Barcelona, 1958
Jahre später sollten die dreiundzwanzig zum Feiern vereinten Gäste Rückschau halten und sich an den historischen Abend vor dem Tag erinnern, an dem Fermín Romero de Torres einen Schlussstrich unter sein Junggesellendasein zog.
»Das ist das Ende einer Ära«, proklamierte Professor Alburquerque mit erhobenem Champagnerglas, und keiner von uns hätte treffender sagen können, was wir alle fühlten.
Fermíns Junggesellenabschied, dessen Auswirkungen auf den weiblichen Teil der Weltbevölkerung Don Gustavo Barceló mit dem Tod Rudolph Valentinos verglich, fand an einem klaren Februarabend des Jahres 1958 im großen Tanzsaal von La Paloma statt, dem Schauplatz von Fermíns infarktischen Tangos und weiteren Momenten, die nun Teil der Geheimakte einer langen Karriere im Dienste des Ewigweiblichen wurden.
Mein Vater, den wir für einmal aus dem Haus gebracht hatten, hatte das halbprofessionelle Tanzorchester La Habana del Baix Llobregat verpflichtet, das zu einem Schleuderpreis aufzuspielen bereit war und uns mit einem Potpourri aus Mambos, Guarachas und bäuerlichem Son Montuno erfreute, die den Bräutigam in die weit zurückliegenden Tage der Welt der Intrigen und des internationalen Glamours in den großen Kasinos des vergessenen Kubas zurücktrugen. Die Festgäste legten jede Befangenheit ab und stürzten sich auf die Tanzfläche, um zum höheren Ruhme Fermíns das Tanzbein zu schwingen.
Barceló hatte meinen Vater überzeugt, dass der Rum, den er ihm gläschenweise verabreichte, Selters mit zwei Tropfen Montserratwasser sei, und nach kurzem durften wir dem noch nie dagewesenen Schauspiel beiwohnen, meinen Vater engumschlungen mit einer der dienstbereiten Damen tanzen zu sehen, die die Rociíto, eigentliche Seele der Veranstaltung, mitgebracht hatte, um dem Ganzen Glanz zu verleihen.
»Heiliger Gott«, entfuhr es mir, als ich meinen Vater die Hüften schwenken und das Zusammentreffen mit dem Hintern dieser altgedienten Nachtarbeiterin auf den Taktbeginn synchronisieren sah.
Barceló verteilte unter den Gästen Zigarren und kleine Zettelchen, die er in einer Druckerei für Kommunions-, Tauf- und Bestattungsanzeigen in Auftrag gegeben hatte. Auf Büttenpapier sah man eine Karikatur Fermíns in Engelstracht und mit zum Gebet gefalteten Händen und die Legende:
Fermín Romero de Torres
19??–1958
Der große Verführer tritt ab
1958–19??
Der Paterfamilias ersteht
Zum ersten Mal seit langem war Fermín glücklich und heiter. Eine halbe Stunde vor Beginn des Rummels hatte ich ihn zu Can Lluís begleitet, wo uns Professor Alburquerque bezeugte, dass er am nämlichen Morgen auf dem Standesamt gewesen sei, bewaffnet mit dem ganzen Dossier von Dokumenten und Papieren, die Oswaldo Darío de Mortenssen und sein Gehilfe Luisito mit Meisterhand angefertigt hatten.
»Mein lieber Fermín«, verkündete der Professor, »ich heiße Sie offizell in der Welt der Lebenden willkommen und überreiche Ihnen, mit Don Daniel Sempere und den Freunden von Can Lluís als Zeugen, Ihren neuen, rechtmäßigen Personalausweis.«
Gerührt studierte Fermín die neuen Papiere.
»Wie haben Sie dieses Wunder zustande gebracht?«
»Den technischen Teil ersparen wir Ihnen lieber. Das Einzige, was zählt, ist, dass fast alles möglich ist, wenn man einen echten Freund hat, der bereit ist, alles aufs Spiel und Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, damit Sie vorschriftsmäßig heiraten und Kinder in die Welt setzen können, um die Dynastie Romero de Torres weiterzuführen, Fermín«, sprach der Professor.
Fermín schaute mich mit Tränen in den Augen an und umarmte mich so kräftig, dass ich zu ersticken glaubte. Es beschämt mich nicht, zu sagen, dass das einer der glücklichsten Momente meines Lebens war.
Nach anderthalb Stunden Musik, Trinken und dreistem Schwofen gestand ich mir eine Atempause zu und ging zur Theke, um etwas Alkoholfreies zu holen, da ich das Gefühl hatte, keinen weiteren Tropfen Rum mit Zitrone mehr hinunterzukriegen, offizieller Drink des Abends. Der Kellner schenkte mir ein Tafelwasser ein, und ich lehnte mich mit dem Rücken an die Theke und beobachtete das Treiben. Erst jetzt sah ich am anderen Ende des Tresens die Rociíto. Sie hielt ein Champagnerglas in den Händen und verfolgte mit melancholischem Ausdruck die Party, die sie auf die Beine gestellt hatte. Nach dem zu schließen, was mir Fermín erzählt hatte, musste sie kurz vor ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag stehen, aber fast zwanzig Jahre im Geschäft hatten zahlreiche Spuren hinterlassen, und selbst in diesem bunten Schummerlicht wirkte die Königin der Calle Escudellers älter.
Ich trat zu ihr und lächelte sie an.
»Rociíto, Sie sind hübscher denn je«, schwindelte ich.
Sie hatte sich in ihre prächtigste Gala geworfen, und man erkannte die Arbeit des besten Friseursalons der Calle Conde del Asalto, und doch hatte ich den Eindruck, sie sei noch nie so traurig gewesen wie an diesem Abend.
»Geht es Ihnen gut, Rociíto?«
»Schauen Sie ihn sich an, bis auf die Knochen abgemagert und kriegt doch nicht genug vom Tanzen.«
Ihre Augen hingen an Fermín, und da wurde mir klar, dass sie in ihm nach wie vor den Helden sah, der sie aus den Klauen eines Bonsaimackers befreit hatte und vermutlich nach zwanzig Jahren Straßenarbeit der einzige Mann war, den kennenzulernen sich gelohnt hatte.
»Don Daniel, ich wollte es Fermín nicht sagen, aber ich geh morgen nicht zur Hochzeit.«
»Was sagst du da, Rociíto? Fermín hat dir einen Ehrenplatz reserviert…«
Sie schaute zu Boden.
»Ich weiß, aber ich kann nicht hingehen.«
»Warum denn?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort ahnte.
»Weil es mir sehr weh tun würde, und ich will, dass Señor Fermín glücklich ist mit seiner Señora.«
Sie hatte zu weinen begonnen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und so umarmte ich sie.
»Ich habe ihn immer geliebt, wissen Sie. Seit ich ihn kennengelernt habe. Ich weiß schon, dass ich nicht die Frau bin für ihn, dass er mich sieht als…, nun, eben, als die Rociíto.«
»Fermín hat dich sehr lieb, das darfst du nie vergessen.«
Sie entzog sich mir und trocknete verschämt die Tränen ab. Dann lächelte sie und zuckte die Schultern.
»Verzeihen Sie, ich bin ein Dummchen, und wenn ich zwei Tropfen trinke, weiß ich nicht mehr, was ich sage.«
»Das macht doch nichts.«
Ich reichte ihr mein Glas Wasser, und sie ergriff es.
»Eines Tages merkt man, dass die Jugend vorbei ist und der Zug abgefahren, wissen Sie.«
»Es gibt immer wieder Züge. Immer.«
Die Rociíto nickte.
»Aus diesem Grund gehe ich nicht zur Hochzeit, Don Daniel. Vor einigen Monaten schon habe ich einen Herrn aus Reus kennengelernt. Ein guter Mensch, Witwer. Ein guter Vater. Er betreibt einen Schrotthandel, und immer wenn er nach Barcelona kommt, besucht er mich. Er hat um meine Hand angehalten. Keiner von uns beiden macht sich Illusionen, wissen Sie. Allein alt zu werden ist sehr hart, und ich weiß, dass ich nicht mehr den Körper habe, um weiter auf der Straße zu arbeiten. Jaumet, der Herr aus Reus, hat mich gebeten, mit ihm zu verreisen. Die Kinder sind bereits ausgeflogen, und er hat sein ganzes Leben lang gearbeitet. Er sagt, er will noch etwas von der Welt sehen, bevor er abtritt, und hat mich gebeten mitzukommen. Als seine Frau, nicht als Wegwerfhure. Das Schiff fährt morgen sehr früh. Jaumet sagt, ein Schiffskapitän hat die Befugnis, auf hoher See zu trauen, und sonst suchen wir uns in irgendeinem Hafen, den wir anlaufen, einen Geistlichen.«
»Weiß es Fermín?«
Als hätte er uns aus der Ferne gehört, blieb Fermín auf der Tanzfläche stehen und schaute zu uns rüber. Er streckte die Arme nach der Rociíto aus und setzte dieses liebebedürftige Trägheitsgesicht auf, mit dem er so viel Erfolg gehabt hatte. Die Rociíto lachte, schüttelte leise den Kopf, und bevor sie für ihren letzten Bolero zu der Liebe ihres Lebens auf die Tanzfläche ging, drehte sie sich um und sagte:
»Passen Sie gut auf ihn auf, Daniel. Fermín gibt es nur einen.«
Das Orchester hatte aufgehört zu spielen, und die Tanzfläche öffnete sich, um die Rociíto durchzulassen. Fermín nahm sie bei den Händen. Langsam ging in der Paloma das Licht aus; zwischen den Schatten wuchs ein Scheinwerfer und zeichnete mit seinem Strahl zu Füßen des Paars einen dunstigen Lichtkreis. Alle anderen traten zur Seite, und langsam setzte das Orchester mit dem traurigsten je komponierten Bolero ein. Fermín umschlang die Taille der Rociíto. Sich in die Augen schauend, fern von der Welt, tanzten die Geliebten dieses für immer verlorenen Barcelona zum letzten Mal in enger Umarmung. Als die Musik verklang, küsste Fermín sie auf die Lippen, und die Rociíto streichelte in Tränen aufgelöst seine Wange und ging langsam auf den Ausgang zu, ohne sich zu verabschieden.
Das Orchester fing diesen Moment mit einer Guaracha auf, und Oswaldo Darío de Mortenssen, den das Liebesbriefeschreiben zum Melancholie-Enzyklopädiker gemacht hatte, ermunterte die Gäste, wieder die Tanzfläche einzunehmen, als wäre nichts geschehen. Fermín kam ein wenig niedergeschlagen zur Theke und setzte sich neben mich auf einen Hocker.
»Geht es Ihnen gut, Fermín?«
Er nickte schwach.
»Ich glaube, ein wenig frische Luft würde mir guttun, Daniel.«
»Warten Sie hier auf mich, ich hole unsere Mäntel.«
Wir spazierten durch die Calle Tallers auf die Ramblas zu, da erblickten wir etwa fünfzig Meter vor uns eine vertraute Gestalt, die langsam einherschritt.
»Aber Daniel, das ist doch Ihr Vater!«
»Wie er leibt und lebt. Stockbesoffen.«
»Das Letzte, was ich auf dieser Welt zu sehen erwartet hätte«, sagte Fermín.
»Und ich erst!«
Wir beschleunigten unsere Schritte, bis wir ihn eingeholt hatten. Als er uns erblickte, lächelte er uns aus glasigen Äuglein an.
»Wie spät ist es denn?«, fragte er.
»Sehr spät.«
»Das habe ich mir eben auch gedacht. Hören Sie, Fermín, ein fabelhaftes Fest. Und die Mädchen! Da gab es ja ein paar Hintern, die eine Kriegserklärung wert wären.«
Ich verdrehte die Augen. Fermín hakte meinen Vater unter und lenkte seine Schritte.
»Señor Sempere, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas zu Ihnen sagen würde, aber Sie leiden an einer akuten Alkoholvergiftung und sagen besser nichts, was Sie später bereuen könnten.«
Mein Vater nickte, plötzlich beschämt.
»Das ist dieser verdammte Barceló, der mir weiß Gott was eingeflößt hat, und ich bin das Trinken nicht gewohnt…«
»Macht nichts. Jetzt schlucken Sie ein Natron, und dann schlafen Sie den Rausch aus. Morgen sind Sie wieder frisch wie eine Rose, und keiner erinnert sich mehr dran.«
»Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
Wir hielten ihn fest, während der Ärmste alles von sich gab, was er getrunken hatte. Ich stützte seine von kaltem Schweiß bedeckte Stirn, und als klar war, dass außer Galle nichts mehr in ihm steckte, setzten wir ihn einen Augenblick auf die Stufen eines Hauseingangs.
»Atmen Sie tief und langsam ein und aus, Señor Sempere.«
Mein Vater nickte mit geschlossenen Augen. Fermín und ich wechselten einen Blick.
»Sagen Sie, wollten Sie nicht bald heiraten?«
»Morgen Nachmittag.«
»Na, dann meinen herzlichsten Glückwunsch.«
»Danke, Señor Sempere. Was meinen Sie, sind Sie so weit in der Lage, ganz allmählich nach Hause zu gehen?«
Mein Vater nickte.
»Los, nur Mut, es kann nichts mehr kommen.«
Ein frischer, trockener Wind wehte und weckte meinen Vater. Als wir zehn Minuten später in die Calle Santa Ana einbogen, war er wieder bei klarem Verstand und verzehrte sich beinahe vor Scham. Wahrscheinlich hatte er sich in seinem ganzen Leben nie betrunken.
»Davon bitte kein Wort zu niemandem«, flehte er uns an.
Etwa zwanzig Meter von der Buchhandlung entfernt sah ich jemanden im Hauseingang sitzen. Die große Lampe der Casa Jorba an der Ecke zur Puerta del Ángel zeichnete die Gestalt eines jungen Mädchens mit einem Koffer auf den Knien. Als sie uns sah, stand sie auf.
»Wir haben Gesellschaft«, murmelte Fermín.
Mein Vater hatte sie als Erster gesehen. Ich bemerkte etwas Seltsames in seinem Gesicht, eine angespannte Ruhe, die ihn befiel, als wäre er schlagartig wieder nüchtern. Er ging auf das junge Mädchen zu, blieb aber unversehens wie angewurzelt stehen.
»Isabella?«, hörte ich ihn sagen.
Ich befürchtete, der Alkohol trübe ihm weiterhin den Verstand und gleich werde er auf offener Straße zusammenbrechen, und ging einige Schritte voraus. Da sah ich sie.
Sie war bestimmt nicht älter als siebzehn. Im Licht der Straßenlaterne lächelte sie schüchtern und deutete mit der Hand einen Gruß an.
»Ich bin Sofía«, sagte sie mit leichtem Akzent.
Mein Vater starrte sie sprachlos an, als habe er ein Gespenst gesehen. Ich schluckte und spürte, wie mir ein Schauer den Rücken hinunterlief. Dieses junge Mädchen war das lebende Ebenbild meiner Mutter, wie sie auf den Fotos im Sekretär meines Vaters zu sehen war.
»Ich bin Sofía«, wiederholte sie verwirrt. »Ihre Nichte. Aus Neapel…«
»Sofía«, stotterte mein Vater. »Ah, Sofía.«
Die Vorsehung wollte, dass Fermín bei uns war und die Zügel in die Hand nehmen konnte. Nachdem er mich mit einem Klaps aus dem Schrecken geweckt hatte, begann er dem jungen Mädchen auseinanderzusetzen, dass Señor Sempere ein klein wenig unpässlich sei.
»Wir kommen nämlich von einer Weinprobe, und der Ärmste wird schon nach einem Glas Vichywasser schläfrig. Beachten Sie ihn einfach nicht, Signorina, normalerweise wirkt er nicht so verdattert.«
Wir fanden die Eildepesche, die uns die Mutter des Mädchens, Tante Laura, geschickt und worin sie ihr Kommen angekündigt hatte; sie war während unserer Abwesenheit unter der Haustür durchgeschoben worden.
Oben in der Wohnung bettete Fermín meinen Vater aufs Sofa und hieß mich eine Kanne starken Kaffee machen. Inzwischen unterhielt er sich mit dem jungen Mädchen, erkundigte sich nach der Reise und warf allerhand Belanglosigkeiten hin, während mein Vater langsam ins Leben zurückkehrte.
Anmutig und mit einem charmanten Akzent erzählte uns Sofía, sie sei abends um zehn im Francia-Bahnhof angekommen. Dort habe sie ein Taxi zur Plaza de Cataluña genommen. Da niemand zu Hause gewesen sei, habe sie in einer nahen Kneipe Zuflucht gesucht, bis sie geschlossen habe. Danach habe sie sich zum Warten in den Hauseingang gesetzt und gehofft, irgendwann werde schon jemand kommen. Mein Vater erinnerte sich zwar an den Brief, in dem ihre Mutter ihr Eintreffen angekündigt hatte, aber so bald habe er sie nicht erwartet.
»Es tut mir sehr leid, dass du auf der Straße hast ausharren müssen«, sagte er. »Sonst gehe ich nie aus, aber heute war Fermíns Junggesellenabschied…«
Sofía war entzückt von der Nachricht, und sie stand auf, um Fermín einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Der hatte sich zwar aus dem Kampfgetümmel zurückgezogen, konnte jedoch dem Impuls nicht widerstehen, sie auf der Stelle zur Hochzeit einzuladen.
Als wir eine halbe Stunde geplaudert hatten, kam Bea vom Junggesellinnenabschied der Bernarda zurück, hörte im Treppenhaus Stimmen aus der Wohnung und klopfte an. Beim Betreten des Esszimmers erblickte sie Sofía, wurde weiß und warf mir einen Blick zu.
»Das ist meine Cousine Sofía aus Neapel«, verkündete ich. »Sie ist zum Studieren nach Barcelona gekommen und wird eine Zeitlang hier wohnen…«
Bea versuchte ihre Beunruhigung zu verbergen und begrüßte sie vollkommen unbefangen.
»Das ist meine Frau Beatriz.«
»Bea, bitte. Keiner nennt mich Beatriz.«
Zeit und Kaffee machten Sofías Anwesenheit allmählich zur Selbstverständlichkeit, und nach einer Weile fand Bea, die Arme sei bestimmt erschöpft und gehe wohl am besten schlafen, morgen sei auch wieder ein Tag, wenn auch ein Hochzeitstag. Es wurde beschlossen, sie in meinem ehemaligen Kinderzimmer unterzubringen, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass mein Vater nicht erneut ins Koma fallen würde, brachte Fermín ihn ebenfalls zu Bett. Bea versicherte Sofía, sie werde ihr für die Zeremonie eins ihrer Kleider überlassen, und als Fermín, dem man den Rum aus zwei Meter Entfernung anroch, eine unangebrachte Bemerkung über Ähnlichkeit und Verschiedenheit von Figur und Kleidergrößen machen wollte, brachte ich ihn mit dem Ellbogen zum Schweigen.
Von der Konsole her betrachtete uns ein Hochzeitsfoto meiner Eltern. Wir saßen zu dritt im Esszimmer und schauten es an und konnten uns nicht von unserem Staunen erholen.
»Wie ein Ei dem anderen«, murmelte Fermín.
Bea sah mich von der Seite an und versuchte meine Gedanken zu erraten. Sie nahm meine Hand und machte ein heiteres Gesicht, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Na, wie war denn das Gelage?«, fragte sie.
»Züchtig«, versicherte Fermín. »Und das der Damen?«
»Keine Spur von züchtig.«
Fermín sah mich ernst an.
»Ich sag ja immer, in solchen Dingen sind Frauen sehr viel ausschweifender als wir.«
Bea lächelte rätselhaft.
»Wen nennen Sie ausschweifend, Fermín?«
»Verzeihen Sie den unverzeihlichen Ausrutscher, Doña Beatriz, da spricht der Rum mit Zitrone, der in meinen Adern fließt und mich Unsinn reden lässt. Sie sind bei Gott ein Muster an Tugend und Feinheit, und meine Unbedeutendheit möchte eher verstummen und die restlichen Tage wortlos büßend in einer Kartäuserzelle verbringen, als auch nur von fern den Anschein von Ausschweiflichkeit Ihrerseits anzudeuten.«
»Daraus wird nichts«, sagte ich.
»Lassen wir das Thema besser«, fiel uns Bea ins Wort und sah uns an wie zwei Lausebengel. »Und jetzt werdet ihr ja vermutlich den traditionellen Vorhochzeitsspaziergang auf den Wellenbrecher unternehmen.«
Fermín und ich schauten uns an.
»Los, geht schon. Ich würde euch raten, morgen pünktlich in der Kirche zu erscheinen…«
Das einzige Lokal, das zu dieser Stunde noch aufhatte, war das Xampanyet in der Calle Montcada. Offenbar riefen wir einen äußerst bemitleidenswerten Eindruck hervor, denn man ließ uns eine Weile bleiben, während saubergemacht wurde. Beim Schließen drückte der Wirt Fermín angesichts der Nachricht, dass er in wenigen Stunden ein verheirateter Mann wäre, sein Beileid aus und schenkte uns eine Flasche der hauseigenen Medizin.
»Augen zu und durch!«, riet er.
Wir streiften durch die Gassen des Viertels und hämmerten wie immer die Welt zurecht, bis sich der Himmel zage purpurn färbte — Zeit, dass der Bräutigam und sein Trauzeuge, also ich, sich auf den Wellenbrecher setzten, um einmal mehr vor der größten Fata Morgana der Welt die Morgendämmerung zu begrüßen, vor dem Barcelona, das sich beim Aufwachen im Hafenwasser spiegelte.
Die Beine von der Mole baumeln lassend, tranken wir aus der Flasche, die man uns im Xampanyet geschenkt hatte. Zwischen zwei Schlucken betrachteten wir schweigend die Stadt und verfolgten den Flug eines Möwenschwarms über der Kuppel der Mercè-Kirche, der dann einen Bogen zwischen den Türmen des Postgebäudes zeichnete. In der Ferne erhob sich auf dem Montjuïc düster das Kastell wie ein geisterhafter Vogel, lauernd die Stadt zu seinen Füßen beobachtend.
Das Nebelhorn eines Schiffs durchbrach die Stille, und wir sahen auf der anderen Seite des nationalen Hafenbeckens einen großen Kreuzer die Anker lichten, um in See zu stechen. Das Schiff löste sich von der Mole und drehte mit einem Propellerschub, der im Hafenwasser eine breite Kielspur hinterließ, den Bug der Hafeneinfahrt zu. Dutzende Passagiere waren an Deck gekommen und winkten. Ich fragte mich, ob sich unter ihnen auch die Rociíto und ihr schmucker rüstiger Schrotthändler aus Reus befanden. Nachdenklich schaute Fermín dem Schiff nach.
»Glauben Sie, die Rociíto wird glücklich werden, Daniel?«
»Und Sie, Fermín? Werden Sie glücklich sein?«
Wir sahen, wie sich das Schiff entfernte und die Gestalten immer kleiner und dann unsichtbar wurden.
»Fermín, da gibt es etwas, was ich gern wüsste. Warum hat Ihnen niemand ein Hochzeitsgeschenk machen dürfen?«
»Ich mag die Leute nicht in Verlegenheit bringen. Und zudem — was sollten wir mit einer Gläser- und Löffelchengarnitur mit eingraviertem Spanienwappen und solchem Zeug anfangen?«
»Mir macht es jedenfalls Spaß, Ihnen etwas zu schenken.«
»Sie haben mir schon das größte Geschenk gemacht, das man sich vorstellen kann, Daniel.«
»Das zählt nicht. Ich spreche von einem Geschenk für den persönlichen Gebrauch und Genuss.«
Fermín sah mich neugierig an.
»Es wird doch nicht etwa eine Muttergottes aus Porzellan oder ein Kruzifix sein? Die Bernarda hat schon eine ganze Sammlung davon, so dass ich gar nicht mehr weiß, wo wir uns hinsetzen sollen.«
»Keine Bange. Es ist kein Gegenstand.«
»Aber doch nicht etwa Geld…«
»Sie wissen ja, dass ich leider keinen Cent habe. Der mit dem Kapital ist mein Schwiegervater, und der macht nichts locker.«
»Diese Spätfranquisten kleben an ihrem Geld wie die Schuppen von Kiefernzapfen aneinander.«
»Mein Schwiegervater ist ein guter Mensch, Fermín. Legen Sie sich nicht mit ihm an.«
»Ziehen wir einen Schleier davor, aber wechseln Sie jetzt nicht das Thema, wo Sie mir schon den Speck durch den Mund gezogen haben. Was für ein Geschenk denn?«
»Raten Sie.«
»Ein Posten Sugus.«
»Kalt, kalt…«
Fermín zog die Brauen in die Höhe und starb fast vor Neugier. Plötzlich begannen seine Augen zu leuchten.
»Nein… Es wurde aber auch Zeit.«
Ich nickte.
»Alles im gegebenen Moment. Jetzt hören Sie mir gut zu. Was Sie heute sehen werden, dürfen Sie niemandem erzählen, Fermín. Niemandem…«
»Auch nicht der Bernarda?«
Das erste Sonnenlicht des Tages glitt wie flüssiges Kupfer über die Gesimse der Rambla de Santa Mónica. Es war Sonntagmorgen, und die Straßen lagen still und verlassen da. Als wir in die schmale Calle del Arco del Teatro einbogen, erlosch mit unseren Schritten allmählich der grauenerregende Lichtstrahl von den Ramblas her, und sowie wir vor dem großen Holzportal standen, waren wir schon in eine Schattenstadt getaucht.
Ich stieg die paar Stufen hinan und ließ den Türklopfer niederfallen. Langsam wie die Wellen auf einem Teich verlor sich das Echo im Inneren. Fermín, in respektvolles Schweigen versunken wie ein Junge, der kurz vor seinem ersten religiösen Zeremoniell steht, schaute mich ängstlich an.
»Ist es nicht doch sehr früh, um anzuklopfen?«, fragte er. »Da wird der Chef sicher sauer.«
»Das ist nicht das Warenhaus El Siglo. Es gibt keine Öffnungszeiten«, beruhigte ich ihn. »Und der Chef heißt Isaac. Sagen Sie nichts, ehe er Sie fragt.«
Er nickte gehorsam.
»Ich sage keinen Piep.«
Zwei Minuten später vernahm ich das Ballett der Räderwerke, Rollen und Hebel, mit denen das Schloss gesteuert wurde, und ging die Stufen wieder hinunter. Das Tor öffnete sich nur eben eine Handbreit, und es erschien das Adlergesicht des Aufsehers Isaac Monfort mit seinem gewohnt beißenden Blick. Seine Augen ruhten zuerst auf mir, glitten dann über Fermín und röntgten, katalogisierten und durchbohrten diesen schließlich gewissenhaft.
»Das muss der berühmte Fermín Romero de Torres sein«, brummelte er.
»Zu Diensten — Ihnen, Gott und…«
Ich stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, und lächelte dem gestrengen Aufseher zu.
»Guten Tag, Isaac.«
»Gut wird der Tag sein, an dem Sie einmal nicht in aller Herrgottsfrühe anklopfen, wenn ich auf dem WC sitze, oder an einem gebotenen Feiertag, Sempere«, erwiderte Isaac. »Los, rein mit Ihnen.«
Er öffnete das Portal um eine weitere Handbreit, so dass wir hineinschlüpfen konnten. Als die Tür hinter uns zuging, hob Isaac die Öllampe vom Boden, und Fermín konnte die mechanische Arabeske dieses Schlosses studieren, das sich in sich selbst zusammenklappte wie die Eingeweide der größten Uhr der Welt.
»Da hätte es ein Dieb nicht leicht«, warf er hin.
Ich bedachte ihn mit einem mahnenden Blick, und rasch hielt er sich den Finger auf den Mund.
»Ausleihen oder zurückbringen?«, fragte Isaac.
»Eigentlich wollte ich Fermín schon lange herbringen, damit er diesen Ort persönlich kennenlernt, von dem ich ihm so viel erzählt habe. Er ist mein bester Freund und heiratet heute Mittag«, erklärte ich.
»Um Gottes willen«, sagte Isaac. »Der Ärmste. Sind Sie sicher, dass ich Ihnen hier nicht Hochzeitsasyl gewähren soll?«
»Fermín gehört zu denen, die aus Überzeugung heiraten, Isaac.«
Der Aufseher musterte ihn von oben bis unten. Fermín beantwortete diese Dreistigkeit mit einem entschuldigenden Lächeln.
»Wie mutig.«
Er führte uns durch den breiten Gang zur Öffnung der Galerie, die in den großen Saal mündete. Ich ließ Fermín ein paar Schritte vorausgehen, damit seine Augen diese mit Worten nicht zu beschreibende Vision selbst entdeckten.
Seine winzige Silhouette tauchte in das große Lichtbündel, das von der Glaskuppel oben herabfiel. Wie ein gischtender Wasserfall stürzte die Helligkeit auf die Winkel des großen Labyrinths aus Gängen, Tunnels, Treppen, Bögen und Gewölben, die aus dem Boden zu sprießen schienen gleich einem riesigen Baumstamm aus Büchern, der sich in einer unmöglichen Geometrie zum Himmel hin öffnete. Fermín blieb am Anfang eines Laufstegs stehen, der wie eine Brücke in die Basis der Struktur hineinführte, und betrachtete offenen Mundes das Schauspiel. Leise trat ich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Willkommen im Friedhof der Vergessenen Bücher, Fermín.«
Wenn jemand den Friedhof der Vergessenen Bücher entdeckte — so meine persönliche Erfahrung —, war seine Reaktion Verzauberung und Staunen. Die Schönheit und das Geheimnisvolle des Orts weckten im Besucher Stille, Kontemplation und Traumversunkenheit. Es war klar, dass es bei Fermín anders sein musste. Die erste halbe Stunde war er hypnotisiert, stürmte wie ein Besessener durch die Innereien des großen Puzzles, aus dem das Labyrinth bestand. Immer wieder klopfte er auf Strebepfeiler und Säulen, als zweifle er an ihrer Festigkeit. Er hielt sich bei Winkeln und Perspektiven auf, formte die Hände zum Fernglas und versuchte die Logik des Aufbaus zu ergründen. Beim Durchwandern der Bibliotheksspirale hielt er mit seiner beachtlichen Nase einen Zentimeter Abstand zu den zahllosen, in unendlichen Wegen aufgereihten Buchrücken, suchte Titel und katalogisierte alles, woran er vorbeikam. Beunruhigt bis besorgt folgte ich ihm mit wenigen Schritten Abstand.
Inzwischen war ich mir sicher, dass uns Isaac hochkant hinauswürfe, als ich auf einer der zwischen Büchergewölben hängenden Brücken auf ihn stieß. Zu meiner Überraschung war auf seinem Gesicht nicht nur nicht das geringste Anzeichen von Irritation zu lesen, sondern Fermíns Fortschritte bei der ersten Erforschung des Friedhofs der vergessenen Bücher brachten ihn zum Lächeln.
»Ihr Freund ist ein rechter Kauz«, sagte er.
»Das kann man wohl sagen.«
»Keine Sorge, er soll sich nach Lust und Laune bewegen, er kommt dann schon wieder von der Wolke herunter.«
»Und wenn er sich verirrt?«
»Der ist clever, wie ich sehe. Er wird sich zu helfen wissen.«
Mir war das nicht ganz geheuer, aber ich mochte Isaac nicht widersprechen. Ich begleitete ihn zu seinem Büro und schlug die Tasse Kaffee nicht aus, die er mir anbot.
»Haben Sie Ihrem Freund die Regeln schon beigebracht?«
»Fermín und Regeln sind zwei Begriffe, die nicht in denselben Satz passen. Aber ich habe ihm das Grundsätzliche resümiert, und er hat mit einem überzeugten ›Aber natürlich, wofür halten Sie mich?‹ geantwortet.«
Während mir Isaac Kaffee nachschenkte, betrachtete ich verstohlen ein Foto seiner Tochter Nuria über dem Schreibtisch.
»Bald sind es zwei Jahre her, seit sie uns verlassen hat«, sagte er mit einer Trauer, die in die Luft schnitt.
Bedrückt schaute ich zu Boden. Es könnten auch hundert Jahre vergehen, und Nuria Monforts Tod würde in meiner Erinnerung ebenso überdauern wie die Gewissheit, dass sie vielleicht noch am Leben wäre, wenn sie mich nie kennengelernt hätte. Isaac liebkoste das Bild mit dem Blick.
»Ich werde alt, Sempere. Es wird allmählich Zeit, dass jemand meinen Platz einnimmt.«
Eben wollte ich dagegen Protest erheben, als mit gehetztem Gesichtsausdruck Fermín eintrat, so keuchend, als hätte er soeben einen Marathonlauf absolviert.
»Na?«, sagte Isaac. »Wie finden Sie’s?«
»Herrlich. Obwohl ich feststelle, dass es keine Toilette gibt. Wenigstens nicht in Sichtweite.«
»Ich hoffe, Sie haben nicht in eine Ecke gepinkelt.«
»Mit übermenschlicher Anstrengung habe ich es bis hierher geschafft.«
»Die Tür hier links. Sie müssen zweimal spülen, beim ersten Mal klappt’s nie.«
Während Fermín seinen Urin abschlug, schenkte ihm Isaac eine dampfende Tasse ein.
»Ich habe eine ganze Reihe Fragen, die ich Ihnen gern stellen würde, Don Isaac.«
»Fermín, ich glaube nicht, dass…«
»Nur zu, fragen Sie.«
»Der erste Block hat mit der Geschichte dieses Orts zu tun. Der zweite ist technischer und architektonischer Natur. Und der dritte grundsätzlich bibliographisch…«
Isaac lachte. Ich hatte ihn mein Lebtag noch nie lachen sehen und wusste nicht, ob das ein Zeichen des Himmels oder die Ankündigung einer drohenden Katastrophe war.
»Zuerst werden Sie das Buch aussuchen müssen, das Sie retten wollen.«
»Ich habe ein paar ins Auge gefasst, dann habe ich mir aber erlaubt, das da zu wählen, und sei es nur aus sentimentalen Gründen.«
Er zog einen in rotes Leder gebundenen Band mit Relief-Goldprägung und dem Stich eines Totenkopfs auf dem Umschlag aus der Tasche.
»Oho, Die Stadt der Verdammten, dreizehnte Episode: Daphne und die unmögliche Treppe, von David Martín…«, las Isaac.
»Ein alter Freund«, erklärte Fermín.
»Was Sie nicht sagen. Denken Sie nur, es gab eine Zeit, wo ich ihn oft hier sah.«
»Das muss vor dem Bürgerkrieg gewesen sein«, bemerkte ich.
»Nein, nein, einige Zeit danach.«
Fermín und ich schauten uns an. Ich fragte mich, ob Isaac tatsächlich recht hatte damit, dass er langsam zu alt war für seine Stelle.
»Ich möchte Ihnen ja nicht widersprechen, Chef, aber das ist unmöglich«, sagte Fermín.
»Unmöglich? Sie werden sich deutlicher ausdrücken müssen.«
»David Martín ist vor dem Bürgerkrieg aus dem Land geflohen«, erklärte ich. »Anfang 1939, gegen Ende der Kampfhandlungen, kam er über die Pyrenäen zurück und wurde nach wenigen Tagen in Puigcerdá verhaftet. Er hat bis weit ins Jahr 1940 hinein im Gefängnis gesessen, und dann wurde er umgebracht.«
Isaac schaute uns verdutzt an.
»Sie dürfen ihm glauben, Chef«, beteuerte Fermín. »Unsere Quellen sind glaubwürdig.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass David Martín hier auf diesem Stuhl gesessen hat wie jetzt Sie, Sempere, und dass wir uns eine Weile unterhalten haben.«
»Sind Sie sicher, Isaac?«
»Ich bin mir in meinem ganzen Leben keiner Sache so sicher gewesen. Ich erinnere mich deshalb, weil ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er war übel zugerichtet und sah krank aus.«
»Können Sie sich noch an das Datum erinnern?«
»Ganz genau. Es war die letzte Nacht des Jahres 1940. Silvester. Da sah ich ihn zum letzten Mal.«
Fermín und ich verloren uns in Rechnereien.
»Das bedeutet, dass dieser Gefängniswärter, Bebo, recht hatte mit dem, was er Brians erzählte. In der Nacht, in der Valls ihn in das alte Haus beim Park Güell fahren und umbringen ließ… Bebo erzählte, nachher habe er die beiden Typen sagen hören, etwas sei dort geschehen, es sei noch jemand in dem Haus gewesen… Jemand, der Martíns Tod verhindern konnte…«, phantasierte ich.
Bestürzt hörte sich Isaac diese krause Geschichte an.
»Wovon sprechen Sie? Wer wollte Martín umbringen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Fermín. »Mit tonnenweise Randbemerkungen.«
»Da bin ich ja gespannt, ob Sie sie mir eines Tages erzählen…«
»Hatten Sie den Eindruck, Martín sei bei klarem Verstand gewesen, Isaac?«, fragte ich.
Der alte Aufseher zuckte die Schultern.
»Bei Martín wusste man nie… Dieser Mann hatte eine gequälte Seele. Als er ging, wollte ich ihn zum Zug begleiten, aber er sagte, draußen warte ein Auto auf ihn.«
»Ein Auto?«
»Nichts weniger als ein Mercedes-Benz. Eigentum eines Mannes, den er als den Patron bezeichnete und der ihn offenbar vor der Tür erwartete. Doch als ich mit ihm hinausging, war da weder ein Auto noch ein Patron, noch sonst was…«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Chef, aber an Silvester und in Feierstimmung, könnte es da nicht sein, dass Sie mit dem Wein und Champagner etwas über die Stränge geschlagen haben und sich, betäubt durch die Weihnachtslieder und den hohen Zuckergehalt des Jijona-Turrons, all das nur eingebildet haben?«, forschte Fermín.
»Was das Kapitel Kohlensäure betrifft, so trinke ich nur Limonade, und der billigste Fusel, den ich hier habe, ist eine Flasche Wasserstoffperoxid«, stellte er klar, ganz offensichtlich nicht beleidigt.
»Entschuldigen Sie die Nachfrage. Reine Formalität.«
»Ja. Aber Sie dürfen mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass — außer der Besucher jener Nacht war ein Geist, was ich nicht glaube, denn er blutete aus einem Ohr, und seine Hände zitterten, und überdies klaute er mir aus der Speisekammer den ganzen Würfelzucker — Martín so lebendig war wie Sie beide und ich.«
»Und er hat nicht gesagt, wozu er nach so langer Zeit herkam?«
Isaac nickte.
»Er sagte, er wolle etwas hierlassen, was er wiederholen werde, sobald er könne. Er selbst oder jemand, den er dann schicke…«
»Und was hat er dagelassen?«
»Ein verschnürtes Paket. Ich weiß nicht, was drin war.«
Ich schluckte.
»Und haben Sie es noch?«, fragte ich.
Das aus dem hintersten Winkel eines Schranks geklaubte Paket lag auf Isaacs Schreibtisch. Als ich mit dem Finger darüberstrich, stieg eine Staubwolke auf, deren Partikel im Licht von Isaacs Öllampe links von mir zu brennen schienen. Zu meiner Rechten packte Fermín sein Federmesser aus und reichte es mir. Alle drei schauten wir uns an.
»Lassen wir uns also überraschen«, sagte Fermín.
Ich durchschnitt mit dem Messer die Schnur und blätterte vorsichtig das Packpapier auf, bis der Inhalt sichtbar wurde. Ein Manuskript. Die Seiten waren schmutzig, voller Wachs- und Blutspuren. Die erste Seite zeigte den in diabolischer Schrift gezeichneten Titel.
Das Spiel des Engels
Von David Martín
»Das ist das Buch, das er geschrieben hat, als er im Turm eingesperrt war«, flüsterte ich. »Bebo hat es ganz offensichtlich gerettet.«
»Darunter ist noch was, Daniel…«, sagte Fermín.
Eine Pergamentecke lugte unter dem Manuskriptpacken hervor. Ich zog daran, und es erschien ein Umschlag, der mit einem scharlachroten Engel versiegelt war. Auf der Vorderseite ein einziges Wort in roter Tinte:
Daniel
Ich spürte, wie Kälte in meine Hände drang. Isaac, erstaunt und fassungslos, zog sich still zur Schwelle zurück, gefolgt von Fermín.
»Daniel«, sagte dieser sanft, »wir lassen Sie in Frieden, damit Sie in aller Ruhe und Ungestörtheit das Kuvert öffnen können.«
Ihre Schritte entfernten sich langsam, und ich konnte eben noch den Anfang ihres Gesprächs aufschnappen.
»Hören Sie, Chef, ob dieser ganzen Aufregung habe ich ganz vergessen, zu sagen, dass ich vorhin, als ich hereinkam, nicht umhinkonnte, Sie sagen zu hören, Sie hätten Lust, in Pension zu gehen und die Stelle aufzugeben.«
»So ist es. Ich habe schon viele Jahre hier verbracht. Warum?«
»Nun, sehen Sie, ich weiß, dass wir uns sozusagen eben erst kennengelernt haben, aber vielleicht wäre ich daran interessiert…«
Die Stimmen der beiden verloren sich in den Echos des labyrinthischen Friedhofs der vergessenen Bücher. Ich setzte mich in den Sessel des Aufsehers und brach das Lacksiegel. Der Umschlag enthielt ein zusammengefaltetes ockerfarbenes Blatt. Ich faltete es auseinander und begann zu lesen.
Barcelona, 31. Dezember 1940
Lieber Daniel,
ich schreibe diese Worte in der Hoffnung und Überzeugung, dass du eines Tages diesen Ort entdeckst, den Friedhof der Vergessenen Bücher, einen Ort, der mein Leben verändert hat, wie er, da bin ich überzeugt, auch deines verändern wird. Diese selbe Hoffnung lässt mich glauben, dass dir vielleicht einmal, wenn ich nicht mehr da bin, jemand von mir erzählt und von der Freundschaft, die mich mit deiner Mutter verbunden hat. Ich weiß, dass dich, falls du überhaupt einmal diese Worte liest, viele Fragen und Zweifel beschäftigen werden. Einige Antworten darauf wirst du in diesem Manuskript finden, in dem ich meine Geschichte zu gestalten versucht habe, wie ich sie in Erinnerung habe, im Wissen, dass die Tage meiner geistigen Klarheit gezählt sind und dass ich oft nur noch imstande bin, mich an das zu erinnern, was niemals geschehen ist.Ich weiß auch, dass, wenn du diesen Brief bekommst, die Zeit allmählich die Spuren dessen getilgt hat, was geschehen ist. Ich weiß, dass du Verdächtigungen hegst und dass du, wenn du die Wahrheit über die letzten Tage deiner Mutter erfährst, Wut und Rachedurst mit mir teilen wirst. Man sagt, dass der Kluge und Gerechte Verzeihung übt, aber ich weiß, dass ich das nie werde tun können. Meine Seele ist schon verdammt und hat keine Aussicht auf Rettung. Ich weiß, dass ich mit jedem Atemzug, der mir auf dieser Welt noch bleibt, versuchen werde, Isabellas Tod zu rächen. Das ist mein Schicksal, nicht jedoch das deine.Deine Mutter hätte dir um keinen Preis ein Leben wie meines gewünscht. Sie hätte dir ein erfülltes Leben ohne Hass und Groll gewünscht. Ihretwegen bitte ich dich, diese Geschichte zu lesen und sie, wenn du zu Ende bist, zu vernichten, alles zu vergessen, was du über eine Vergangenheit gehört haben magst, die es nicht mehr gibt, dein Herz vom Zorn zu reinigen und das Leben zu leben, das dir deine Mutter geben wollte, immer vorausblickend.Und wenn du eines Tages, vor ihrem Grab kniend, spürst, dass sich das Feuer der Wut deiner bemächtigen will, denk daran, dass es in meiner Geschichte ebenso wie in deiner einen Engel gegeben hat, der alle Antworten kennt.
Mehrmals las ich die Worte, die mir David Martín durch die Zeit hindurch schickte, Worte, die für mich voller Reue und Verrücktheit waren, Worte, die ich nicht zur Gänze verstehen konnte. Einige Augenblicke hielt ich den Brief in den Händen, und dann übergab ich ihn der Flamme der Öllampe und sah ihm beim Brennen zu.
Ich fand Fermín und Isaac vor dem Eingang zum Labyrinth, plaudernd wie alte Freunde. Als sie mich kommen sahen, verstummten sie und schauten mich erwartungsvoll an.
»Was in diesem Brief stand, geht nur Sie etwas an, Daniel. Es gibt keinen Grund, uns irgendetwas zu erzählen.«
Ich nickte. Durch die Mauern war schwach das Echo von Glockenschlägen zu hören. Isaac sah uns an und schaute auf seine Uhr.
»Sagen Sie, wollten Sie heute nicht zu einer Hochzeit?«
Die Braut war ganz in Weiß, und obwohl sie kein großes Geschmeide oder sonstigen Schmuck trug, hat es in der Geschichte keine Frau gegeben, die in den Augen des Bräutigams schöner war als die Bernarda an diesem strahlenden Tag Anfang Februar auf dem Vorplatz der Santa-Ana-Kirche. Don Gustavo Barceló, der so ziemlich sämtliche Blumen Barcelonas aufgekauft hatte, um damit den Kircheneingang zu überschwemmen, weinte wie ein Schlosshund, und der Pfarrer, Freund des Bräutigams, überraschte uns alle mit einer glanzvollen Predigt, die selbst Bea, sonst nicht so leicht weichzukriegen, zu Tränen rührte.
Mir wären um ein Haar die Ringe aus der Hand gefallen, aber alles war vergangen und vergessen, als der Geistliche Fermín nach allen Vorreden aufforderte, die Braut zu küssen. Da wandte ich mich einen Augenblick um und glaubte in der letzten Bankreihe eine Gestalt zu sehen, einen Unbekannten, der mich lächelnd ansah. Ich könnte nicht sagen, warum, doch einen Moment lang war ich mir absolut sicher, dass dieser Fremde niemand anders war als der Gefangene des Himmels. Beim nächsten Hinschauen war er jedoch nicht mehr da. Fermín neben mir umarmte die Bernarda kräftig und drückte ihr unbefangen einen Kuss auf die Lippen, der eine vom Geistlichen angeführte Ovation auslöste.
Als ich an diesem Tag meinen Freund die geliebte Frau küssen sah, dachte ich, dieser der Zeit und Gott abgestohlene Augenblick wiege sämtliche Tage des Elends auf, die uns dahin gebracht hatten, und ebenso viele weitere, die uns sicherlich erwarteten, wenn wir hinaus- und ins Leben zurückgingen, und alles Anständige und Reine und Unverfälschte dieser Welt und alles, dessentwegen sich das Weiteratmen lohnte, befinde sich auf diesen Lippen, in diesen Händen und im Blick dieser beiden Glücklichen, die, das wusste ich, bis ans Ende ihrer Tage zusammenbleiben würden.