Barcelona, 1940
Was sich bei der alten Fabrik Vilardell ereignet hatte, gelangte nie in die Zeitung — keinem war daran gelegen, diese Geschichte ans Licht kommen zu lassen. Nur die direkt Beteiligten erinnern sich daran. Noch in der Nacht, in der Mauricio Valls nach seiner Rückkehr ins Kastell feststellen musste, dass der Gefangene Nr. 13 entflohen war, teilte der Direktor Inspektor Fumero von der politischen Polizei mit, einer der Gefangenen habe ausgepackt. Vor Sonnenaufgang waren Fumero und seine Leute bereits auf dem Posten.
Zwei von ihnen ließ der Inspektor die nähere Umgebung überwachen, den Rest konzentrierte er beim Haupteingang, von wo aus man, wie Valls gesagt hatte, das ehemalige Wärterhaus sehen konnte. Die Leiche Jaime Montoyas, des heldenhaften Fahrers des Gefängnisdirektors, der sich freiwillig erboten hatte, mutterseelenallein die Richtigkeit der von einem der Gefangenen vorgebrachten Aussagen über subversive Elemente zu überprüfen, lag noch an derselben Stelle zwischen den Trümmern. Kurz vor dem Morgengrauen schickte Fumero seine Leute auf das Fabrikareal. Sie umzingelten das ehemalige Wärterhaus, und als die beiden Männer und die junge Frau, die sich im Inneren aufhielten, ihre Anwesenheit bemerkten, gab es nur einen geringfügigen Zwischenfall: Die junge Frau, die eine Feuerwaffe hatte, traf den Arm eines der Polizisten. Die Wunde war ein harmloser Kratzer. In dreißig Sekunden hatten Fumero und seine Leute die Rebellen überwältigt.
Fumero ordnete an, alle ins Haus zu bringen, ebenso den toten Fahrer. Er verlangte weder Namen noch Papiere. Er hieß seine Leute die Rebellen an Händen und Füßen mit Draht an rostige Metallstühle fesseln, die in einer Ecke lagen. Danach schickte er alle hinaus, damit sie sich vor dem Haus und der Fabrik postierten und seine Anweisungen abwarteten. Mit seinen Gefangenen allein, schloss er die Tür und setzte sich vor sie hin.
»Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und bin müde. Ich will nach Hause. Ihr werdet mir jetzt sagen, wo das Geld und der Schmuck sind, die ihr für diesen Salgado versteckt haltet, und dann geht hier alles in Ordnung. Einverstanden?«
Die Gefangenen schauten ihn halb verdutzt, halb erschrocken an.
»Wir wissen nichts von Schmuck oder von diesem Salgado«, sagte der ältere der Männer.
Fumero nickte ein wenig überdrüssig. In aller Ruhe schaute er die drei Gefangenen der Reihe nach an, als könnte er ihre Gedanken lesen und als langweilten ihn diese.
Nach kurzem Zögern suchte er sich die Frau aus und rückte seinen Stuhl bis auf zwei Handbreit an sie heran. Sie zitterte.
»Lass sie in Ruhe, du Mistkerl«, fuhr ihn der jüngere der beiden Männer an. »Wenn du sie anrührst, bring ich dich um, das schwör ich dir.«
Fumero lächelte melancholisch.
»Du hast eine sehr hübsche Freundin.«
Navas, der vor der Tür postierte Beamte, spürte, wie ihm der kalte Schweiß die Kleider nässte. Er überhörte die Schreie im Inneren, und als ihm die Kollegen vom Fabriktor her einen heimlichen Blick zuwarfen, schüttelte er den Kopf.
Niemand sagte ein Wort. Fumero hatte eine halbe Stunde im Wärterhaus verbracht, als endlich die Tür in Navas’ Rücken aufging. Navas trat zur Seite und vermied es, offen auf die feuchten Flecken auf Fumeros schwarzen Kleidern zu schauen. Langsam ging der Inspektor auf den Ausgang zu, und nachdem Navas einen kurzen Blick ins Innere geworfen hatte, schloss er unter aufsteigendem Brechreiz die Tür. Auf ein Zeichen Fumeros hin besprengten zwei seiner Leute die Hauswände und das ganze Umfeld mit Benzin aus zwei Kanistern und steckten alles in Brand.
Als sie zum Auto zurückkehrten, saß Fumero bereits auf dem Beifahrersitz. Wortlos fuhren sie los, während aus den Ruinen der alten Fabrik eine Rauch- und Flammensäule aufstieg, die im Wind eine Aschenspur hinterließ. Fumero kurbelte das Fenster herunter und streckte die offene Hand in die feuchtkalte Luft hinaus. Seine Finger waren blutbesudelt. Starr nach vorn schauend, saß Navas am Steuer, aber seine Augen sahen nur den flehenden Blick, den ihm die junge Frau, noch lebend, zugeworfen hatte, bevor er die Tür geschlossen hatte. Er bemerkte, dass Fumero ihn beobachtete, und presste die Hände ums Lenkrad, um sein Zittern zu vertuschen.
Auf dem Gehsteig schaute eine Gruppe zerlumpter Kinder dem vorbeifahrenden Auto zu. Ein kleiner Junge formte die Finger zur Pistole und drückte im Spiel auf sie ab. Lächelnd antwortete Fumero mit der gleichen Bewegung, bevor sich das Auto in dem Straßenknäuel um den Dschungel von Fabrikschloten und — hallen verlor, als wäre es nie da gewesen.
Sieben Tage lag Fermín delirierend in der Baracke. Kein feuchtes Tuch vermochte sein Fieber zu senken, keine Salbe das Übel zu lindern, das ihn, wie sie sagten, innerlich zerfraß. Die alten Frauen des Viertels, die sich bei seiner Pflege oft ablösten und ihm lebenserhaltende Tonika verabreichten, sagten, in dem Fremden hause ein Teufel, der Teufel der Gewissensbisse, und seine Seele wolle zum Ende des Tunnels fliehen und sich in der leeren Schwärze ausruhen.
Am siebten Tag kam der Mann, den alle Armando nannten und dessen Autorität an diesem Ort bis auf wenige Zentimeter an die Gottes heranreichte, zur Baracke und setzte sich ans Krankenbett. Er untersuchte Fermíns Wunden, hob seine Augenlider und las die auf die geweiteten Pupillen geschriebenen Geheimnisse. Hinter ihm hatten sich die alten Frauen, die ihn pflegten, in einem Halbkreis versammelt und warteten in respektvollem Schweigen. Nach einer Weile nickte Armando vor sich hin und verließ die Baracke. Zwei junge Männer, die vor der Tür gewartet hatten, folgten ihm zu dem Schaumstreifen am Strand, wo sich die Flut brach, und hörten sich aufmerksam seine Anweisungen an. Armando sah sie abziehen und blieb dort sitzen, auf dem Skelett einer vom Unwetter ausgeschlachteten Barkasse, gestrandet zwischen Strand und Fegefeuer.
Er zündete sich eine Zigarette an und genoss sie in der Morgenbrise. Während er rauchte und darüber meditierte, was er zu tun hatte, zog er einen Ausschnitt aus der Vanguardia aus der Tasche, den er seit Tagen bei sich hatte. Zwischen Korsettwerbung und Notizen über die Theaterszene auf dem Paralelo fand sich dort eine knappe Meldung, in der über die Flucht eines Insassen des Montjuïc-Gefängnisses berichtet wurde. Der Text hatte den sterilen Ton der Geschichten, die wortwörtlich das offizielle Kommuniqué wiedergeben. Als einzige Freiheit hatte sich der Redakteur einen Nachtrag zugestanden, in dem gesagt wurde, nie zuvor habe es jemand geschafft, aus dieser uneinnehmbaren Festung zu fliehen.
Armando schaute auf und betrachtete den Montjuïc-Hügel, der sich im Süden erhob. Das Kastell, eine Skizze von im Dunst ausgesägten Türmen, schwebte über Barcelona. Armando lächelte bitter, steckte mit der Glut seiner Zigarette den Ausschnitt in Brand und sah, wie er in der Brise zu Asche wurde. Wie immer umgingen die Zeitungen die Wahrheit, als setzten sie damit ihr Leben aufs Spiel, vielleicht mit gutem Grund. Alles an dieser Meldung stank nach Halbwahrheiten und ausgesparten Einzelheiten. Darunter der Umstand, dass es bislang niemandem gelungen sei, aus dem Gefängnis des Montjuïc zu fliehen. Obwohl es in diesem Fall stimmen mochte, dachte er, denn er, der Mann, der Armando genannt wurde, war ja nur in der unsichtbaren Welt der Armen- und Unberührbarenstadt jemand. Es gibt Zeiten und Orte, da niemand zu sein ehrenwerter ist, als jemand sein.
Träge zogen sich die Tage dahin. Einmal täglich suchte Armando die Baracke auf, um sich nach dem Zustand des Todkranken zu erkundigen. Das Fieber gab zaghafte Zeichen eines Rückgangs, und das Geflecht von Quetschungen, Schnitten und anderen Wunden, die seinen Körper bedeckten, schien unter den Salben langsam zu verheilen. Der Kranke schlief den größten Teil des Tages oder murmelte zwischen Schlafen und Wachen unverständliche Wörter.
»Wird er leben?«, fragte Armando manchmal.
»Das hat er noch nicht entschieden«, antwortete die Frau, die von den Jahren verwischt und von diesem Unglücklichen für seine Mutter gehalten worden war.
Die Tage kristallisierten sich in Wochen, und bald wurde klar, dass niemand käme, um sich nach dem Fremden zu erkundigen, da niemand nach etwas fragt, was er lieber nicht weiß. Normalerweise betraten die Polizei und die Guardia Civil das Somorrostro nicht. Ein stillschweigendes Gesetz umriss ganz klar, dass die Stadt und die Welt vor den Toren dieser Hüttenbevölkerung endeten, und beide Seiten waren daran interessiert, diese unsichtbare Grenze zu respektieren. Armando wusste, dass auf der anderen Seite viele Leute insgeheim oder offen beteten, eines Tages möge der Sturm die Armenstadt für immer davontragen, doch bis es so weit war, schauten alle lieber weg und drehten dem Meer und den zwischen dem Ufer und dem Fabrikendschungel des Pueblo Nuevo dahinvegetierenden Menschen den Rücken. Trotzdem hatte Armando seine Zweifel. Die Geschichte, die er hinter diesem seltsamen Gast erahnte, konnte gut und gern zu einem Bruch dieses stillschweigenden Gesetzes führen.
Nach wenigen Wochen näherten sich zwei unerfahrene junge Polizisten, beschrieben den Fremden und fragten, ob jemand einen solchen Mann gesehen habe. Tagelang war Armando danach wachsam, aber als sich niemand mehr nach Fermín erkundigte, wurde ihm klar, dass niemand diesen Mann wirklich finden wollte. Vielleicht war er gestorben und wusste es nicht einmal.
Anderthalb Monate nach seinem Eintreffen begannen die Wunden zu verheilen. Als der Mann die Augen öffnete und fragte, wo er sei, half man ihm, sich aufzurichten und eine Brühe zu schlürfen, gab ihm jedoch keine Antwort.
»Sie müssen ruhen.«
»Lebe ich?«
Niemand bestätigte oder widerlegte es ihm. Seine Tage verstrichen zwischen Schlafen und einer hartnäckigen Müdigkeit. Immer wenn er die Augen schloss und sich der Erschöpfung überließ, reiste er an denselben Ort. In seinem sich Nacht für Nacht wiederholenden Traum erkletterte er die Wände eines unendlichen, mit Leichen angefüllten Grabens. Wenn er oben war und zurückschaute, sah er, dass sich diese Flut geisterhafter Leichen durcheinanderwühlte wie ein Strudel von Aalen. Die Toten schlugen die Augen auf und kletterten hinter ihm her die Wände hinauf. Sie folgten ihm durch den Berg und überschwemmten die Straßen Barcelonas, wo sie ihr ehemaliges Zuhause suchten, bei den geliebten Menschen anklopften. Einige machten sich auf die Suche nach ihren Mördern und klapperten rachedurstig die ganze Stadt ab, aber die meisten wollten nur in ihre Wohnung, in ihre Betten zurück, wollten die zurückgelassenen Kinder, Frauen, Geliebten in die Arme nehmen. Es machte ihnen jedoch niemand auf, niemand nahm ihre Hand in die seinen, und niemand wollte ihre Lippen küssen, und der Todkranke erwachte in der Dunkelheit schweißgebadet ob dem ohrenbetäubenden Weinen der Toten in seiner Seele.
Oft besuchte ihn ein Fremder. Er roch nach Tabak und Kölnischwasser, beides damals nicht sehr verbreitet. Er setzte sich auf einen Stuhl neben seinem Bett und schaute ihn aus undurchdringlichen Augen an. Sein Haar war pechschwarz, seine Züge scharf. Wenn er merkte, dass der Genesende wach war, lächelte er ihm zu.
»Sind Sie Gott oder der Teufel?«, fragte ihn der Kranke einmal.
Der Fremde zuckte mit den Schultern und wog die Antwort ab.
»Beides ein wenig«, antwortete er schließlich.
»Ich bin im Prinzip Atheist«, teilte ihm der Patient mit. »Obwohl ich in Wirklichkeit einen starken Glauben habe.«
»Wie viele Leute. Ruhen Sie sich jetzt aus, mein Freund. Der Himmel kann warten. Und die Hölle ist zu klein für Sie.«
Zwischen den Besuchen des Herrn mit dem pechschwarzen Haar ließ sich der Genesende ernähren, waschen und sich saubere Kleider überziehen, die ihm zu groß waren. Als er sich endlich wieder auf den Beinen halten und einige Schritte tun konnte, begleitete man ihn an den Strand, wo er sich die Füße vom Wasser umspielen und sich von der Mittelmeersonne liebkosen lassen konnte. Einmal schaute er einen Vormittag lang einigen zerlumpten Kindern mit schmutzigen Gesichtern beim Spielen im Sand zu und dachte, dass er Lust hatte zu leben, wenigstens noch ein bisschen. Mit der Zeit stellten sich die Erinnerung und die Wut wieder ein und damit der Wunsch — aber auch die Angst —, in die Stadt zurückzukehren.
Beine, Arme und übrige Mechanismen begannen wieder einigermaßen normal zu funktionieren. Er gewann das seltsame Vergnügen zurück, ohne Brennen oder beschämende Zwischenfälle in den Wind zu urinieren, und dachte, ein Mann, der ohne Hilfe im Stehen pinkeln könne, sei Manns genug, seine Verantwortlichkeiten auf sich zu nehmen. Spät in dieser Nacht stand er leise auf und ging durch die engen Gassen zu der Grenze der Armenstadt, die von den Bahnschienen bestimmt wurde. Auf der anderen Seite erhoben sich der Wald von Schloten und der Kamm von Engeln und Mausoleen auf dem Friedhof. Noch weiter entfernt, wie auf einem sich die Hügel hinaufziehenden Lichtergemälde, lag Barcelona. Er hörte Schritte hinter sich, und als er sich umwandte, sah er den gelassenen Blick des Mannes mit dem pechschwarzen Haar.
»Sie sind wiedergeboren worden«, sagte er.
»Na, dann bin ich ja mal gespannt, ob es diesmal besser klappt als beim ersten Mal, denn bis jetzt…«
Der Mann mit dem pechschwarzen Haar lächelte.
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Ich bin Armando, der Zigeuner.«
Fermín gab ihm die Hand.
»Fermín Romero de Torres, Nichtzigeuner, aber relativ vertrauenswürdig.«
»Lieber Fermín, ich habe den Eindruck, Sie tragen sich mit dem Gedanken, zu denen zurückzugehen.«
»Die Katze lässt das Mausen nicht«, sagte Fermín. »Ich habe einiges Unfertige hinterlassen.«
Armando nickte.
»Verstehe, aber es ist noch zu früh, mein Freund. Haben Sie Geduld. Bleiben Sie noch eine Zeitlang bei uns.«
Die Angst vor dem, was ihn bei seiner Rückkehr erwartete, und die Großherzigkeit dieser Menschen hielten ihn zurück, bis ihm eines Sonntagmorgens eine Zeitung in die Hände fiel, die einer der Jungen im Abfall einer der Strandkneipen der Barceloneta gefunden hatte. Es war schwer zu sagen, wie lange die Zeitung da gelegen hatte, aber sie trug ein Datum drei Monate nach seiner Flucht. Er kämmte die Seiten nach einem Indiz oder einem Namen durch, fand aber nichts. An diesem Nachmittag, als er bereits beschlossen hatte, in der Dämmerung nach Barcelona zurückzugehen, trat Armando zu ihm und teilte ihm mit, einer seiner Leute sei bei der Pension vorbeigegangen, wo er gewohnt hatte.
»Fermín, es ist besser, Sie gehen nicht dorthin, um Ihre Sachen zu holen.«
»Woher kennen Sie denn mein Domizil?«
Lächelnd wich Armando der Frage aus.
»Die Polizei hat dort verbreitet, Sie seien gestorben. Schon vor Wochen ist eine Meldung über Ihren Tod in der Zeitung erschienen. Ich wollte Ihnen nichts sagen, weil mir scheint, während der Genesung über den eigenen Tod zu lesen ist nicht unbedingt hilfreich.«
»Woran bin ich denn gestorben?«
»An natürlichen Ursachen. Sie sind in einen Abgrund gestürzt, als Sie vor der Justiz fliehen wollten.«
»Dann bin ich also tot?«
»Wie die Polka.«
Fermín dachte darüber nach, was sein neuer Status mit sich brachte.
»Und was soll ich jetzt tun? Wo soll ich hin? Ich kann ja nicht ewig hierbleiben und Ihre Güte ausnützen und Sie alle in Gefahr bringen.«
Armando setzte sich zu ihm und steckte sich eine seiner selbstgedrehten Zigaretten an, die nach Eukalyptus rochen.
»Fermín, Sie können tun, was Sie wollen, denn es gibt Sie nicht. Ich würde beinahe sagen, bleiben Sie bei uns — jetzt sind Sie einer von uns, Leuten, die keinen Namen haben und nirgends auftauchen. Wir sind Geister. Unsichtbar. Aber ich weiß, dass Sie zurückgehen und regeln müssen, was Sie hinterlassen haben. Leider kann ich Ihnen keinen Schutz mehr bieten, wenn Sie einmal hier weggegangen sind.«
»Sie haben schon genug für mich getan.«
Armando klopfte ihm auf die Schulter, zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Tasche und gab es ihm.
»Verlassen Sie für eine Weile die Stadt. Lassen Sie ein Jahr vergehen, und wenn Sie wiederkommen, fangen Sie hier an«, sagte er.
Fermín faltete das Blatt auseinander und las:
FERNANDO BRIANS
Anwalt
Calle de Caspe,12
Penthouse 1a
Barcelona
Tel. 56 43 75
»Wie kann ich bloß gutmachen, was Sie alles für mich getan haben?«
»Wenn Sie Ihre Angelegenheiten geregelt haben, kommen Sie mal her und fragen Sie nach mir. Dann gehen wir in eine Flamencovorstellung von Carmen Amaya, und anschließend erzählen Sie mir, wie Sie es geschafft haben, dort oben wegzukommen. Ich bin gespannt.«
Fermín schaute in diese schwarzen Augen und nickte langsam.
»In welcher Zelle waren Sie denn, Armando?«
»In Nr. 13.«
»Stammen diese eingeritzten Kreuze an der Wand von Ihnen?«
»Im Gegensatz zu Ihnen, Fermín, bin ich gläubig, aber mir ist der Glaube abhandengekommen.«
An diesem Abend hinderte ihn niemand am Gehen, und niemand verabschiedete sich von ihm. Einer unter vielen Unsichtbaren, machte er sich auf zu den Straßen eines Barcelona, das nach Elektrizität roch. In der Ferne sah er die Türme der Sagrada-Familia-Kirche in einer roten Wolkendecke gefangen, die ein biblisches Gewitter verhieß, und ging weiter. Seine Schritte führten ihn zum Busbahnhof in der Calle Trafalgar. In den Taschen des Mantels, den ihm Armando geschenkt hatte, fand er Geld. Er kaufte sich eine Fahrkarte für die längste Strecke, die er fand, und verbrachte die Nacht im Bus, der unter dem Regen über leere Landstraßen fuhr. Das wiederholte er am nächsten Tag, und so gelangte er nach Tagen der Züge, Fußmärsche und Nachtbusse an einen Ort, wo die Straßen keinen Namen und die Häuser keine Nummern hatten und wo sich nichts und niemand an ihn erinnerte.
Er hatte hundert Beschäftigungen und keinen Freund. Er verdiente Geld und gab es aus. Er las Bücher, die von einer Welt sprachen, an die er nicht mehr glaubte. Er begann Briefe zu schreiben, für die er nie ein Ende fand. Er lebte gegen die Erinnerung und die Gewissensbisse an. Mehr als einmal ging er in die Mitte einer Brücke oder trat dicht an eine Schlucht heran und schaute gelassen in die Tiefe. Immer erinnerte er sich im letzten Moment an dieses Versprechen und den Blick des Gefangenen des Himmels. Nach einem Jahr gab er das Zimmer auf, das er über einem Café gemietet hatte, und mit nichts im Gepäck als einem Exemplar von Die Stadt der Verdammten, das er auf einem Trödelmarkt gefunden hatte, möglicherweise dem einzigen Buch Martíns, das nicht verbrannt worden war und das er ein Dutzend Mal gelesen hatte, ging er die zwei Kilometer zum Bahnhof und kaufte die Fahrkarte, die diese ganzen Monate auf ihn gewartet hatte.
»Einmal Barcelona, bitte.«
Der Schalterbeamte reichte ihm die Fahrkarte mit einem verächtlichen Blick:
»Wie kann man bloß«, sagte er, »zu diesen Scheißkatalanen…«
Barcelona, 1941
Es wurde gerade dunkel, als Fermín nach einer langen Fahrt im Francia-Bahnhof aus dem Zug stieg. Die Lokomotive hatte eine Dampf- und Rußwolke ausgespuckt, die sich über den Bahnsteig zog und die Schritte der Passagiere verhüllte. Fermín reihte sich in den schweigenden Marsch zum Ausgang ein, Leute in zerlumpten Kleidern, die mit Schnüren zusammengehaltene Koffer schleppten, vorzeitig Gealterte, die ihre gesamte Habe in einem Bündel mit sich trugen, und Kinder mit leerem Blick und leeren Taschen.
Eine Zweierstreife der Guardia Civil bewachte den Eingang zum Bahnsteig, und Fermín sah ihre Augen über die Passagiere schweifen; ab und zu fragten sie jemanden nach seinen Papieren. Er ging geradeaus weiter direkt auf einen von ihnen zu. Als nur noch etwa zwölf Meter sie trennten, bemerkte er, dass ihn der Zivilgardist beobachtete. In Martíns Roman, der ihm diese ganzen Monate Gesellschaft geleistet hatte, sagte eine der Figuren, am besten könne man die Autoritäten entwaffnen, indem man sich an sie wende, ehe sie sich an einen wenden. Bevor der Beamte auf ihn deuten konnte, trat Fermín zu ihm und sprach ihn mit heiterer Stimme an:
»Guten Abend, Chef. Wären Sie wohl so freundlich und würden Sie mir sagen, wo sich das Hotel Porvenir befindet? Soweit ich weiß, liegt es auf der Plaza Palacio, aber ich kenne die Stadt kaum.«
Der Gardist schaute ihn schweigend an, ein wenig verwirrt. Sein Kollege war hinzugetreten und deckte seine rechte Flanke.
»Das werden Sie am Ausgang erfragen müssen«, sagte er in wenig freundlichem Ton.
Fermín nickte höflich.
»Entschuldigen Sie die Störung. Das werde ich tun.«
Er wollte schon auf die Eingangshalle zugehen, als ihn der andere Beamte am Arm fasste.
»Wenn Sie rauskommen, liegt die Plaza Palacio linker Hand. Gegenüber dem Kapitanat.«
»Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Der Gardist ließ ihn los, und Fermín ging langsam davon, seine Schritte abmessend, bis er in die Halle und von dort auf die Straße gelangte.
Scharlachroter Himmel lag über einem schwarzen, mit dunklen, schmalen Silhouetten durchwirkten Barcelona. Eine halbleere Straßenbahn schleppte sich voran und warf ein fahles Licht auf das Pflaster. Fermín wartete, bis sie vorbei war, dann ging er auf die andere Seite hinüber. Beim Überqueren der spiegelblanken Schienen betrachtete er die Flucht, die der Paseo Colón zeichnete, und im Hintergrund den Montjuïc-Hügel mit dem sich über die Stadt erhebenden Kastell. Er senkte den Blick und bog in die Calle Comercio Richtung Born-Markt ein. Die Straßen waren menschenleer, und durch die Gassen pfiff eine kalte Brise. Er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte.
Er erinnerte sich, dass ihm Martín erzählt hatte, vor Jahren habe er hier in der Nähe gewohnt, in einem alten Gemäuer in der engen Schattenschlucht der Calle Flassaders, neben der Schokoladenfabrik Mauri. Dort ging er hin, musste aber feststellen, dass dieses und das angrenzende Haus den Kriegsbomben zum Opfer gefallen waren. Die Behörden hatten sich nicht die Mühe gemacht, die Trümmer wegzuschaffen, und die Anwohner hatten, vermutlich, um sich in dieser Straße bewegen zu können, die enger war als der Korridor mancher Herrschaftshäuser, nur den Schutt auf der Seite aufgehäuft.
Fermín sah sich um. Man konnte kaum die Lichter und Kerzen sehen, die von den Balkonen her ein fahles Licht abgaben. Er betrat den Ruinenbereich, umging Trümmer, zerbrochene Wasserspeier und in unmöglichen Knoten verzahnte Balken. Im Schutt suchte er eine Lücke und kauerte sich dann hinter einem Stein nieder, auf dem noch die Nummer 30 zu lesen war, David Martíns ehemalige Wohnstätte. Er raffte den Mantel und die alten Zeitungen, die er unter den Kleidern trug. Zusammengerollt schloss er die Augen und versuchte einzuschlafen.
Nach einer halben Stunde hatte die Kälte seine Knochen erreicht. Ein feuchter Wind leckte die Ruinen auf der Suche nach Spalten und Ritzen. Fermín öffnete die Augen und stand auf. Er wollte eben eine geschütztere Ecke suchen, als er bemerkte, dass ihn auf der Straße jemand beobachtete. Er rührte sich nicht mehr. Die Gestalt kam ein paar Schritte näher.
»Wer ist da?«, fragte sie.
Sie näherte sich noch ein wenig mehr, und der Abglanz einer Straßenlaterne in der Ferne zeichnete ihr Profil in die Nacht. Es war ein großgewachsener, kräftiger Mann in Schwarz. Fermín sah den Kragen — ein Priester. Er hob die Hände zum Zeichen des Friedens.
»Ich geh ja schon, Pater. Bitte rufen Sie nicht die Polizei.«
Der Priester musterte ihn von oben bis unten. Er hatte einen strengen Blick und sah aus, als hätte er ein halbes Leben lang im Hafen Säcke und nicht Kelche gehoben.
»Haben Sie Hunger?«, fragte er.
Fermín, der jeden dieser Steine verschlungen hätte, wenn ihn nur jemand mit drei Tropfen Olivenöl begossen hätte, verneinte.
»Ich habe eben im Set Portes diniert und mich mit schwarzem Reis vollgestopft«, sagte er.
Der Priester deutete ein Lächeln an. Er wandte sich um und marschierte los.
»Kommen Sie«, befahl er.
Pater Valera wohnte am Ende des Paseo del Borne in einer Dachgeschosswohnung, von der aus man direkt auf die Halle des Born-Markts sah. Begeistert führte sich Fermín drei Teller Suppe, einige Stück trockenes Brot und zwei mit Wasser gepanschte Glas Wein zu Gemüte, die der Geistliche vor ihn hingestellt hatte, während er ihn neugierig beobachtete.
»Essen Sie nichts, Pater?«
»Ich esse nie zu Abend. Genießen Sie es, ich sehe ja, dass Sie seit 1936 Hunger leiden.«
Während er geräuschvoll die Suppe mit dem Brot darin schlürfte, ließ Fermín den Blick durchs Esszimmer schweifen. Neben ihm zeigte eine Vitrine eine Teller- und Gläsersammlung, dazu mehrere Heilige und ein bescheidenes Silberbesteck.
»Ich habe Die Elenden ebenfalls gelesen, also Vorsicht«, warnte ihn der Geistliche.
Fermín nickte beschämt.
»Wie heißen Sie?«
»Fermín Romero de Torres, Eurer Exzellenz zu dienen.«
»Werden Sie gesucht, Fermín?«
»Je nachdem. Das ist ein verzwicktes Thema.«
»Es macht mir nichts aus, wenn Sie es mir nicht erzählen wollen. Aber mit diesen Kleidern können Sie hier nicht rumlaufen, da landen Sie hinter Gittern, noch ehe Sie bei der Vía Layetana sind. Es werden viele Leute angehalten, die sich eine Zeitlang versteckt haben. Man muss sehr vorsichtig sein.«
»Sobald ich einige Bankeinlagen aus dem Winterschlaf befreit habe, will ich beim Schwimmenden Deich vorbeischauen und wie aus dem Ei gepellt wieder rauskommen.«
»Stehen Sie doch mal einen Moment auf.«
Fermín legte den Löffel hin und erhob sich. Der Geistliche betrachtete ihn genau.
»Ramón war die doppelte Portion von Ihnen, aber ich glaube, einige seiner Kleider aus jungen Jahren werden Ihnen passen.«
»Ramón?«
»Mein Bruder. Er ist da unten auf der Straße erschossen worden, gleich vor der Haustür, im Mai 38. Sie hatten es auf mich abgesehen, aber er hat ihnen die Stirn geboten. Er war Musiker, spielte als erster Trompeter bei der Stadtmusik.«
»Tut mir sehr leid, Pater.«
Der Geistliche zuckte die Schultern.
»Fast jeder hat jemand verloren, von welcher Partei auch immer.«
»Ich gehöre keiner Partei an«, antwortete Fermín. »Ja die Fahnen kommen mir vor wie uralt riechende bunte Fetzen, und ich brauche bloß zu sehen, wer sich alles in sie hüllt und sich den Mund mit Hymnen, Wappen und Reden füllt, und schon krieg ich Dünnpfiff. Ich habe immer gedacht, wer sich sehr einer Herde zugehörig fühlt, hat etwas von einem Hammel.«
»Ihnen muss es sehr schlecht ergehen in diesem Land.«
»Sie wissen gar nicht, wie schlecht. Aber ich sage mir immer, dass der direkte Zugang zu unserem Serrano-Schinken alles wieder wettmacht. Und es wird überall nur mit Wasser gekocht.«
»Stimmt. Sagen Sie, Fermín, wie lange haben Sie denn keinen guten Serrano-Schinken mehr gegessen?«
»Seit dem 6. März 34. Im Los Caracoles, in der Calle Escudellers. Ein anderes Leben.«
Der Geistliche lächelte.
»Sie können die Nacht hier verbringen, Fermín, aber morgen werden Sie sich etwas anderes suchen müssen. Die Leute reden. Ich kann Ihnen ein wenig Geld für eine Pension geben, aber Sie müssen wissen, dass überall der Personalausweis verlangt wird und die Mieter in die Liste des Kommissariats eingetragen werden.«
»Das müssen Sie gar nicht erst erwähnen, Pater. Morgen vor Sonnenaufgang verschwinde ich schneller als der gute Wille. Hingegen nehme ich keinen Cent von Ihnen an, ich habe Sie schon genug ausgenutzt.«
Der Geistliche hob die Hand und schüttelte den Kopf.
»Schauen wir mal, ob Ihnen einige von Ramóns Sachen passen.« Er stand vom Tisch auf.
Pater Valera beharrte darauf, Fermín mit einem Paar mittelmäßiger Schuhe, einem bescheidenen, aber sauberen Wollstoffanzug, etwas Unterwäsche und einigen Toilettenartikeln zu versorgen, die er ihm in einen Koffer packte. Auf einem der Regale lag eine glänzende Trompete, daneben standen mehrere Fotos von zwei gutaussehenden, lächelnden jungen Männern, offenbar bei der Kirchweih im Gracia-Viertel. Man musste sehr genau hinschauen, um in einem der beiden Pater Valera wiederzuerkennen, der jetzt um dreißig Jahre gealtert aussah.
»Heißes Wasser habe ich nicht. Die Zisterne wird erst morgen früh gefüllt — Sie müssen entweder warten oder sich aus dem Krug bedienen.«
Während Fermín sich wusch, so gut es ging, machte Pater Valera einen Krug mit einer Art Zichoriengetränk, gemischt mit anderen, leicht verdächtig aussehenden Substanzen. Zucker gab es nicht, doch die Tasse Schmutzwasser war heiß und die Gesellschaft angenehm.
»Man könnte geradezu sagen, wir sind in Kolumbien und genießen eine exquisite Mischung.«
»Sie sind ein sehr eigener Mann, Fermín. Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
»Fällt es unter das Beichtgeheimnis?«
»Lassen Sie es uns so sagen.«
»Schießen Sie los.«
»Haben Sie jemanden umgebracht? Im Krieg, meine ich.«
»Nein.«
»Ich schon.«
Mitten im Schluck blieb Fermín mit erhobener Tasse reglos sitzen. Der Geistliche senkte den Blick.
»Ich habe es noch nie jemandem gesagt.«
»Es fällt unter das Beichtgeheimnis«, versicherte Fermín.
Der Geistliche rieb sich die Augen und seufzte. Fermín fragte sich, wie lange dieser Mann hier schon allein leben mochte, ohne weitere Gesellschaft als dieses Geheimnis und die Erinnerung an seinen toten Bruder.
»Bestimmt hatten Sie Ihre Gründe, Pater.«
Der Geistliche schüttelte den Kopf.
»Gott ist ausgewandert«, sagte er.
»Haben Sie keine Angst, sobald er sieht, wie es nördlich der Pyrenäen läuft, kommt er mit eingezogenem Schwanz wieder zurück.«
Der Geistliche schwieg lange. Sie tranken den Kaffee-Ersatz aus, und um den armen Pater aufzumuntern, der mit jeder Minute ein wenig mehr in sich zusammensank, schenkte sich Fermín eine zweite Tasse ein.
»Schmeckt er Ihnen wirklich?«
Fermín nickte.
»Soll ich Ihnen die Beichte abnehmen?«, fragte der Geistliche auf einmal. »Jetzt ohne Spaß.«
»Seien Sie nicht beleidigt, Pater, aber ich glaube nicht an diese Dinge…«
»Aber vielleicht glaubt Gott an Sie.«
»Das bezweifle ich.«
»Man braucht nicht an Gott zu glauben, um zu beichten. Das ist eine Sache zwischen Ihnen und Ihrem Gewissen. Was haben Sie denn zu verlieren?«
Zwei Stunden lang erzählte Fermín Pater Valera alles, was er seit seiner Flucht aus dem Kastell vor über einem Jahr für sich behalten hatte. Der Geistliche hörte ihm aufmerksam zu und nickte gelegentlich. Schließlich, als er sich ausgeschüttet hatte und eine zentnerschwere Platte losgeworden war, die ihn seit Monaten, ohne dass er sich dessen bewusst gewesen war, zu ersticken drohte, zog Pater Valera einen Flachmann aus einer Schublade und schenkte ihm seine letzten Reserven ein, ohne erst zu fragen.
»Erteilen Sie mir die Absolution nicht, Pater? Gibt’s bloß einen Schluck Cognac?«
»Das kommt aufs selbe heraus. Und außerdem bin ich nicht mehr der Richtige, um zu vergeben oder zu richten, Fermín. Aber ich glaube, es hat Ihnen gutgetan, all das loszuwerden. Was haben Sie denn jetzt vor?«
Fermín zuckte die Schultern.
»Wenn ich zurückgekommen bin und also Kopf und Kragen riskiere, dann wegen des Versprechens, das ich Martín gegeben habe. Ich muss diesen Anwalt suchen und danach Señora Isabella und diesen Jungen, Daniel, und sie beschützen.«
»Wie denn?«
»Ich weiß es nicht. Es wird mir schon was einfallen. Anregungen werden entgegengenommen.«
»Aber Sie kennen sie ja überhaupt nicht. Es sind bloß Fremde, von denen Ihnen ein Mann erzählt hat, den Sie im Gefängnis kennengelernt haben…«
»Ich weiß. Wenn man es so sagt, klingt’s verrückt, nicht wahr?«
Der Geistliche schaute ihn an, als könnte er durch seine Worte hindurchsehen.
»Ist es nicht vielleicht so, dass Sie so viel Elend und Niedertracht bei den Menschen gesehen haben, dass Sie jetzt etwas Gutes tun möchten, und sei es noch so verrückt?«
»Und warum nicht?«
Valera lächelte.
»Ich wusste ja, dass Gott an Sie glaubt.«
Am nächsten Morgen verließ Fermín die Wohnung auf Zehenspitzen, um Pater Valera nicht zu wecken, der mit einem Band Machado-Gedichte in der Hand auf dem Sofa eingeschlafen war und schnarchte wie ein Kampfstier. Bevor er ging, drückte er ihm einen Kuss auf die Stirn und legte das Geld auf den Esstisch, das der Geistliche in eine Serviette gewickelt und in seinen Koffer geschmuggelt hatte. Dann verlor er sich in sauberen Kleidern und mit reinem Gewissen treppab — und mit der Entscheidung, wenigstens noch ein paar Tage weiterzuleben.
Als an diesem Tag die Sonne aufging, fegte eine vom Meer kommende Brise den Himmel stählern blau, und lang fielen die Schatten der Passanten auf den Boden. Fermín brachte den ganzen Vormittag damit zu, durch die Straßen zu gehen, an die er sich erinnerte, vor Schaufenstern stehen zu bleiben und sich auf Bänke zu setzen, um hübschen Mädchen zuzusehen, und hübsch waren für ihn alle. Am Mittag besuchte er eine Kneipe an der Mündung der Calle Escudellers, unweit des Restaurants Los Caracoles angenehmen Gedenkens. Die Kneipe hatte bei den mutigsten, unzimperlichsten Gaumen den unglücklichen Ruf, die billigsten Sandwiches von ganz Barcelona feilzubieten. Der Trick bestehe darin, sagten die Experten, nicht nach den Ingredienzen zu fragen.
Elegant gewandet wie ein richtiger Herr und mit einer dicken Rüstung aus zusammengefalteten Vanguardia-Exemplaren unter den Kleidern, um sich Würde, einen Anflug von Muskulatur und Billigwärme zu verschaffen, setzte sich Fermín an die Theke, und nachdem er die Liste der für die bescheidensten Börsen und Mägen erschwinglichen Köstlichkeiten studiert hatte, leitete er eine Verhandlungsrunde mit dem Kellner ein.
»Ich habe eine Frage, junger Mann. Bei der Tagesspezialität, Mortadella- und Cornellà-Wurst-Sandwich mit Bauernbrot, ist es Brot mit frischer Tomate?«
»Soeben geerntet in unserem Gemüsegarten in El Prat, hinter der Schwefelsäurefabrik.«
»Ein Spitzenbouquet. Und sagen Sie mir, guter Mann, haben Sie Vertrauen zu diesem Haus?«
Dem Kellner verflog das heitere Gesicht, und er zog sich hinter die Theke zurück, wo er sich mit feindlicher Miene den Lappen über die Schulter schwang.
»Nicht einmal zu Gott.«
»Gibt es keine Ausnahmen für mit Orden ausgezeichnete Kriegsversehrte?«
»Raus, sonst holen wir die Polizei.«
Angesichts der Wendung, die der Gedankenaustausch genommen hatte, trat Fermín den Rückzug an und suchte sich einen ruhigen Winkel, wo er seine Strategie überdenken konnte. Eben hatte er sich auf der Stufe eines Hauseingangs niedergelassen, als ein junges Mädchen, das noch keine siebzehn sein konnte, aber Kurven wie ein Revuegirl vor sich hertrug, an ihm vorbeiflitzte und auf die Nase fiel.
Fermín stand auf, um ihr zu helfen, und kaum hatte er sie am Arm gefasst, hörte er Schritte hinter sich und eine Stimme, die die des barschen Kellners, der ihn an die Luft gesetzt hatte, in den Rang von Sphärenmusik erhob.
»Pass auf, du verdammte Nutte, komm mir nicht mit so was, oder ich schlitz dir das Gesicht auf und lass dich auf der Straße liegen, die noch beschissener ist als du.«
Der Autor dieser Ansprache war ein Zuhälter mit grüngelber Gesichtsfarbe und einem dubiosen Geschmack für Bijouterieramsch. Ungeachtet der Tatsache, dass er doppelt so korpulent war wie Fermín und in der Hand einen schneidenden oder zumindest spitzen Gegenstand trug, stellte sich Fermín, der Killer und Zuhälter nachgerade satthatte, zwischen das junge Mädchen und diesen Typen.
»Und wer verdammt nochmal bist du, du Wichser? Los, zieh Leine, bevor ich dir die Fresse poliere.«
Fermín spürte, wie sich das Mädchen, das nach einer seltsamen Mischung aus Zimt und Fritten roch, an seine Arme klammerte. Ein rascher Blick auf den Killer genügte ihm, um festzustellen, dass der Situation nicht mit Dialektik beizukommen war, und so beschloss er, zur Tat zu schreiten. Nach einer Analyse in extremis seines Gegners kam er zum Schluss, dass dessen Körpermasse mehrheitlich aus Fett bestand und der Muskelanteil beziehungsweise die graue Materie keinen Überschuss verzeichnete.
»Mit mir reden Sie nicht so, und mit der Señorita schon gar nicht.«
Verdutzt und ohne den Anschein zu machen, die Worte verstanden zu haben, schaute ihn der Zuhälter an. Einen Augenblick später steckte der Mann, der von dieser halben Portion alles andere als Streit erwartet hatte, als Überraschung des Monats einen Volltreffer mit dem Koffer in die Weichteile ein, dem, als er schon auf dem Boden lag und sich mit den Händen das Gemächt fasste, vier, fünf Schläge mit der Lederecke des Koffers an strategische Punkte folgten, die ihn vorübergehend in einen niedergeschlagenen und demotivierten Zustand versetzten.
Eine Gruppe Passanten, die den Zwischenfall beobachtet hatte, applaudierte, und als sich Fermín umwandte, um zu sehen, ob das Mädchen wohlbehalten war, traf er auf einen verzückten, von lebenslanger Dankbarkeit und Zärtlichkeit triefenden Blick.
»Fermín Romero de Torres, zu Ihren Diensten, Señorita.«
Das junge Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wangen.
»Ich bin die Rociíto.«
Der Typ zu ihren Füßen versuchte aufzustehen und wieder zu Atem zu kommen. Fermín hielt es für ratsam, Abstand zum Kriegsschauplatz zu gewinnen, bevor ihm die Kräftebalance ihre Gunst entzog.
»Man wird mit einiger Eile abziehen müssen«, verkündete er. »Nachdem die Initiative ihre Wirkung eingebüßt hat, ist uns die Schlacht feindlich gesinnt.«
Die Rociíto hakte ihn unter und führte ihn schnellen Schritts durch ein Netz von engen Gassen zur Plaza Real. An der Sonne und auf offenem Feld blieb Fermín eine Weile stehen, um Atem zu schöpfen. Die Rociíto sah, dass er zunehmend bleicher wurde und gar keinen guten Anblick bot. Wahrscheinlich hatte die Aufregung durch die Konfrontation oder der Hunger bei ihrem verwegenen Kämpen einen Blutdruckabfall ausgelöst, und so begleitete sie ihn zu den Tischen vor dem Restaurant Ambos Mundos, wo er auf einem der Stühle zusammensank.
Die Rociíto mochte zwar erst siebzehn sein, verfügte aber über ein klinisches Auge, dessen sich selbst Dr. Alexander Fleming nicht geschämt hätte. Sie bestellte eine Auswahl Tapas, um ihn wieder ins Leben zurückzuholen. Als Fermín den Festschmaus kommen sah, geriet er in Alarmstimmung.
»Rociíto, ich habe keinen einzigen Cent…«
»Das bezahle ich«, fiel sie ihm stolz ins Wort. »Für meinen Mann sorge ich und ernähre ihn gut.«
Sie stopfte ihn wie eine Mastgans mit Paprikawurst, Brot und Kartoffeln an scharfer Mayonnaise, alles von einem riesigen Krug Bier begleitet. Fermín erwachte zu neuem Leben und gewann vor dem zufriedenen Blick des jungen Mädchens seine frische Farbe zurück.
»Zum Nachtisch, wenn Sie mögen, mache ich Ihnen eine Spezialität des Hauses, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht«, erbot sie sich und leckte sich die Lippen.
»Ja solltest du denn jetzt nicht bei den Nonnen in der Schule sein, Mädchen?«
Sie belachte seine Bemerkung ironisch.
»Ach, so ein Lauser, was für ein Mundwerk der Señorito hat.«
Während des Schmauses wurde Fermín klar, dass er, wenn es nach dem jungen Mädchen ging, eine vielversprechende Zuhälterlaufbahn vor sich hatte. Aber andere, wichtigere Dinge beanspruchten seine Aufmerksamkeit.
»Wie alt bist du, Rociíto?«
»Achtzehneinhalb, Señorito Fermín.«
»Du siehst älter aus.«
»Das ist der Vorbau. Er ist mir mit dreizehn gewachsen, und es ist eine Freude, ihn anzuschauen, obwohl’s mir ja nicht zusteht, es zu sagen.«
Fermín, der seit seinen Tagen in Havanna, an die er sich mit Sehnsucht erinnerte, keine vergleichbare Verschwörung von Kurven mehr gesehen hatte, versuchte, seinen gesunden Menschenverstand zurückzuerlangen.
»Rociíto«, begann er, »ich kann mich deiner nicht annehmen…«
»Ich weiß schon, Señorito, halten Sie mich nicht für blöd. Ich weiß, dass Sie nicht der Mann sind, der auf Kosten einer Frau lebt. Ich bin ja vielleicht noch jung, aber ich habe gelernt zu erkennen, wo’s langgeht…«
»Du musst mir sagen, wohin ich dir das Geld für dieses Bankett schicken kann — jetzt erwischst du mich in einem wirtschaftlich heiklen Moment…«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe ein Zimmer in dieser Pension, das ich mit der Lali teile, aber sie ist den ganzen Tag weg, sie macht die Frachter… Warum kommt der Señorito nicht rauf, und ich verabreiche ihm eine Massage?«
»Rociíto…«
»Geht aufs Haus.«
Fermín schaute sie melancholisch an.
»Sie haben traurige Augen, Señorito Fermín. Lassen Sie die Rociíto Ihrem Leben etwas Freude geben, wenn auch nur für ein Weilchen. Was ist denn Schlechtes daran?«
Beschämt senkte Fermín den Blick.
»Wie lange ist der Señorito nicht mehr so richtig mit einer Frau zusammen gewesen?«
»Daran kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern.«
Die Rociíto gab ihm die Hand, zog ihn auf, führte ihn die Treppe hinauf in ein winziges Zimmerchen, in dem nur ein schmales Bett und ein Waschtrog standen. Ein kleiner Balkon führte auf den Platz hinaus. Sie zog den Vorhang und schlüpfte im Nu aus ihrem geblümten Kleid, unter dem nichts als sie selbst war. Fermín bestaunte dieses Naturwunder und ließ sich von einem Herzen umarmen, das fast so alt war wie seines.
»Wenn der Señorito nicht mag — wir müssen gar nichts machen, ja?«
Sie bettete ihn hin und legte sich neben ihn, umarmte ihn und streichelte seinen Kopf.
»Schsch, schsch«, flüsterte sie.
Fermín, das Gesicht auf dieser achtzehnjährigen Brust, brach in Tränen aus.
Als es Abend wurde und die Rociíto ihre Schicht antreten musste, kramte er den Zettel mit der Adresse von Anwalt Brians hervor, den ihm Armando vor einem Jahr gegeben hatte, und beschloss, ihn aufzusuchen. Die Rociíto wollte ihm unbedingt etwas Kleingeld mitgeben, damit er die Straßenbahn und einen Kaffee bezahlen konnte, und ließ ihn schwören und noch einmal schwören, dass er sie besuchen werde, und sei es nur, um mit ihr ins Kino oder zur Messe zu gehen, denn sie war der Muttergottes vom Berge Karmel sehr ergeben und liebte das Zeremoniell, vor allem, wenn dabei gesungen wurde. Sie begleitete Fermín nach unten und gab ihm zum Abschied einen Kuss auf den Mund und zwickte ihn in den Hintern.
»Mein süßes Männchen«, sagte sie, während er unter den Arkaden des Platzes davonging.
Als er die Plaza de Cataluña überquerte, begannen sich am Himmel dicke Wolken zu ballen. Die Taubenschwärme, die normalerweise den Platz überflatterten, hatten in den Bäumen Zuflucht gesucht und warteten unruhig. Die Menschen konnten die Elektrizität in der Luft riechen und drängten zu den Eingängen der U-Bahnhöfe. Ein unfreundlicher Wind hatte sich erhoben und wirbelte eine Laubflut über den Boden. Fermín lief schneller, und als er zur Calle Caspe gelangte, begann es schon zu schütten.
Anwalt Brians war ein junger Mann, der ein wenig wie ein Bohemestudent aussah und den Eindruck erweckte, als ernähre er sich ausschließlich von Salzcrackers und Kaffee. So roch seine Kanzlei — so und nach verstaubtem Papier. Seine Büroräume bestanden in einem elenden Dachloch am Ende eines Gangs ohne Licht im selben Haus, das auch das große Tivoli-Theater beherbergte. Um halb neun traf ihn Fermín da noch an. Brians öffnete ihm in Hemdsärmeln, und als er ihn erblickte, nickte er bloß mit einem Seufzer.
»Fermín, nehme ich an. Martín hat mir von Ihnen erzählt. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie denn nun endlich kommen würden.«
»Ich war eine Zeitlang weg.«
»Natürlich. Bitte kommen Sie rein.«
Fermín betrat hinter ihm das Räumchen.
»Was für ein Abend, nicht wahr?«, sagte der Anwalt nervös.
»Es ist ja bloß Wasser.«
Fermín schaute sich um und sah nur einen einzigen Stuhl. Brians überließ ihn ihm und setzte sich auf einen Stapel Handelsrecht.
»Man muss mir noch die Möbel schicken.«
Fermín sah, dass hier kein Bleistiftspitzer mehr Platz hatte, doch er sagte nichts. Auf dem Tisch standen ein Teller mit einem Schweinelendenbrötchen und ein Bier. Eine Papierserviette verriet, dass das opulente Abendessen aus dem Café im Erdgeschoss stammte.
»Ich wollte eben essen. Mit Freuden teile ich das Mahl mit Ihnen.«
»Essen Sie nur, junge Leute müssen wachsen, und ich habe bereits gegessen.«
»Kann ich Ihnen nichts anbieten? Einen Kaffee?«
»Wenn Sie ein Sugus hätten…«
Brians kramte in einer Schublade, in der es alles Mögliche geben mochte, nur keine Sugus-Bonbons.
»Eine Juanola-Pastille?«
»Es geht mir gut, danke.«
»Sie gestatten.«
Brians zwackte dem Sandwich einen Bissen ab und kaute genüsslich. Fermín fragte sich, wer von ihnen beiden ausgehungerter aussah. Neben dem Schreibtisch befand sich eine angelehnte Tür, hinter der man ein ungemachtes Klappbett, einen Garderobenständer mit zerknitterten Hemden und einen Bücherstapel erkannte.
»Wohnen Sie auch hier?«, fragte Fermín.
Offensichtlich gehörte der Anwalt, den sich Isabella für Martín hatte leisten können, nicht zur ersten Garnitur. Brians folgte Fermíns Blick und lächelte bescheiden.
»Das ist vorübergehend mein Büro und meine Wohnung, ja.« Er beugte sich vor, um die Tür zu seinem Schlafzimmer zu schließen. »Sie müssen denken, ich sehe nicht gerade wie ein Anwalt aus. Da sind Sie übrigens nicht allein — mein Vater ist derselben Meinung.«
»Beachten Sie ihn nicht. Mein Vater hat mir und meinen Brüdern immer gesagt, wir seien Nichtsnutze und würden einmal als Steinklopfer enden. Und da bin ich, mit allen Wassern gewaschen. Im Leben Erfolg haben, wenn die Familie an einen glaubt und einen unterstützt, das ist nicht besonders verdienstvoll.«
Brians nickte widerwillig.
»Wenn man es so sieht… Tatsächlich habe ich mich erst vor kurzem auf eigene Füße gestellt. Vorher habe ich in einer renommierten Anwaltskanzlei gearbeitet, gleich um die Ecke, auf dem Paseo de Gracia. Aber da gab es einige Differenzen. Seither ist alles schwerer geworden.«
»Was Sie nicht sagen. Valls?«
Brians nickte und trank in drei Schlucken das Bier aus.
»Nachdem ich den Fall von Señor Martín übernommen hatte, setzte er alles daran, dass mich fast sämtliche Klienten verließen und ich rausgeschmissen wurde. Die wenigen, die mit mir gekommen sind, sind die, die keinen Cent für mein Honorar haben.«
»Und Señora Isabella?«
Der Blick des Anwalts wurde düster. Er stellte die Bierflasche auf den Schreibtisch und sah Fermín zögernd an.
»Wissen Sie es nicht?«
»Was denn?«
»Señora Isabella ist gestorben.«
Das Gewitter entlud sich mit Macht über der Stadt. Fermín hielt eine Tasse Kaffee in den Händen, während Brians vor dem offenen Fenster in den Regen hinausschaute, der die Dächer des Ensanche-Viertels peitschte, und Isabellas letzte Tage schilderte.
»Sie wurde plötzlich krank, ohne Erklärung. Wenn Sie sie gekannt hätten… Isabella war jung, voller Leben. Sie hatte eine eiserne Gesundheit und hatte das ganze Elend des Krieges überlebt. Alles passierte sozusagen von einem Tag auf den anderen. In der Nacht, in der Ihnen die Flucht aus dem Kastell gelungen ist, kam Isabella spät nach Hause. Ihr Mann fand sie im Badezimmer kniend, schwitzend und zuckend. Sie sagte, sie fühle sich elend. Ein Arzt wurde gerufen, aber noch bevor er kam, setzten die Krämpfe ein, und sie erbrach Blut. Der Arzt sagte, es sei eine Vergiftung, sie müsse ein paar Tage lang eine strenge Diät einhalten, doch am nächsten Morgen ging es ihr noch schlechter. Señor Sempere hüllte sie in Decken, und ein Taxifahrer aus der Nachbarschaft brachte sie ins Hospital del Mar. Auf der Haut hatte sie schwarze Flecken bekommen, wie Wunden, und das Haar fiel ihr büschelweise aus. Im Krankenhaus warteten sie zwei Stunden, aber schließlich weigerten sich die Ärzte, sie zu untersuchen — da war ein weiterer Patient im Wartezimmer, der noch nicht an die Reihe gekommen war und sagte, er kenne Sempere, der sei Kommunist gewesen, oder sonst so ein Unsinn. Vermutlich, um eher dranzukommen. Eine Krankenschwester gab ihnen einen Sirup mit, der gut sei, um den Magen zu reinigen, doch Isabella brachte gar nichts herunter. Sempere wusste nicht mehr weiter. Er brachte sie nach Hause und begann, einen Arzt nach dem anderen anzurufen. Niemand hatte eine Ahnung, was mit ihr los war. Ein Arzthelfer, Stammkunde der Buchhandlung, kannte jemanden, der im Klinikum arbeitete. Sempere brachte sie hin.
Im Klinikum sagte man, es könne Cholera sein, er solle sie wieder nach Hause bringen, es gebe gerade zahlreiche solche Fälle, und sie hätten keinen Platz. Im Viertel waren schon mehrere Personen gestorben. Isabella ging es von Tag zu Tag schlechter. Sie delirierte. Ihr Mann setzte Himmel und Hölle in Bewegung, aber nach einigen Tagen war sie so schwach, dass sie nicht einmal mehr ins Krankenhaus gefahren werden konnte. Eine Woche nach der Erkrankung starb sie, in der Wohnung in der Calle Santa Ana, über der Buchhandlung…«
Ein langes Schweigen legte sich zwischen sie, nur begleitet vom Prasseln des Regens und vom Echo der Donnerschläge, die sich entfernten, während sich der Wind allmählich legte.
»Erst einen Monat später erfuhr ich, dass sie eines Abends im Café de la Ópera gesehen worden war, gegenüber dem Liceo-Theater. Sie saß mit Mauricio Valls zusammen. Sie hatte nicht auf meinen Rat gehört und ihm gedroht, seinen Plan auffliegen zu lassen, dass Martín weiß Gott was für einen Schwachsinn umschreiben sollte, mit dem er Ruhm und Medaillen einzuheimsen hoffte. Ich ging hin und erkundigte mich. Der Kellner erinnerte sich, dass Valls als Erster gekommen war, mit dem Auto, und zwei Kamillentee und Honig bestellt hatte.«
Fermín wog die Worte des jungen Anwalts ab.
»Und Sie glauben, Valls hat sie vergiftet?«
»Ich kann es nicht beweisen, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger bezweifle ich es. Es muss Valls gewesen sein.«
Fermín starrte zu Boden.
»Weiß es Señor Martín?«
»Nein. Nach Ihrer Flucht ließ Valls Martín in die Isolierzelle in einem der Türme bringen.«
»Und Dr. Sanahuja? Hat man die beiden nicht zusammengelassen?«
Brians seufzte niedergeschlagen.
»Sanahuja wurde wegen Verrats vor ein Militärgericht gestellt und zwei Wochen später füsiliert.«
Ein langes Schweigen machte sich in dem Raum breit. Fermín stand auf und trat erregt von einem Fuß auf den andern.
»Und mich, warum hat mich niemand gesucht? Schließlich und endlich bin ich ja die Ursache von allem…«
»Sie gibt es nicht. Um sich die Erniedrigung vor seinen Vorgesetzten und das Scheitern seiner verheißungsvollen Karriere im Regime zu ersparen, ließ Valls die Patrouille, die er nach Ihnen ausgeschickt hatte, schwören, sie hätten Sie erschossen, als Sie auf dem Hang des Montjuïc zu fliehen versuchten, und dann ins Massengrab geworfen.«
Fermín schmeckte die Wut auf den Lippen.
»Schauen Sie, ich hätte die größte Lust, gleich jetzt vor die Militärregierung zu treten und zu sagen: ›Hier habt ihr meine Eier.‹ Dann würden wir ja sehen, wie Valls meine Auferstehung erklärt.«
»Reden Sie keinen Unsinn. So lösen Sie gar nichts. Das Einzige, was Sie erreichen würden, wäre, zur Carretera de las Aguas gebracht und mit einem Nackenschuss ins Jenseits befördert zu werden. Das ist dieses Geschmeiß nicht wert.«
Fermín nickte, aber Scham und Schuldgefühl zehrten an ihm.
»Und Martín? Was wird aus ihm werden?«
Brians zuckte die Achseln.
»Was ich weiß, ist vertraulich und darf diesen Raum nicht verlassen. Es gibt einen Gefängniswärter im Kastell, einen gewissen Bebo, der mir mehr als eine Gefälligkeit schuldig ist. Ein Bruder von ihm sollte hingerichtet werden, aber ich habe erreicht, dass das Todesurteil in eine zehnjährige Gefängnisstrafe in Valencia umgewandelt wurde. Bebo ist ein guter Kerl und erzählt mir alles, was er im Kastell sieht und hört. Valls lässt mich nicht zu Martín, aber durch Bebo habe ich erfahren, dass er lebt und dass Valls ihn im Turm einschließt und rund um die Uhr unter Bewachung hält. Er hat ihm Papier und Federn gegeben. Bebo sagt, Martín schreibt.«
»Schreibt was?«
»Wer weiß. Valls glaubt, oder das hat mir wenigstens Bebo gesagt, Martín schreibt das Buch, mit dem er ihn beauftragt hat, auf der Grundlage seiner Notizen. Aber Martín, der, wie wir ja beide wissen, nicht ganz bei Trost ist, schreibt anscheinend etwas anderes. Manchmal wiederholt er laut, was er schreibt, oder er steht auf und beginnt in der Zelle rumzugehen und Dialogfetzen und ganze Sätze zu rezitieren. Bebo hat Nachtschicht bei seiner Zelle, und wenn es geht, gibt er ihm Zigaretten und Zuckerwürfel, das ist das Einzige, was er isst. Hat Martín einmal etwas von einem Spiel des Engels erzählt?«
Fermín verneinte.
»Ist das der Titel des Buches, an dem er schreibt?«
»Das sagt Bebo. Soweit er verstanden hat, was ihm Martín erzählt und was er ihn sonst sagen hört, ist es so etwas wie eine Autobiographie oder eine Beichte… Wenn Sie meine Meinung hören wollen, hat Martín gemerkt, dass er im Begriff ist, den Verstand zu verlieren, und versucht nun, zu Papier zu bringen, was er noch weiß, bevor es zu spät ist. Es ist, als schreibe er sich selbst einen Brief, um zu erfahren, wer er ist…«
»Und was geschieht, wenn Valls entdeckt, dass er nicht seinen Anweisungen folgt?«
Anwalt Brians schaute ihn düster an.
Als es zu regnen aufhörte, war es schon fast Mitternacht. Von Anwalt Brians’ Dachgeschosswohnung aus sah Barcelona unter den sich tief über die Dächer schleppenden Wolken ungastlich aus.
»Haben Sie denn einen Ort, wo Sie hingehen können, Fermín?«, fragte Brians.
»Ich habe ein verlockendes Angebot, mich bei einem etwas leichtlebigen, aber warmherzigen jungen Mädchen mit einer Karosserie, die einem den Schluckauf nimmt, als Leibwächter ins Konkubinat zu begeben, aber ich sehe mich nicht in der Rolle des Zuhälters, nicht einmal zu Füßen der Venus von Jerez.«
»Die Vorstellung, dass Sie auf der Straße sind, will mir nicht gefallen, Fermín. Es ist gefährlich. Sie können hierbleiben, solange Sie wollen.«
Fermín schaute um sich.
»Ich weiß, es ist nicht das Hotel Colón, aber ich habe da hinten ein Klappbett, schnarche nicht und wäre, ehrlich gesagt, dankbar für die Gesellschaft.«
»Haben Sie denn keine Freundin?«
»Meine Freundin war die Tochter des Gründers der Kanzlei, die mich mit Hilfe von Valls und Konsorten rausgeschmissen hat.«
»Diese Geschichte mit Martín bezahlen Sie teuer. Keuschheits- und Armutsgelübde…«
Brians lächelte.
»Geben Sie mir eine verlorene Sache, und ich bin glücklich.«
»Dann nehme ich Sie beim Wort. Aber nur, wenn ich mithelfen und etwas dazu beitragen darf. Ich kann saubermachen, ordnen, Maschine schreiben, kochen, mit Beratung sowie Detektiv- und Beschattungsdiensten aufwarten, und wenn Sie in einen hormonellen Engpass geraten und Druck ablassen müssen, dann bin ich überzeugt, dass Ihnen meine Freundin Rociíto einen professionellen Service anbieten kann, nach dem Sie wie neugeboren sind — in jungen Jahren muss man aufpassen, dass einem nicht ein Überschuss an Samenflüssigkeit in den Kopf steigt, und später ist es noch schlimmer.«
Brians gab ihm die Hand.
»Abgemacht. Sie sind verpflichtet als stellvertretender Bürovorsteher der Kanzlei Brians und Brians, Verteidiger der Insolventen.«
»So wahr ich Fermín heiße, bringe ich Ihnen noch vor dem Wochenende einen der Mandanten, die bar oder im Voraus zahlen.«
So richtete sich Fermín Romero de Torres einstweilen in Anwalt Brians’ winzigem Büro ein, wo er die Dossiers, Kladden und offenen Fälle zu ordnen, zu reinigen und à jour zu bringen begann. In wenigen Tagen verdreifachte das Büro dank seinen Künsten die Fläche und wurde zum Schmuckkästchen. Er blieb die meiste Zeit drinnen, unternahm aber zwei Stunden täglich verschiedene Expeditionen, von denen er immer mit einer Handvoll Blumen aus dem Foyer des Tivoli-Theaters, etwas Kaffee, den er einer Kellnerin des Lokals im Erdgeschoss abschmeichelte, und Feinkostartikeln aus der Lebensmittelhandlung Quílez zurückkehrte, die er aufs Konto der Kanzlei anschreiben ließ, welche Brians gefeuert und als deren neuen Botenjungen er sich vorgestellt hatte.
»Fermín, dieser Schinken ist phantastisch, wo haben Sie den her?«
»Probieren Sie mal den Manchego-Käse, dann geht Ihnen ein Licht auf.«
Vormittags sah er alle Fälle von Brians durch und schrieb dessen Notizen ins Reine. Nachmittags stürzte er sich mit Hilfe des Telefonbuchs in die Suche nach mutmaßlich solventen Mandanten. Wenn er eine Möglichkeit witterte, krönte er den Anruf mit einem Hausbesuch. Von insgesamt fünfzig Anrufen bei Geschäften, Freiberuflern und Privatleuten des Viertels mündeten zehn in Hausbesuche und drei in neue Kundschaft für Brians.
Die erste Mandantin war eine Witwe, die mit einer Versicherungsgesellschaft im Streit lag, weil die sich weigerte, für den Hinschied ihres Gatten zu zahlen, mit dem Argument, der Herzstillstand, dem er nach einem Langustengelage im Restaurant Les Set Portes zum Opfer gefallen war, sei ein in der Police nicht vorgesehener Fall von Selbstmord. Der zweite war ein Tierpräparator, dem ein pensionierter Torero den fünfhundert Kilo schweren Kampfstier gebracht hatte, der seiner Laufbahn in der Arena ein Ende gesetzt hatte und den, einmal ausgestopft, der Matador nicht mitnehmen und bezahlen wollte, da ihm die vom Präparator eingesetzten Glasaugen ein so diabolisches Aussehen gäben, dass er mit dem Ausruf »Unberufen toi, toi, toi« aus der Werkstatt habe stürzen müssen. Und der dritte war ein Schneider von der Ronda San Pedro, dem ein Zahnarzt ohne Titel fünf Backenzähne gezogen hatte, alle ohne Karies. Es waren geringfügige Fälle, doch alle Mandanten hatten eine Kaution gezahlt und einen Vertrag unterschrieben.
»Fermín, ich werde Ihnen ein festes Gehalt zahlen.«
»Das fehlte noch.«
Fermín weigerte sich, irgendwelche Bezüge für seine guten Dienste anzunehmen, ausgenommen gelegentlich kleine Darlehen, um sonntagnachmittags die Rociíto ins Kino, zum Tanz ins La Paloma oder in den Vergnügungspark auf dem Tibidabo auszuführen, wo sie ihm im Spiegelpalast einen Knutschfleck auf den Hals applizierte, der ihn eine Woche lang brannte, und wo er, einen Tag nutzend, da sie in dem über Barcelonas Miniaturhimmel kreisenden Möchtegernflugzeug allein waren, nach langer Abwesenheit von der Bühne der flotten Nummern wieder voll und ganz zum Genuss seiner Männlichkeit zurückfand.
Als er eines Tages zuoberst auf dem Riesenrad die Reize der Rociíto befummelte, sagte sich Fermín, dass das entgegen jeder Vorhersage fast schöne Zeiten waren. Und Angst befiel ihn, denn er wusste, dass sie nicht anhalten konnten und dass diese gestohlenen Friedens- und Glückstropfen noch vor der Jugend des Fleisches und der Augen der Rociíto verdunsten würden.
An diesem Abend setzte er sich an den Schreibtisch und wartete, bis Brians von seinen Runden durch Gerichte, Büros, Ämter, Gefängnisse und den tausendundein Handküssen zurückkehrte, die er durchleiden musste, um an Informationen zu kommen. Es war beinahe elf, als er die Schritte des jungen Anwalts auf dem Gang nahen hörte. Er machte die Tür auf, und Brians, niedergeschlagener denn je, schlurfte mit Füßen und Seele herein, ließ sich in eine Ecke fallen und bedeckte sich das Gesicht mit den Händen.
»Was ist denn passiert, Brians?«
»Ich komme vom Kastell.«
»Schlimm?«
»Valls hat mich nicht vorgelassen. Ich musste vier Stunden warten und bin dann weggeschickt worden. Man hat mir die Besuchserlaubnis entzogen und die Genehmigung, das Gelände zu betreten.«
»Hat man Sie zu Martín gelassen?«
Brians schüttelte den Kopf.
»Er war nicht da.«
Fermín schaute ihn verständnislos an. Eine Weile schwieg Brians, um die Worte zusammenzuklauben.
»Als ich ging, ist mir Bebo gefolgt und hat mir erzählt, was er weiß. Es ist vor zwei Wochen passiert. Martín schrieb wie ein Besessener, Tag und Nacht, und legte kaum eine Schlafpause ein. Irgendwie roch Valls den Braten und hieß Bebo die von Martín bereits geschriebenen Seiten konfiszieren. Drei Wachen mussten ihn in die Zange nehmen, damit er stillhielt und sie ihm das Manuskript entreißen konnten. In zwei Monaten hatte er über fünfhundert Seiten geschrieben.«
Bebo brachte sie Valls, und nachdem dieser zu lesen begonnen hatte, bekam er anscheinend einen Tobsuchtsanfall.
»Es war wohl nicht das, was er erwartet hatte, nehme ich an…«
Brians verneinte.
»Valls las die ganze Nacht, und am nächsten Morgen ging er mit vier seiner Leute zum Turm hinauf. Er ließ Martín an Händen und Füßen in Eisen legen und betrat dann selbst die Zelle. Bebo hörte durch den Türspalt zu und bekam einen Teil des Gesprächs mit. Valls war wütend. Er sagte, er sei sehr enttäuscht von ihm, er habe ihm den Keim eines Meisterwerks gegeben, aber Martín habe undankbarerweise nicht seine Anweisungen befolgt, sondern diesen Mist ohne Hand und Fuß zu schreiben begonnen. ›Das ist nicht das Buch, das ich von Ihnen erwartet habe, Martín‹, wiederholte er immer wieder.«
»Und was sagte Martín?«
»Nichts. Er ignorierte ihn. Als wäre er Luft. Was Valls immer noch wütender machte. Bebo hörte, wie er Martín ohrfeigte und schlug, aber der gab keinen einzigen Klagelaut von sich. Als Valls es satthatte, ihn zu schlagen und zu beschimpfen, ohne ein Wort aus ihm herauszukriegen, sagt Bebo, zog er einen Brief aus der Tasche, einen Brief, den Señor Sempere Martín Monate zuvor geschickt und den Valls abgefangen hatte. In diesem Brief befand sich eine Notiz, die Isabella auf dem Sterbebett für Martín geschrieben hatte…«
»Dieser Hundesohn…«
»Valls ließ ihn eingeschlossen mit diesem Brief zurück — er wusste ganz genau, dass ihn nichts mehr schmerzen konnte, als zu erfahren, dass Isabella gestorben war. Bebo sagt, nachdem Valls gegangen war und Martín den Brief gelesen hatte, habe er zu schreien begonnen und die ganze Nacht weitergeschrien und mit Händen und Kopf auf die Wände und die Eisentür eingedroschen…«
Brians schaute auf, und Fermín kniete vor ihm nieder und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Geht es Ihnen gut, Brians?«
»Ich bin sein Anwalt«, sagte er mit zitternder Stimme. »Es ist doch meine Pflicht, ihn zu beschützen und dort rauszuholen…«
»Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht steht, Brians. Und das weiß Martín.«
Brians schüttelte langsam den Kopf.
»Das ist noch nicht alles«, sagte er. »Bebo hat mir erzählt, da Valls verboten habe, Martín weiterhin Papier und Tinte zu geben, habe dieser angefangen, die Rückseite der Seiten vollzuschreiben, die ihm Valls ins Gesicht geschleudert hatte. Mangels Tinte schneide er sich in Hände und Arme und benutze sein Blut… Bebo versuchte, mit ihm zu sprechen, ihn zu beruhigen. Er nahm jetzt keine Zigaretten und Zuckerwürfel mehr an, obwohl ihm die so gut schmeckten. Er beachtete ihn nicht einmal mehr. Bebo glaubt, mit der Nachricht von Isabellas Tod habe er vollends den Verstand verloren und nur noch in der Hölle gelebt, die er sich in seinem Kopf gezimmert hatte. Nachts schrie er, und alle konnten ihn hören. Unter den Besuchern, den Gefangenen und dem Gefängnispersonal begann man zu munkeln. Valls wurde allmählich nervös. Schließlich befahl er eines Nachts zweien seiner Revolverhelden, ihn wegzuschaffen…«
Fermín schluckte.
»Wohin?«
»Bebo ist nicht sicher. Auf Grund dessen, was er hören konnte, glaubt er, in einen alten verlassenen Kasten neben dem Park Güell, ein Ort, wo anscheinend schon während des Krieges mehr als nur einer oder zwei umgebracht und dann im Garten verscharrt worden waren… Als die beiden Killer zurückkamen, sagten sie Valls, es sei alles in Ordnung, aber Bebo hat mir erzählt, in der Nacht habe er sie miteinander sprechen hören und sie seien sehr verschreckt gewesen. Etwas muss in dem Haus geschehen sein. Anscheinend war da noch jemand.«
»Jemand?«
Brians zuckte die Schultern.
»Dann lebt David Martín also noch?«
»Ich weiß es nicht, Fermín. Niemand weiß es.«
Barcelona, 1957
Fermín sprach mit hauchdünner Stimme, den Blick niedergeschlagen. Die Heraufbeschwörung dieser Erinnerungen schien ihm alle Kraft entzogen zu haben, so dass er sich nur mit Müh und Not auf dem Stuhl halten konnte. Ich schenkte ihm ein letztes Glas Wein ein, während er sich mit dem Handrücken die Tränen abwischte. Ich reichte ihm eine Serviette, doch er übersah sie. Die restlichen Gäste des Can Lluís waren schon vor einer Weile gegangen, und vermutlich war es nach Mitternacht, aber niemand hatte uns etwas gesagt, man hatte uns in aller Ruhe sitzen lassen. Fermín schaute mich erschöpft an, als hätte ihm die Enthüllung dieser Geheimnisse, die er so viele Jahre in sich verschlossen hatte, sogar die Lust zu leben ausgerissen.
»Fermín…«
»Ich weiß, was Sie mich fragen werden. Die Antwort lautet nein.«
»Fermín, ist David Martín mein Vater?«
Er schaute mich streng an.
»Ihr Vater ist Señor Sempere, Daniel. Daran dürfen Sie niemals zweifeln. Niemals.«
Ich nickte. Fermín blieb auf seinem Stuhl verankert, abwesend, den Blick im Nirgendwo verloren.
»Und Sie — was ist aus Ihnen geworden, Fermín?«
Er zögerte mit der Antwort, als wäre dieser Teil der Geschichte absolut bedeutungslos.
»Ich bin auf die Straße zurückgegangen. Bei Brians konnte ich nicht bleiben. Und zur Rociíto konnte ich nicht ziehen. Zu niemandem…«
Sein Bericht strandete, und ich nahm ihn an seiner statt wieder auf.
»Sie sind auf die Straße zurückgegangen, ein namenloser Bettler, ohne nichts und niemand auf der Welt, ein Mann, den alle für verrückt hielten und der am liebsten gestorben wäre, hätte er nicht ein Versprechen abgegeben…«
»Ich hatte Martín versprochen, mich um Isabella und ihren Sohn zu kümmern — um Sie. Aber ich war ein Feigling, Daniel. Ich hatte mich so lange versteckt gehalten, ich hatte solche Angst vor dem Zurückkommen, dass Ihre Mutter schon nicht mehr da war, als ich es endlich tat…«
»Darum habe ich Sie in jener Nacht auf der Plaza Real angetroffen? Das war also kein Zufall? Wie lange waren Sie mir denn schon gefolgt?«
»Monate. Jahre…«
Ich stellte mir vor, wie er mir als Kind gefolgt war, wenn ich zur Schule ging, wenn ich im Ciudadela-Park spielte, wenn ich mit meinem Vater vor diesem Schaufenster stehen blieb, um den Füllfederhalter zu betrachten, von dem ich felsenfest überzeugt war, dass er Victor Hugo gehört hatte, wenn ich mich auf die Plaza Real setzte, um Clara vorzulesen und sie, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, mit den Augen zu liebkosen. Ein Bettler, ein Schatten, eine Gestalt, auf die niemand achtete und die von den Blicken gemieden wurde. Fermín, mein Beschützer und mein Freund.
»Und warum haben Sie mir Jahre später die Wahrheit nicht erzählt?«
»Anfänglich wollte ich das, aber dann wurde mir klar, dass ich Ihnen damit eher schaden als nützen würde. Dass nichts die Vergangenheit ändern konnte. Ich beschloss, Ihnen die Wahrheit zu verheimlichen, weil ich dachte, es sei besser, wenn Sie mehr Ihrem Vater und weniger mir glichen.«
Wir hüllten uns in ein langes Schweigen, in dem wir verstohlene Blicke wechselten, ohne zu wissen, was wir sagen sollten.
»Wo ist Valls?«, fragte ich schließlich.
»Kommen Sie mir ja nicht auf den Gedanken…«
»Wo ist er jetzt?«, wiederholte ich meine Frage. »Wenn Sie es mir nicht sagen, finde ich es schon heraus.«
»Und was werden Sie tun? Bei ihm aufkreuzen und ihn umbringen?«
»Warum nicht?«
Fermín lachte bitter.
»Weil Sie eine Frau und ein Kind haben, weil Sie ein Leben haben und Leute, die Sie gernhaben und die Sie gernhaben, und weil Sie alles haben, Daniel.«
»Alles außer meiner Mutter.«
»Die Rache wird Ihnen die Mutter nicht zurückgeben.«
»Das lässt sich leicht sagen. Ihre hat niemand umgebracht…«
Fermín wollte etwas sagen, biss sich aber auf die Zunge.
»Warum, glauben Sie, hat Ihr Vater Ihnen nie vom Krieg erzählt, Daniel? Glauben Sie etwa, er könne sich nicht vorstellen, was geschehen ist?«
»Wenn es so ist, warum hat er dann geschwiegen? Warum hat er nichts unternommen?«
»Ihretwegen, Daniel. Ihretwegen. Ihr Vater hat wie viele Leute, die diese Jahre haben durchleben müssen, alles geschluckt und geschwiegen. Weil sie keinen Mut hatten. Leute von allen Parteien und Farben. Sie begegnen ihnen täglich auf der Straße und nehmen sie nicht einmal wahr. Diese ganzen Jahre über sind sie mit diesem Schmerz in sich lebend verfault, damit Sie und andere wie Sie leben können. Kommen Sie mir nicht auf die Idee, Ihren Vater zu richten. Dazu haben Sie kein Recht.«
Es kam mir vor, als hätte mir mein bester Freund einen Schlag auf den Mund versetzt.
»Seien Sie nicht böse auf mich, Fermín…«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht böse.«
»Ich versuche nur, das alles besser zu verstehen. Erlauben Sie mir eine Frage. Nur eine.«
»Zu Valls? Nein.«
»Nur eine Frage, Fermín. Ich schwöre es. Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie nicht zu antworten.«
Brummelnd nickte er.
»Ist dieser Mauricio Valls derselbe Valls, an den ich denke?«
Er nickte.
»Ein und derselbe. Der, der bis vor vier oder fünf Jahren Kulturminister war. Der fast jeden Tag in der Presse erschienen ist. Der große Mauricio Valls. Autor, Verleger, Denker und Messias der nationalen Intelligenzija. Dieser Valls.«
Da ging mir auf, dass ich Dutzende Male in der Presse das Bild dieses Mannes gesehen hatte, dass ich seinen Namen gehört und auf dem Rücken einiger Bücher in unserer Buchhandlung aufgedruckt gesehen hatte. Bis zu diesem Abend war der Name Mauricio Valls einfach einer von vielen unter diesen öffentlichen Figuren gewesen, die zu einer zwar dauernd präsenten, aber verschwommenen Landschaft gehören, auf die man nicht besonders achtet. Hätte mich jemand nach Mauricio Valls gefragt, so hätte ich bis zu diesem Abend geantwortet, er komme mir vage bekannt vor, eine wichtige Figur in diesen elenden Jahren, die ich nie weiter beachtet hatte. Bis zu diesem Abend wäre es mir nie in den Sinn gekommen, eines Tages würde dieser Name, dieses Gesicht für immer zu dem des Mannes werden, der meine Mutter umgebracht hatte.
»Aber…«, protestierte ich.
»Nichts. Sie haben gesagt, eine einzige Frage, und die habe ich Ihnen beantwortet.«
»Fermín, Sie können mich nicht so…«
»Hören Sie mir gut zu, Daniel.« Er schaute mir in die Augen und fasste mich am Handgelenk. »Ich schwöre Ihnen, wenn der Moment gekommen ist, werde ich Ihnen persönlich helfen, diesen Dreckskerl zu finden, und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben mache. Dann werden wir abrechnen mit ihm. Aber nicht jetzt. Nicht so.«
Ich schaute ihn zweifelnd an.
»Versprechen Sie mir, keine Dummheit zu begehen, Daniel. Zu warten, bis der Moment gekommen ist.«
Ich senkte den Blick.
»Das können Sie nicht von mir verlangen, Fermín.«
»Ich kann und muss.«
Schließlich nickte ich, und Fermín ließ meinen Arm los.
Als ich nach Hause kam, war es fast zwei Uhr. Ich wollte eben die Haustür öffnen, da sah ich, dass in der Buchhandlung das Licht an war, ein schwacher Glanz hinter dem Vorhang zum Hinterzimmer. Ich betrat den Laden vom Hausflur aus und fand meinen Vater am Schreibtisch, wo er die erste Zigarette paffte, die ich ihn in meinem ganzen Leben hatte rauchen sehen. Vor ihm auf dem Tisch lagen ein offener Umschlag und beschriebene Briefbogen. Ich rückte einen Stuhl heran und setzte mich ihm gegenüber. Schweigend und undurchdringlich schaute er mich an.
»Gute Nachrichten?«, fragte ich und deutete auf den Brief.
Mein Vater reichte ihn mir.
»Er ist von deiner Tante Laura aus Neapel.«
»Ich habe eine Tante in Neapel?«
»Die Schwester deiner Mutter, die mit der Familie mütterlicherseits nach Italien gezogen ist, in dem Jahr, in dem du auf die Welt gekommen bist.«
Ich nickte abwesend. Ich konnte mich nicht an sie erinnern, und ihren Namen hatte ich unter all den Unbekannten, die vor Jahren zur Beerdigung meiner Mutter gekommen waren und die ich danach nie wiedergesehen hatte, nur am Rand zur Kenntnis genommen.
»Sie sagt, sie hat eine Tochter, die in Barcelona studieren will, und fragt, ob sie eine Zeitlang hier wohnen kann, eine gewisse Sofía.«
»Das ist das erste Mal, dass ich von ihr höre«, sagte ich.
»Dann sind wir schon zwei.«
Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass mein Vater die Wohnung mit einer ihm unbekannten Halbwüchsigen teilte.
»Und was wirst du ihr antworten?«
Gleichgültig zuckte er die Schultern.
»Ich weiß auch nicht. Irgendetwas werde ich ihr sagen müssen.«
Fast eine Minute saßen wir schweigend da und sahen uns an, ohne uns an das Thema zu wagen, das uns sehr viel mehr beschäftigte als der Besuch einer entfernten Cousine.
»Ich nehme an, du warst mit Fermín aus«, sagte er schließlich.
Ich nickte.
»Wir sind ins Can Lluís gegangen. Fermín hat sogar die Servietten verschlungen. Beim Eintreten habe ich Professor Alburquerque angetroffen, er hat ebenfalls da gegessen, und ich habe ihm gesagt, er soll doch wieder mal im Laden vorbeischauen.«
Der Klang meiner Stimme, die Banalitäten von sich gab, hatte ein anklagendes Echo. Mein Vater schaute mich angespannt an.
»Hat er dir gesagt, was mit ihm los ist?«
»Ich glaube, es ist die Nervosität, wegen der Hochzeit und dem ganzen Drum und Dran, das ist nichts für ihn.«
»Und das war’s auch schon?«
Ein geübter Lügner weiß, dass die wirkungsvollste Lüge immer eine Wahrheit ist, der man ein entscheidendes Stück genommen hat.
»Na ja, er hat mir Dinge aus alten Zeiten erzählt, als er im Gefängnis war und so.«
»Dann hat er dir vermutlich auch von Anwalt Brians erzählt. Was hat er denn gesagt?«
Ich war mir nicht sicher, was mein Vater wusste oder ahnte, und beschloss, Vorsicht walten zu lassen.
»Er hat mir erzählt, dass er im Kastell auf dem Montjuïc einsaß und mit Hilfe eines gewissen David Martín fliehen konnte, jemand, den du anscheinend gekannt hast.«
Mein Vater hüllte sich in langes Schweigen.
»Niemand hat es mir jemals ins Gesicht zu sagen gewagt, aber ich weiß, dass es Leute gibt, die damals dachten — und noch immer denken —, deine Mutter sei in Martín verliebt gewesen«, sagte er mit einem Lächeln so traurig, dass ich wusste, er zählte sich selbst auch dazu. Mein Vater hatte diese Gewohnheit einiger Menschen, übertrieben zu lächeln, um die Tränen zurückzuhalten. »Deine Mutter war eine gute Frau. Eine gute Ehefrau. Ich möchte nicht, dass du seltsame Dinge von ihr denkst auf Grund dessen, was dir Fermín vielleicht erzählt hat. Er hat sie nicht gekannt. Ich schon.«
»Fermín hat gar nichts angedeutet«, schwindelte ich. »Nur, dass Mama und Martín einander freundschaftlich verbunden waren und dass sie versucht hat, ihn aus dem Gefängnis zu holen, und sich dazu diesen Anwalt genommen hat, Brians.«
»Wahrscheinlich hat er dir auch von einem gewissen Valls erzählt…«
Ich zögerte, ehe ich nickte. Mein Vater erkannte die Verwirrung in meinen Augen und schüttelte den Kopf.
»Deine Mutter ist an der Cholera gestorben, Daniel. Ich werde nie verstehen, warum, aber Brians hat diesen Mann, einen größenwahnsinnigen Bürokraten, eines Verbrechens beschuldigt, für das es weder Indizien noch Beweise gegeben hat.«
Ich sagte nichts.
»Das musst du dir aus dem Kopf schlagen. Du musst mir versprechen, dass du nicht daran denken wirst.«
Ich schwieg weiter und fragte mich, ob mein Vater tatsächlich so naiv war, wie es den Anschein machte, oder ob ihn der Schmerz über den Verlust geblendet und in die Feigheit der Überlebenden getrieben hatte. Ich erinnerte mich an Fermíns Worte und dachte, dass weder ich noch sonst jemand das Recht hatte, ihn zu richten.
»Versprich mir, dass du keine Dummheit begehen und diesen Mann suchen wirst«, beharrte er.
Ich nickte ohne Überzeugung. Er fasste mich am Arm.
»Schwöre es mir. Beim Angedenken an deine Mutter.«
Ich spürte, wie ein Schmerz mein Gesicht peinigte, und merkte, dass ich die Zähne so fest zusammenpresste, dass sie beinahe brachen. Ich wandte den Blick ab, doch mein Vater ließ mich nicht los. Ich schaute ihm in die Augen, und bis zum letzten Moment glaubte ich ihn belügen zu können.
»Ich schwöre dir beim Angedenken an Mama, dass ich nichts unternehmen werde, solange du lebst.«
»Das ist nicht das, worum ich dich gebeten habe.«
»Das ist alles, was ich dir geben kann.«
Mein Vater vergrub den Kopf in den Händen und atmete tief.
»Die Nacht, in der deine Mutter gestorben ist, oben in der Wohnung…«
»Ich erinnere mich ganz genau.«
»Du warst fünf.«
»Viereinhalb.«
»In dieser Nacht hat Isabella mich gebeten, dir nie zu erzählen, was geschehen ist. Sie dachte, es wäre besser so.«
Das war das erste Mal, dass ich ihn meine Mutter bei ihrem Vornamen nennen hörte.
»Ich weiß, Papa.«
Er schaute mir in die Augen.
»Verzeih mir«, murmelte er.
Ich hielt seinem Blick stand; manchmal schien mein Vater zu altern, wenn er mich nur ansah und Erinnerungen wachrief. Ich stand auf und umarmte ihn schweigend. Er zog mich kräftig an sich, und als er in Tränen ausbrach, begannen die Wut und der Schmerz, die er all die Jahre in seiner Seele vergraben hatte, zu sprudeln wie Blut aus einer offenen Wunde. Ohne es erklären zu können, wurde mir klar, dass mein Vater langsam und unerbittlich zu sterben begonnen hatte.