Richard Bolitho stand im Windschutz der Steinmauer des Bootshafens und spähte durch den eiskalten Regen. Es war Nachmittag, aber der Himmel hing so voll niedriger Wolken, daß man glauben konnte, es sei schon Abend.
Er war müde und steif von der langen Fahrt in der Postkutsche, bei der er sich zu allem anderen noch über seine beiden Reisegefährten geärgert hatte: Kaufleute aus der Londoner City. Bei jedem Pferdewechsel oder auch sonst in einem der zahlreichen Wirtshäuser an der Chaussee nach Portsmouth hatten sie sich eine Erfrischung genehmigt und waren dabei immer lauter und vergnügter geworden. Sie wollten mit einem Postschiff nach Frankreich, um dort neue Geschäftsverbindungen anzuknüpfen und, wenn sie Glück hatten, ihre Handelsbeziehungen ein gutes Stück zu erweitern. Für Bolitho war das immer noch schwer zu verstehen. Noch vor einem Jahr war der Ärmelkanal die einzige Barriere zwischen seinem Land und dem Feind gewesen: der letzte Festungsgraben, wie eine Zeitung es ausgedrückt hatte. Männer vom Schlage seiner beiden Mitpassagiere schienen das inzwischen vergessen zu haben. Für sie war der Kanal nur noch ein ärgerliches Hindernis, das ihre Geschäftsreisen unbequemer und zeitraubender machte.
Er kroch tiefer in seinen Bootsmantel. Plötzlich konnte er es kaum noch erwarten, an Bord zu kommen. Der Mantel war neu und stammte von einem guten Londoner Schneider. Der Freund von Konteradmiral Winslade war mit ihm in der Werkstatt gewesen und hatte dabei so viel Takt entwickelt, daß sich Bolitho wenigstens nicht ganz ahnungslos vorkam. Er war so unsicher in diesen Dingen. Und doch mußte er lächeln, als er an die Zeit in London dachte. Er würde sich nie an London gewöhnen können. Es war zu groß, zu hektisch. Niemand hatte Zeit und Luft zum Atmen. Kein Wunder, daß die Leute in den großen Häusern um den St. James Square alle paar Stunden ihre Dienstboten hinausschicken mußten, um frisches Stroh auf die Straße zu breiten. Das Knarren und Rumpeln der Wagen konnte wahrhaftig Tote erwecken. Das Haus seiner Gastgeber war wunderschön gewesen, und sie selbst waren reizende Leute, auch wenn sie sich manchmal über seine Fragen milde amüsiert hatten. Noch jetzt wurde er aus ihren seltsamen Lebensformen nicht ganz klug. Es genügte anscheinend nicht, in einem so vornehmen, modernen Haus mit prächtigen Treppen und riesigen Kronleuchtern zu wohnen. Um zu den wirklich feinen Leuten zu zählen, mußte man an der richtigen Seite des Platzes wohnen, der Ostseite, wie Winslades Freunde.
Bolitho hatte allerlei einflußreiche Leute kennengelernt; seine Gastgeber hatten bei ihren Diners dafür gesorgt. Er hatte in dieser Hinsicht genügend Erfahrungen gesammelt, um genau zu wissen, daß er ohne ihre Hilfe nie mit solchen Menschen zusammengekommen wäre. An Bord seines Schiffes kam ein Kapitän gleich nach dem lieben Gott, aber in der Londoner Gesellschaft war er ein ganz kleines Licht.
Doch das alles lag jetzt hinter ihm. Er war wieder zu Hause. Seine Segelorder wartete schon auf ihn, nur der genaue Zeitpunkt des Ankerlichtens war noch unbestimmt.
Er spähte nochmals um die Mauer. Der Wind schlug ihm ins Gesicht wie eine Peitsche. Der Signalturm hatte die Undine über seine Ankunft informiert; und schon bald würde ein Boot für ihn am hölzernen Pier unterhalb der Mauer festmachen. Wie mochte wohl sein persönlicher Bootsführer Allday an Bord zurechtkommen? Es war seine erste Reise als Kapitänsbootsmann, aber Bolitho kannte ihn genau genug, um zu wissen, daß er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Es war schön, ihn wiederzusehen: ein vertrautes Gesicht, ein Mann, auf den er sich verlassen konnte.
Er blickte zum George Inn hinüber, dem Wirtshaus an der Endstation der Postkutsche, wo ein paar Bediente sein Gepäck bewachten, und dachte an die Garderobe, die er sich angeschafft hatte. Vielleicht war er doch nicht ganz unbeeinflußt von London geblieben.
Als Bolitho während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sein erstes Kommando als Kapitän der Schaluppe Sparrow innehatte, war wenig Zeit gewesen, sich mit den Luxusgütern dieser Erde vertraut zu machen. Aber in London, mit dem Rest seiner Prisengelder in der Tasche, hatte er das nachgeholt: neue Hemden, bequemes Schuhwerk. Dazu der weite, lange Bootsmantel, der auch dem heftigsten Regen widerstehen würde. Das war bestimmt zum Teil Winslades Verdienst. Sein Gastgeber hatte gelegentlich erwähnt, daß Bolithos Mission mit der Undine nicht nur einen tüchtigen Kapitän erforderte, sondern auch einen Mann, der etwas darstellte, wenn er mit den Repräsentanten fremder
Regierungen verhandelte. Da wäre zum Beispiel, meinte er beiläufig, die Frage des Weines.
Miteinander waren sie in einen niedrigen, holzgetäfelten Laden in der St. James' Street getreten, der völlig anders aussah, als Bolitho sich das gedacht hatte. Die Ladentür trug als Symbol eine Kaffeemühle, und darüber stand in Goldschrift der Firmenname: Pickering & Clarke. Der Laden wirkte gemütlich, sogar intim, und hätte sich ebensogut in Falmouth befinden können.
Hoffentlich war der Wein bereits an Bord. Wenn nicht, würde er wahrscheinlich ohne ihn absegeln müssen, aber mit einem großen Loch in seiner Geldbörse. Es mußte ein fremdartiges und aufregendes Erlebnis sein, allein in der Kajüte zu sitzen und diesen wundervollen Madeira zu probieren. Das würde ihm London ins Gedächtnis zurückrufen, die feinen Häuser, die schlagfertigen, witzigen Gespräche und die Frauen, die einen so merkwürdig anschauten. Ein paarmal war ihm das letztere direkt unangenehm gewesen. Sie hatte ihn an die Zeit in New York während des Krieges erinnert, diese Dreistigkeit in den Gesichtern, die selbstbewußte Arroganz, die ihnen zur zweiten Natur geworden zu sein schien.
Ein Eckensteher rief ihn an:»Da kommt Ihr Boot, Käpt'n! Ich helfe mit Ihrem Gepäck!«Er faßte an den Hut und rannte zum Gasthaus, um die Hausdiener zu benachrichtigen, wobei er sich vermutlich überlegte, wieviel Trinkgeld von einem Fregattenkapitän zu erwarten war.
Bolitho drückte sich den Hut fest in die Stirn und trat in den Wind hinaus. Es war die Barkasse der Undine, ihr größtes Boot. Die Riemen hoben und senkten sich wie Möwenschwingen, als sie auf den Pier zusteuerte. Es mußte ein schweres Rudern sein, überlegte er; sonst wäre Allday mit der Gig, dem kleineren Boot, gekommen.
Freudige Erwartung erfüllte ihn, und beinahe hätte er über das ganze Gesicht gelacht. Das dunkelgrün gestrichene Boot, die Rudergasten in ihren karierten Hemden und weißen Hosen — alles war wieder da. Es war wie eine Heimkehr.
Die Riemen flogen hoch und standen senkrecht wie zwei Reihen weißer, schwingender Barten, während der Mann im Bug festmachte und einem eleganten Midshipman beim Aussteigen half. Der zog schwungvoll den Hut:»Zu Ihren Diensten, Sir.»
Das war Midshipman Valentin Keen, ein junger Mann, dessen Kommandierung auf die Undine wohl, wie Bolitho mutmaßte, in erster Linie erfolgt war, um ihn von England wegzubringen, und nicht so sehr, um seine maritime Karriere zu beschleunigen. Er war dienstältester Midshipman an Bord; und wenn er die Reise überlebte, würde er wahrscheinlich als Leutnant zurückkehren — auf alle Fälle würde er ein Mann geworden sein.
«Meine Kisten sind da drüben, Mr. Keen.»
Reglos stand Allday in der Achterplicht; sein blauer Rock und seine weiße Hose flatterten im Wind, und nur mit Mühe gelang es ihm, ein dienstlich starres Gesicht zu behalten.
Die Beziehung zwischen ihnen beiden war seltsam. Allday war als gepreßter Matrose an Bord der Phalarope gekommen. Als sie bei Kriegsende stillgelegt wurde, blieb Allday bei ihm in Falmouth: als Diener, Leibwächter und Freund, auf den er sich verlassen konnte. Jetzt, als Kapitänsbootsmann, würde er ständig um ihn und manchmal der einzige Kontakt zu jener anderen Welt jenseits des Kajütschotts sein. Allday war sein Leben lang Seemann gewesen; nur kurze Zeit lebte er als Schäfer in Cornwall, und ausgerechnet da hatte Bolithos Preßkommando ihn geschnappt: ein seltsamer Anfang. Bolitho mußte an Mark Stockdale, Alldays Vorgänger, denken: einen ehemaligen Faustkämpfer, der wegen seiner beschädigten Stimmbänder kaum richtig sprechen konnte. Er war in der Seeschlacht bei den Saintes gefallen, als er Bolitho den Rücken deckte. Armer Stockdale… Bolitho hatte nicht einmal gesehen, wie er starb.
Allday kletterte an Land.»Alles klar, Captain. Ein feines Abendbrot wartet in der Kajüte. «Er schnauzte einen Matrosen an:»Schnapp dir die Kiste da, du Idiot, oder ich freß deine
Leber!»
Grinsend nickte der Matrose. Bolitho war beruhigt. Alldays bemerkenswerte persönliche Ausstrahlung schien sich bereits durchgesetzt zu haben. Er konnte fluchen und prügeln wie ein Wilder, wenn es nötig war. Aber Bolitho hatte gelegentlich zugesehen, wie er Verwundete versorgte, und kannte auch seine andere Seite. Kein Wunder, daß die Mädchen auf den Farmen rund um Falmouth ihn vermißten. Aber nach Bolithos Meinung war es besser für Allday, zur See zu fahren. In letzter Zeit war zu viel über seine Amouren geredet worden. Endlich war das Boot beladen, die Bedienten und der Eckensteher hatten ihr
Geld bekommen. Zügig drückten die Riemen die lange Barkasse durch das kabbelige Wasser.
Schweigend und in seinen Mantel gehüllt saß Bolitho da und ließ die ferne Fregatte nicht aus den Augen. Sie war schön, in mancher Hinsicht schöner als die Phalarope, wenn das überhaupt möglich war. Sie war erst vier Jahre alt und kam von einer Werft in Frindsbury am Medway-Fluß. Herrick war in dieser Gegend zu Hause. Ihre Länge über Deck betrug 130 Fuß;[5] aus guter englischer Eiche gebaut, war sie ein Meisterstück. Kein Wunder, daß die Admiralität sie nicht wie so viele andere Schiffe ihrer Klasse bei Kriegsende einfach auflegen wollte. Sie hatte fast vierzehntausend Pfund gekostet, wie man Bolitho des öfteren versichert hatte. Nicht daß man es ihm noch extra klarzumachen brauchte — er wußte auch so, daß er von Glück sagen konnte, so ein Schiff zu bekommen. Ein schmaler Riß klaffte in den dahinfliegenden Wolken und ließ einen Strahl wässerigen Lichts über die Stückpforten der Undine und den sauberen Kupferbeschlag des Unterwasserschiffs spielen, der beim unruhigen Rollen hin und wieder sichtbar wurde. Ein solides Schiff, mit dem man alles machen konnte. Aber dabei fiel Bolitho ein, was ihm Stewart, der vorige Kapitän, anvertraut hatte. In einem wütenden Scharmützel vor Ushant[6] war sie von den schweren Geschützen eines Vierundsiebzigers beschossen worden und hatte vier Treffer direkt unter der Wasserlinie abbekommen. Nur mit Glück hatte sie England noch erreicht. Fregatten waren schnelle Schiffe für überfallartige Aktionen und nicht dazu bestimmt, sich mit schweren Linienschiffen in Feuergefechte einzulassen. Bolitho wußte aus eigener bitterer Erfahrung, welchen Schaden ein Treffer an einem so grazilen Schiffskörper anrichten konnte. Stewart hatte noch gesagt, er sei trotz sorgfältiger Überprüfung nicht sicher, ob der Rumpf nach der Reparatur wieder völlig stabil sei. War nämlich der Kupferbelag erst wieder aufgenietet, so genügte eine Inspektion von der Innenseite nicht, um festzustellen, ob die Werft wirklich einwandfrei gearbeitet hatte. Kupfer schützte den Rumpf vor Algenbewuchs, der die Geschwindigkeit erheblich mindern konnte. Aber hinter dem Kupfer mochte der schlimmste Feind jedes Kapitäns lauern: die Fäule, die einen erstklassigen Schiffsrumpf in eine tödliche Falle für den Unvorsichtigen verwandeln konnte. Vor zwei Jahren war in Portsmouth das
Flaggschiff des Admirals Kempenfeit, die Royal George, gekentert und gesunken, was mehrere hundert Menschen das Leben gekostet hatte. Es hieß, das Unterwasserschiff sei angefault gewesen und glatt herausgefallen. Wenn das einem stolzen Flaggschiff vor Anker passieren konnte, dann war bei einer Fregatte noch viel Schlimmeres zu befürchten.
Bolitho fuhr aus seinen Gedanken hoch: über dem Sausen des Windes vernahm er die schrillen Pfiffe des Bootsmanns und die stampfenden Schritte der Seesoldaten, die zur Ehrenbezeigung antraten. Er starrte zu den turmhohen Masten empor und sah die Matrosen in den Wanten. Seit einem Monat waren sie daran gewöhnt, ihn an Bord zu sehen, mit Ausnahme der Neuen, die auch er noch nicht kannte. Die würden sich jetzt Gedanken über ihn machen — wie er wohl wäre, zu hart oder zu nachlässig. Für die Mannschaft bedeutete der Kapitän, sobald erst einmal der Anker gelichtet war, einfach alles, ob er nun gut oder böse, ein schlechter oder ein tüchtiger Seemann war. Nur sein Ohr hörte auf ihre Klagen, nur seine Stimme sprach Belohnung oder Strafe aus.
«Riemen ein!«Allday erhob sich halb, die Ruderpinne in der Hand.»Auf Riemen!»
Das Boot lief aus, und der Bootsmann erwischte mit seinem Haken das Wasserstag beim ersten Versuch. Wahrscheinlich, mutmaßte Bolitho, hatte Allday während seiner Abwesenheit fleißig mit der Bootsmannschaft geübt. Er stand auf, um den richtigen Moment zu erwischen — er wußte genau, Allday paßte auf wie eine Katze vorm Mauseloch, damit er nicht zwischen Boot und Bordwand rutschte, oder, schlimmer noch, rückwärts stolperte und mit Armen und Beinen strampelnd zwischen die Männer fiel. Dergleichen kam vor; Bolitho hatte es selbst gesehen und erinnerte sich an seine grausame Schadenfreude beim Anblick des neuen Kapitäns, der triefend wie ein Scheuerlappen an Bord kam. Aber der Gischt hatte kaum Zeit, seine Hosenbeine anzufeuchten, da war er auch schon oben an Bord, und in seine Ohren gellte das Schrillen der Pfeifen und das Knallen der präsentierten Musketen der Marineinfanteristen. Er lüftete den Hut zum Achterdeck hin und nickte den Offizieren grüßend zu.»Schön, wieder an Bord zu sein, Mr. Herrick. «Sein Ton war kurz und dienstlich.
«Willkommen an Bord, Sir. «Auch Herrick sprach in offiziellem Ton. Aber in den Augen beider Männer stand ein
Glanz, der etwas mehr verriet als bloße Bordroutine. Etwas, das keiner der anderen sah oder gar teilte.
Bolitho zog seinen Mantel aus, reichte ihn Midshipman Penn und wandte sich um. Das schwindende Licht spielte über die weißen Aufschläge seines Galarocks. Nun wußten alle, daß er da war. Er sah die wenigen Matrosen, die oben in der Takelage noch etwas zu spleißen hatten, und andere, die sich auf den Decksgängen und zwischen den Doppelreihen der schweren Zwölfpfünder drängten. Er kam sich ein bißchen pompös vor, und dieses Gefühl nötigte ihm ein amüsiertes Lächeln ab.
«Ich gehe jetzt unter Deck.»
«Die Segelorder liegt in Ihrer Kajüte, Sir. «Herrick barst vor Neugier; das merkte man ihm trotz seines dienstlich formellen Tonfalls deutlich an, denn seine blauen Augen, die manchmal so verletzt dreinblicken konnten, straften seine dienstliche Haltung Lügen.
«Schön. Ich lasse Sie in Kürze rufen.»
Bolitho wollte nach achtern gehen; da bemerkte er eine Gruppe trüber Gestalten in Zivil, die sich an der Achterdeckreling zusammendrängten. Leutnant Davy war eben dabei, sie nach einer Liste namentlich aufzurufen.
«Neue Leute, Mr. Davy?«fragte er.
«Wir sind immer noch dreißig Mann unter Sollstärke, Sir«, warf Herrick leise ein.
«Aye, Sir. «Davy blickte mit zusammengekniffenen Augen von der Liste auf und durch den Sprühregen seinem Kapitän entgegen. Auf seinen hübschen Zügen lag ein zutrauliches Lächeln.»Ich bin gerade dabei, sie die Musterrolle unterzeichnen zu lassen.»
Bolitho ging zur Leiter und kletterte rasch zum Geschützdeck hinunter. Mein Gott, was für Elendsgestalten! Halbverhungert, zerlumpt, verprügelt. Das harte Leben an Bord konnte kaum schlimmer sein als das Leben, das sie bisher geführt hatten und das sie zu dem gemacht hatte, was sie jetzt waren.
Davy hatte die Musterrolle auf einen der Zwölfpfünder gelegt. Was der für elegante, gepflegte Hände hatte!» Kommt jetzt«, befahl er,»und macht eure Kreuze!»
Halb selbstbewußt, halb schüchtern schoben sie sich heran — bis vor ihren neuen Kapitän.
Bolithos Blick blieb an dem letzten in der Reihe haften: ein untersetzter, muskulöser Mann, unter dessen abgetragenem Hut ein geteerter Zopf hervorsah. Wenigstens ein erfahrener Seemann!
Der Mann merkte, daß Bolitho ihn ansah, und drängte sich vor.
«He, du da! Bleib gefälligst in der Reihe!«schimpfte Davy.»Dein Name?«fragte Bolitho.
«Turpin, Sir«, erwiderte der Mann zögernd. Davy wurde wütend.»Steh gefälligst stramm und nimm den Hut vor dem Captain ab, sonst hol' der Teufel deine Augen! Zumindest solltest du wissen, wem du Respekt zu erweisen hast!»
Der Mann nahm Haltung an; sein Gesicht drückte Scham und Verzweiflung aus. Bolitho hob den alten Mantel an, den Turpin über dem rechten Unterarm trug.
«Wo hast du die rechte Hand verloren, Turpin?«fragte er freundlich.
Der Mann schlug die Augen nieder.»Auf der Barfleur, Sir. Das war anno 81 bei der Schlacht in der Chesapeake Bay. «Er blickte auf, und ein stolzer Glanz trat in seine Augen, aber nur einen Moment.
«Geschützführer war ich, Sir.»
Davy mischte sich ein.»Tut mir außerordentlich leid, Sir, aber ich habe nicht gemerkt, daß der Kerl Invalide ist. Ich lasse ihn sofort an Land bringen.»
Bolitho sagte:»Du wolltest die Musterrolle mit der Linken unterzeichnen. Liegt dir so viel daran?»
Turpin nickte.»Ich bin Seemann, Sir. «Er wandte sich um, weil einer der Neuangeworbenen seinen Nebenmann grinsend in die Seite gestoßen hatte.»Keine verdammte Landratte!«Dann wandte er sich wieder Bolitho zu, und seine Stimme wurde leiser.»Ich kann jeden Dienst tun, Sir.»
Bolitho hatte kaum hingehört. Die Seeschlacht in der Chesapeake Bay fiel ihm wieder ein… Der Pulverrauch, der Geschützdonner. Die Formationen der manövrierenden Schiffe, gepanzerten Rittern vergleichbar. Das wurde man nie mehr los. Und dieser Turpin war mittendrin gewesen, einer von Hunderten, die grölten, starben, fluchten, wie die Besessenen ihre Geschütze luden und abfeuerten. Er mußte an die beiden fetten Kaufleute in der Postkutsche denken. Damit solche Leute mehr Geld verdienten!
«Schreiben Sie ihn ein, Mr. Davy«, sagte er barsch.»Ein Mann von der Barfleur wird uns mehr nutzen als viele andere.»
Er schritt nach achtern zur Kampanje, wütend über sich selbst und über Davy, der keinen Instinkt hatte. Eine dumme, kurzsichtige Einstellung.
Allday schleppte eben eine seiner Kisten nach achtern zur Kajütentür, wo unter der kreisenden Deckenlampe ein Marineinfanterist Wache stand.
«Das war großartig, Captain, was Sie da eben gemacht haben«, sagte er munter.
«Reden Sie nicht wie ein Narr, Allday!«Bolitho ging an ihm vorbei und fluchte leise, denn er hatte mit dem Kopf einen Decksbalken gestreift. Er blickte sich nach Allday um, doch dessen vertraute Züge waren völlig ausdruckslos.»Wahrscheinlich könnte er Ihre Arbeit tun!»
Allday nickte ernsthaft.»Aye, Sir — das stimmt, ich habe zu viel zu tun.»
«Frecher Kerl, verdammter! Weiß der Teufel, warum ich mir so viel von Ihnen gefallen lasse!«Aber es hatte keinen Zweck, mit Allday zu schimpfen.
Allday nahm ihm den Degen ab und hängte ihn an den Haken am Schott.»Ich kannte mal einen Mann in Bodmin, Captain «Er blieb stehen und musterte den Degen kritisch.»Der nahm zum Holzspalten immer eine stumpfe Axt. Ich fragte ihn mal, warum er nicht 'ne scharfe nehme, da sagte der Kerl, wenn das Holz sich so glatt spalten ließe, hätte er nichts mehr, woran er seine Wut auslassen könne.»
Bolitho setzte sich an den Tisch.»Danke. Ich will daran denken, daß ich mir eine bessere Axt besorgen muß.»
Allday grinste.»Bitte sehr, Captain. War mir 'n Vergnügen. «Dann schritt er hinaus, um die nächste Kiste zu holen.
Bolitho nahm den vielfach versiegelten Umschlag zur Hand. Hätte Allday eine richtige Erziehung genossen, dann hätte allerhand aus ihm werden können. Er mußte lächeln, als er das Kuvert aufschnitt. Auch ohne Bildung war Allday ein harter Brocken.
Herrick, den Hut vorschriftsmäßig unterm Arm, trat in die Kajüte.»Sie haben mich rufen lassen, Sir?»
Bolitho stand an einem der großen Heckfenster. Sein Körper glich automatisch die Schiffsbewegungen aus. Die Tide hatte gewechselt, die Undine schwojte so, daß Herrick jetzt durch die dicken Scheiben die fernen Lichter sehen konnte. Hinter dem Schleier aus Regen und Sprühwasser schienen sie zu schwanken und zu flackern.
Im Schein der pendelnden Lampen sah die Kajüte gemütlich und einladend aus. Die Sitzbank in der Rundung des Hecks hatte einen Bezug aus feinem grünem Leder; auf dem Fußbodenbelag aus schwarz-weiß gewürfeltem Segeltuch standen Tisch und Stühle aus kastanienbraunem Mahagoni.
«Setzen Sie sich, Thomas.»
Langsam wandte Bolitho sich um und sah Herrick an. Inzwischen hatte er die Segelorder mehrmals durchgelesen, um nur ja nichts zu übersehen.
«Wir lichten morgen nachmittag Anker«, sagte er.»Bei der Segelorder ist ein Berechtigungsschein zur Übernahme von Freiwilligem aus den Gefängnishulken von Portsmouth. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie das so früh wie möglich und gleich nach Tagesanbruch erledigen würden.»
Herrick nickte. Er sah den Ernst in Bolithos Zügen, die ruhelosen Hände; nebenan in dem abgeteilten Speiseraum stand das sorgfältig bereitete Mahl noch unberührt — der Kapitän hatte Sorgen. Irgend etwas machte ihn nervös.
«Wir sollen zunächst nach Teneriffa segeln. «Herrick richtete sich voller Spannung auf, und Bolitho sprach in beruhigendem Ton weiter:»Ich weiß schon, Thomas. Sie denken wie ich. Es kommt einem merkwürdig vor, wenn man friedlich einen Hafen anlaufen soll, in dem man noch vor ein paar Monaten einer ganz anderen Begrüßung gewärtig sein mußte.»
«Mit glühenden Kugeln«, grinste Herrick.
«Dort werden wir zwei, vielleicht auch drei Passagiere an Bord nehmen. Wenn wir unseren Proviant ergänzt haben, geht es ohne Aufenthalt weiter zu unserem eigentlichen Bestimmungsort: Madras. «Nachdenklich fuhr er wie im Selbstgespräch fort:»Über zwölftausend Meilen. Da haben wir Zeit, einander kennenzulernen. Und unser Schiff. Laut Befehl sollen wir so schnell wie möglich segeln. Deswegen müssen wir dafür sorgen, daß unsere Leute rasch und gut ausgebildet werden. Ich will keine durch schlechte Seemannschaft verursachten Verzögerungen oder Schäden an Segeln oder Takelage.»
Herrick rieb sich das Kinn.»Eine lange Reise.«»Aye, Thomas. Hundert Tage. In der Zeit will ich es schaffen.»
Er lächelte, und sofort war aller Ernst aus seinen Zügen gewischt.»Mit Ihrer Hilfe natürlich.»
Herrick nickte.»Darf ich fragen, welche Aufgaben uns in Madras erwarten?»
Bolitho blickte auf die zusammengefaltete Segelorder nieder.»Ich weiß noch sehr wenig. Aber ich habe eine ganze Menge zwischen den Zeilen gelesen.»
Er schritt hin und her; sein Schatten glitt schwankend über die Wände der Kajüte.
«Nach dem Krieg mußten allerlei Konzessionen gemacht werden, Thomas, um das Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen. Wir hatten den Holländern Trincomali auf Ceylon weggenommen, den am vorteilhaftesten gelegenen, besten Seehafen im Indischen Ozean. Suffren, der französische Admiral, hat uns Trincomali wieder entrissen und bei Kriegsende den Holländern zurückgegeben. Und wir haben Frankreich viele Westindische Inseln zurückgegeben, ebenso die französischen Stützpunkte in Indien. Und Spanien hat Menorca zurückbekommen. «Er hob die Schultern.»Auf beiden Seiten sind viele Menschen anscheinend umsonst gestorben.»
«Aber wo bleibt England, Sir?«fragte Herrick verwirrt.»Haben wir denn gar nichts herausgeholt?»
Bolitho lächelte.»Darum geht es jetzt. Daher diese außerordentliche Geheimhaltung und unsere vage Beorderung nach Teneriffa.»
Er hielt inne und blickte auf den untersetzten Leutnant herab.»Ohne Trincomali sind wir in derselben Lage wie vor dem Krieg: wir haben auf Ceylon keinen guten Hafen für unsere Schiffe, keine Basis, von der aus wir dieses weite Gebiet kontrollieren könnten, kein Sprungbrett für die Ausdehnung des Handels mit Indien.»
«Ich dachte, die East India Company[7] hat alles, was sie braucht«, brummte Herrick.
Bolitho mußte wieder an die beiden Kaufleute in der Postkutsche denken. Und an andere, die er in London kennengelernt hatte.»Verschiedene Leute, die bei uns etwas zu sagen haben, halten Macht für die Grundlage internationaler Überlegenheit. Und hohe Handelsprofite für ein Mittel, um solche Macht zu erlangen. «Er warf einen kurzen Blick auf den Zwölfpfünder an der Kajütenwand, dessen kraftvolle Umrisse dezent von einer Chintzdecke verhüllt waren.»Und Krieg für den Weg zu diesen dreien.»
Herrick biß sich auf die Lippe.»Und wir sollen sozusagen sondieren?»
«Vielleicht sehe ich das auch ganz falsch, Thomas. Aber Sie müssen wissen, wie ich denke — nur für den Fall, daß etwas entscheidend schiefgeht. «Er dachte wieder an das, was Winslade in der Admiralität zu ihm gesagt hatte:»…Ihr Auftrag müßte eigentlich von einem ganzen Geschwader ausgeführt werden… «Winslade brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte. Oder brauchte er nur einen Sündenbock für den Fall, daß es schiefging? Es hatte Bolitho immer geärgert, wenn er zu fest an der Leine seiner Vorgesetzten hing. Aber seine jetzige Order war so unbestimmt, daß er sich beinahe noch gehemmter fühlte. Nur eins war klar: Er sollte in Teneriffa einen gewissen Mr. James Raymond an Bord nehmen und sich zu dessen Verfügung halten. Raymond war Geheimkurier der Regierung und sollte die neuesten Depeschen nach Madras bringen.
Herrick warf ein:»Es wird nicht ganz leicht sein, sich daran zu gewöhnen. Aber wenn man wieder auf See ist, noch dazu mit einem Schiff wie der Undine, dann ist alles andere mehr oder weniger gleichgültig.»
Bolitho nickte.»Wir müssen unbedingt dafür sorgen, daß unsere Mannschaft allen Eventualitäten gewachsen ist, ob in Frieden oder Krieg. Und zwar bald. Dort, wo wir hinfahren, sind die Menschen vielleicht nicht sonderlich geneigt, unsere Ansichten zu akzeptieren. «Er setzte sich auf die Bank und starrte durch das bespritzte Fenster.»Ich werde mit den anderen Offizieren morgen früh um acht Glasen[8] sprechen, während Sie auf den Gefängnishulken sind. «Herrick machte eine unwillige Kopfbewegung, aber Bolitho lächelte nur.»Ich schicke Sie, weil Sie Verständnis haben. Sie werden den armen Kerlen keine Todesängste einjagen. «Er stand auf.»Und jetzt, Thomas, trinken wir ein Glas Wein zusammen.»
Herrick beugte sich vor.»Sie haben sich gewiß eine feine Sorte aus London schicken lassen, Sir.»
Bolitho schüttelte den Kopf.»Die Marke werden wir uns für andere Gelegenheiten aufheben. «Er nahm eine Karaffe von ihrem Ständer.»Der hier paßt besser zu uns. «In behaglichem Schweigen tranken sie ihren Rotwein. Bolitho überlegte sich, wie merkwürdig es war, daß man so ruhig zusammensaß, obwohl die Reise, die sie vor sich hatten, so große Anforderungen an alle stellte. Aber es war sinnlos, jetzt an Deck herumzulaufen oder im Proviant- und Rumvorrat herumzustöbern. Die Undine war seeklar, bereit bis auf den letzten Tampen. Er dachte an sein Offizierskorps, den verlängerten Arm seiner Autorität und seiner Ideen. Er wußte noch nicht viel von seinen Offizieren. Soames war ein tüchtiger Leutnant, neigte aber zur Grobheit, wenn etwas nicht gleich klappte. Der nächsthöhere, Davy, war schwerer zu beurteilen. Äußerlich kühl und beherrscht, besaß er wie viele seinesgleichen einen Hang zu rücksichtsloser Härte. Der Segelmeister und Steuermann hieß Ezekiel Mudge, ein klobiger Mann, der so alt aussah, daß er sein eigener Großvater hätte sein können. Tatsächlich war er sechzig, bestimmt der älteste Segelmeister, dem Bolitho je begegnet war. Der alte Mudge würde einer der wichtigsten Männer an Bord sein, wenn sie erst im Indischen Ozean waren. Er hatte früher bei der East India Company gedient und, wenn man seinen Berichten Glauben schenken konnte, mehr Stürme, Schiffbrüche, Piratenüberfälle und sonstige Abenteuer mitgemacht als irgendein anderer lebendender Mensch. Er hatte eine mächtige Adlernase, neben der seine Augen wie winzige blanke Steine funkelten. Eine wichtige Persönlichkeit, der bestimmt kein Fehler in der Seemannschaft seines Kapitäns entging.
Die drei Fähnriche schienen guter Durchschnitt zu sein. Penn, der jüngste, war drei Tage nach seinem zwölften Geburtstag an Bord gekommen. Keen und Armitage waren beide siebzehn; aber während der erste die gleiche elegante Sorglosigkeit wie Leutnant Davy an den Tag legte, schien sich Armitage ständig scheu umzublicken: ein Muttersöhnchen. Und vier Tage, nachdem er sich in brandneuer Uniform mit blankgeputztem Dolch zum Dienst gemeldet hatte, war doch tatsächlich seine Mutter nach Portsmouth gekommen, um ihn zu besuchen. Ihr Mann hatte beträchtlichen Einfluß; und sie fuhr in einer wunderschönen Kutsche auf der Werft vor, wie eine Herzogin auf Staatsvisite. Bolitho hatte sie kurz begrüßt und ihr gestattet, sich mit ihrem Sohn in der Abgeschlossenheit der Offiziersmesse zu unterhalten. Hätte sie das Logis gesehen, in dem ihr Kind während seiner Dienstzeit leben mußte, wäre sie wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen. Schließlich hatte er Herrick schicken müssen, um den Umarmungen und Schluchzern der Mama unter dem Vorwand, Armitage würde dienstlich gebraucht, ein Ende zu bereiten. Dienstlich! Der Junge konnte kaum einen Schritt an Bord tun, ohne über einen Block oder Ringbolzen zu stolpern und lang hinzufallen.
Giles Bellairs, der stets wohlgelaunte Hauptmann der Seesoldaten, glich mehr einer Karikatur als einem Offizier aus Fleisch und Blut. Unglaublich stramm, mit immer steif nach hinten gedrückten Schultern, sah er aus, als sei ihm die Uniform wie buntes Wachs um die Glieder gegossen. Er sprach in kurzen, abgehackten Sätzen, und nur von der Jagd oder vom Exerzieren. Seine Seesoldaten waren sein Lebensinhalt, doch hörte man nur selten ein Kommando von ihm. Sein bulliger Sergeant namens Coaker hatte die Abteilung fest im Griff; und Bellairs begnügte sich mit einem gelegentlichen:»Weitermachen, Sa'rnt Coaker!«oder:»Sa'rnt Coaker, der Kerl steht ja die wie'n Sack Lumpen!«Er gehörte zu den wenigen Menschen in Bolithos Bekanntschaft, die total betrunken sein konnten, ohne daß sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild auch nur das geringste änderte.
Triphook, der Zahlmeister, schien sehr tüchtig zu sein, wenn auch recht geizig mit den Rationen. Er hatte viel Mühe auf die Überprüfung verwandt, ob die unteren Lagen der vom Proviantamt gelieferten Fässer nicht etwa verfaultes Fleisch enthielten, was man sonst erst viel später auf hoher See entdeckt hätte. Solche Sorgfalt war bei einem Zahlmeister an sich schon selten.
Aber der Schiffsarzt! Der war jetzt zwei Wochen an Bord. Hätte Bolitho ihn austauschen können, so hätte er es bestimmt getan. Whitmarsh war ein Trinker der schlimmsten Sorte. Nüchtern war er ruhig und sogar liebenswürdig. Aber betrunken, und das kam oft vor, schien er in Fetzen zu gehen wie ein mürbes Segel in einer Fallbö. Whitmarsh mußte lernen, sich vernünftig zu benehmen, dachte Bolitho mit zusammengebissenen Zähnen.
Oben hörte man Fußgetrappel, und Herrick meinte:»Heute wird sich der eine oder andere im Mannschaftslogis überlegen, ob er recht daran getan hat, anzumustern. «Er lachte.»Na, jetzt ist es auf alle Fälle zu spät.»
Bolitho starrte achteraus auf das schwarze, wirbelnde Wasser und lauschte auf den Ebbstrom, der das Ruder knarren ließ.»Aye. Es ist ein weiter Schritt vom Land auf die See. Viel weiter, als es sich die meisten Leute vorstellen. «Er setzte sein
Weinglas auf das Regal zurück.»Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen. Morgen ist ein langer Tag.»
Herrick nickte.»Dann also gute Nacht, Sir. «Er wußte aber genau, daß Bolitho noch stundenlang aufbleiben würde, rastlos planend, nach den letzten Fehlern suchend, nach Irrtümern in Wach- und Dienstplänen. Und Bolitho ahnte, daß Herrick das wußte.
Die Tür fiel hinter dem Leutnant zu, Bolitho schritt zum Heckfenster und stützte die Hände auf das mittlere Fensterbrett. Er spürte unter seinen Handflächen das Erzittern des Holzes, das Arbeiten aller Verbindungen, das Klappern und Schlagen der Taljen und Blöcke.
Würde jemand dem Schiff nachschauen? Aber wen interessierte das schon? Die Undine war nur ein Schiff mehr, das in den Kanal einlief, wie Hunderte vor ihr.
Ein schüchternes Klopfen an der Tür, und Noddall, der Kajütsteward, trat unsicheren Schrittes ins Helle: ein kleiner Mann, spitzgesichtig wie ein ängstliches Nagetier. Er hielt sogar ständig die Hände in Brusthöhe und erinnerte so noch mehr an ein schüchternes Eichhörnchen.»Ihr Abendessen, Sir — Sie haben es gar nicht angerührt. «Er begann abzuräumen.»Das ist nicht gut, Sir. Gar nicht gut.»
Er schlurfte in seine Pantry, und Bolitho blickte ihm lächelnd nach. Wie versunken der Mann in seine eigene kleine Welt war — er schien kaum bemerkt zu haben, daß das Schiff einen neuen Kapitän besaß.
Bolitho warf sich den neuen Mantel um die Schultern und verließ die Kajüte. Auf dem stockdunklen Achterdeck tastete er sich zur Heckreling und starrte zum Land hinüber: zahllose Lichter in unsichtbaren Häusern. Er drehte sich um und blickte zum Vorschiff; der Wind wehte ihm die Haare ins Gesicht, es war so kalt, daß er den Atem anhielt. Blaßgoldene Lichtreflexe glitten über das straffgespannte Tauwerk: im Vorschiff blinkte die kleine Laterne der Ankerwache.
Es war ein entschieden angenehmes Gefühl: sie brauchten hier keine Wachtposten an jedem Fallreep gegen heimtückische Überraschungsangriffe oder den Versuch einer Massendesertion. Auch keine Netze, um feindliche Enterer abzuhalten. Er legte die Hand auf einen der Achterdeck-Sechspfünder: kalt wie nasses Eis. Aber wie lange noch? Der Steuermannsmaat der Wache strich vorbei und machte einen Bogen, als er seinen Kapitän an der Reling stehen sah.
«Alles wohlauf, Sir«, meldete er.»Danke.»
Bolitho wußte nicht, wie der Mann hieß, noch nicht. In den nächsten hundert Tagen würde er von seinen Leuten mehr als nur die Namen erfahren. Und umgekehrt sie von ihm.
Mit einem Seufzer ging er wieder in seine Kajüte. Die Wangen prickelten ihm vor Kälte. Noddall war nicht zu sehen, aber die Koje war bereit, und daneben stand ein Becher mit einem heißen Trunk. Eine Minute, nachdem er den Kopf aufs Kissen gelegt hatte, war er eingeschlafen.
Der nächste Tag stieg so grau auf wie der vorige; doch der Regen hatte in der Nacht aufgehört, und der Wind kam stetig aus Südost.
Der ganze Vormittag verging mit pausenloser Arbeit. Die Deckoffiziere kontrollierten immer wieder die Namenslisten, machten sich mit den Gesichtern vertraut und sorgten dafür, daß erfahrene Seeleute zwischen die unausgebildeten plaziert wurden. Bolitho diktierte seinem Schreiber, einem vertrockneten Mann namens Pope, den Abschlußbericht und unterschrieb, damit er mit dem letzten Boot noch an Land gelangte. Er fand Zeit, mit seinen Offizieren zu sprechen, den Stückmeister Mr. Tapril in seiner Pulverkammer aufzusuchen und mit ihm die Verlagerung gewisser Geschützteile und sonstigen Zubehörs ins Vorschiff zu besprechen, um die Trimmung des Schiffes zu verbessern, bis der entsprechende Gewichtsanteil an Proviant aufgebraucht und damit ein Ausgleich geschaffen war.
Er war gerade dabei, seinen Galaanzug mit der Seeuniform, einem alten Rock mit ausgebleichten Tressen und glanzlosen Knöpfen, zu vertauschen; da kam Herrick in die Kajüte und meldete, er habe fünfzehn neue Leute von den Gefängnishulken mitgebracht.
«Wie war es?»
«Die Hölle, Sir«, seufzte Herrick.»Ich hätte dreimal soviel bringen können, eine komplette Besatzung, wenn ich auch ihre Frauen und Kinder hätte mitnehmen wollen.»
Bolitho antwortete nicht gleich, weil er gerade mit dem Anlegen seiner Halsbinde beschäftigt war.»Frauen?«fragte er dann.»In den Gefängnishulken?»
«Aye, Sir. «Ein Schauder überlief Herrick.»Ich hoffe zu Gott, daß ich so etwas nie wieder zu sehen kriege.»
«Na schön. Lassen Sie sie die Musterrolle unterzeichnen, aber geben Sie ihnen vorläufig noch keine Arbeit. Die sind wahrscheinlich zu schlapp, um auch nur einen Belegnagel zu halten, nachdem sie so lange unter Deck wie Vieh zusammengepfercht waren.»
Ein Midshipman erschien in der offenen Tür.»Mr. Davy meldet mit allem Respekt, Sir, daß der Anker kurzstag ist. «Neugierig und aufmerksam ließ er die Augen in der Kajüte schweifen.
«Danke«, lächelte Bolitho.»Nächstesmal bleiben Sie ein bißchen länger und sehen sich hier richtig um.»
Der Junge verschwand, und Bolitho blickte Herrick an.»Na, Thomas?»
Herrick nickte zufrieden.»Aye, Sir, ich bin soweit. Wir haben ja lange genug warten müssen.»
Sie stiegen miteinander zum Achterdeck hinauf. Während Herrick mit seinem Sprachrohr an die Reling des Vorschiffes trat, blieb Bolitho achtern in einiger Entfernung von den anderen, die sich eifrig an ihre Stationen begaben.
Klickend drehte sich das Gangspill — immer langsamer, bis die Rücken der Männer fast waagerecht gebeugt waren, um den schweren Anker klarzubekommen.
Bolitho warf einen Blick auf die ungefüge Gestalt des Steuermanns neben dem doppelten Steuerrad. Er hatte vier Rudergasten eingeteilt — anscheinend wollte er kein Risiko eingehen, weder mit dem Ruder noch mit der Seemannschaft seines neuen Kapitäns.
«Bringen Sie das Schiff in Fahrt. «Er sah, wie Herrick sein Megaphon hob.»Sobald wir aus dem küstengebundenen Schiffsverkehr draußen sind, gehen wir auf Backbordbug und nehmen Kurs Westsüdwest.»
Der alte Mudge nickte gewichtig, das linke Auge hinter der vorspringenden Nase verborgen.
«Aye, aye, Sir.»
Herrick brüllte:»Klar bei Ankerspill!«Er beschattete die Augen mit der Hand, um den Wimpel im Masttopp besser sehen zu können.»Vorsegel los!»
Beim Flappen und Rauschen der fallenden Leinwand blickten sich einige der Neuen verwirrt um. Ein Deckoffizier gab einem ein Ende in die Hand und schnauzte:»Hol dicht, du Esel! Steh nicht da und glotze wie ein Frauenzimmer!»
Ein Bootsmannsmaat saß rittlings auf dem Bugspriet und signalisierte durch Armzeichen, wie die Ankertrosse sich immer mehr spannte und ihr Winkel unter der vergoldeten Gallionsfigur immer stumpfer wurde.
«Aufentern! Marssegel los!»
Bolithos Spannung löste sich etwas, als die leichtfüßigen Toppsgasten zu beiden Seiten in den Wanten emporkletterten. Es hatte keinen Zweck, beim erstenmal auf besondere Eile zu drängen. Die kritischen Beobachter an Land mochten denken, was sie wollten. Er hatte keine Lust zu riskieren, daß ihm das Schiff abtrieb.
«An die Brassen!»
Herrick hing halb über der Reling und schwenkte das Sprachrohr im Halbkreis wie ein Kutscher seine Donnerbüchse bei einem Raubüberfall.»Fix da! Mr. Shellabeer, scheuchen Sie diese verdammten Faulpelze gefälligst!»
Shellabeer war der Bootsmann: wortkarg und tiefbrünett, sah er eher wie ein Spanier als wie ein Mann aus Devon aus.
Bolitho lehnte sich, die Hände in den Hüften, etwas zurück und beobachtete die Männer, die mit affenartiger Geschicklichkeit auf den schwankenden Rahen ausschwärmten. Die schwindelnde Höhe schien ihnen überhaupt nichts auszumachen, aber ihm wurde fast übel bei diesem Anblick.
Eines nach dem anderen lösten sich die mächtigen Segel und schlugen an die Masten, während die Matrosen sich auf den Rahen festhielten, untereinander und mit ihren Kameraden auf den anderen beiden Masten Zurufe tauschend.
«Anker ist klar, Sir!»
Noch unsicher wie ein von seinen Ketten befreiter Gefangener, taumelte die Fregatte durch die tiefen Wellentäler; die Männer an den Brassen kämpften verzweifelt, um die mächtigen Rahen herumzuholen und den Wind zu fangen. Manche fielen dabei hin und wurden über die glatten Planken geschleift.
«Hol dicht bei Leebrassen!«Herrick war schon fast heiser.
Bolitho biß die Zähne aufeinander und zwang sich, reglos zu bleiben, während die Undine mehr und mehr vor den Wind ging. Hier und da hieb ein Bootsmannsmaat mit einem Tampen dazwischen oder schubste einen Mann an Brassen oder Fallen.
Mit donnerndem Krachen sprang der Wind voll und stetig in die Segel, das Deck neigte sich und blieb gekrängt, die Rudergasten warfen sich in die Speichen.
Bolitho zwang sich dazu, mit aller Gelassenheit von Midshipman Keen ein Fernrohr entgegenzunehmen, richtete es achteraus und beherrschte seine Mimik eisern, obwohl er vor Aufregung und Erleichterung beinahe zitterte. Das Segelsetzen klappte noch sehr schlecht; die Plazierung der wenigen erfahrenen Matrosen war noch sehr verbesserungswürdig; aber sie waren klar von der Küste!
Am Portsmouth Point standen tatsächlich ein paar Menschen und beobachteten, wie die Undine über Stag ging; und da war auch das Verdeck einer glänzenden Equipage zu sehen, gerade unterhalb der Mauer: vielleicht Mrs. Armitage, die dem Schiff nachsah, das ihren Sohn entführte.
Heiser meldete der Steuermann:»Westsüdwest liegt an, Sir!»
Bolitho wandte sich um und sah gerade noch, wie der Alte mit widerwilliger Anerkennung nickte.
«Danke, Mr. Mudge. Wir werden gleich noch Fock- und Großsegel setzen.»
Er ging zum Vorschiff, wo Herrick noch an der Reling stand, schräg vorgeneigt, um die Krängung auszugleichen. Das Durcheinander war erst zum Teil beseitigt; die Männer stolperten über das noch herumliegende Tauwerk wie Überlebende einer Schlacht.
Herrick blickte ihn melancholisch an.»Es war furchtbar, Sir!»
«Ganz meine Meinung, Mr. Herrick. «Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.»Aber es wird schon besser werden, wie?»
Am späten Nachmittag war die Undine klar von der Insel Wight und schon ein ganzes Stück im Ärmelkanal.
Abends konnte man von Land aus nur noch ihre gerefften Royalsegel sehen, und wenig später waren auch die verschwunden.