Barcelona, 1939
Die neuen Gefangenen wurden nachts vom Präsidium in der Vía Layetana in schwarzen Personen- oder Lieferwagen gebracht, die lautlos und ohne dass jemand sie beachtete oder beachten wollte, die Stadt durchquerten. Die Fahrzeuge der politischen Polizei fuhren über die alte Straße auf den Montjuïc, und manch einer erzählte, sowie er auf dem Hügel die Umrisse des Kastells vor den schwarzen, vom Meer heraufkriechenden Wolken gesehen habe, sei ihm klargeworden, dass er nie wieder lebend von da wegkommen werde.
Die Festung war zuoberst auf dem Felsen verankert, zwischen dem Meer im Osten, dem Schattenteppich, den Barcelona im Norden auslegte, und im Süden der endlosen Stadt der Toten, dem alten Friedhof Montjuïc, dessen Gestank den Fels hochkletterte und durch die Spalten im Gestein und die Gitterstäbe der Zellen sickerte. In früheren Zeiten war die Stadt vom Kastell aus mit Kanonenkugeln beschossen worden, aber nur wenige Monate nach dem Fall Barcelonas im Januar und der endgültigen Niederlage im April nistete hier still der Tod, und die in der längsten Nacht ihrer Geschichte gefangenen Barcelonesen schauten lieber nicht zum Himmel empor, um die Silhouette des Gefängnisses oben auf dem Hügel nicht sehen zu müssen.
Den Gefangenen der politischen Polizei wurde beim Eintritt eine Nummer zugeteilt, normalerweise die ihrer künftigen Zelle, in der sie höchstwahrscheinlich auch sterben würden. Für die meisten Mieter, wie einer der Wärter sie gern nannte, war der Weg ins Kastell eine Einbahnstraße. In der Nacht, in der der Mieter Nr. 13 ankam, regnete es in Strömen. Durch die Steinmauern bluteten kleine schwarze Wasseradern, und die Luft stank nach umgegrabener Erde. Zwei Offiziere begleiteten ihn zu einem Raum, in dem nichts weiter als ein Metalltisch und ein Stuhl standen. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, die bei abnehmender Leistung des Generators flackerte. Bewacht von einem Posten mit Gewehr, wartete er hier in klatschnassen Kleidern beinahe eine halbe Stunde im Stehen.
Schließlich hallten Schritte, die Tür ging auf, und ein junger Mann, kaum älter als dreißig Jahre, trat ein. Er trug einen frisch gebügelten Wollstoffanzug und roch nach Kölnischwasser. Er sah nicht martialisch aus wie ein Berufsmilitär oder Polizeioffizier, sondern hatte weiche Züge und ein freundliches Gesicht. Dem Gefangenen fielen sein Gebaren des jungen Herrn aus gutem Hause und die Herablassung eines Mannes auf, der sich erhaben fühlt über die ihm zugewiesene Stellung und die dazu gehörende Umgebung. Das Auffälligste an seinem Gesicht waren die Augen. Blau, durchdringend, verengt vor Habgier und Argwohn. Nur sie verrieten hinter der Fassade einstudierter Eleganz und leutseliger Gebärde seine wahre Natur.
Runde Brillengläser vergrößerten seinen Blick, und das nach hinten gekämmte pomadisierte Haar gab ihm etwas Affektiertes, was nicht recht zur unheilschwangeren Kulisse passen wollte. Er nahm auf dem Stuhl hinter dem Tisch Platz und klappte das Dossier auf, das er mitgebracht hatte. Nachdem er seinen Inhalt überflogen hatte, hielt er die Hände zusammen, mit den Fingerspitzen das Kinn stützend, und schaute den Gefangenen lange an.
»Verzeihen Sie, ich glaube, da hat es eine Verwechslung gegeben…«
Der Hieb mit dem Gewehrkolben in den Magen benahm dem Gefangenen den Atem, und er stürzte wie ein Knäuel zu Boden.
»Du hast nur zu sprechen, wenn dich der Herr Direktor fragt«, sagte der Posten.
»Aufstehen«, befahl der Direktor mit leicht zitternder Stimme, die das Befehlen noch nicht so richtig gewohnt war.
Der Gefangene rappelte sich wieder hoch und stellte sich dem unbehaglichen Blick des Direktors.
»Name?«
»Fermín Romero de Torres.«
Der Gefangene beobachtete diese blauen Augen und las in ihnen Verachtung und Desinteresse.
»Was ist denn das für ein Name? Willst du mich für dumm verkaufen? Los, den richtigen Namen.«
Der Gefangene, ein mickriges Männchen, reichte dem Direktor seine Papiere. Der Posten riss sie ihm aus der Hand und legte sie auf den Tisch. Der Direktor warf einen raschen Blick darauf und schnalzte lächelnd mit der Zunge.
»Noch einer mit welchen von Heredia…«, murmelte er, bevor er die Dokumente in den Papierkorb warf. »Diese Papiere taugen nichts. Willst du mir nun sagen, wie du heißt, oder muss ich ernst werden?«
Der Mieter Nr. 13 versuchte, einige Worte zu formulieren, doch er brachte nur etwas Unverständliches über die zitternden Lippen.
»Keine Angst, mein Lieber, wir fressen hier keinen auf. Was hat man dir denn erzählt? Es gibt viele Scheißrote, die mit falschen Anschuldigungen um sich werfen, aber wenn die Leute kooperativ sind, behandeln wir sie gut hier, wie Spanier. Los, zieh dich aus.«
Der neue Mieter zauderte einen Augenblick. Der Direktor senkte den Blick, als ob ihm dieses ganze Prozedere lästig fallen und ihn nur die Sturheit des Gefangenen an Ort und Stelle halten würde. Einen Moment später verpasste der Posten dem Mieter einen zweiten Schlag mit dem Gewehrkolben, diesmal in die Nieren, der ihn abermals umwarf.
»Du hast doch gehört, was der Herr Direktor gesagt hat. Splitternackt. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«
Der Mieter Nr. 13 raffte sich auf die Knie auf, und in dieser Stellung schälte er sich aus den blutigen, verschmutzten Kleidern. Als er völlig nackt war, rammte ihm der Posten den Gewehrlauf unter die eine Schulter und zwang ihn aufzustehen. Der Direktor blickte auf und betrachtete angewidert die Verbrennungen auf seinem Rücken, dem Gesäß und einem großen Teil der Schenkel.
»Sieht aus, als wär der Held hier ein alter Bekannter von Fumero«, bemerkte der Posten.
»Halten Sie den Mund«, befahl ihm der Direktor wenig überzeugend.
Ungeduldig schaute er den Gefangenen an, dem die Tränen übers Gesicht liefen.
»Los, flenn nicht und sag mir, wie du heißt.«
Der Gefangene flüsterte abermals seinen Namen.
»Fermín Romero de Torres…«
Angewidert seufzte der Direktor.
»Hör gut zu, mir reißt allmählich der Geduldsfaden. Ich will dir helfen, und ich habe keine Lust, Fumero zu rufen und ihm zu sagen, dass du hier bist…«
Der Gefangene begann zu wimmern wie ein verwundeter Hund und zitterte so heftig, dass der Direktor, dem die Szene deutlich unangenehm war und der die Formalitäten so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, einen Blick mit dem Posten wechselte und leise fluchend den Namen aufschrieb, den ihm der Gefangene genannt hatte.
»Scheißkrieg«, murmelte er wie zu sich selbst, als der Gefangene nackt durch die Tunnel voller Pfützen in seine Zelle abgeführt wurde.
Die Zelle war ein feuchtdunkles Rechteck mit einem kleinen, in den Fels gehauenen Loch, durch das kalte Luft pfiff. Die Mauern waren übersät von Einkerbungen und Inschriften ehemaliger Mieter. Einige hatten ihren Namen und die Daten ihres Hierseins oder sonst einen Hinweis auf ihre Existenz eingeritzt. Einer hatte sich damit unterhalten, Kreuzworträtsel in die Dunkelheit zu kratzen, doch der Himmel schien keine Notiz davon genommen zu haben. Rostige Eisenstäbe vergitterten die Zelle und hinterließen bei der Berührung einen braunen Schleier an den Händen.
Fermín hatte sich auf einer Pritsche zusammengekauert und versuchte mit einem zerlumpten Stück Stoff, in dem er Decke, Matratze und Kopfkissen in einem vermutete, seine Blöße zu bedecken. Das Halbdunkel hatte einen kupferfarbenen Schimmer wie der Hauch einer verglimmenden Kerze. Nach einer Weile gewöhnten sich die Augen an dieses Dauerdunkel, und die Ohren wurden so fein, dass sie in der Litanei von Tropfen und Echos der Außenluft die leiseste Bewegung von Körpern wahrnahmen.
Er hatte bereits eine halbe Stunde auf seiner Pritsche verbracht, als er am anderen Ende der Zelle undeutliche Umrisse erkannte. Er stand auf, ging langsam näher und stellte fest, dass es ein schmutziger Segeltuchsack war. Kälte und Feuchtigkeit waren ihm allmählich in die Knochen gedrungen, und obwohl der von diesem dunkel gesprenkelten Bündel ausgehende Gestank zu wenig beglückenden Vermutungen einlud, dachte Fermín, darin vielleicht die Gefangenenuniform zu finden, die ihm zu geben sich niemand die Mühe gemacht hatte, und mit etwas Glück sogar eine Decke. Er kniete vor dem Sack nieder und löste am einen Ende den Knoten.
Als er das Segeltuch wegzog, enthüllte der zittrige Widerschein der auf dem Gang flackernden Lampen etwas, was er im ersten Moment für das Gesicht einer Schneiderpuppe hielt, wie sie in Schaufenstern die Anzüge ihrer Schöpfer anpreisen, aber der Gestank und die sofort einsetzende Übelkeit machten ihm klar, dass es sich mitnichten um eine Puppe handelte. Sich mit einer Hand Nase und Mund zuhaltend, zog er das Segeltuch ganz weg und wich bis an die Zellenwand zurück.
Die Leiche schien ein Erwachsener in einem unbestimmten Alter zwischen vierzig und fünfundsiebzig Jahren zu sein und konnte nicht mehr als fünfzig Kilo wiegen. Lange Haare und ein weißer Bart bedeckten einen großen Teil des skeletthaften Oberkörpers. Die knochigen Hände mit langen, krummen Fingernägeln sahen aus wie Vogelklauen. Die Hornhaut in den weit offenen Augen wirkte zerknittert wie die Schale einer reifen Frucht. Der Mund war halb geöffnet und die aufgequollene, schwärzliche Zunge zwischen den fauligen Zähnen verklemmt.
»Ziehen Sie ihm die Kleider aus, bevor er abtransportiert wird«, hörte er eine Stimme aus der gegenüberliegenden Zelle. »Bis zum nächsten Monat werden Sie von niemandem welche bekommen.«
Fermín spähte ins Dunkel und sah zwei leuchtende Augen, die ihn von der Pritsche der anderen Zelle aus beobachteten.
»Nur keine Angst, der Arme kann niemandem mehr etwas antun«, sagte die Stimme.
Fermín nickte und trat wieder zu dem Sack, ohne recht zu wissen, wie er die Operation durchführen sollte.
»Verzeihen Sie bitte«, flüsterte er dem Toten zu. »Ruhen Sie in Frieden, und Gott sei Ihnen gnädig.«
»Er war Atheist«, erklärte die Stimme in der anderen Zelle.
Fermín nickte und vergaß das Zeremoniell. Die Kälte in der Zelle schnitt ihm in die Knochen, so dass sich jede freundliche Geste erübrigte. Er hielt den Atem an und machte sich ans Werk. Die Kleider rochen nach Leiche. Mittlerweile hatte sich die Totenstarre über den ganzen Körper ausgebreitet, und es war schwieriger als vermutet, die Gestalt zu entkleiden. Nachdem er es geschafft hatte, deckte Fermín den Mann wieder mit dem Segeltuchsack zu und verschloss diesen mit einem Seemannsknoten, der selbst für den großen Houdini eine Herausforderung gewesen wäre. Angetan mit diesen stinkenden Lumpen, legte er sich schließlich wieder auf die Pritsche und fragte sich, wie viele Gefangene diese selbe Uniform getragen haben mochten.
»Vielen Dank«, sagte er dann.
»Den habe ich nicht verdient«, antwortete die Stimme auf der anderen Seite des Gangs.
»Fermín Romero de Torres, zu dienen.«
»David Martín.«
Fermín runzelte die Stirn. Der Name kam ihm bekannt vor. Fast fünf Minuten lang jonglierte er mit Erinnerungen und Echos, dann ging ihm ein Licht auf, und er erinnerte sich an geraubte Nachmittage in einem Winkel der Bibliothek in der Calle del Carmen, als er eine Serie Bücher mit anzüglichem Umschlag und Titel verschlungen hatte.
»Martín, der Schriftsteller? Der von Die Stadt der Verdammten?«
Ein Seufzer im Dunkeln.
»In diesem Land hat keiner mehr Achtung vor Pseudonymen.«
»Verzeihen Sie die Indiskretion, aber meine Verehrung für Ihre Bücher war scholastisch, und von daher weiß ich, dass Sie es waren, der die Feder des berühmten Ignatius B. Samson führte…«
»Zu dienen.«
»Nun, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Señor Martín, sogar unter diesen unglücklichen Umständen, denn ich bin seit vielen Jahren ein großer Bewunderer von Ihnen und…«
»Ob wir wohl endlich den Schnabel halten, ihr Turteltäubchen — hier gibt es Leute, die schlafen möchten«, brüllte eine mürrische Stimme, die aus der Nachbarzelle zu kommen schien.
»Da hat die Sonne des Hauses gesprochen«, mischte sich eine zweite Stimme ein, etwas weiter entfernt auf dem Gang. »Beachten Sie ihn einfach nicht, Martín — wenn man hier einschläft, wird man bei lebendigem Leib von den Wanzen aufgefressen, angefangen bei den Schamteilen. Los, Martín, warum erzählen Sie uns nicht eine Geschichte? Eine von denen mit Chloé…«
»Damit du dir wieder einen abwichsen kannst wie ein Affe, was?«, antwortete die feindselige Stimme.
»Lieber Fermín«, sagte Martín in seiner Zelle, »ich habe das Vergnügen, Ihnen Nr. 12 vorzustellen, die alles schlecht findet, was es auch sei, und Nr. 15, schlaflos, gebildet und offizieller Ideologe der Galerie. Die anderen reden wenig, vor allem Nr. 14.«
»Ich rede, wenn ich etwas zu sagen habe«, meldete sich eine tiefe, eiskalte Stimme, die Fermín der Nr. 14 zuordnete. »Wenn alle hier das täten, hätten wir in der Nacht Ruhe.«
Fermín schätzte diese gesamte so eigenartige Gruppe ab und sagte:
»Guten Abend, alle zusammen. Ich bin Fermín Romero de Torres, und es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«
»Das Vergnügen ist ganz auf Ihrer Seite«, erwiderte Nr. 12.
»Willkommen — hoffentlich ist Ihr Aufenthalt hier von kurzer Dauer«, sagte Nr. 14.
Fermín warf wieder einen Blick auf den Sack mit der Leiche und schluckte.
»Der war Lucio, die vorherige Nr. 13«, erklärte Martín. »Wir wissen nichts von ihm, der Ärmste war stumm. Eine Kugel hat ihm auf dem Ebro den Kehlkopf zertrümmert.«
»Schade, dass er der Einzige war«, erwiderte Nr. 14.
»Woran ist er gestorben?«, fragte Fermín.
»Hier stirbt man am bloßen Dasein«, antwortete Nr. 12. »Viel mehr braucht es nicht.«
Die Routine half. Einmal am Tag wurden die Gefangenen der ersten beiden Gänge für eine Stunde auf den Rasen im Graben hinausgeführt und dort der Sonne, dem Regen oder irgendeiner anderen Witterung ausgesetzt. Das Essen bestand aus einer halbvollen Tasse kalten, schmierig gräulichen Kleisters unbestimmten Ursprungs und ranzigen Geschmacks, an den sich der vor Hunger verkrampfte Magen nach einigen Tagen gewöhnte. Er wurde gegen Abend ausgeteilt, und mit der Zeit begannen sich die Gefangenen geradezu danach zu sehnen.
Einmal monatlich wurden ihre schmutzigen Kleider durch andere ersetzt, die eine Minute lang in einen Kessel mit kochendem Wasser getaucht worden waren, obwohl die Wanzen davon offensichtlich keine Kenntnis genommen hatten. Sonntags wurde eine Messe zelebriert und zur Teilnahme empfohlen, und niemand wagte es, ihr fernzubleiben, da der Geistliche die Gefangenen einzeln aufrief und sich die Namen der Abwesenden notierte. Zweimaliges Ausbleiben hatte eine Woche Essensentzug, dreimaliges einen Monat Ferien in einer der Isolierzellen im Turm zur Folge.
Die Gänge, der Hof und die anderen den Insassen zugänglichen Räume standen unter strenger Bewachung. Ein ganzes Heer gewehr- und pistolenbewehrter Wachposten patrouillierte im Gefängnis, und wenn sich die Gefangenen außerhalb ihrer Zellen befanden, konnte man nirgends hinblicken, ohne zumindest ein Dutzend von ihnen mit scharfem Blick und angelegter Waffe zu sehen. Ihnen gesellten sich, weniger bedrohlich, die Wärter zu. Keiner von ihnen sah militärisch aus, und unter den Gefangenen war man sich einig, dass es sich um eine Gruppe armer Tröpfe handelte, die in diesen Tagen allgemeinen Elends keine bessere Arbeit gefunden hatten.
Jedem Gang war ein Wärter zugeteilt, der, mit einem Schlüsselbund auf einem Stuhl am einen Ende des Gangs sitzend, eine Zwölf-Stunden-Schicht absolvierte. Die meisten von ihnen vermieden es, mit den Gefangenen zu fraternisieren, ja sie auch nur anzusprechen oder ihnen über das unbedingt Notwendige hinaus einen Blick zu schenken. Die einzige Ausnahme war ein armer Teufel mit dem Spitznamen Bebo, der in seinen Zeiten als Nachtwächter in einer Fabrik des Pueblo Seco bei einem Bombenangriff ein Auge verloren hatte.
Es hieß, Bebo habe einen Zwillingsbruder in einem Gefängnis in Valencia und vielleicht behandle er aus diesem Grund die Gefangenen einigermaßen höflich; wenn niemand es sah, gab er ihnen Trinkwasser, ein wenig trockenes Brot oder irgendetwas aus der Beute, zu der die Wachen die Fresspakete machten, die die Angehörigen den Gefangenen schickten. Gern rückte Bebo seinen Stuhl in die Nähe von David Martíns Zelle und hörte sich die Geschichten an, die der Schriftsteller manchmal den Mitgefangenen erzählte. In dieser ganz besonderen Hölle war Bebo fast so etwas wie ein Engel.
Normalerweise richtete der Direktor nach der Sonntagsmesse einige erbauende Worte an die Insassen. Man wusste von ihm gerade einmal seinen Namen, Mauricio Valls, und dass er vor dem Krieg ein bescheidener Literatenanwärter gewesen war, der als Sekretär und Zuträger eines in Barcelona ansässigen, recht namhaften Autors und ewigen Rivalen des frühverstorbenen Pedro Vidal gearbeitet hatte. In seiner Freizeit übersetzte er glücklos griechische und lateinische Klassiker, gab zusammen mit ein paar Zwillingsseelen eine kulturell hochambitionierte, kaum verbreitete Postille heraus und organisierte private Gesprächszirkel, bei denen Heerscharen geistesverwandter Eminenzen den Stand der Dinge beklagten und prophezeiten, wenn eines Tages sie die Fäden in der Hand hielten, werde die Welt in den Olymp aufsteigen.
Sein Leben schien auf diese bittergraue Existenz der Mittelmäßigen zuzulaufen, die Gott in seiner unendlichen Grausamkeit mit dem Größenwahnsinn und dem Hochmut der Titanen gesegnet hat. Doch der Krieg hatte sein Schicksal wie das so vieler anderer umgeschrieben, und es nahm eine Wende, als Mauricio Valls, bisher einzig in sein wundersames Talent und seine erlesene Raffinesse verliebt, halb aus Zufall, halb mit Blick auf eine gute Partie, die Tochter eines mächtigen Industriellen ehelichte, dessen Tentakel zu einem guten Teil das Budget von General Franco und seinen Truppen stützten.
Die Braut, acht Jahre älter als Mauricio, war seit ihrem dreizehnten Jahr an den Rollstuhl gefesselt, wo ihr eine angeborene Krankheit Muskeln und Leben aufzehrte. Kein Mann hatte ihr je in die Augen geschaut noch ihre Hand ergriffen, um ihr zu sagen, sie sei schön, und sich nach ihrem Namen zu erkundigen. Mauricio, wie alle unbegabten Literaten im Grunde ein ebenso praktisch veranlagter wie eingebildeter Mann, tat das als Erster und Letzter, und ein Jahr später heiratete das Paar in Sevilla im Beisein von Stars wie General Queipo de Llanos und anderen Großkopfeten des nationalen Apparats.
»Sie werden Karriere machen, Valls«, verhieß ihm Serrano Súñer höchstpersönlich bei einer Privataudienz in Madrid, wo Valls um die Stelle des Direktors der Nationalbibliothek betteln gegangen war.
»Spanien macht schwierige Zeiten durch, und jeder wohlgeborene Spanier muss sich ins Zeug legen, um die marxistischen Horden, die unsere geistige Reserve unterminieren wollen, in ihre Schranken zu weisen«, verkündete der Schwager des Caudillo, dem soeben die Uniform eines Operettenadmirals angepasst worden war.
»Sie können auf mich zählen, Exzellenz«, sagte Valls. »Was auch immer es ist.«
Was-auch-immer-es-ist erwies sich als Direktorenstelle, aber nicht in der wundervollen Nationalbibliothek, wie er es sich gewünscht hatte, sondern in einer übelbeleumdeten Strafanstalt auf einem Felsen hoch über der Stadt Barcelona. Die Liste der Angehörigen und Günstlinge, denen es prestigeträchtige Posten zuzuschanzen galt, war lang, und Valls befand sich trotz all seiner Bemühungen im unteren Drittel.
»Haben Sie Geduld, Valls. Ihre Bemühungen werden sich lohnen.«
So lernte Mauricio Valls seine erste Lektion in der vielschichtigen nationalen Kunst, nach jedem Machtwechsel Ränke zu schmieden und aufzusteigen — Tausende getreuer Schatten und Bekehrter hatten sich der Kletterpartie angeschlossen, und die Konkurrenz war enorm.
Das wenigstens besagte die Legende. Diese Anhäufung von Vermutungen und Gerüchten aus dritter Hand war den Gefangenen dank den Machenschaften des vorherigen Direktors zu Ohren gekommen, der nach kaum zwei Wochen im Amt abgesetzt worden und jetzt von Ressentiments gegen diesen Emporkömmling vergiftet war, welcher ihm den Titel gestohlen hatte, für den er den ganzen Krieg lang gekämpft hatte. Der scheidende Direktor erfreute sich keiner familiären Beziehungen und schleppte die verhängnisvolle Last mit, dabei ertappt worden zu sein, wie er in betrunkenem Zustand über den Generalísimo aller Spanier und seine überraschende Ähnlichkeit mit Winnie the Pooh gewitzelt hatte. Bevor er in einem Subdirektorenposten in einem Gefängnis von Ceuta begraben wurde, hatte er seine Zeit dazu genutzt, bei jedem, der es hören wollte, über Mauricio Valls herzuziehen.
Außer jedem Zweifel stand, dass es niemandem gestattet war, von Valls anders als vom Herrn Direktor zu sprechen. Die von ihm selbst in Umlauf gesetzte offizielle Version besagte, dass Don Mauricio ein angesehener Literat war, über einen kultivierten Intellekt und eine in seinen Pariser Studienjahren erworbene exquisite Gelehrsamkeit verfügte und vom Schicksal mit der Mission betraut war, nach diesem Interim im Strafvollzug des Regimes mit Hilfe eines auserwählten Kreises gleichgesinnter Intellektueller das einfache Volk des dezimierten Spaniens zu erziehen und ihm das Denken beizubringen.
Oft enthielten seine Diskurse ausführliche Zitate aus den Schriften, Gedichten oder pädagogischen Artikeln, die er emsig in der nationalen Presse über Literatur, Philosophie und die notwendige Wiedergeburt des westlichen Denkens veröffentlichte. Wenn die Gefangenen nach diesen meisterlichen Darbietungen kräftig applaudierten, ließ der Direktor die Wärter in einer Anwandlung von Großzügigkeit Zigaretten, Kerzen oder sonst einen Luxusgegenstand aus dem Posten Geschenke und Pakete verteilen, die den Gefangenen von ihren Familien geschickt wurden. Die begehrenswertesten Artikel waren vorgängig von den Wärtern konfisziert worden, die sie nach Hause mitnahmen oder manchmal auch unter den Gefangenen verkauften, aber das war immerhin etwas.
Die eines natürlichen oder vage unnatürlichen Todes Gestorbenen, gewöhnlich einer bis drei pro Woche, wurden um Mitternacht abgeholt, ausgenommen an Wochenenden oder gebotenen Feiertagen, an denen die Leiche bis zum Montag oder nächsten Arbeitstag in der Zelle blieb, üblicherweise schon als Gesellschaft des neuen Mieters. Wenn die Gefangenen den Tod eines ihrer Kameraden meldeten, kam ein Wärter, kontrollierte Puls oder Atmung und steckte ihn dann in einen der eigens dafür vorgesehenen Segeltuchsäcke. Danach lag der verschnürte Sack in der Zelle, bis ihn das Bestattungsunternehmen des angrenzenden Friedhofs Montjuïc abholen kam. Niemand wusste, was mit ihnen geschah, und auf eine entsprechende Frage hin hatte Bebo mit gesenktem Blick die Antwort verweigert.
Alle zwei Wochen wurde ein militärisches Schnellstverfahren durchgeführt, und im Morgengrauen wurden die Gefangenen füsiliert. Manchmal schaffte es ein Erschießungskommando wegen des schlechten Zustands der Gewehre oder der Munition nicht, ein lebenswichtiges Organ zu treffen, und danach waren die Klagelaute der in den Graben gefallenen Füsilierten noch stundenlang zu hören. Gelegentlich vernahm man auch eine Explosion, und die Schreie verstummten schlagartig. Die Theorie, die unter den Gefangenen zirkulierte, besagte, einer der Offiziere habe ihnen mit einer Granate den Rest gegeben, aber niemand war sicher, ob das wirklich die Erklärung war.
Ein weiteres Gerücht unter den Insassen lautete, immer am Freitagvormittag empfange der Direktor in seinem Büro Frauen, Töchter, Freundinnen, ja selbst Tanten und Großmütter von Gefangenen. Ohne seinen Ehering, den er in die oberste Schreibtischschublade verbannt hatte, hörte er sich ihre Bitten an, wog ihre Ansuchen ab, reichte ihnen ein Taschentuch für ihre Tränen und akzeptierte ihre Geschenke und Gefälligkeiten anderer Natur, die ihm für das Versprechen besserer Ernährung und Behandlung oder der Revision undurchsichtiger, aber nie wirklich angefochtener Urteile gewährt wurden.
Andere Male servierte ihnen Mauricio Valls einfach Teegebäck und ein Glas Muskateller, und wenn sie trotz der elenden Zeiten und der schlechten Ernährung noch gut aussahen und bekneifenswert waren, las er ihnen eine seiner Schriften vor und gestand, die Ehe mit einer Kranken gleiche dem Leidensweg eines Heiligen, fand tausend Worte für den Abscheu, den er vor seiner Kerkerarbeit empfand, und die Erniedrigung, die es für einen Mann von so hoher Kultur, Raffinesse und Vortrefflichkeit bedeutete, auf diesen schäbigen Posten verbannt worden zu sein, wo es doch sein eigentliches Schicksal war, zur Elite des Landes zu zählen.
Die Veteranen rieten, den Direktor gar nicht zu erwähnen und möglichst nicht an ihn zu denken. Die meisten Gefangenen sprachen lieber über die Familien, die sie zurückgelassen hatten, über ihre Frauen und das Leben, an das sie sich noch erinnerten. Einige hatten Fotos von Verlobten oder Ehefrauen, die sie horteten und mit ihrem Leben verteidigten, wenn jemand sie ihnen wegnehmen wollte. Mehr als einer hatte Fermín erzählt, am schlimmsten seien die ersten drei Monate. Danach, wenn jede Hoffnung verloren sei, vergehe die Zeit wie im Flug, und die Sinnlosigkeit der Tage schläfere die Seele ein.
Sonntags nach der Messe und der Ansprache des Direktors setzten sich einige Gefangene in einer sonnigen Ecke auf dem Rasen des Grabens zusammen, um eine Zigarette zu rauchen und den Geschichten zu lauschen, die ihnen David Martín erzählte, wenn er die nötige geistige Klarheit aufbrachte. Fermín, der die ganze Serie von Die Stadt der Verdammten gelesen hatte und deshalb fast alle schon kannte, gesellte sich zu ihnen und ließ seinen Träumereien freien Lauf. Oft aber schien Martín nicht in der Lage, auch nur bis fünf zu zählen, so dass man ihn in Ruhe ließ, während er in den Ecken Selbstgespräche zu führen begann. Fermín beobachtete ihn ausgiebig und hielt sich manchmal dicht bei ihm — etwas an diesem armen Teufel griff ihm an die Seele. Mit Tricks und Listen versuchte er, Zigaretten oder sogar einige Stück Zucker für ihn zu beschaffen, die er über alles liebte.
»Fermín, Sie sind ein guter Mensch. Versuchen Sie es nicht zu zeigen.«
Martín hatte immer eine alte Fotografie bei sich, die er gern lange anschaute. Darauf sah man einen weißgekleideten Herrn mit einem etwa zehnjährigen Mädchen an der Hand. Gemeinsam betrachteten sie vom äußersten Rand einer kleinen Holzmole aus, die sich wie ein über glasklares Wasser gespannter Laufsteg über einen Strand zog, den Sonnenuntergang. Wenn ihn Fermín nach dem Foto fragte, schwieg Martín und steckte es lächelnd wieder ein.
»Wer ist das Mädchen auf dem Bild, Señor Martín?«
»Ich weiß es nicht genau, Fermín. Manchmal versagt mein Gedächtnis. Geht es Ihnen nicht auch so?«
»Natürlich. Das geht uns allen so.«
Man munkelte, Martín sei nicht ganz bei Trost, aber Fermín vermutete schon bald, der Arme sei noch verrückter, als die übrigen Gefangenen annahmen. Manchmal war er bei klarerem Verstand als jeder andere, aber oft schien er nicht zu begreifen, wo er sich befand, und sprach von Orten und Menschen, die ganz offensichtlich nur in seiner Phantasie oder Erinnerung existierten.
Oft erwachte Fermín mitten in der Nacht und hörte Martín in seiner Zelle sprechen. Wenn er sich leise den Gitterstäben näherte und die Ohren spitzte, vernahm er ganz deutlich, wie Martín mit jemandem diskutierte, den er Señor Corelli nannte und der, nach Martíns Worten zu schließen, eine ziemlich unheimliche Person zu sein schien.
In einer dieser Nächte zündete Fermín seinen letzten Kerzenstummel an und erhob die Flamme in Richtung der gegenüberliegenden Zelle, um sich zu vergewissern, dass Martín wirklich allein war und dass beide Stimmen, die seines Gegenübers und die dieses Corelli, von ein und denselben Lippen stammten. Martín drehte Runden in seiner Zelle, und als sein Blick auf den Fermíns traf, erkannte dieser sofort, dass ihn sein Gangkollege nicht bemerkte und sich benahm, als ob es die Gefängnismauern nicht gebe und seine Unterhaltung mit diesem Herrn in weiter Ferne stattfinde.
»Beachten Sie ihn überhaupt nicht«, flüsterte Nr. 15 aus dem Schatten. »Es ist jede Nacht dasselbe. Er ist total bescheuert. Aber glücklich dabei.«
Als ihn Fermín am nächsten Morgen nach Corelli und den mitternächtlichen Gesprächen fragte, schaute ihn Martín befremdet an und lächelte bloß verwirrt. Ein andermal, als er wegen der Kälte nicht einschlafen konnte, trat Fermín wieder an die Gitterstäbe und hörte Martín mit einem seiner unsichtbaren Freunde sprechen. Diesmal wagte es Fermín, ihn zu unterbrechen.
»Martín? Ich bin Fermín, der Nachbar von gegenüber. Geht es Ihnen gut?«
Martín trat ebenfalls ans Gitter, und Fermín sah sein tränenüberströmtes Gesicht.
»Señor Martín? Wer ist Isabella? Eben haben Sie von ihr gesprochen.«
Martín schaute ihn lange an.
»Isabella ist noch das einzig Gute auf dieser Scheißwelt«, antwortete er ungewohnt rau. »Gäbe es sie nicht, müsste man diesen Planeten anzünden und so lange brennen lassen, bis nicht einmal die Asche übrig bliebe.«
»Verzeihen Sie, Martín. Ich wollte Sie nicht stören.«
Martín zog sich in die Schatten zurück. Am nächsten Tag fand man ihn zuckend in einer Blutlache. Bebo war auf seinem Stuhl eingeschlafen, und davon hatte Martín profitiert, um seine Handgelenke an der Mauer bis auf die Adern aufzuscheuern. Als er auf der Trage weggebracht wurde, war er kreideweiß, und Fermín dachte, er würde ihn nie wiedersehen.
»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren Freund«, sagte Nr. 15. »Jeder andere würde direkt im Sack landen, doch Martín lässt der Herr Direktor nicht sterben. Warum, weiß niemand.«
Fünf Wochen lang blieb David Martíns Zelle leer. Als Bebo ihn in einem weißen Pyjama hertrug wie ein Kind, steckten seine Arme bis zu den Ellbogen in Verbänden. Er erinnerte sich an niemanden und verbrachte die erste Nacht in Selbstgesprächen und Gelächter. Bebo rückte seinen Stuhl vors Gitter, passte die ganze Nacht auf ihn auf und gab ihm Zuckerstücke, die er im Offiziersraum gestohlen und in seinen Taschen versteckt hatte.
»Señor Martín, sagen Sie nicht solche Dinge, Gott wird Sie strafen dafür«, raunte ihm der Wärter zwischen den Zuckerstückchen zu.
In der wirklichen Welt war Nr. 12 Dr. Román Sanahuja gewesen, Chefarzt der inneren Medizin am Klinikum, ein integrer, von Größenwahn und ideologischen Eiterbeulen geheilter Mann, den sein Gewissen und die Weigerung, seine Kollegen zu denunzieren, ins Kastell gebracht hatten. Eine Regel besagte, dass keinem Gefangenen in diesen Mauern ein Beruf oder Vorteil zuerkannt wurde, es sei denn, der betreffende Beruf verschaffe dem Direktor einen Vorteil. Bald zeigte sich, dass ihm Dr. Sanahuja sehr nützlich war.
»Leider Gottes verfüge ich hier nicht über die wünschenswerten medizinischen Mittel«, erklärte ihm der Direktor. »Es ist nun einmal so, dass das Regime andere Prioritäten hat, und es ist kaum von Bedeutung, ob einer von Ihnen in seiner Zelle an Brand verfault. Nach langem Kämpfen habe ich erreicht, dass man mir eine schlecht bestückte Apotheke und einen Quacksalber schickt, der vermutlich nicht einmal in der veterinärmedizinischen Fakultät saubermachen dürfte. Aber so ist das nun mal. Ich weiß, dass Sie, bevor Sie dem Blendwerk der Neutralität verfallen sind, als Arzt ein gewisses Renommee hatten. Aus Gründen, die nichts zur Sache tun, habe ich ein besonderes Interesse, dass uns der Gefangene David Martín nicht vor der Zeit wegstirbt. Wenn Sie sich kooperativ zeigen und mir helfen, ihn in einem annehmbaren Gesundheitszustand zu erhalten, kann ich Ihnen versichern, dass ich Ihnen im Rahmen der Umstände den Aufenthalt an diesem Ort erträglicher machen und persönlich dafür sorgen werde, dass man Ihren Fall überprüft und das Strafmaß mildert.«
Dr. Sanahuja stimmte zu.
»Einige Mitgefangene sollen der Meinung sein, dass Martín einen ziemlichen Dachschaden hat, wie man sich hier ausdrückt. Ist dem so?«, fragte der Direktor.
»Ich bin kein Psychiater, aber meiner bescheidenen Meinung nach ist Martín sichtlich geistesgestört.«
Der Direktor dachte über diese Einschätzung nach.
»Und nach Ihrer ärztlichen Meinung — wie lange, glauben Sie, wird er es schaffen? Zu überleben, meine ich.«
»Das weiß ich nicht. Die Zustände im Gefängnis sind ungesund, und…«
Der Direktor nickte und unterbrach ihn mit einer gelangweilten Handbewegung.
»Und bei Verstand? Wie lange kann Martín Ihrer Meinung nach seine geistigen Fähigkeiten behalten?«
»Nicht sehr lange, nehme ich an.«
»Verstehe.«
Der Direktor bot ihm eine Zigarette an, die der Arzt ablehnte.
»Sie schätzen ihn, nicht wahr?«
»Ich kenne ihn ja kaum«, erwiderte der Arzt. »Er scheint ein guter Mensch zu sein.«
Der Direktor lächelte.
»Und ein miserabler Schriftsteller. Der schlechteste, den dieses Land je gekannt hat.«
»Der Herr Direktor ist anerkannter Literaturexperte. Ich verstehe von diesem Thema nichts.«
Der Direktor schaute ihn frostig an.
»Ich habe schon Leute für geringere Unverschämtheiten drei Monate in Isolationshaft geschickt. Wenige überleben sie, und die Überlebenden kommen schlimmer als Ihr Freund Martín zurück. Glauben Sie nicht, Ihr Titel verschaffe Ihnen irgendein Privileg. In Ihrem Dossier steht, Sie hätten eine Frau und drei Töchter. Ihr Schicksal und das Ihrer Familie hängen davon ab, wie nützlich Sie für mich sind. Ist das deutlich genug?«
Dr. Sanahuja schluckte.
»Ja, Herr Direktor.«
»Danke, Doktor.«
In regelmäßigen Abständen verlangte der Direktor von Sanahuja, einen Blick auf Martín zu werfen. Die Lästerzungen sagten, er traue dem Gefängnisarzt nicht über den Weg, einem Quacksalber, der nach dem Unterschreiben so vieler Totenscheine vergessen zu haben schien, was Vorbeugemaßnahmen waren, und den er kurze Zeit später entließ.
»Wie geht’s denn unserem Patienten, Doktor?«
»Schwach.«
»Hm. Und seine Dämonen? Führt er immer noch Selbstgespräche und hat Halluzinationen?«
»Zustand unverändert.«
»Im ABC habe ich einen großartigen Artikel meines guten Freundes Sebastián Jurado gelesen, in dem er von der Schizophrenie spricht, der Dichterkrankheit.«
»Ich fühle mich nicht befähigt, diese Diagnose abzugeben.«
»Ihn am Leben zu erhalten aber schon, nicht wahr?«
»Ich versuche es.«
»Tun Sie etwas mehr, als es nur zu versuchen. Denken Sie an Ihre Töchter. So jung. So schutzlos, wo es doch von Schurken und untergetauchten Roten nur so wimmelt.«
Mit den Monaten nahm Dr. Sanahujas Zuneigung für Martín zu, und eines Tages, als sie gemeinsam einen Zigarettenstummel rauchten, erzählte er Fermín, was er von der Geschichte dieses Mannes wusste, dem einige, sich über seine Wahnvorstellungen und seinen Rang als offizieller Gefängnisspinner mokierend, den Spitznamen »der Gefangene des Himmels« verpasst hatten.
»Ehrlich gesagt, glaube ich, dass David Martín schon einige Zeit krank war, als man ihn hierherbrachte. Haben Sie schon einmal von der Schizophrenie gehört, Fermín? Das ist eines der neuen Lieblingswörter des Herrn Direktor.«
»Das ist das, was die Zivilisten gern als ›nicht alle Tassen im Schrank haben‹ bezeichnen.«
»Damit ist nicht zu scherzen, Fermín. Es ist eine sehr schwere Krankheit. Es ist zwar nicht mein Spezialgebiet, aber ich habe einige Fälle kennengelernt. Oft hören die Patienten Stimmen, sehen Menschen und erinnern sich an Ereignisse, die nie geschehen sind. Der Geist nimmt immer mehr ab, und die Patienten können nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden.«
»Wie siebzig Prozent der Spanier… Und Sie glauben, der arme Martín leidet an dieser Krankheit, Doktor?«
»Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich sage ja, es ist nicht mein Spezialgebiet, aber ich glaube, er zeigt einige der üblichsten Symptome.«
»Vielleicht ist diese Krankheit in seinem Fall ein Segen.«
»Ein Segen ist sie nie, Fermín.«
»Und weiß er, dass er, sagen wir, dass er davon betroffen ist?«
»Der Verrückte sieht immer in den anderen die Verrückten.«
»Was ich von den siebzig Prozent aller Spanier sagte.«
Oben in seinem Kontrollhäuschen beobachtete sie ein Posten, als wollte er ihnen von den Lippen ablesen.
»Sprechen Sie leiser. Sonst kriegen wir einen Rüffel.« Der Arzt bedeutete Fermín, sie sollten sich ans andere Ende des Grabens begeben. »Heutzutage haben die Wände Ohren.«
»Jetzt fehlt nur noch, dass sie dazwischen ein halbes Hirn haben, dann kämen wir vielleicht hier raus«, antwortete Fermín.
»Wissen Sie, was mir Martín gesagt hat, als ich ihn auf Ersuchen des Herrn Direktor zum ersten Mal untersuchte?
›Doktor, ich glaube, ich habe die einzige Art entdeckt, wie man hier rauskommt.‹
›Und die wäre?‹
›Tot.‹
›Kennen Sie keine praktischere Methode?‹
›Haben Sie den Grafen von Monte Christo gelesen, Doktor?‹
›Als Junge. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.‹
›Dann lesen Sie ihn wieder. Dort steht alles.‹
Ich mochte ihm nicht sagen, dass der Herr Direktor sämtliche Bücher von Alexandre Dumas aus der Bibliothek hatte entfernen lassen, zusammen mit denen von Dickens, Galdós und vielen anderen Autoren, weil er in ihnen Schundliteratur für einen ungebildeten Plebs sah, und sie durch eine Reihe unveröffentlichter Romane und Erzählungen aus eigener Feder und der einiger seiner Freunde ersetzte. Er ließ sie von Valentí in Leder binden, einem Gefangenen, der aus dem graphischen Gewerbe stammte und den er nach getaner Arbeit erfrieren ließ, indem er ihn zwang, im Januar fünf Nächte unter strömendem Regen im Graben zu verbringen, weil er sich über die Vorzüglichkeit seiner Prosa lustig gemacht hatte. Valentí hatte es geschafft, von hier wegzukommen — nach der Methode Martín: tot.
Nachdem ich einige Zeit hier war und Gespräche zwischen den Wärtern mit angehört hatte, wurde mir klar, dass David Martín auf Ersuchen des Herrn Direktor persönlich hierhergekommen ist. Er hatte im Modelo-Gefängnis eingesessen, weil man ihm eine Reihe Verbrechen zur Last legte, an die meiner Meinung nach niemand wirklich glaubte. Unter anderem hieß es, er habe aus Eifersucht seinen Mentor und besten Freund, einen wohlhabenden Herrn namens Pedro Vidal, Schriftsteller wie er, und seine Gattin Cristina umgebracht. Auch habe er kaltblütig mehrere Polizisten und weiß Gott wen sonst noch umgelegt. In letzter Zeit werden so viele Leute so vieler Dinge angeklagt, dass man gar nicht mehr weiß, was man glauben soll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Martín ein Mörder ist, aber andererseits habe ich in den Kriegsjahren so viele Leute beider Seiten gesehen, die sich die Maske vom Gesicht rissen und ihr wahres Gesicht zeigten, so dass man wirklich nicht mehr weiß… Alle werfen den ersten Stein und zeigen dann auf den Nachbarn.«
»Wenn ich Ihnen erzählte…«, bemerkte Fermín.
»Jedenfalls ist der Vater dieses Vidal ein mächtiger Industrieller, betucht bis zu den Brauen, und er soll einer der wichtigsten Bankiers der Nationalen gewesen sein. Warum nur werden alle Kriege von den Bankiers gewonnen? Kurzum, der Potentat Vidal hat das Justizministerium persönlich ersucht, nach Martín zu fahnden und dafür zu sorgen, dass er im Gefängnis verfaule für das, was er mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter angestellt habe. Anscheinend war Martín schon fast drei Jahre lang im Ausland flüchtig gewesen, als man ihn in der Nähe der Grenze aufgriff. Er war wohl nicht ganz bei Sinnen, in ein Spanien zurückzukehren, wo man nur darauf wartete, ihn ans Kreuz zu nageln. Und das auch noch in den letzten Kriegsjahren, wo Tausende Menschen den umgekehrten Weg gingen.«
»Manchmal hat man es satt zu fliehen«, sagte Fermín. »Die Welt ist sehr klein, wenn man keinen Ort hat, wohin man gehen kann.«
»Vermutlich hatte das auch Martín gedacht. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, die Grenze zu überschreiten, aber einige Bewohner von Puigcerdá benachrichtigten die Guardia Civil, nachdem sie ihn tagelang in Lumpen und Selbstgesprächen hatten durchs Dorf streifen sehen. Einige Hirten sagten, sie hätten ihn auf dem Weg nach Bolvir gesehen, zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Dort gab es ein altes Gemäuer namens La Torre del Remei, das im Krieg zu einem Hospital für an der Grenze Verwundete geworden war. Es wurde von einer Gruppe Frauen geleitet, die sich vermutlich Martíns erbarmten und dem vermeintlichen Milizangehörigen Kost und Logis gaben. Als man ihn suchte, war er schon nicht mehr da, aber noch in der Nacht überraschte man ihn dabei, wie er auf den gefrorenen See hinausging und mit einem Stein ein Loch ins Eis zu schlagen versuchte. Anfänglich dachte man, er wolle sich umbringen, und übergab ihn dem Sanatorium Villa San Antonio. Offenbar erkannte ihn da einer der Ärzte, fragen Sie mich nicht, wie, und als sein Name den Behörden zu Ohren kam, wurde er nach Barcelona überführt.«
»In die Höhle des Löwen.«
»Das kann man wohl sagen. Natürlich hat der Prozess keine zwei Tage gedauert. Die Liste dessen, was man ihm anhängte, war endlos, und es gab kaum Indizien oder Beweise, um eine der Anklagen zu stützen, aber aus irgendeinem seltsamen Grund brachte es der Staatsanwalt fertig, dass zahllose Zeugen gegen ihn aussagten. Durch den Gerichtssaal zogen Dutzende Menschen, die Martín mit einer Inbrunst hassten, die sogar den Richter überraschte, und die vermutlich vom alten Vidal bestochen worden waren. Ehemalige Kollegen aus seiner Zeit bei einem unbedeutenden Blatt namens Die Stimme der Industrie, Kaffeehausliteraten, Unglückliche und Neider aller Art entstiegen den Gullys und schworen, dass Martín all das auf dem Gewissen hatte, wessen man ihn anklagte, und noch mehr. Sie wissen ja, wie so was läuft. Auf Anordnung des Richters — und Anraten Vidals — wurden alle seine Werke konfisziert und verbrannt, da man sie als subversiv und gegen Moral und gute Sitten verstoßend betrachtete. Als Martín im Prozess aussagte, die einzige gute Sitte, die er verteidige, sei die des Lesens und alles andere sei Sache jedes Einzelnen, fügte der Richter den vielen Jahren Freiheitsentzug noch einmal weitere zehn hinzu. Anscheinend nahm Martín im Prozess, anstatt auf die Frage hin zu schweigen, kein Blatt vor den Mund und schaufelte sich so sein eigenes Grab.«
»In diesem Leben wird einem alles verziehen, außer die Wahrheit zu sagen.«
»Jedenfalls wurde er zu lebenslänglich verurteilt. Die Stimme der Industrie, im Besitz des alten Vidal, zählte in einem ausführlichen Artikel all seine Vergehen auf, ergänzt durch einen Leitartikel. Dreimal dürfen Sie raten, aus wessen Feder er stammte.«
»Aus der des vortrefflichen Herrn Direktor, Mauricio Valls.«
»Genau. Dort bezeichnete er ihn als ›schlechtesten Autor der Geschichte‹ und pries den Umstand, dass seine Bücher verbrannt worden waren, denn sie seien ›ein Affront gegen die Menschheit und den guten Geschmack‹.«
»Dasselbe hat man auch vom Palau de la Música gesagt«, ergänzte Fermín. »Da haben wir die Creme der internationalen Intelligenz. Schon Unamuno hat geschrieben: Sollen doch die anderen erfinden, wir beurteilen es dann.«
»Unschuldig oder nicht, nachdem Martín öffentlich gedemütigt und jede einzelne von ihm verfasste Seite verbrannt worden war, landete er in einer Zelle des Modelo-Gefängnisses, wo er wahrscheinlich innerhalb weniger Wochen gestorben wäre, wenn nicht der Herr Direktor, der den Fall mit größtem Interesse verfolgt hatte und aus irgendeinem Grund von Martín besessen war, Zugang zu den Akten bekommen und seine Versetzung hierher beantragt hätte. Martín hat mir erzählt, am Tag seiner Ankunft habe ihn Valls in sein Büro bringen lassen und eine seiner Reden vom Stapel gelassen:
›Martín, obwohl Sie ein überführter Krimineller und sicherlich ein überzeugter Subversiver sind, haben wir etwas gemeinsam. Wir sind beide Literaten, und obwohl Sie Ihre unglückliche Laufbahn mit dem Verfassen von Schund für die ignorante Masse ohne geistige Leitlinien vertan haben, glaube ich, dass Sie mir vielleicht helfen und so Ihre Fehler abarbeiten können. Ich habe eine Reihe Romane und Gedichte, an denen ich in diesen letzten Jahren gearbeitet habe. Sie stehen auf höchstem literarischem Niveau, und leider muss ich sehr bezweifeln, dass es in diesem Lande der Analphabeten mehr als dreihundert Leser gibt, die ihren Wert zu verstehen und zu schätzen wissen. Darum habe ich gedacht, vielleicht könnten Sie, der Sie sich beim Pöbel mit seiner Straßenbahnlektüre professionell prostituiert haben, mir helfen, einige kleine Änderungen vorzunehmen, um mein Werk dem tristen Niveau der Leser in diesem Lande anzunähern. Wenn Sie sich kooperativ zeigen, versichere ich Ihnen, dass ich Ihr Hiersein sehr viel angenehmer gestalten kann. Ich könnte sogar erreichen, dass Ihr Fall wiederaufgenommen wird. Ihre kleine Freundin… Wie heißt sie noch mal? Ach ja, Isabella. Ein hübsches Mädchen, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Nun, Ihre Freundin hat mich aufgesucht und mir erzählt, sie habe einen jungen Anwalt, einen gewissen Brians, in ihre Dienste genommen und das nötige Geld für Ihre Verteidigung zusammengekratzt. Machen wir uns nichts vor — wir wissen beide, dass Ihr Fall keinerlei Fundament hat und dass Sie aufgrund sehr fraglicher Aussagen verurteilt worden sind. Sie scheinen ein unglaubliches Talent zu haben, sich Feinde zu schaffen, Martín, sogar bei Leuten, von denen Sie sicherlich nicht einmal wissen, dass es sie gibt. Begehen Sie nicht den Fehler, sich in mir einen weiteren Feind zu schaffen, Martín. Ich bin keiner dieser armen Teufel. Hier, in diesen Mauern, bin ich, um es klar zu sagen, Gott.‹
Ich weiß nicht, ob Martín auf den Vorschlag des Herrn Direktor einging oder nicht, muss aber annehmen, dass er es tat, denn er ist noch am Leben, und unser Privatgott ist nach wie vor ganz klar daran interessiert, dass sich das nicht ändert, wenigstens nicht im Moment. Er hat ihm sogar das Papier und das Schreibwerkzeug in seiner Zelle verschafft, vermutlich, damit er ihm seine erhabenen Werke umschreiben und unser Herr Direktor damit in den Olymp des Ruhms und des so ersehnten literarischen Erfolgs eintreten kann. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich denken soll. Meinem Eindruck nach ist der arme Martín nicht einmal in der Lage, seine Schuhgröße niederzuschreiben, und verharrt meistens in einer Art Fegefeuer, das er in seinem eigenen Kopf aufgebaut hat, wo ihn Gewissensbisse und Schmerz bei lebendigem Leib aufzehren. Aber mein Gebiet ist die innere Medizin, und es steht mir nicht zu, Diagnosen zu stellen…«
Die Geschichte, die ihm der Arzt erzählt hatte, ließ Fermín keine Ruhe. Getreu seinem ewigen Engagement für hoffnungslose Fälle beschloss er, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, um mehr über Martín zu erfahren und nebenbei den Gedanken der Flucht via mortis im Stil von Alexandre Dumas zu perfektionieren. Je mehr er über das Ganze nachdachte, desto mehr kam er zur Überzeugung, dass der Gefangene des Himmels wenigstens in dieser Hinsicht nicht so verrückt war, wie alle es darstellten. Wann immer es im Burggraben einen freien Moment gab, näherte sich Fermín Martín und sprach ihn an.
»Fermín, ich glaube langsam, Sie und ich sind fast eine Art Paar. Immer wenn ich mich umdrehe, stehen Sie da.«
»Verzeihen Sie, Señor Martín, aber da gibt es etwas, was mir keine Ruhe lässt.«
»Und welches ist der Grund für solche Ruhelosigkeit?«
»Schauen Sie, um es ohne Umschweife zu sagen, verstehe ich nicht, wie ein anständiger Mensch wie Sie sich hat dazu hergeben können, dem eingebildeten Ekelkloß von Herrchen Direktor bei seinen hochstaplerischen Versuchen zu helfen, als Salonliterat aufzutreten.«
»Na, Sie reden aber wirklich nicht um den heißen Brei herum. Offenbar gibt es in diesem Haus keine Geheimnisse.«
»Ich habe eben eine Sonderbegabung für hochverwickelte Causae und andere Detektivgeschichten.«
»Dann wissen Sie ja auch, dass ich kein anständiger Mensch bin, sondern ein Krimineller.«
»Das hat der Richter gesagt.«
»Und eineinhalb Heere von vereidigten Zeugen.«
»Gekauft von einem Verbrecher und sämtlich verseucht von Neid und anderen Schäbigkeiten.«
»Sagen Sie, gibt es auch etwas, was Sie nicht wissen, Fermín?«
»Einen Haufen Dinge. Aber was mir seit Tagen den Filter verstopft, ist, warum Sie mit diesem hochmütigen Kretin Umgang haben. Leute wie er sind die Fäulnis dieses Landes.«
»Leute wie ihn gibt es überall, Fermín. Niemand hat ein Patent drauf.«
»Aber nur hier nehmen wir sie ernst.«
»Urteilen Sie nicht vorschnell über ihn. In dieser ganzen Posse spielt er eine komplexere Rolle, als es den Anschein hat. Dieser hochmütige Kretin, wie Sie ihn nennen, ist zunächst einmal ein überaus mächtiger Mann.«
»Gott, wie er selber sagt.«
»In diesem ganz besonderen Fegefeuer, da hat er nicht ganz unrecht.«
Fermín rümpfte die Nase. Es gefiel ihm nicht, was er da hörte. Fast sah es aus, als hätte Martín den Wein seiner Niederlage genossen.
»Hat er Ihnen denn gedroht? Ist es das? Was kann er Ihnen noch antun?«
»Mir nichts, außer zu lachen. Aber anderen, draußen, denen kann er sehr wohl großen Schaden zufügen.«
Fermín schwieg lange.
»Entschuldigen Sie, Señor Martín. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Daran hatte ich nicht gedacht.«
»Sie beleidigen mich nicht, Fermín. Im Gegenteil. Ich glaube, Sie haben eine zu großmütige Sicht meiner Umstände. Ihre Redlichkeit sagt mehr über Sie aus als über mich.«
»Es ist diese Señorita, nicht? Isabella?«
»Señora.«
»Ich wusste nicht, dass Sie verheiratet sind.«
»Das bin ich auch nicht. Isabella ist nicht meine Frau. Auch nicht meine Geliebte, falls Sie das denken.«
Fermín schwieg. Er mochte Martíns Worte nicht anzweifeln, aber allein wenn er ihn von ihr sprechen hörte, war ihm vollkommen klar, dass diese Señorita oder Señora das war, was Martín auf der Welt am meisten liebte, wahrscheinlich überhaupt das Einzige, was ihn in diesem elenden Loch am Leben erhielt. Und am traurigsten war, dass er es vermutlich nicht einmal merkte.
»Isabella und ihr Mann führen eine Buchhandlung, ein Ort, der seit meiner Kindheit für mich immer von ganz besonderer Bedeutung gewesen ist. Der Herr Direktor hat mir gesagt, wenn ich seinen Wünschen nicht nachkomme, werde er dafür sorgen, dass man die beiden des Verkaufs subversiven Materials bezichtigt, sie enteignet, beide hinter Gitter bringt und ihnen den noch nicht einmal dreijährigen Sohn wegnimmt.«
»Dieser gottverdammte Schweinehund«, murmelte Fermín.
»Nein, Fermín«, sagte Martín. »Das ist nicht Ihr Krieg, es ist meiner. Es ist das, was ich verdiene für das, was ich getan habe.«
»Sie haben nichts getan, Martín.«
»Sie kennen mich nicht, Fermín. Das ist auch nicht nötig. Was Sie tun müssen, ist, sich darauf konzentrieren, wie Sie hier rauskommen.«
»Das ist das andere, was ich Sie fragen wollte. Soviel ich weiß, haben Sie eine experimentelle Methode in Entwicklung, um aus diesem Nachttopf zu entkommen. Falls Sie ein gut abgehangenes, aber hochbegeistertes Versuchskaninchen brauchen, stehe ich Ihnen zu Diensten.«
Martín schaute ihn nachdenklich an.
»Haben Sie Dumas gelesen?«
»Von vorn bis hinten.«
»So sehen Sie auch aus. Wenn dem so ist, wissen Sie ja, wie der Hase läuft. Hören Sie mir gut zu.«
Nachdem er sechs Monate in Gefangenschaft verbracht hatte, veränderte eine Reihe von Ereignissen Fermíns bisheriges Leben grundlegend. Das erste war, dass in diesen Tagen, als das Regime noch glaubte, Hitler, Mussolini und Konsorten würden den Krieg gewinnen und Europa hätte bald dieselbe Farbe wie die Unterhosen des Generalísimo, eine tollwütige Flut von Schlächtern, Angebern und frischbekehrten politischen Kommissaren es geschafft hatte, die Zahl gefangener, verhafteter, gerichtlich verfolgter oder verschwundener Bürger auf ein historisches Ausmaß ansteigen zu lassen.
Da die Kerker des Landes aus allen Nähten platzten, hatte die Gefängnisdirektion auf Anweisung der Militärbehörden die Anzahl der Plätze verdoppelt, ja verdreifacht, um einen Teil der unzähligen Angeklagten aufzunehmen, die das ruinierte, elende Barcelona des Jahres 1940 überschwemmten. Zu diesem Behufe informierte der Direktor die Gefangenen in seiner schwülstigen Sonntagsansprache, dass sie von nun an ihre Zelle zu teilen hätten. Dr. Sanahuja wurde in Martíns Loch gesteckt, vermutlich, um ihn im Auge zu behalten und vor seinen selbstmörderischen Anwandlungen zu schützen. Fermín hatte die Zelle 13 mit seinem ehemaligen Nachbarn zu teilen, Nr. 14, und so weiter. Sämtliche Insassen des Gangs wurden zu Paaren gefügt, um Platz für die Neuen zu schaffen, die allnächtlich vom Modelo-Gefängnis oder von der Festung Campo de la Bota in Lieferwagen angekarrt wurden.
»Machen Sie kein solches Gesicht, mir passt das noch viel weniger als Ihnen«, sagte Nr. 14 nach dem Einzug bei seinem neuen Kollegen.
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Feindseligkeit bei mir Aerophagie auslöst«, drohte ihm Fermín. »Also hören Sie auf, anzugeben wie Buffalo Bill, und geben Sie sich ein wenig Mühe, höflich zu sein und mit dem Gesicht zur Wand zu pissen und nicht herumzuspritzen, oder Sie erwachen eines Morgens unter einer Pilzschicht.«
Fünf Tage lang richtete die ehemalige Nr. 14 kein Wort an Fermín. Schließlich, übermannt von den Schwefelfürzen, die ihm dieser jeden Morgen zukommen ließ, änderte er seine Strategie.
»Ich habe Sie ja gewarnt«, sagte Fermín.
»Na gut. Ich ergebe mich. Mein Name ist Sebastián Salgado. Gewerkschafter von Beruf. Geben Sie mir die Hand und lassen Sie uns Freunde sein, aber hören Sie ums Himmels willen auf mit diesen Fürzen, ich habe schon Halluzinationen und sehe im Traum den Zuckerjungen Charleston tanzen.«
Fermín gab dem anderen die Hand und stellte dabei fest, dass ihm der kleine und der Ringfinger fehlten.
»Fermín Romero de Torres, sehr angenehm, Sie endlich kennenzulernen. Von Beruf Geheimdienstler auf dem Sektor Karibik der Generalitat de Catalunya, jetzt nicht mehr in Betrieb, aber von Berufung Bibliograph und Liebhaber der schöngeistigen Literatur.«
Salgado schaute seinen neuen Leidensgenossen an und verdrehte die Augen.
»Und da heißt es, der Spinner sei Martín.«
»Ein Spinner ist der, der sich für vernünftig hält und glaubt, die Idioten seien nicht von seinem Stand.«
Salgado gab sich geschlagen und nickte.
Das zweite Ereignis fand einige Tage später statt, als ihn in der Abenddämmerung zwei Posten abholen kamen. Bebo öffnete ihnen die Zelle und versuchte, seine Besorgnis zu übertünchen.
»Los, Zahnstocher, auf«, murmelte einer der Posten.
Einen Augenblick glaubte Salgado, seine Bittgebete seien erhört worden und Fermín werde vors Erschießungskommando geführt.
»Nur Mut, Fermín«, sagte er lächelnd. »Für Gott und Spanien zu sterben, das ist das Schönste, was es gibt.«
Die beiden Posten packten Fermín, legten ihm Fußeisen und Handschellen an und schleiften ihn vor den sorgenvollen Blicken des ganzen Gangs und unter Salgados Gelächter weg.
»Hier windest du dich auch mit Fürzen nicht raus«, sagte sein Kamerad lachend.
Er wurde durch ein Gewirr von Tunnels zu einem langen Gang geführt, an dessen Ende man ein großes Holztor erblickte. Fermín fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und dachte, so weit habe ihn also die elende Reise seines Lebens geführt und hinter dieser Tür erwarte ihn Fumero mit einem Lötkolben und einer Freinacht. Zu seiner Überraschung nahm ihm einer der Posten vor dem Tor die Schellen ab, während der andere sacht anklopfte.
»Herein«, antwortete eine vertraute Stimme.
So fand sich Fermín im Büro des Direktors wieder, einem luxuriös ausgestatteten Raum mit Stilmöbeln und Teppichen aus irgendeiner alten Villa der Bonanova. Das Bild wurde vervollständigt durch eine große spanische Flagge mit Adler, Schild und Beschriftung, ein Porträt des Caudillo, stärker retuschiert als ein Werbefoto von Marlene Dietrich, und den Herrn Direktor in persona, Mauricio Valls, der sich hinter seinem Schreibtisch lächelnd eine Importzigarette und ein Glas Brandy zu Gemüte führte.
»Setz dich. Nur keine Angst.«
Fermín sah neben sich einen Teller mit Fleisch, Erbsen und nach heißer Butter riechendem Kartoffelbrei dampfen.
»Das ist keine Fata Morgana«, sagte der Direktor sanft. »Es ist dein Abendessen. Hoffentlich schmeckt es dir.«
Fermín, der seit Juli 1936 kein derartiges Wunder mehr gesehen hatte, stürzte sich auf die Leckerbissen, ehe sie sich verflüchtigten. Mit einer Abneigung und Verachtung, die sein aufgesetztes Lächeln kaum verhehlen konnte, schaute ihm der Direktor beim Essen zu, steckte eine Zigarette an der anderen an und fuhr sich jede Minute durch sein pomadisiertes Haar. Als Fermín fertig war, bedeutete Valls den Posten, sich zurückzuziehen. Unter vier Augen wirkte der Direktor auf den Gefangenen viel unheilvoller als im Beisein bewaffneter Wachen.
»Fermín, nicht wahr?«, fragte er beiläufig.
Fermín nickte langsam.
»Du wirst dich fragen, warum ich dich habe kommen lassen.«
Fermín sank auf seinem Stuhl in sich zusammen.
»Nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest. Ganz im Gegenteil. Ich habe dich kommen lassen, weil ich deine Lebensbedingungen verbessern und, wer weiß, vielleicht sogar dein Urteil überprüfen lassen will — wir wissen ja beide, dass die Anklagepunkte, die dir zur Last gelegt wurden, unhaltbar sind. Das haben diese Zeiten so an sich, viel aufgewühltes Wasser, und manchmal büßen Gerechte für Sünder. Das ist der Preis für die nationale Wiedergeburt. Diese Erwägungen am Rande, sollst du verstehen, dass ich auf deiner Seite bin. Auch ich bin ein wenig ein Gefangener hier. Ich glaube, wir möchten beide so rasch wie möglich von hier wegkommen, und ich habe gedacht, wir könnten einander dabei helfen. Zigarette?«
Schüchtern nahm Fermín sie entgegen.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hebe ich sie mir für nachher auf.«
»Natürlich. Da, nimm das Päckchen.«
Fermín steckte das Paket ein. Lächelnd beugte sich der Direktor über dem Schreibtisch vor. Im Zoo gab es eine Schlange, die genauso aussah, dachte Fermín, aber die fraß nur Mäuse.
»Wie geht’s denn mit deinem neuen Zellenkollegen?«
»Salgado? Eine Seele von Mensch.«
»Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, dass dieser Schuft, bevor er eingebuchtet wurde, ein Revolverheld und Killer im Dienst der Kommunisten war.«
Fermín schüttelte den Kopf.
»Mir hat er gesagt, er sei Gewerkschafter.«
Valls lachte leise.
»Im Mai 38 ist er allein ins Haus der Familie Vilajoana im Paseo de la Bonanova eingedrungen und hat alle umgelegt, sogar die fünf Kinder, die vier Dienstmädchen und die sechsundachtzigjährige Großmutter. Weißt du, wer die Vilajoanas waren?«
»Im Moment…«
»Juweliere. Zum Zeitpunkt des Verbrechens befand sich im Haus eine Summe von fünfundzwanzigtausend Peseten in Juwelen und in bar. Weißt du, wo dieses Geld jetzt ist?«
»Das weiß ich nicht.«
»Weder du noch sonst jemand. Der Einzige, der es weiß, ist Genosse Salgado, der beschlossen hatte, es nicht dem Proletariat zukommen zu lassen, sondern es zu verstecken, um nach dem Krieg auf großem Fuß leben zu können. Was er aber nie tun wird, denn wir behalten ihn hier, bis er singt oder bis ihn dein Freund Fumero schließlich in Stückchen zerlegt.«
Fermín nickte und zog seine Schlüsse.
»Ich hatte schon gesehen, dass ihm an der einen Hand zwei Finger fehlen und dass er ein wenig seltsam geht.«
»Eines Tages sagst du ihm, er soll die Hose runterlassen, und dann siehst du, dass ihm unterwegs noch etwas anderes abhandengekommen ist, weil er sich so stur zu gestehen weigert.«
Fermín schluckte.
»Du sollst wissen, dass mich solche Brutalitäten anwidern. Das ist einer der beiden Gründe, derentwegen ich Salgado in deine Zelle habe stecken lassen. Ich glaube, man muss miteinander reden. Darum will ich, dass du für mich rauskriegst, wo er die Beute der Vilajoanas versteckt hat, und auch die aus allen anderen Diebstählen und Verbrechen, die er in den letzten Jahren begangen hat.«
Fermín spürte, wie ihm das Herz auf die Füße hinunterfiel.
»Und der andere Grund?«
»Der andere Grund ist, dass ich bemerkt habe, dass du dich in letzter Zeit sehr mit David Martín angefreundet hast. Das finde ich sehr gut. Die Freundschaft ist ein Wert, der den Menschen veredelt und zur Rehabilitierung der Gefangenen beiträgt. Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, dass Martín Schriftsteller ist.«
»Ich habe so was läuten hören.«
Der Direktor warf ihm einen eiskalten Blick zu, lächelte aber versöhnlich weiter.
»Martín ist kein schlechter Mensch, aber er irrt sich in vielem. Einer seiner Irrtümer ist die naive Vorstellung, er müsse Menschen und unangenehme Geheimnisse schützen.«
»Er ist eben sehr sonderbar und hat solche Eigenheiten.«
»Natürlich. Darum habe ich gedacht, vielleicht wäre es gut, wenn du bei ihm wärst, mit weit offenen Augen und Ohren, und mir erzählen würdest, was er sagt, was er denkt, was er fühlt… Sicherlich hat er dir irgendwas erzählt, was dir aufgefallen ist.«
»Nun, jetzt, da der Herr Direktor es sagt — in letzter Zeit klagt er immer wieder über einen Pickel, der ihm durch die Reibung mit den Unterhosen in der Leiste gewachsen ist.«
Der Direktor seufzte und schüttelte langsam den Kopf, sichtlich müde, für ein unerwünschtes Element so viel Freundlichkeit aufzubringen.
»Hör mir gut zu, du Witzfigur, wir können das im Guten oder im Schlechten regeln. Ich versuche vernünftig zu sein, aber ich brauche nur zu diesem Telefon zu greifen, und dein Freund Fumero ist in einer halben Stunde hier. Man hat mir zugetragen, seit einiger Zeit habe er nebst dem Lötkolben in einem der Kerker im Keller eine Kiste mit Tischlerwerkzeug, mit dem er wahre Wunder vollbringt. Verstehen wir uns?«
Fermín hielt sich die Hände, um das Zittern zu verstecken.
»Bestens. Verzeihen Sie mir, Herr Direktor. Ich habe schon so lange kein Fleisch mehr gegessen, dass mir das Protein in den Kopf gestiegen sein muss. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Der Direktor lächelte wieder und fuhr fort, als wäre nichts geschehen.
»Insbesondere möchte ich erfahren, ob er einmal einen Friedhof der Vergessenen oder Toten Bücher erwähnt hat oder so ähnlich. Denk gut nach, bevor du antwortest. Hat Martín dir einmal etwas von diesem Ort erzählt?«
Fermín schüttelte den Kopf.
»Ich schwöre Eurer Hochwohlgeboren, dass ich weder Señor Martín noch sonst jemanden je im Leben von diesem Ort habe sprechen hören…«
Der Direktor zwinkerte ihm zu.
»Ich glaube dir. Und darum weiß ich, dass du es mir sagen wirst, wenn er ihn erwähnt. Und wenn er ihn nicht erwähnt, wirst du das Thema zur Sprache bringen und herausfinden, wo er sich befindet.«
Fermín nickte mehrmals.
»Und noch was. Wenn Martín dir etwas von einem bestimmten Auftrag erzählt, den er von mir bekommen hat, überzeug ihn, dass es zu seinem Besten ist und vor allem zum Besten einer gewissen Dame, die er sehr schätzt, und ihres Mannes und des Sohnes der beiden, wenn er alles daransetzt, sein Meisterwerk zu schreiben.«
»Sie meinen Señora Isabella?«
»Aha, ich sehe, dass er dir von ihr erzählt hat… Du müsstest sie sehen«, sagte er, während er seine Brille mit dem Taschentuch reinigte. »So jung, mit dieser straffen Haut einer Schülerin… Du weißt nicht, wie oft sie da gesessen hat, wo du jetzt sitzt, und um den armen unglücklichen Martín gefleht hat. Ich werde dir nicht sagen, was sie mir angeboten hat, denn ich bin ein Gentleman, aber unter uns beiden, die Verehrung, die dieses junge Ding Martín entgegenbringt, ist schon fast kitschig. Ich würde wetten, dieser Junge, Daniel, ist nicht von ihrem Mann, sondern von Martín, der zwar einen miserablen literarischen Geschmack hat, aber einen auserlesenen für Flittchen.«
Der Direktor unterbrach sich, als er bemerkte, dass ihn der Gefangene mit einem undurchdringlichen Blick ansah.
»Was glotzt du denn so?«
Er klopfte auf den Tisch, und sogleich ging hinter Fermín die Tür auf. Die beiden Posten packten ihn an den Armen und hoben ihn vom Stuhl auf, so dass seine Füße in der Luft schwebten.
»Denk an das, was ich dir gesagt habe«, bemerkte der Direktor. »In vier Wochen will ich dich wieder auf diesem Stuhl haben. Wenn du Resultate mitbringst, versichere ich dir, dass dein Aufenthalt hier um einiges angenehmer wird. Andernfalls mache ich einen Termin für dich im Keller bei Fumero und seinen Spielsachen aus. Ist das klar?«
»Wie Glas.«
Dann bedeutete er seinen Leuten mit einer überdrüssigen Geste, den Gefangenen abzuführen, und trank seinen Brandy aus, voller Ekel, sich tagtäglich mit diesen ungebildeten, verachtenswerten Menschen abgeben zu müssen.
Barcelona, 1957
»Sie sind ja ganz weiß, Daniel«, murmelte Fermín und riss mich damit aus meiner Trance.
Der Speiseraum von Can Lluís und die Straßen, durch die wir hergekommen waren, gab es nicht mehr. Alles, was ich zu sehen imstande war, war das Büro im Kastell auf dem Montjuïc und das Gesicht dieses Mannes, der von meiner Mutter in Worten und Anspielungen sprach, die mich marterten. Ich spürte, wie sich in mir etwas Kaltes, Schneidendes Bahn brach, eine Wut, wie ich sie noch nie gekannt hatte. Einen Moment lang wünschte ich mir nichts sehnlicher auf der Welt, als diesen elenden Mistkerl vor mir zu haben, um ihm den Hals umzudrehen und von nahem zu verfolgen, wie ihm die Adern in den Augen platzten.
»Daniel…«
Ich schloss einen Augenblick die Augen und atmete durch. Als ich sie wieder öffnete, war ich zurück im Can Lluís, und Fermín Romero de Torres schaute mich völlig niedergeschlagen an.
»Verzeihen Sie mir, Daniel«, sagte er.
Mein Mund war ausgetrocknet. Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein und leerte es in der Hoffnung, wieder Worte über die Lippen bringen zu können.
»Da gibt es nichts zu entschuldigen, Fermín. Nichts von dem, was Sie mir erzählt haben, ist Ihre Schuld.«
»Zuerst einmal ist es meine Schuld, weil ich es Ihnen erzählen muss«, sagte er fast unhörbar leise.
Er senkte den Blick, als getraute er sich nicht, mich anzuschauen. Ich begriff, wie sehr ihn die Erinnerung an jene Episode schmerzte und auch die Verpflichtung, mir die Wahrheit zu sagen, und schämte mich des Grolls, der mich gepackt hatte.
»Fermín, sehen Sie mich an.«
Er schaffte es, mich aus dem Augenwinkel anzuschauen, und ich lächelte ihn an.
»Sie sollen wissen, dass ich Ihnen dankbar bin dafür, dass Sie mir die Wahrheit erzählt haben, und dass ich verstehe, warum Sie mir vor zwei Jahren nichts von alledem sagen wollten.«
Er nickte schwach, aber etwas in seinem Blick gab mir zu verstehen, dass ihn meine Worte keineswegs trösteten. Ganz im Gegenteil. Eine Weile schwiegen wir.
»Da ist noch mehr, nicht wahr?«, fragte ich schließlich.
Er nickte.
»Und was noch kommt, ist schlimmer?«
Wieder nickte er.
»Viel schlimmer.«
Ich wandte den Blick ab und lächelte Professor Alburquerque zu, der den Rückzug antrat und uns zum Abschied zuwinkte.
»Warum bestellen wir also nicht noch eine Flasche Tafelwasser, und Sie erzählen mir den Rest?«
»Besser Wein. Vom Fusel.«
Barcelona, 1940
Eine Woche nach dem Gespräch zwischen Fermín und dem Direktor führten zwei Männer, die noch nie jemand auf dem Gang gesehen hatte und die schon von weitem nach politischer Polizei rochen, Salgado wortlos und in Handschellen ab.
»Weißt du, wohin sie ihn bringen, Bebo?«, fragte Nr. 12.
Der Wärter verneinte, aber in seinen Augen konnte man sehen, dass er etwas gehört hatte, worauf er lieber nicht näher einging. Da es sonst keine Neuigkeiten gab, weckte Salgados Abtransport die Spekulationen unter den Gefangenen, und sie legten sich Theorien aller Art zurecht.
»Der war ein Spion der Nationalen, der uns mit seiner Geschichte als eingebuchteter Gewerkschafter die Würmer aus der Nase ziehen sollte.«
»Ja, darum haben Sie ihm zwei Finger ausgerissen und weiß Gott was noch, damit das Ganze überzeugender aussieht.«
»Jetzt sitzt er bestimmt schon im Amaya und schlägt sich in Gesellschaft seiner Spezis den Bauch mit Seehecht nach Baskenart voll und lacht über uns alle.«
»Ich glaube, der hat irgendwas gestanden, was man von ihm verlangt hat, und dann hat man ihn mit einem Stein um den Hals zehn Kilometer meereinwärts versenkt.«
»Der hatte eine Visage wie ein Falangist. Zum Glück hab ich keinen Piep gesagt, die werden euch schön fertigmachen.«
»Ja, Mensch, womöglich stecken die uns noch ins Gefängnis.«
Mangels eines anderen Zeitvertreibs zogen sich die Diskussionen dahin, bis ihn zwei Tage später dieselben Männer zurückbrachten, die ihn geholt hatten. Alle bemerkten sofort, dass sich Salgado nicht auf den Beinen halten konnte und sie ihn wie ein Bündel herschleppten. Er war leichenblass und in kalten Schweiß gebadet. Sein halbnackter Körper war mit einer braunen Kruste überzogen, die nach einer Mischung aus getrocknetem Blut und Exkrementen aussah. Sie ließen ihn in die Zelle plumpsen wie einen Sack Mist und zogen wortlos von dannen.
Fermín bettete ihn auf die Pritsche und begann dann langsam, ihn mit Stofffetzen, die er aus seinem eigenen Hemd riss, und ein wenig von Bebo herbeigeschmuggeltem Wasser zu waschen. Salgado war bei Bewusstsein und atmete mühsam, doch seine Augen glühten, als hätte ihn jemand innerlich in Brand gesteckt. Wo früher seine rechte Hand gewesen war, pulsierte jetzt ein violetter, mit Teer verätzter Stummel. Während ihm Fermín das Gesicht wusch, lächelte ihm Salgado mit den paar verbliebenen Zähnen zu.
»Warum sagen Sie diesen Schlächtern nicht ein für alle Mal, was sie wissen wollen, Salgado? Es ist doch bloß Geld. Ich weiß ja nicht, wie viel Sie versteckt haben, aber das ist es doch nicht wert.«
»Sie können mich mal«, murmelte Salgado mit dem bisschen Atem, den er noch hatte. »Dieses Geld gehört mir.«
»Es gehört wohl all denen, die Sie ermordet und ausgeraubt haben, wenn Ihnen die Richtigstellung nichts ausmacht.«
»Ich habe niemand ausgeraubt. Sie haben es vorher dem Volk gestohlen. Und wenn ich sie hingerichtet habe, dann, um dem Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«
»Klar. Zum Glück sind Sie gekommen, der Robin Hood von Matadepera, um jegliches Unrecht wiedergutzumachen. Sie sind mir vielleicht ein mutiger Rächer.«
»Dieses Geld ist meine Zukunft«, spuckte Salgado aus.
Fermín strich ihm mit dem feuchten Lappen über die kalte, zerkratzte Stirn.
»Die Zukunft wünscht man sich nicht, man verdient sie sich. Und Sie haben keine Zukunft, Salgado. Weder Sie noch ein Land, das Ungeziefer wie Sie und den Herrn Direktor hervorbringt und dann wegschaut. Die Zukunft haben wir alle gemeinsam zerstört, und das Einzige, was uns erwartet, ist Scheiße wie die, die Sie ausströmen, und jetzt hab ich’s satt, Sie sauberzumachen.«
Salgado gab eine Art gutturales Wimmern von sich, das Fermín als Gelächter interpretierte.
»Sparen Sie sich Ihre Reden, Fermín. Jetzt wollen Sie sich wohl auch noch als Held aufspielen.«
»Nein. Helden gibt es mehr als genug. Ich bin bloß ein Feigling. Nichts mehr und nichts weniger. Aber ich weiß es wenigstens und gebe es zu.«
Schweigend wusch ihn Fermín weiter, so gut er konnte, dann deckte er ihn mit dem Überbleibsel ihrer verwanzten und nach Urin stinkenden Decke zu. Er blieb bei ihm, bis er die Augen schloss und einschlief, und Fermín war sich nicht sicher, ob er je wieder erwachen würde.
»Sagen Sie schon, dass er endlich gestorben ist«, hörte er die Stimme von Nr. 12.
»Wetten werden angenommen«, fügte Nr. 17 hinzu. »Eine Zigarette darauf, dass er abkratzt.«
»Gehen Sie alle schlafen oder aber zum Teufel«, sagte Fermín.
Er kauerte sich in der entferntesten Ecke der Zelle nieder und versuchte einzuschlafen, aber bald war ihm klar, dass er diese Nacht kein Auge zutun würde. Nach einer Weile hielt er das Gesicht an die Gitterstäbe und ließ die Arme auf die Querstange fallen. Auf der anderen Seite des Gangs beobachteten ihn aus den Schatten heraus zwei Augen in der Glut einer Zigarette.
»Sie haben mir nicht gesagt, warum Valls Sie neulich zu sich bestellt hat«, sagte Martín.
»Sie können es sich ja etwa vorstellen.«
»Irgendeine außergewöhnliche Bitte?«
»Ich soll Sie aushorchen über irgendeinen Bücherfriedhof oder so was Ähnliches.«
»Interessant.«
»Faszinierend.«
»Hat er Ihnen erklärt, warum ihn dieses Thema interessiert?«
»Ehrlich gesagt, Señor Martín, unsere Beziehung ist nicht so eng. Der Herr Direktor beschränkt sich darauf, mir verschiedenartigste Verstümmelungen anzudrohen, wenn ich seinem Gebot nicht in vier Wochen nachkomme, und ich beschränke mich darauf, ja zu sagen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Fermín. In vier Wochen sind Sie hier raus.«
»Ja, an einem Karibikstrand mit zwei gutgepolsterten Mulattinnen, die mir eine Fußmassage verabreichen.«
»Haben Sie Vertrauen.«
Fermín gab einen mutlosen Seufzer von sich. Die Karten seiner Zukunft wurden zwischen Verrückten, Schlächtern und Todgeweihten ausgeteilt.
An jenem Sonntag warf der Direktor nach seiner Ansprache einen fragenden Blick auf Fermín, gekrönt von einem Lächeln, das ihn die Galle bis zur Zunge hinauf schmecken ließ. Sowie die Posten den Gefangenen erlaubten wegzutreten, schlich sich Fermín an Martín an.
»Eine brillante Rede«, kommentierte dieser.
»Historisch. Jedes Mal, wenn dieser Mann spricht, nimmt das westliche Denken eine kopernikanische Wendung.«
»Sarkasmus passt nicht zu Ihnen, Fermín. Er steht im Widerspruch zu Ihrer natürlichen Sanftheit.«
»Fahren Sie zur Hölle.«
»Ich bin dabei. Zigarette?«
»Ich bin Nichtraucher.«
»Offenbar lässt sich’s so schneller sterben.«
»Also her damit, an mir soll’s nicht liegen.«
Fermín kam nicht über den ersten Zug hinaus. Als er sich die Lunge bis auf die Erinnerung an seine Erstkommunion aus dem Leib hustete, nahm ihm Martín die Zigarette ab und klopfte ihm auf den Rücken.
»Ich verstehe nicht, wie Sie so was schlucken können. Das schmeckt nach angesengtem Hund.«
»Es ist das Beste, was man hier kriegen kann. Sie sollen aus Stummelresten gefertigt sein, die auf den Gängen des Monumental-Gefängnisses zusammengekehrt werden.«
»Mich jedenfalls erinnert das Bukett eher an ein Pissoir.«
»Atmen Sie tief durch, Fermín. Besser so?«
Fermín nickte.
»Wollen Sie mir nun etwas über diesen Friedhof erzählen, damit ich dem Oberschwein einen Köder hinwerfen kann? Es muss ja gar nicht stimmen. Mir ist mit jedem Unsinn gedient, der Ihnen einfällt.«
Lächelnd stieß Martín den stinkenden Rauch zwischen den Zähnen aus.
»Wie geht’s denn Ihrem Zellengenossen Salgado, dem Rächer der Enterbten?«
»Tja, da hat man gedacht, man habe ein gewisses Alter und in diesem Weltenzirkus alles gesehen. Und wo es heute früh schon den Anschein machte, als hätte er den Löffel abgegeben, hör ich, wie er aufsteht und sich zu meiner Schlafstätte schleicht wie ein Vampir.«
»Etwas Vampirhaftes hat er tatsächlich.«
»Jedenfalls tritt er an meinen Schlafplatz und starrt mich an. Ich stelle mich schlafend, Salgado beißt an, und ich sehe, wie er lautlos in eine Ecke der Zelle geht und mit der verbleibenden Hand dort zu stochern beginnt, wo die Medizin das Rektum beziehungsweise den Mastdarm ansiedelt«, fuhr Fermín fort.
»Wie bitte?«
»Sie hören schon recht. Von seiner jüngsten Sitzung mittelalterlicher Verstümmelung genesend, feiert der gute Salgado die erstbeste Gelegenheit, wo er imstande ist, aufzustehen und diesen geduldigen Winkel der menschlichen Anatomie auszukundschaften, den die Natur dem Sonnenlicht entzogen hat. Ungläubig wage ich nicht einmal zu atmen. Es vergeht eine Minute, und es sieht aus, als wollte Salgado mit seinen zwei oder drei verbliebenen Fingern dort den Stein der Weisen oder irgendeine tiefsitzende Hämorrhoide suchen. All das begleitet von einem dumpfen Ächzen, das ich lieber nicht wiedergebe.«
»Ich bin vollkommen baff.«
»Nun, dann setzen Sie sich hin fürs große Finale. Nach einer oder zwei Minuten rektaler Schürfarbeit lässt er einen Seufzer à la heiliger Johannes vom Kreuz fahren, und das Wunder geschieht. Wie er die Finger rauszieht, leuchtet etwas zwischen ihnen, was selbst von meiner Ecke aus kein landläufiger Kot ist.«
»Nämlich was?«
»Ein Schlüssel. Kein Schraubenschlüssel, sondern einer von diesen kleinen Schlüsseln wie von einem Köfferchen oder einem Garderobenschrank.«
»Und dann?«
»Und dann nimmt er den Schlüssel, poliert ihn mit Spucke, ich nehme an, dass er nach wilden Rosen roch, und geht damit zur Wand, wo er, nachdem er sich überzeugt hat, dass ich immer noch schlafe, was ich mit einigen hochvirtuosen Schnarchern wie von einem Bernhardinerwelpen bestätige, den Schlüssel in einer Spalte zwischen den Steinen versteckt, die er anschließend mit Schmutz zukleistert und vielleicht auch mit ein wenig Derivat aus seinem Untergeschoss.«
Martín und Fermín schauten sich schweigend an.
»Denken Sie dasselbe wie ich?«, fragte Fermín.
Martín nickte.
»Wie viel, glauben Sie, hat dieses Levkojenknöspchen wohl im Nest der Habgier versteckt?«, fragte Fermín.
»Genug, um zu glauben, der Verlust von Fingern, Händen, Teilen der Hodensubstanz und weiß Gott noch was sei die entsprechende Geheimhaltung wert«, vermutete Martín.
»Und was soll ich jetzt tun? Denn bevor ich zulasse, dass diese Viper von Herrn Direktor seine Klauen in Salgados Schätze steckt, um sich eine kartonierte Ausgabe seiner Opera Magna zu finanzieren und sich einen Sitz in der Königlichen Sprachakademie zu erkaufen, verschlucke ich diesen Schlüssel oder stecke ihn mir nötigenfalls genauso in die Niederungen meines Intestinaltrakts.«
»Im Augenblick tun Sie gar nichts«, sagte Martín. »Versichern Sie sich, dass der Schlüssel noch dort ist, und warten Sie meine Anweisungen ab. Ich bin dabei, die letzten Details für Ihre Flucht auszuarbeiten.«
»Ich will Sie ja nicht kränken, Señor Martín, und bedanke mich aufs Herzlichste für Ihre Beratung und Ihre moralische Unterstützung, aber diese Geschichte kann mich Kopf und Kragen und das eine oder andere liebe Anhängsel kosten, und angesichts dessen, dass die weitverbreitete Meinung die ist, Sie seien vollkommen bescheuert, beunruhigt mich der Gedanke, mein Leben in Ihre Hände zu geben.«
»Wenn Sie einem Romancier nicht trauen, wem wollen Sie denn dann trauen?«
Fermín sah Martín in der tragbaren Rauchwolke seiner Patchworkzigarette im Burggraben davongehen.
»Gütiger Gott«, murmelte er in den Wind.
Das von Nr. 17 organisierte makabre Wettbüro blieb mehrere Tage geöffnet, in denen Salgado bald von einem Moment auf den anderen den Geist aufzugeben schien, bald aufstand und sich zu den Gitterstäben der Zelle schleppte, wo er aus voller Kehle ein »Ihrgottverdammtenscheißkerlewerdetkeinencentvonmeinemgeldkriegenhurensöhnemistige« und entsprechende Varianten ausstieß, bis ihm die Seele aus dem Leib fiel und er wie leblos zu Boden sackte, so dass ihn Fermín wieder auf die Beine stellen und zur Pritsche zurückschleifen musste.
»Ist’s endlich aus mit dem Kakerlak, Fermín?«, fragte Nr. 17, sobald er ihn hinschlagen hörte.
Fermín gab sich nicht mehr die Mühe, ärztliche Bulletins über seinen Zellenkollegen herauszugeben. Sollte es so weit kommen, würden sie ja den Segeltuchsack abziehen sehen.
»Passen Sie auf, Salgado, wenn Sie sterben wollen, dann sterben Sie endlich, und wenn Sie vorhaben weiterzuleben, dann tun Sie es bitte in aller Stille — Ihre Geiferrezitale hängen mir zum Hals raus«, sagte Fermín, während er ihn mit einem Stück schmutzigen Segeltuchs zudeckte, das er in Bebos Abwesenheit von einem der Wärter bekommen hatte; den hatte er mit einem angeblich wissenschaftlichen Rezept eingeseift, um erblühende Teenager mit Milcheis und Marzipanbaisers zu benebeln und dann aufs Kreuz zu legen.
»Spielen Sie nicht den Barmherzigen, ich riech den Braten und weiß, dass Sie auch nicht anders sind als diese Aasfresserseilschaft, die sogar ihre Unterhosen darauf verwettet, dass ich abkratze.« Salgado schien bereit, seine blendende Laune bis zum letzten Atemzug beizubehalten.
»Ich habe zwar keine Lust, einem Sterbenden in seinen letzten oder bestenfalls vorletzten Zügen zu widersprechen, aber Sie sollen wissen, dass ich in diesem Spiel keinen Real gesetzt habe, und sollte ich eines Tages ebenfalls der Sucht verfallen, dann gewiss nicht mit Wetten auf ein Menschenleben, obwohl Sie von einem Menschen etwa so viel haben wie ich von einem Käfer.«
»Glauben Sie ja nicht, Sie können mich mit dem ganzen Geschwätz hinters Licht führen«, sagte Salgado böse. »Ich weiß haargenau, was Sie und Ihr Seelenfreund Martín mit dieser Monte Christo-Geschichte im Schilde führen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Salgado. Schlafen Sie eine Weile, oder ein Jahr, keiner wird Sie vermissen.«
»Wenn Sie glauben, Sie kommen hier weg, dann sind Sie genauso durchgedreht wie der.«
Fermín spürte kalten Schweiß auf dem Rücken. Salgado verpasste ihm sein zahnloses Grinsen wie mit Knüppelschlägen und sagte:
»Wusst ich es doch.«
Fermín schüttelte den Kopf und kauerte sich in seiner Ecke nieder, in größtmöglichem Abstand zu Salgado. Der Frieden dauerte eine knappe Minute.
»Mein Schweigen hat einen Preis«, fing Salgado wieder an.
»Ich hätte Sie sterben lassen sollen, als Sie zurückgebracht wurden«, murmelte Fermín.
»Zum Zeichen der Dankbarkeit gewähre ich Ihnen einen Nachlass. Ich bitte Sie nur um einen letzten Gefallen, und ich werde Ihr Geheimnis für mich behalten.«
»Wie kann ich wissen, dass es der letzte sein wird?«
»Weil man Sie schnappen wird wie alle, die auf eigenen Füßen von hier wegzukommen versucht haben, und nachdem man ein paar Tage mit Ihnen gespielt hat, wird man Sie im Graben als erbauendes Schauspiel für die anderen garrottieren, und dann werde ich Sie um nichts mehr bitten können. Was meinen Sie? Ein kleiner Gefallen und meine absolute Kooperation. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
»Ihr Ehrenwort? Mann, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Das ändert alles.«
»Kommen Sie…«
Fermín zögerte einen Augenblick, doch dann sagte er sich, er habe nichts zu verlieren.
»Ich weiß, dass dieses Schwein von Valls Sie damit beauftragt hat, herauszufinden, wo ich das Geld versteckt habe«, sagte er. »Bemühen Sie sich nicht, es zu leugnen.«
Fermín zuckte bloß die Schultern.
»Sie sollen es ihm sagen«, fuhr Salgado fort.
»Zu Diensten, Salgado. Wo ist das Geld?«
»Sagen Sie dem Direktor, er soll allein hingehen, er persönlich. Wenn er jemand mitnimmt, kriegt er keinen Duro. Sagen Sie ihm, er soll zu der alten Fabrik Vilardell in Pueblo Nuevo gehen, hinter dem Friedhof. Um Mitternacht. Weder vor- noch nachher.«
»Das klingt geradezu wie ein Schwank von Carlos Arniches, Salgado…«
»Hören Sie mir gut zu. Sagen Sie ihm, er soll in die Fabrik hineingehen und das alte Wächterhäuschen neben dem Saal mit den Webstühlen suchen. Dort soll er anklopfen und auf die entsprechende Frage die Losung sagen: ›Durruti lebt.‹«
Fermín unterdrückte einen Lachanfall.
»Das ist der größte Schwachsinn, den ich seit der letzten Ansprache des Herrn Direktor gehört habe.«
»Sie sollen nichts weiter tun, als ihm das sagen, was ich Ihnen sage.«
»Und wie können Sie sicher sein, dass nicht ich gehe und mit Ihren Tricks und Groschenromanlosungen das Geld selbst hole?«
In Salgados Augen funkelte die Habsucht.
»Sagen Sie es nicht — weil ich tot sein werde«, antwortete Fermín sich selbst.
Salgados Reptiliengrinsen überflutete seine Lippen. Fermín betrachtete diese von Rachedurst erfüllten Augen. Da wurde ihm klar, was Salgado vorhatte.
»Eine Falle, nicht wahr?«
Der andere gab keine Antwort.
»Und wenn Valls überlebt? Haben Sie mal kurz darüber nachgedacht, was man dann mit Ihnen macht?«
»Nichts, was man nicht schon gemacht hat.«
»Ich würde sagen, Sie sind sehr mannhaft, wenn ich nicht wüsste, dass man Sie schon zu drei Vierteln entmannt hat, und wenn dieser Streich in die Hose geht, kann von Mann überhaupt keine Rede mehr sein«, sagte Fermín.
»Das ist mein Bier. Wie verbleiben wir also, Monte Christo? Abgemacht?«
Salgado streckte seine einzige Hand aus. Fermín betrachtete sie einige Augenblicke und drückte sie dann lustlos.
Er musste die traditionelle Sonntagsansprache nach der Messe und den kurzen Moment im Freien auf dem Rasen des Grabens abwarten, um sich Martín nähern und ihm anvertrauen zu können, worum Salgado ihn gebeten hatte.
»Das durchkreuzt unseren Plan nicht«, antwortete Martín. »Tun Sie, was er sagt. Wir können es uns jetzt nicht leisten, verpfiffen zu werden.«
Fermín, seit Tagen bald von Übelkeit, bald von Herzjagen heimgesucht, trocknete sich den kalten Schweiß von der Stirn.
»Señor Martín, nicht, dass ich Ihnen nicht traue, aber wenn der Plan, den Sie da vorbereiten, so gut ist, warum benutzen Sie ihn dann nicht selbst, um von hier wegzukommen?«
Martín nickte, als erwarte er diese Frage seit Tagen.
»Weil ich es verdiene, hier zu sein, und selbst wenn es nicht so wäre, habe ich auf der Welt keinen Platz außerhalb dieser Mauern. Ich weiß nicht, wo ich hingehen könnte.«
»Sie haben doch Isabella…«
»Isabella ist mit einem Mann verheiratet, der zehnmal besser ist als ich. Wenn ich von hier wegkäme, würde das nur ihr Unglück bedeuten.«
»Aber sie unternimmt doch das Menschenmögliche, um Sie hier rauszukriegen…«
Martín schüttelte den Kopf.
»Sie müssen mir eines versprechen, Fermín. Es ist das Einzige, was ich von Ihnen als Gegenleistung erbitte, wenn ich Ihnen zur Flucht verhelfe.«
Das ist der Monat der Bitten, dachte Fermín und willigte gern ein.
»Was immer Sie von mir wollen.«
»Wenn Ihnen die Flucht gelingt, bitte ich Sie, dass Sie sich um sie kümmern, wenn es in Ihrer Hand liegt. Aus der Ferne, ohne ihr Wissen, sogar ohne dass sie überhaupt weiß, dass es Sie gibt. Dass Sie sich um sie und ihren Sohn Daniel kümmern. Wollen Sie das für mich tun, Fermín?«
»Aber selbstverständlich.«
Martín lächelte traurig.
»Sie sind ein guter Mensch, Fermín.«
»Das ist schon das zweite Mal, dass Sie mir das sagen, und jedes Mal tönt es schrecklicher in meinen Ohren.«
Martín zündete sich eine seiner Stinkzigaretten an.
»Wir haben nicht viel Zeit. Brians, der Anwalt, den Isabella verpflichtet hat, um meinen Fall zu übernehmen, war gestern da. Ich habe ihm dummerweise erzählt, was Valls von mir will.«
»Dass Sie ihm seinen Schund umschreiben…«
»Genau. Ich habe ihn gebeten, Isabella nichts davon zu sagen, aber ich kenne ihn, und früher oder später wird er es tun, und sie, die ich noch besser kenne, wird wie eine Furie herkommen und Valls damit drohen, sein Geheimnis in alle Winde auszuposaunen.«
»Und können Sie sie nicht stoppen?«
»Isabella stoppen wollen ist wie einen Güterzug stoppen wollen: eine Aufgabe für Dummköpfe.«
»Je mehr Sie mir von ihr erzählen, desto größere Lust bekomme ich, sie kennenzulernen. Frauen mit Charakter sind für mich…«
»Fermín, ich erinnere Sie an Ihr Versprechen.«
Fermín legte sich die Hand aufs Herz und nickte feierlich. Martín fuhr fort:
»Also, was ich sagen wollte. Wenn das geschieht, ist Valls jede Dummheit zuzutrauen. Dieser Mann wird von Eitelkeit, Neid und Habsucht bewegt. Wenn er sich in die Enge getrieben fühlt, wird er einen falschen Schritt tun. Ich weiß zwar nicht, was, aber ich bin sicher, dass er etwas aushecken wird. Es ist wichtig, dass Sie dann schon weg sind.«
»Tatsächlich habe ich keine große Lust zu bleiben…«
»Sie verstehen mich nicht. Wir müssen den Plan früher durchführen.«
»Früher? Wann denn?«
Martín betrachtete ihn lange durch den Rauchvorhang hindurch, der von seinen Lippen aufstieg.
»Heute Nacht.«
Fermíns Mund war so staubtrocken, dass er nicht einmal schlucken konnte.
»Aber ich weiß ja noch nicht einmal, worin der Plan besteht…«
»Spitzen Sie gut die Ohren.«
Bevor Fermín an diesem Nachmittag in seine Zelle zurückgebracht wurde, trat er auf einen der Posten zu, die ihn in Valls Büro gebracht hatten.
»Sagen Sie dem Herrn Direktor, dass ich mit ihm sprechen muss.«
»Worüber, wenn man fragen darf?«
»Sagen Sie ihm, ich habe die Ergebnisse, die er erwartet. Er weiß dann schon, wovon ich spreche.«
Noch vor Ablauf einer Stunde erschienen der Posten und sein Kollege vor der Zelle Nr. 13, um Fermín abzuholen. Salgado verfolgte von seiner Pritsche aus alles mit hündischem Blick und massierte sich den Armstummel. Fermín blinzelte ihm zu und zog von den Posten eskortiert ab.
Der Direktor empfing ihn mit herzlichem Lächeln und einem Teller Feingebäck aus dem Hause Escribà.
»Fermín, mein Freund, welch ein Vergnügen, Sie wieder hier zu haben, um ein intelligentes, produktives Gespräch zu führen. Nehmen Sie doch bitte Platz und kosten Sie nach Vergnügen die erlesene Auswahl an Süßigkeiten, die mir die Gattin eines Gefangenen mitgebracht hat.«
Fermín war schon seit Tagen außerstande, auch nur ein Körnchen Vogelfutter zu verzehren, doch um dem Direktor den Willen zu tun, nahm er eine Zuckerbrezel und hielt sie wie ein Amulett in der Hand. Er hatte festgestellt, dass ihn der Direktor jetzt siezte, und das konnte nur Unheilvolles bedeuten. Valls schenkte sich ein Glas Brandy ein und sank in seinen Generalssessel zurück.
»Na? Ich höre, dass Sie gute Nachrichten für mich haben«, forderte er Fermín zum Sprechen auf.
Dieser nickte.
»Was das schöngeistige Kapitel betrifft, so kann ich Euer Hochwohlgeboren bestätigen, dass Martín die Polier- und Plättarbeit, um die Sie ihn gebeten haben, mehr als überzeugt und motiviert angehen wird. Ja, er hat mir gegenüber gesagt, das Material, das Sie ihm gegeben haben, sei von so hoher Qualität und Feinsinnigkeit, dass er glaubt, seine Aufgabe sei einfach — mit zwei, drei i-Tüpfelchen auf der Genialität des Herrn Direktor erhalte man ein des vortrefflichsten Paracelsus würdiges Meisterwerk.«
Valls absorbierte einen Moment lang Fermíns Wortbombardement und nickte höflich, ohne das eisige Lächeln zu entspannen.
»Sie brauchen es mir nicht zu versüßen, Fermín. Es genügt mir, dass Martín tut, was er zu tun hat. Wir wissen beide, dass ihm diese Arbeit nicht zusagt, aber es freut mich, dass er Belehrung annimmt und versteht, dass es uns allen zugutekommt, wenn man die Dinge befördert. Und im Hinblick auf die beiden anderen Punkte…«
»Darauf wollte ich gleich kommen. Was den Gottesacker der vergorenen Bände betrifft…«
»Friedhof der Vergessenen Bücher«, korrigierte Valls. »Haben Sie den Ort aus Martín rausgekriegt?«
Fermín nickte voller Überzeugung.
»Soweit ich habe folgern können, befindet sich das betreffende Beinhaus hinter einem Labyrinth aus Tunneln und Kammern unter dem Born-Markt versteckt.«
Sichtlich überrascht, dachte Valls über diese Enthüllung nach.
»Und der Eingang?«
»So weit bin ich nicht gekommen, Herr Direktor. Vermutlich bei irgendeiner hinter stinkigen Engrosgemüseständen verborgenen Falltür. Martín mochte nicht darüber sprechen, und ich dachte, wenn ich zu viel Druck ausübe, würde er sich noch hartnäckiger weigern.«
Valls nickte langsam.
»Gut gemacht. Fahren Sie fort.«
»Was schließlich den dritten Punkt im Ansuchen Eurer Exzellenz betrifft, konnte ich, das Verröcheln und die Todeszuckungen des niederträchtigen Salgado nutzend, denselbigen dazu bringen, in seinem Delirium auszuplaudern, wo er die fette Beute aus seiner Verbrecherlaufbahn im Dienste von Freimaurerei und Marxismus versteckt hat.«
»Sie glauben also, er wird sterben?«
»Jeden Augenblick. Ich glaube, er hat sich bereits dem heiligen Leo Trotzki überantwortet und wartet auf den letzten Hauch, um ins Politbüro der Nachwelt einzugehen.«
Valls schüttelte den Kopf.
»Ich habe diesen brutalen Kerlen bereits gesagt, dass mit Gewalt nichts abzuzwacken ist.«
»Technisch gesehen, haben sie ihm das eine oder andere Gliedmaß abgezwackt, aber bei Ungeziefer wie Salgado führt einzig die angewandte Psychologie zum Ziel.«
»Also? Wo ist das Geld versteckt?«
Fermín beugte sich vor und verlieh seiner Stimme einen vertraulichen Ton.
»Das ist sehr schwierig zu erklären.«
»Keine Umschweife jetzt, sonst schicke ich Sie in den Keller, damit man Ihrer Zunge auf die Sprünge hilft.«
Also verkaufte Fermín Valls die merkwürdige Geschichte wie von Salgado beauftragt. Ungläubig hörte ihm der Direktor zu.
»Fermín, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie es bereuen werden, wenn Sie mich belügen. Dann wird das, was man mit Salgado gemacht hat, nicht einmal der Aperitif dessen sein, was man mit Ihnen machen wird.«
»Ich versichere Eurer Gnaden, dass ich Wort für Wort wiederhole, was mir Salgado gesagt hat. Wenn Sie wollen, beschwöre ich es beim glaubwürdigen Porträt des Caudillo, das sich im Namen Gottes über Ihrem Schreibtisch befindet.«
Valls schaute ihm fest in die Augen. Fermín hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken, wie es ihm Martín beigebracht hatte. Schließlich hörte der Direktor auf zu lächeln und schob, da er die gewünschten Informationen erhalten hatte, den Teller mit dem Gebäck weg. Diesmal machte er sich nicht einmal die Mühe, Fermín zu bedrohen. Ohne noch irgendwelche Herzlichkeit vorzugaukeln, schnalzte er mit den Fingern, und die beiden Posten traten ein, um Fermín in seine Zelle zurückzuschleifen.
Auf dem Gang begegneten sie dem Sekretär des Direktors, der dann auf der Schwelle von Valls’ Büro stehen blieb.
»Herr Direktor, Sanahuja, der Arzt in Martíns Zelle…«
»Ja, was ist?«
»Er sagt, Martín ist ohnmächtig geworden, und er denkt, es könnte was Schlimmeres sein. Er ersucht um die Erlaubnis, in der Hausapotheke einige Dinge zu holen…«
Zornig schoss Valls auf.
»Und worauf wartest du noch? Los. Bringt ihn hin, er soll sich nehmen, was er braucht.«
Auf Anordnung des Direktors wurde ein Wärter vor Martíns Zelle postiert, während ihn Dr. Sanahuja behandelte. Es war ein junger Mann, höchstens zwanzig, neu in der Wärtergruppe. Eigentlich hatte Bebo Nachtschicht, doch jetzt fungierte an seiner Stelle dieser tölpelhafte Neuling, der nicht einmal mit dem Schlüsselbund zurechtzukommen schien und ängstlicher war als alle Gefangenen. Es war etwa neun Uhr abends, als der Arzt sichtlich müde ans Gitter trat und zu dem Wärter sagte:
»Ich brauche weitere saubere Gazen und Wasserstoffsuperoxid.«
»Ich darf meinen Posten nicht verlassen.«
»Und ich darf einen Patienten nicht verlassen. Bitte — Gazen und Wasserstoffsuperoxid.«
Der Wärter wand sich nervös.
»Der Herr Direktor mag es gar nicht, wenn man seinen Anweisungen nicht wörtlich nachkommt.«
»Er wird es noch weniger mögen, wenn Martín etwas zustößt, weil Sie nicht auf mich gehört haben.«
Der andere überlegte hin und her.
»Wir werden nicht durch die Wände gehen oder die Gitterstäbe auffressen, Chef«, sagte der Arzt.
Der Wärter stieß einen Fluch aus und machte sich eilig davon. Während er Richtung Apotheke verschwand, wartete Sanahuja am Gitter. Salgado schlief schon seit zwei Stunden, schwer atmend. Leise näherte sich Fermín dem Gang und wechselte einen Blick mit dem Arzt. Da warf ihm Sanahuja das Paket zu, kleiner als ein Kartenspiel, in einen Stofffetzen gehüllt und von einer Schnur zusammengehalten. Fermín schnappte es im Flug und zog sich schnell wieder in die hinteren Schatten seiner Zelle zurück. Als der Wärter mit den verlangten Dingen zurückkam, spähte er durchs Gitter nach Salgados Gestalt.
»Er liegt in den letzten Zügen«, sagte Fermín. »Ich glaube nicht, dass er den morgigen Tag noch erlebt.«
»Erhalte ihn bis sechs Uhr am Leben. Ich will nicht, dass er mir Scherereien macht und stirbt, bevor die Ablösung kommt.«
»Wir werden das Menschenmögliche tun«, antwortete Fermín.
In jener Nacht, während Fermín Sanahujas Päckchen aufknüpfte, fuhr ein schwarzer Studebaker den Direktor den Montjuïc hinab den dunklen Straßen entgegen, die den Hafen säumten. Jaime, der Fahrer, gab sich ganz besonders Mühe, Schlaglöcher zu meiden und auch sonst keinen Fehler zu begehen, der dem Direktor hätte unangenehm sein oder ihn aus seinen tiefen Gedanken reißen können. Der neue Direktor war nicht wie der alte, der sich immer mit ihm unterhalten und einmal sogar neben ihn gesetzt hatte. Direktor Valls richtete nie das Wort an ihn, außer um ihm Anweisungen zu erteilen, und blickte ihn höchstens an, wenn er etwas falsch gemacht oder eine Kurve zu schnell genommen hatte oder über einen Stein gefahren war. Dann sah er seine Augen im Rückspiegel glühen und sein Gesicht eine verdrießliche Grimasse schneiden. Direktor Valls verbot ihm, das Radio anzudrehen, weil die Sendungen, wie er sagte, eine Beleidigung für seine Intelligenz waren. Ebenso wenig erlaubte er ihm, die Fotos von Frau und Tochter auf dem Armaturenbrett mitzuführen.
Zum Glück gab es zu dieser vorgerückten Stunde kaum noch Verkehr, und der Weg hielt keine unangenehmen Überraschungen bereit. In wenigen Minuten hatte das Auto die Atarazanas hinter sich gebracht, umfuhr das Kolumbus-Denkmal und bog in die Ramblas ein. Einige Augenblicke später hielt es vor dem Café de la Ópera an. Das Opernpublikum des Liceo-Theaters auf der gegenüberliegenden Straßenseite war bereits in der Abendvorstellung, und die Ramblas lagen verlassen da. Der Fahrer stieg aus und öffnete, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, Mauricio Valls die Tür. Der Direktor stieg aus und betrachtete gleichgültig den Boulevard. Er rückte die Krawatte zurecht und wischte sich über die Schultern.
»Warten Sie hier«, sagte er zum Fahrer.
Der Direktor betrat das beinahe leere Café. Die Uhr an der Wand hinter der Theke zeigte fünf vor zehn. Valls beantwortete den Gruß des Kellners mit einem Nicken und setzte sich an einen der hinteren Tische. Gemächlich zog er die Handschuhe aus und ein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche, das ihm der Schwiegervater zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Er steckte sich eine Zigarette an und betrachtete das alte Café. Mit einem Tablett in der Hand trat der Kellner an den Tisch und wischte ihn mit einem feuchten, nach Lauge riechenden Lappen ab. Der Direktor warf ihm einen verächtlichen Blick zu, den der Kellner ignorierte.
»Was darf es sein, der Herr?«
»Zwei Kamillentee.«
»In derselben Tasse?«
»Nein. In zwei Tassen.«
»Der Herr erwartet Gesellschaft?«
»Sieht ganz so aus.«
»Sehr schön. Darf es sonst noch was sein?«
»Honig.«
»Sehr wohl, der Herr.«
Der Kellner entfernte sich ohne Eile, und der Direktor murmelte etwas Abfälliges vor sich hin. Über der Theke war aus einem Radioapparat das Rhabarber einer Briefkastensendung zu vernehmen, dazwischen Werbung für die Kosmetika der Firma Bella Aurora, deren tägliche Applikation Jugend, Schönheit und Frische gewährleistete. Vier Tische weiter schien ein älterer Mann mit der Zeitung in der Hand eingeschlafen zu sein. Die übrigen Tische waren unbesetzt. Fünf Minuten später brachte der Kellner die beiden dampfenden Tassen und stellte sie unendlich langsam auf den Tisch, danach ein Töpfchen Honig.
»Ist das alles, der Herr?«
Valls nickte. Er wartete, bis der Kellner wieder bei der Theke war, und zog ein Fläschchen aus der Tasche. Er schraubte den Deckel ab und warf einen Blick auf den anderen Gast, den die neusten Pressemeldungen offensichtlich k.o. gesetzt hatten. Mit dem Rücken zu ihm trocknete der Kellner an der Theke Gläser ab.
Valls goss den Inhalt des Fläschchens in die Tasse am anderen Tischende. Dann gab er eine großzügige Portion Honig dazu und rührte mit dem Löffel im Kamillentee, bis sich der Honig vollkommen aufgelöst hatte. Im Radio wurde der Brief einer bekümmerten Frau aus Betanzos verlesen, deren Mann, offenbar verärgert, weil ihr der Allerheiligenbraten angebrannt war, nun ständig mit den Freunden in der Kneipe herumhing, um sich die Fußballübertragungen anzuhören, nicht mehr zur Messe ging und nur noch für das Nötigste nach Hause kam. Es wurden ihr Gebete, Beharrlichkeit und die Waffen einer Frau empfohlen, aber strikt in den Grenzen der christlichen Familie. Valls schaute wieder auf die Uhr. Viertel nach zehn.
Um zehn Uhr zwanzig trat Isabella ein. Sie trug einen einfachen Mantel, hatte das Haar hochgesteckt und war ungeschminkt. Valls sah sie und hob die Hand. Einen Augenblick lang musterte ihn Isabella, dann ging sie langsam zum Tisch. Valls stand auf und streckte ihr mit einem höflichen Lächeln die Hand entgegen. Isabella übersah sie und nahm Platz.
»Ich habe mir erlaubt, zwei Kamillentee zu bestellen, das schmeckt am besten in einer so unfreundlichen Nacht.«
Valls’ Blick meidend, nickte Isabella. Der Direktor schaute sie aufmerksam an. Wie bei ihren Besuchen im Gefängnis hatte sich Señora Sempere auch jetzt so unattraktiv wie möglich gemacht, um ihre Schönheit zu vertuschen. Valls betrachtete die Linie ihrer Lippen, das Pulsieren ihres Halses und die geschwungene Linie der Brüste unter dem Mantel.
»Ich höre«, sagte sie.
»Erlauben Sie mir zunächst, mich bei Ihnen zu bedanken, dass Sie so kurzfristig zu diesem Treffen gekommen sind. Ich habe Ihre Mitteilung heute Abend bekommen und habe gedacht, es empfehle sich, außerhalb des Büros und des Gefängnisses über das Thema zu sprechen.«
Sie nickte bloß. Valls nippte am Tee und leckte sich die Lippen.
»Herrlich. Der beste in ganz Barcelona. Probieren Sie ihn.«
Sie überhörte seine Aufforderung.
»Wie Sie verstehen werden, ist alles höchst vertraulich. Darf ich Sie fragen, ob Sie jemandem gesagt haben, dass Sie heute Abend hierherkommen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ihrem Mann vielleicht?«
»Mein Mann ist in der Buchhandlung und macht Inventur. Er wird erst spät in der Nacht nach Hause kommen. Niemand weiß, dass ich hier bin.«
»Soll ich etwas anderes für Sie bestellen? Wenn Sie keinen Kamillentee mögen…«
Sie verneinte und hob die Tasse.
»Schon gut so.«
Valls lächelte gelassen.
»Wie ich Ihnen sagte, habe ich Ihren Brief bekommen. Ich verstehe Ihre Empörung und wollte Ihnen erklären, dass es sich um ein Missverständnis handelt.«
»Sie erpressen einen armen Geisteskranken, Ihren Gefangenen, ein Werk zu schreiben, mit dem Sie Ruhm einheimsen wollen. Bis dahin glaube ich nichts missverstanden zu haben.«
Valls näherte Isabella eine Hand.
»Isabella… Darf ich Sie so nennen?«
»Rühren Sie mich nicht an.«
Er zog die Hand zurück und machte eine versöhnliche Geste.
»Gut, lassen Sie uns einfach in Ruhe sprechen.«
»Es gibt nichts, worüber wir sprechen müssten. Wenn Sie David nicht in Frieden lassen, werde ich mit Ihrer Geschichte und Ihrem Betrug bis nach Madrid oder wo immer nötig gehen. Alle werden erfahren, was für eine Art Mensch und Literat Sie sind. Nichts und niemand wird mich zurückhalten können.«
Tränen traten ihr in die Augen, und die Tasse in ihrer Hand zitterte.
»Bitte, Isabella, trinken Sie ein wenig. Es wird Ihnen guttun.«
Geistesabwesend trank sie zwei Schlucke.
»So, mit ein wenig Honig, schmeckt er am besten«, sagte Valls.
Sie trank ein paar weitere Schlucke.
»Ich muss Ihnen sagen, dass ich Sie bewundere, Isabella. Wenige Menschen hätten den Mut und die Ausdauer, sich für einen armen Teufel wie Martín einzusetzen — einen Mann, den alle verlassen und verraten haben. Alle außer Ihnen.«
Sie schaute nervös auf die Uhr über der Theke. Zehn Uhr fünfunddreißig. Nach zwei weiteren Schlucken trank sie die Tasse aus.
»Sie müssen ihn sehr schätzen. Manchmal frage ich mich, ob Sie mich mit der Zeit und wenn Sie mich besser kennen, so, wie ich bin, ebenso schätzen könnten wie ihn.«
»Sie widern mich an, Valls. Sie und der ganze Abschaum wie Sie.«
»Ich weiß, Isabella. Aber es ist der Abschaum wie ich, der in diesem Land immer das Sagen hat, und Leute wie Sie bleiben ewig im Schatten. Welche Seite auch immer am Drücker ist.«
»Diesmal nicht. Diesmal werden Ihre Vorgesetzten erfahren, was Sie tun.«
»Was bringt Sie auf den Gedanken, das könnte sie kümmern oder sie würden nicht genau das Gleiche tun oder noch viel mehr als ich, der ich ja nur ein Amateur bin?«
Valls lächelte und zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Jacketttasche.
»Isabella, Sie sollen wissen, dass ich nicht so bin, wie Sie denken. Und um es Ihnen zu beweisen — das ist das Entlassungsschreiben für David Martín, mit dem Datum von morgen.«
Er zeigte ihr das Dokument, und Isabella betrachtete es ungläubig. Valls zog seine Füllfeder hervor und unterzeichnete das Papier.
»So. Technisch gesehen, ist David Martín bereits ein freier Mann. Dank Ihnen, Isabella. Dank Ihnen…«
Sie warf ihm einen gläsernen Blick zu. Valls konnte sehen, wie sich ihre Pupillen langsam weiteten und ein Schweißfilm auf ihre Oberlippe trat.
»Geht es Ihnen gut? Sie sind ganz blass…«
Wankend stand sie auf und hielt sich am Stuhl fest.
»Ist Ihnen übel, Isabella? Soll ich Sie irgendwohin begleiten?«
Sie wich zurück und stieß auf dem Weg zum Ausgang mit dem Kellner zusammen. Valls blieb am Tisch sitzen und schlürfte seinen Tee, bis die Uhr Viertel vor elf zeigte. Dann legte er ein paar Münzen auf den Tisch und ging langsam auf den Ausgang zu. Das Auto erwartete ihn auf dem Gehsteig, und der Fahrer öffnete die Tür.
»Wünschen der Herr Direktor nach Hause oder ins Kastell gefahren zu werden?«
»Nach Hause, aber zuerst machen wir einen Zwischenhalt im Pueblo Nuevo, bei der alten Fabrik Vilardell.«
Unterwegs zur verheißenen Beute, betrachtete Mauricio Valls, zukünftige Koryphäe der spanischen Literatur, das Vorüberziehen schwarzer, menschenleerer Straßen in diesem verdammten Barcelona, das er so hasste, und vergoss Tränen um Isabella und das, was hätte sein können.
Als Salgado aus seiner Lethargie erwachte und die Augen öffnete, sah er als Erstes jemanden reglos vor der Pritsche stehen und ihn beobachten. Er spürte einen Anflug von Panik und wähnte sich für einen Moment wieder im Kellerraum. Ein Flackern des Lichts auf dem Gang zeichnete bekannte Züge.
»Fermín, sind Sie es?«
Die Gestalt im Schatten nickte, und Salgado atmete tief.
»Mein Mund ist ganz trocken. Ist noch etwas Wasser da?«
Fermín trat langsam näher. In der Hand hatte er einen Lappen und ein Glasfläschchen.
Salgado sah, wie er die Flüssigkeit auf den Lappen goss.
»Was ist das, Fermín?«
Fermín antwortete nicht. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Er beugte sich über Salgado und schaute ihm in die Augen.
»Fermín, bitte…«
Bevor er eine weitere Silbe aussprechen konnte, drückte ihm Fermín kräftig den Lappen auf Mund und Nase und presste seinen Kopf auf die Pritsche. Salgado wand sich mit letzter Kraft. Fermín drückte ihm weiter den Lappen aufs Gesicht, und Salgado sah ihn aus panikerfüllten Augen an. Wenige Sekunden später verlor er das Bewusstsein. Fermín zählte bis fünf, dann erst zog er den Lappen weg. Mit dem Rücken zu Salgado setzte er sich auf die Pritschenkante und wartete einige Minuten. Dann trat er an die Zellentür, so, wie es ihm Martín gesagt hatte.
»Wärter!«, rief er.
Er hörte die Schritte des Neulings auf dem Gang näher kommen. Martíns Plan war darauf angelegt, dass in dieser Nacht wie vorgesehen Bebo Schicht hatte und nicht dieser Schwachkopf.
»Was ist denn jetzt wieder?«, fragte der Wärter.
»Salgado — er ist abgekratzt.«
Der Wärter schüttelte den Kopf und machte ein wütendes Gesicht.
»Dieser verdammte Hurenbock. Und jetzt?«
»Bringen Sie den Sack.«
Der Wärter verfluchte sein Los.
»Wenn Sie wollen, pack ich ihn selber rein, Chef«, erbot sich Fermín.
Mit einem Anflug von Dankbarkeit stimmte der Wärter zu.
»Wenn Sie mir den Sack gleich bringen, können Sie jemanden benachrichtigen, während ich ihn hineinstecke, und dann holt man ihn noch vor Mitternacht ab.«
Wieder nickte der Wärter, dann ging er den Segeltuchsack holen. Fermín blieb an der Zellentür stehen. Auf der anderen Seite des Gangs beobachteten ihn schweigend Martín und Sanahuja.
Zehn Minuten später kam der Wärter zurück, den Sack an einem Ende hinter sich herziehend. Der Gestank nach verfaultem Aas bereitete ihm kaum zu übersehende Übelkeit. Ohne weitere Anweisungen abzuwarten, zog sich Fermín in den hintersten Teil der Zelle zurück. Der Wärter schloss auf und warf den Sack hinein.
»Am besten, Sie benachrichtigen sie jetzt gleich, Chef, dann schaffen sie die Leiche noch vor zwölf Uhr weg, sonst haben wir sie bis morgen Abend hier.«
»Sind Sie sicher, dass Sie ihn allein da reinkriegen?«
»Keine Sorge, Chef, ich habe Übung.«
Der Wärter nickte abermals, nicht ganz überzeugt.
»Na, hoffentlich haben wir Glück, der Stummel beginnt schon zu eitern, und das stinkt dann wie Pech und Schwefel…«
»Scheiße«, sagte der Wärter und machte sich eilig davon.
Sowie er ihn am anderen Ende des Gangs ankommen hörte, begann Fermín Salgado zu entkleiden und zog sich dann selbst ebenfalls aus. Er schlüpfte in die stinkenden Lumpen des Diebes und zog diesem seine an. Dann bettete er ihn seitlich und mit dem Gesicht zur Wand auf die Pritsche und deckte ihn mit der Decke bis unter die Augen zu. Danach schlüpfte er in den Segeltuchsack. Schon wollte er ihn verschließen, als ihm etwas in den Sinn kam.
In aller Eile wand er sich wieder hinaus und ging zur Wand. Mit den Nägeln kratzte er zwischen den beiden Steinen, wo er Salgado den Schlüssel hatte verstecken sehen, bis dessen Spitze zum Vorschein kam. Er versuchte ihn zu greifen, doch er klemmte zwischen den Steinen fest.
»Beeilen Sie sich«, hörte er Martíns Stimme von der anderen Gangseite her.
Er verkrallte sich in den Schlüssel und zerrte mit aller Kraft. Da riss sein Ringfingernagel ab, und einige Sekunden lang blendete ihn stechender Schmerz. Er unterdrückte einen Schrei und hielt sich den Finger an die Lippen. Der Geschmack nach dem eigenen Blut, salzig und metallisch, erfüllte seinen Mund. Er öffnete wieder die Augen und sah den Schlüssel einen Zentimeter aus der Spalte ragen. Jetzt konnte er ihn mühelos herausziehen.
Wieder zwängte er sich in den Segeltuchsack und verknotete ihn, so gut es ging, von innen, so dass eine Handbreit offen blieb. Gegen den aufsteigenden Brechreiz ankämpfend, legte er sich auf den Boden und verschnürte von innen beinahe vollständig den Sack, so dass nur noch eine faustgroße Öffnung blieb. Er hielt sich die Finger an die Nase, da er lieber durch den eigenen Schmutz als durch diesen Fäulnisgeruch hindurch atmete. Jetzt hieß es abwarten, dachte er.
Die Straßen von Pueblo Nuevo lagen in einer undurchdringlichen, feuchten Dunkelheit, die von der Hütten- und Barackensiedlung am Strand des Somorrostro-Viertels heraufstieg. Zwischen den Schatten düsterer, baufälliger Fabriken, Lagerhallen und Hangars pflügte sich der Studebaker des Direktors langsam durch die Dunstschleier. Seine Scheinwerfer projizierten zwei helle Tunnel. Nach einer Weile zeichnete sich im Nebel am Ende der Straße die alte Textilfabrik Vilardell mit ihren Schloten und den Firsten von Hallen und verlassenen Werkstätten ab. Das große Eingangstor wurde von einem Lanzengitter bewacht; dahinter erahnte man ein unkrautüberwuchertes Labyrinth, aus dem die Skelette von Lastwagen und ausgedienten Karren ragten. Vor dem Eingang hielt der Fahrer an.
»Lassen Sie den Motor laufen«, befahl der Direktor.
Die Scheinwerfer drangen in die Schwärze auf der anderen Seite des Tors und ließen den desolaten Zustand der Fabrik erkennen, die im Krieg bombardiert und dann wie so viele Gebäude in der ganzen Stadt ihrem Schicksal überlassen worden war.
Linker Hand sah man ein paar große, mit Holzbrettern verschlossene Baracken, und vor mehreren Garagen, die offenbar den Flammen zum Opfer gefallen waren, stand das ehemalige Wächterhaus, wie Valls vermutete. Der rötliche Schimmer einer Kerze oder Öllampe umzüngelte eines der geschlossenen Fenster. Vom Rücksitz des Autos aus studierte der Direktor in aller Ruhe das Szenario. Nach mehreren Minuten beugte er sich vor und fragte den Fahrer:
»Jaime, sehen Sie das Haus links, dort vor der Garage?«
Das war das erste Mal, dass ihn der Direktor mit seinem Vornamen ansprach. Irgendetwas an diesem unversehens freundlichen Ton ließ ihm die gewohnte Distanziertheit wünschenswerter erscheinen.
»Das Häuschen, meinen Sie?«
»Genau. Da sollen Sie hingehen und anklopfen.«
»Ich soll dort hineingehen? In die Fabrik?«
Der Direktor ließ einen ungeduldigen Seufzer fahren.
»Nicht in die Fabrik. Hören Sie mir gut zu. Sie sehen das Haus, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Sehr gut. Also, Sie gehen zum Eingangsgitter, zwängen sich durch die Stangen, gehen zu dem Haus und klopfen an die Tür. Bis dahin alles klar?«
Der Fahrer bejahte ohne große Begeisterung.
»Schön. Nachdem Sie angeklopft haben, wird Ihnen jemand öffnen. Sobald das geschieht, sagen Sie: ›Durruti lebt.‹«
»Durruti?«
»Unterbrechen Sie mich nicht. Sie wiederholen, was ich Ihnen gesagt habe. Man wird Ihnen etwas übergeben. Wahrscheinlich einen Koffer oder ein Bündel. Sie bringen es her, und das wär’s auch schon. Einfach, nicht wahr?«
Der Fahrer war bleich und starrte in den Rückspiegel, als erwarte er, jeden Moment irgendjemand oder irgendetwas aus den Schatten treten zu sehen.
»Ganz ruhig, Jaime. Es wird nichts passieren. Ich bitte Sie um diesen persönlichen Gefallen. Sagen Sie, sind Sie verheiratet?«
»Vor etwa drei Jahren habe ich geheiratet, Herr Direktor.«
»Aha, sehr gut. Und haben Sie Kinder?«
»Ein zweijähriges Mädchen, und meine Frau ist guter Hoffnung, Herr Direktor.«
»Die Familie ist das Allerwichtigste, Jaime. Sie sind ein guter Spanier. Wenn Sie nichts dagegen haben, gebe ich Ihnen als vorgezogenes Taufgeschenk und zum Zeichen meiner Dankbarkeit für Ihre hervorragende Arbeit hundert Peseten. Und wenn Sie mir diesen kleinen Gefallen erweisen, werde ich Sie für eine Beförderung vorschlagen. Wie fänden Sie denn eine Bürotätigkeit in der Diputation? Ich habe gute Freunde dort, die mir sagen, dass sie charaktervolle Männer suchen, um das Land aus der Kloake zu ziehen, in die es die Bolschewiken hineingeritten haben.«
Bei der Erwähnung des Geldes und der guten Aussichten trat ein schwaches Lächeln auf die Lippen des Fahrers.
»Es wird doch nicht gefährlich sein, oder?«
»Jaime, ich bin es doch, der Herr Direktor. Würde ich Sie wohl um etwas Gefährliches oder Illegales bitten?«
Schweigend schaute ihn der Fahrer an. Valls lächelte ihm zu.
»Wiederholen Sie, was Sie zu tun haben, los.«
»Ich gehe zur Tür dieses Hauses und klopfe an. Wenn man aufmacht, sage ich: ›Es lebe Durruti.‹«
»›Durruti lebt.‹«
»Genau, ›Durruti lebt.‹ Man gibt mir den Koffer, und ich bringe ihn her.«
»Und wir fahren nach Hause. Ein Kinderspiel.«
Der Fahrer nickte, stieg nach einem Moment des Zögerns aus und ging los. Valls beobachtete, wie seine Gestalt durch das Lichtbündel der Scheinwerfer schritt und zum Gittertor kam. Dort wandte er sich einen Augenblick um und sah zum Wagen zurück.
»Los, mach schon, du Idiot«, murmelte Valls.
Der Fahrer zwängte sich durch die Stangen und ging, Trümmern und Unkraut ausweichend, langsam auf die Haustür zu. Der Direktor zog den Revolver aus der Mantelinnentasche und spannte den Hahn. Vor der Tür blieb der Fahrer stehen. Valls sah ihn zweimal anklopfen und dann warten. Es verging fast eine Minute, ohne dass etwas geschah.
»Noch einmal«, murmelte Valls für sich.
Jetzt schaute der Fahrer wieder zum Auto, als wüsste er nicht weiter. Auf einmal erschien in der vorher geschlossenen Tür ein Hauch gelblichen Lichts. Valls sah den Fahrer die Losung aussprechen und dann lächelnd abermals zum Auto zurückschauen. Der aus nächster Nähe abgefeuerte Schuss zerschmetterte ihm die Schläfe und durchdrang den Schädel. Auf der anderen Seite spritzte das Blut heraus, und der Körper, bereits Leiche, hielt sich im Pulverdampf noch einen Augenblick auf den Füßen und sackte dann wie eine zerbrochene Puppe zu Boden.
Hastig wechselte Valls vom Rücksitz ans Steuer des Studebaker. Mit der linken Hand den Revolver auf dem Armaturenbrett abstützend und in Richtung Fabrikeingang zielend, legte er den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas. Der Wagen holperte über Schlaglöcher und durch Pfützen in die Dunkelheit. Während er sich immer weiter entfernte, sah er im Fabrikeingang mehrere Schüsse aufblitzen, von denen aber keiner den Wagen traf. Erst nach etwa zweihundert Metern wendete er und schoss, sich vor Wut auf die Lippen beißend, mit Vollgas davon.
In seinem Sack konnte Fermín nur ihre Stimmen hören.
»Da haben wir ja noch mal Schwein gehabt«, sagte der neue Wärter.
»Fermín schläft schon«, sagte Dr. Sanahuja in seiner Zelle.
»Manche haben echt die Ruhe weg. Da, hier ist er. Jetzt könnt ihr ihn wegschaffen.«
Fermín hörte Schritte um sich herum und verspürte einen plötzlichen Ruck, als einer der Totengräber den Knoten neu schlang und kräftig zuzog. Dann hoben sie ihn zu zweit an und schleiften ihn über den Steinboden des Gangs. Fermín getraute sich nicht, auch nur einen Muskel zu rühren.
Die Schläge von Stufen, Ecken und Türen folterten seinen Körper erbarmungslos. Er hielt sich eine Faust in den Mund und biss darauf, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien. Nach einer langen Reise wurde es schlagartig kalt, und das klaustrophobische Echo, allgegenwärtig im ganzen Kastell, war verschwunden. Sie befanden sich im Freien. Er wurde mehrere Meter über ein hartes Pflaster voller Pfützen geschleift. Rasch drang die Kälte in den Sack.
Schließlich wurde er hochgehoben und ins Leere geworfen. Er landete auf einer Art Holzfläche. Schritte entfernten sich. Er atmete heftig. Im Sack stank es nach Exkrementen, fauligem Fleisch und Dieselöl. Er hörte den Motor anspringen, und nach einem Ruck setzte sich der Lastwagen in Bewegung. Auf dem abschüssigen Gelände geriet der Sack ins Rollen. Fermín merkte, dass sie unter langsamem Holpern denselben Weg bergab fuhren, der ihn vor Monaten ins Kastell geführt hatte, eine lange, kurvenreiche Fahrt, wie er sich erinnerte. Doch nach kurzer Zeit bog der Lastwagen in einen anderen Weg ein, der über flaches, nicht asphaltiertes Terrain verlief, und Fermín war sich sicher, dass sie in den Berg hinein- anstatt zur Stadt hinunterfuhren. Irgendetwas konnte nicht stimmen.
Erst jetzt kam er auf den Gedanken, vielleicht habe Martín nicht alle Details berücksichtigt, irgendetwas könnte ihm entgangen sein. Letztlich wusste niemand mit Bestimmtheit, was mit den Leichen geschah. Vielleicht war Martín nicht darauf gekommen, dass sie möglicherweise in einen Kessel geschmissen und so aus der Welt geschafft wurden. Fermín konnte sich vorstellen, wie Salgado beim Erwachen aus seinem Chloroformnebel in Gelächter ausbrach und sagte, noch bevor Fermín Romero de Torres, oder wie auch immer sein Name sei, im Fegefeuer brutzele, sei er schon bei lebendigem Leib verschmort.
Die Fahrt zog sich noch einige Minuten hin. Dann verlangsamte der Lastwagen die Geschwindigkeit, und nun nahm Fermín auf einmal einen Gestank wahr, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Das Herz schnürte sich ihm zusammen, und während ihn diese unsägliche Ausdünstung an den Rand der Ohnmacht trieb, wünschte er sich, niemals auf diesen Wahnsinnigen gehört zu haben und einfach in seiner Zelle geblieben zu sein.
Beim Kastell angelangt, stieg der Direktor aus dem Studebaker aus und eilte in sein Büro. Vor der Tür saß immer noch wie festgenagelt der Sekretär an seinem kleinen Schreibtisch und tippte mit zwei Fingern die Korrespondenz des Tages.
»Hör schon auf damit und lass sofort den Schweinehund Salgado herbringen«, befahl er.
Der Sekretär schaute ihn verwirrt an und wusste nicht, ob er den Mund öffnen sollte.
»Bleib doch nicht wie ein Ölgötze da sitzen, rühr dich.«
Verängstigt stand der Sekretär auf und wich dem zornigen Blick des Direktors aus.
»Salgado ist gestorben, Herr Direktor. Heute Nacht…«
Valls schloss die Augen und atmete tief.
»Herr Direktor…«
Ohne irgendeine Erklärung abzugeben, lief Valls los und blieb erst vor Zelle Nr. 13 stehen. Als er ihn erblickte, erwachte der Wärter aus seiner Benommenheit und grüßte militärisch.
»Exzellenz, was…«
»Mach auf. Schnell.«
Der Wärter schloss die Zelle auf, und Valls stürmte hinein. An der Pritsche packte er den liegenden Körper an der Schulter und riss ihn herum. Jetzt lag Salgado auf dem Rücken. Valls beugte sich über ihn und kontrollierte die Atmung. Dann wandte er sich an den Wärter, der ihn erschrocken anschaute.
»Wo ist die Leiche?«
»Die Leute vom Beerdigungsinstitut haben sie weggeschafft…«
Valls versetzte ihm eine Ohrfeige, die ihn zu Boden warf. Zwei Wachen hatten sich auf dem Gang eingefunden und warteten auf Anweisungen des Direktors.
»Ich will ihn lebend«, sagte er zu ihnen.
Die beiden nickten und eilten davon. Valls lehnte sich ans Gitter von Martíns und Dr. Sanahujas Zelle. Der Wärter, der wieder aufgestanden war und sich nicht zu atmen traute, glaubte zu sehen, dass der Direktor lachte.
»Das war wohl Ihre Idee, Martín, nicht wahr?«, fragte er schließlich.
Er deutete eine Verbeugung an und klatschte dann langsam Beifall, während er durch den Gang entschritt.
Der Lastwagen kämpfte sich im Schneckentempo über die letzten Meter dieser Piste. Zwei Minuten Schlaglöcher und Lastwagenächzen später wurde der Motor abgestellt. Der Gestank, der durch den Sackstoff zu Fermín drang, war unbeschreiblich. Die beiden Totengräber kamen zur Rückseite des Lastwagens. Er hörte den Hebel des Verschlusses aufschnappen — dann wurde der Sack mit einem heftigen Ruck ins Leere geworfen.
Fermín schlug seitlich auf dem Boden auf. Dumpfer Schmerz durchzog seine Schulter. Bevor er reagieren konnte, hoben die Totengräber den Sack wieder vom Boden auf, fassten je an einem Ende an und trugen ihn einige Meter den Hang hinauf. Dann ließen sie ihn erneut fallen, und Fermín hörte, wie sich der eine niederkniete und den Sack aufzuknoten begann. Die Schritte des anderen entfernten sich einige Meter, und ein metallisches Geräusch war zu vernehmen. Fermín versuchte, Luft zu holen, doch der Pestgestank verbrannte ihm die Kehle. Er schloss die Augen. Über sein Gesicht strich kalte Luft. Der Totengräber ergriff den Sack am verschlossenen Ende und zerrte kräftig. Fermíns Körper rollte auf Steine und durch Pfützen.
»Los, auf drei«, sagte einer der beiden.
Vier Hände packten ihn an Knöcheln und Handgelenken. Krampfhaft hielt er den Atem an.
»Sag mal, der schwitzt doch nicht etwa, oder?«
»Wie soll denn ein Toter schwitzen, du Blödmann? Das kommt von der Pfütze. Los, eins, zwei und…«
Drei. Fermín wurde in der Luft geschaukelt — einen Augenblick später flog er und überließ sich seinem Schicksal. In voller Parabel öffnete er die Augen und konnte vor dem Aufprall gerade noch sehen, dass er auf einen im Berg ausgehobenen Graben zustürzte. Im Mondlicht war nichts weiter zu erkennen als etwas Blasses, das den Boden bedeckte. Er war sich sicher, dass es sich um Steine handelte, und gelassen beschloss er in der halben Sekunde, die ihm noch blieb, dass es ihm nichts ausmachte zu sterben.
Es war eine weiche Landung. Er war auf etwas Molliges, Feuchtes gefallen. Fünf Meter weiter oben hielt einer der Totengräber eine Schaufel in der Hand und entleerte sie in die Luft. Weißlicher Staub verstreute sich wie in einem glänzenden Dunst, der seiner Haut erst schmeichelte und sie eine Sekunde später aufzuzehren begann wie eine Säure. Die beiden Totengräber machten sich davon, und Fermín stand auf. Er befand sich in einem offenen Graben voller mit Ätzkalk bedeckter Leichen. Er versuchte, das Feuerpulver abzuschütteln, und schaffte sich, die Hände in die Erde grabend und den Schmerz ignorierend, zwischen den Leichen zum Erdwall hinauf. Oben angelangt, konnte er sich zu einer schmutzigen Pfütze schleppen und sich vom Kalk reinigen. Als er aufstand, sah er gerade noch die Schlusslichter des Lastwagens in der Nacht verschwinden. Einen Moment lang drehte er sich um. Der Graben zu seinen Füßen zog sich dahin wie ein Ozean ineinander verflochtener Leichen. Die Übelkeit peitschte ihn auf die Knie, und er erbrach Galle und Blut auf seine Hände. Der Verwesungsgestank und die Panik ließen ihn kaum atmen. Da hörte er in der Ferne ein Brummen. Als er aufschaute, sah er die Scheinwerfer von zwei Autos näher kommen. Er rannte zur Bergflanke und gelangte zu einem Stück Wiese, von wo aus er zu Füßen des Hügels das Meer und an der Spitze des Wellenbrechers den Hafenleuchtturm sehen konnte.
Oben auf dem Montjuïc erhob sich das Kastell zwischen schwarzen Wolken, die träge dahinzogen und den Mond verhüllten. Der Motorenlärm kam näher. Ohne es sich zweimal zu überlegen, stürzte Fermín den Hang hinunter, schlug hin und kullerte zwischen Stämmen, Stöcken und Steinen dahin, die ihm die Haut in Fetzen vom Leib prügelten. Er spürte keinen Schmerz und keine Angst und keine Müdigkeit mehr, bis er die Straße erreichte, wo er auf die Hangars des Hafens zuzulaufen begann. Er rannte pausen- und atemlos, ohne Gefühl für die Zeit und für seinen Körper, der eine einzige Wunde war.
Der Morgen dämmerte, als er zum endlosen Hüttenlabyrinth am Strand des Somorrostro-Viertels gelangte. Vom Meer kroch der Frühdunst heran und schlängelte sich zwischen den Dächern durch. Fermín betrat die Gässchen und Tunnel dieser Armenstadt und sank zwischen zwei Schutthügeln nieder. Dort fanden ihn zwei zerlumpte Jungen, die ihre Kisten absetzten und stehen blieben, um dieses halb lebendige, aus sämtlichen Poren blutende Skelett zu betrachten.
Fermín lächelte ihnen zu und bildete mit den Fingern das Siegeszeichen. Die Jungen schauten sich an. Einer sagte etwas, was er nicht verstehen konnte. Er überließ sich der Erschöpfung und sah zwischen den halbgeöffneten Lidern, dass man ihn zu viert vom Boden aufhob und neben einem Feuer auf eine Pritsche legte. Er spürte die Wärme auf der Haut und allmählich das Gefühl in seine Füße, Hände und Arme zurückkehren. Dann überflutete ihn langsam und unerbittlich der Schmerz. Um ihn herum flüsterten matte Frauenstimmen unverständliche Worte. Seine wenigen Lumpen wurden ihm ausgezogen. In warmes Kampferwasser getauchte Tücher liebkosten unendlich zart seinen gebrochenen nackten Körper.
Als er die Hand einer Greisin auf der Stirn spürte, öffnete er die Augen einen Spaltbreit und sah ihren müden, weisen Blick in dem seinen.
»Woher kommst du?«, fragte die Frau, die Fermín in seinem Fieberwahn für seine Mutter hielt.
»Von den Toten, Mutter«, flüsterte er. »Ich bin von den Toten zurückgekehrt.«