mich zu und packte mich autoritär am Arm.
»Sie halten den Mund. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden, um Sie mindestens bis Allerheiligen einzulochen. Los, auf geht’s.«
Cascos, schmerzgekrümmt und von Fermíns Auftauchen noch immer völlig überrumpelt, betrachtete die Szene ungläubig.
»Legen Sie ihm denn keine Handschellen an?«
»Das ist ein vornehmes Hotel. Die Fußschellen kriegt er im Streifenwagen.«
Cascos, der weiterhin blutete und vermutlich doppelt sah, stellte sich uns nicht sehr überzeugt in den Weg.
»Sind Sie auch wirklich Polizist?«
»Geheimdienst. Ich werde Ihnen gleich ein großes rohes Steak raufbringen lassen, das Sie sich als Gesichtsmaske auflegen können. Wirkt Wunder bei Kurzstreckenprellungen. Meine Kollegen kommen später vorbei, um das Protokoll aufzunehmen und die angemessenen Anklagepunkte vorzubereiten«, leierte er herunter, während er Cascos’ Arm wegschob und mich rasch auf den Ausgang zustieß.
Vor dem Hoteleingang bestiegen wir ein Taxi und fuhren schweigend durch die Gran Vía.
»Jesus, Maria und Josef«, brach es aus Fermín heraus. »Sind Sie übergeschnappt? Ich schaue Sie an und erkenne Sie nicht wieder… Was hatten Sie denn vor? Diesen Idioten umzulegen?«
»Er arbeitet für Mauricio Valls«, sagte ich nur.
Fermín verdrehte die Augen.
»Daniel, diese Besessenheit läuft Ihnen allmählich aus dem Ruder. Hätte ich Ihnen bloß nichts erzählt… Geht es Ihnen gut? Zeigen Sie mal diese Hand…«
Ich hielt ihm die Faust hin.
»Heilige Muttergottes.«
»Wie wussten Sie…?«
»Weil ich Sie kenne, als hätte ich Sie selbst in die Welt gesetzt, obwohl es Tage gibt, an denen es mir fast leidtut«, sagte er hitzig.
»Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.«
»Ich weiß es sehr wohl. Und es gefällt mir nicht. Es gefällt mir gar nicht. Das ist nicht der Daniel, den ich kenne. Und auch nicht der Daniel, dessen Freund ich sein will.«
Die Hand schmerzte mich, aber noch mehr schmerzte mich die Erkenntnis, dass ich Fermín enttäuscht hatte.
»Fermín, seien Sie nicht böse auf mich.«
»Da schau her, jetzt möchte der Kleine auch noch eine Medaille!«
Eine Weile schwiegen wir und schauten jeder auf seiner Seite aus dem Fenster.
»Zum Glück sind Sie gekommen«, sagte ich schließlich.
»Haben Sie wirklich gedacht, ich würde Sie alleinlassen?«
»Sie werden Bea nichts sagen, ja?«
»Wenn es Ihnen recht ist, schreibe ich der Vanguardia einen Leserbrief und schildere Ihre Heldentat.«
»Ich weiß nicht, wie mir geschehen ist, ich weiß es wirklich nicht…«
Er schaute mich streng an, dann aber entspannten sich seine Züge, und er tätschelte mir die Hand. Ich schluckte meinen Schmerz hinunter.
»Zerbrechen wir uns nicht weiter den Kopf. Ich hätte vermutlich genauso gehandelt.«
Vor der Fensterscheibe sah ich Barcelona vorübergleiten.
»Was war das für ein Ausweis?«
»Wie bitte?«
»Der Polizeiausweis, den Sie ihm gezeigt haben — was war das?«
»Der Barça-Mitgliedsausweis des Pfaffen.«
»Sie hatten recht, Fermín. Ich war ein Idiot, als ich Bea verdächtigt habe.«
»Ich habe immer recht. Das ist mir in die Wiege gelegt worden.«
Ich beugte mich den Tatsachen und schwieg; an diesem Tag hatte ich ohnehin schon genug dummes Zeug geplappert. Fermín war völlig verstummt und hatte ein nachdenkliches Gesicht aufgesetzt. Mich beunruhigte der Gedanke, ihn mit meinem Verhalten so enttäuscht zu haben, dass er nicht mehr wusste, was er zu mir sagen sollte.
»Woran denken Sie, Fermín?«
Er sah mich besorgt an.
»Ich dachte an diesen Mann.«
»Cascos?«
»Nein, an Valls. An das, was dieser Schwachkopf vorher gesagt hat. Was es bedeutet.«
»Was meinen Sie?«
Er schaute mich düster an.
»Dass es mir bisher Sorgen gemacht hat, dass Sie Valls finden wollten.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Da gibt es etwas, was mir noch mehr Sorgen macht, Daniel.«
»Nämlich?«
»Dass er es ist, der Sie sucht.«
Wir sahen uns schweigend an.
»Haben Sie eine Ahnung, warum?«, fragte ich.
Fermín, der sonst immer auf alles eine Antwort hatte, schüttelte langsam den Kopf und wandte den Blick ab.
Den Rest der Fahrt legten wir wortlos zurück. Zu Hause ging ich sofort in die Wohnung hinauf, duschte und schluckte vier Aspirin. Dann ließ ich die Jalousie herunter, umarmte das Kissen, das nach Bea roch, und schlief ein wie der Idiot, der ich war, nachdem ich mich noch gefragt hatte, wo die Frau stecken mochte, für die ich klaglos die Hauptrolle in der Lachnummer des Jahrhunderts übernommen hatte.
»Ich seh ja aus wie ein Stachelschwein«, sagte die Bernarda, als sie ihr verhundertfachtes Bild im Spiegelsaal des Modehauses Santa Eulalia betrachtete.
Zu ihren Füßen steckten zwei Modistinnen mit Dutzenden Nadeln das Brautkleid ab, aufmerksam beobachtet von Bea, die die Bernarda umkreiste und jede Falte und jede Naht inspizierte, als gehe es um ihr Leben. Die Bernarda, die Arme zum Kreuz gebreitet, traute sich kaum zu atmen, aber ihr Blick war gefangen von den verschiedenen Perspektiven, in denen sie in diesem sechseckigen Spiegelraum ihre Figur nach Anzeichen eines Bauches absuchte.
»Sieht man bestimmt noch nichts, Señora Bea?«
»Nichts. Platt wie ein Bügelbrett. Dort, wo es platt sein soll, natürlich.«
»Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht…«
Das Martyrium der Bernarda und die Anpassungs- und Taillierungsarbeit der Modistinnen dauerten noch eine weitere halbe Stunde. Als alle Stecknadeln der Welt zum Aufspießen der armen Braut aufgebraucht schienen, machte hinter dem Vorhang hervor der Starschneider des Hauses und Schöpfer des Stücks seine Aufwartung, musterte flüchtig das Kleid, brachte am Moiréfutter zwei, drei Korrekturen an, gab dann sein Plazet und schnalzte mit den Fingern diskret seine Assistentinnen aus dem Raum.
»Nicht einmal bei Pertegaz hätten Sie hübscher ausgesehen«, urteilte er selbstgefällig.
Bea nickte lächelnd.
Der Modemann, ein schlanker, affektierter Herr, der schlicht auf den Namen Evaristo hörte, küsste die Bernarda auf die Wange.
»Sie sind das beste Mannequin der Welt. Das geduldigste und leidensfähigste. Es war nicht ganz einfach, aber es hat sich gelohnt.«
»Und glauben der Herr, ich kann hier drin atmen?«
»Meine Beste, Sie heiraten im Schoß der heiligen Mutter Kirche ein iberisches Mannsbild. Mit Atmen ist sowieso Schluss, das kann ich Ihnen versichern. Bedenken Sie, dass ein Brautkleid wie ein Taucheranzug ist, nämlich nicht der ideale Ort zum Atmen — lustig wird’s dann, wenn es Ihnen ausgezogen wird.«
Angesichts der Frivolität des Modeschöpfers bekreuzigte sich die Bernarda.
»Und jetzt muss ich Sie darum bitten, mit größter Vorsicht aus dem Kleid zu schlüpfen — die Nähte sind noch lose, und mit all diesen Stecknadeln will ich Sie nachher nicht wie ein Sieb zum Altar gehen sehen«, sagte Evaristo.
»Ich helfe ihr«, sagte Bea.
Mit einem lockenden Blick machte Evaristo ein Ganzkörperröntgenbild von Bea.
»Und Sie, wann darf ich Sie aus- und ankleiden, Schätzchen?« fragte er, während er theatralisch hinter dem Vorhang abging.
»Dieser Halunke hat Sie ja vielleicht gemustert«, sagte die Bernarda. »Dabei heißt es, er sei vom anderen Ufer.«
»Ich habe den Eindruck, Evaristo bewegt sich an beiden Ufern, Bernarda.«
»Ist das möglich?«
»Komm, wir versuchen mal, dich hier rauszukriegen, ohne dass eine Stecknadel zu Boden fällt.«
Während sie die Bernarda aus ihrem Stoffgefängnis befreite, schimpfte diese leise vor sich hin. Seit sie erfahren hatte, was das Kleid kostete, das ihr Patron, Gustavo Barceló, unbedingt aus seiner Tasche bezahlen wollte, war sie ganz aufgeregt.
»Don Gustavo hätte nicht ein solches Vermögen ausgeben dürfen. Es musste ja unbedingt hier sein, das ist bestimmt der teuerste Ort von ganz Barcelona, und es musste dieser Evaristo sein, der ist ein halber Neffe von ihm oder was weiß ich, und der sagt, wenn der Stoff nicht von Gratacós ist, kriegt er eine Allergie. Was soll man dazu sagen.«
»Einem geschenkten Gaul… Außerdem macht es Don Gustavo einfach Freude, wenn du eine rauschende Hochzeit feierst. So ist er eben.«
»Zwei Flicken aufs Kleid meiner Mutter, und ich hätte auch darin heiraten können — Fermín ist es sowieso egal, immer wenn ich ihm ein neues Kleid zeige, will er es mir bloß ausziehen… Und das haben wir nun davon, Gott möge mir verzeihen.« Sie tätschelte sich den Bauch.
»Bernarda, auch ich war schwanger, als ich geheiratet habe, und ich glaube, Gott hat sich um viel wichtigere Dinge zu kümmern.«
»Das sagt mein Fermín auch, aber ich weiß nicht…«
»Hör du auf Fermín, und mach dir überhaupt keine Sorgen.«
Die Bernarda, die im Unterrock dastand und nach zwei Stunden auf hohen Absätzen und mit ausgestreckten Armen völlig erschöpft war, ließ sich ächzend in einen Sessel sinken.
»Ach, der Ärmste ist ja schon ganz unsichtbar, wo er so viele Kilos verloren hat. Das macht mir regelrecht Angst.«
»Du wirst schon sehen, wie er bald wieder zunimmt. Die Männer sind so, wie Geranien. Wenn man schon glaubt, man muss sie wegwerfen, blühen sie wieder auf.«
»Ich weiß nicht, Señora Bea, Fermín kommt mir sehr geknickt vor. Er sagt zwar schon, er will mich heiraten, aber manchmal habe ich meine Zweifel.«
»Aber er ist doch völlig verschossen in dich, Bernarda.«
Die Bernarda zuckte die Schultern.
»Schauen Sie, ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe. Seit meinem dreizehnten Jahr habe ich nichts anderes getan als saubergemacht, und sicher gibt es vieles, was ich nicht verstehe, aber ich weiß, dass mein Fermín weitgereist ist und seine Liebeleien gehabt hat. Er erzählt mir ja nie aus seinem früheren Leben, bevor wir uns kennengelernt haben, aber ich weiß, dass er andere Frauen gehabt und überhaupt viel erlebt hat.«
»Und am Ende hat er unter allen dich ausgesucht. Da siehst du mal.«
»Er steht ja mehr auf Frauen als ein Bär auf Honig. Wenn wir spazieren oder tanzen gehen, fallen ihm immer fast die Augen aus dem Kopf, eines Tages fängt er mir noch an zu schielen.«
»Solange er seine Hände im Zaum hält… Ich weiß aus sehr guter Quelle, dass dir Fermín immer treu gewesen ist.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber wissen Sie, was mir Angst macht, Señora Bea? Dass ich zu wenig bin für ihn. Wenn ich ihn so sehe, wie er mich verzückt anguckt und sagt, wir wollen zusammen alt werden und all die Schmeicheleien, die er von sich gibt, dann denke ich immer, eines Tages wacht er morgens auf, schaut mich an und sagt: Wo habe ich denn dieses Dummchen aufgegabelt?«
»Ich glaube, du täuschst dich, Bernarda. So etwas wird Fermín niemals denken. Er verehrt dich.«
»Das ist eben auch nicht gut, wissen Sie, ich habe so manchen jungen Herrn gesehen, der seine Señora verehrt hat wie eine Jungfrau und dann dem erstbesten Luder hinterhergerannt ist wie ein brünstiger Hund. Sie glauben nicht, wie oft ich das mit diesen Äuglein gesehen habe, die mir Gott geschenkt hat.«
»Aber Fermín ist nicht so, Bernarda. Fermín ist einer, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Davon gibt es nur wenige, Männer sind wie die Kastanien, die auf der Straße feilgehalten werden: Wenn man sie kauft, sind sie alle heiß und riechen gut, aber wenn man sie aus der Tüte zieht, werden sie sofort kalt, und die meisten erweisen sich als wurmstichig.«
»Damit meinen Sie aber nicht Señor Daniel, nicht wahr?«
Bea zögerte eine Sekunde.
»Nein, natürlich nicht.«
Die Bernarda schaute sie von der Seite an.
»Alles in Ordnung zu Hause, Señora Bea?«
Bea spielte mit einer Falte von Bernardas Unterrock, die über ihrer Schulter hervorschaute.
»Ja, Bernarda. Aber ich glaube, wir beide haben uns Männer ausgesucht, die ihre Eigenheiten und Geheimnisse haben.«
Die Bernarda nickte.
»Manchmal kommen sie mir vor wie Kinder.«
»Männer. Man muss ihnen Auslauf geben.«
»Aber mir gefallen sie«, sagte die Bernarda, »und ich weiß schon, was Sünde ist.«
Bea lachte.
»Und wie magst du sie? Wie Evaristo?«
»Nein, um Gottes willen. Der schaut sich so oft im Spiegel an, dass er ihn regelrecht abnutzt. Ein Mann, der länger braucht als ich, um sich herzurichten, da könnte ich die Wände hochgehen. Ich mag sie ein wenig ungeschliffen, wie soll ich sagen? Und ich weiß, mein Fermín ist nicht hübsch, was man so hübsch nennt. Aber für mich ist er hübsch und gut. Und sehr männlich. Und am Ende ist es das, was zählt, dass er gut ist und ein richtiger Mann. Und dass man sich in einer Winternacht an ihn anschmiegen kann und er einem die Kälte aus dem Körper zieht.«
Bea nickte lächelnd.
»Amen. Aber mir hat ein Vögelchen zugezwitschert, dass dir eigentlich Cary Grant gefällt.«
Die Bernarda errötete.
»Ihnen etwa nicht? Nicht zum Heiraten natürlich. Ich habe das Gefühl, der hat sich verliebt, als er sich das erste Mal im Spiegel sah, aber unter uns gesagt, und Gott möge mir verzeihen, von der Bettkante würde ich ihn nicht stoßen…«
»Was würde Fermín sagen, wenn er dich so hören könnte, Bernarda?«
»Was er immer sagt: ›Na ja, wir werden alle eine Beute der Würmer…‹«