Gespannt blickten sie auf die Küste, die im Morgenlicht zunehmend Farbe und Kontur gewann.»Na, Thomas — was meinen Sie dazu, so aus der Nähe?«fragte Bolitho verhalten. Sie hatten sich dem Land seit Sonnenaufgang vorsichtig genähert. Jetzt lag es vor ihnen — ein endloses Panorama in vielerlei Grüntönen.
Mit zwei erfahrenen Matrosen auf dem Wasserstag, die unablässig loteten, und mit so wenig Leinwand wie möglich tastete sich die Undine auf diese unberührte Welt zu: so dicht wuchs der Dschungel, daß man meinte, weder Mensch noch Tier vermöchten von der Küste aus ins Innere vorzudringen.
«Der Steuermann scheint zufrieden, Sir«, entgegnete Herrick gelassen und richtete sein Fernrohr auf die Küste.»Alles sieht so aus, wie er es beschrieben hat: im Norden ein rundes Kap und etwa eine Meile landeinwärts dieser seltsam aussehende Berg.»
Bolitho stieg auf einen Poller und spähte hinüber. Die Undine hatte schließlich etwa vier Kabellängen[13] vor dem Strand Anker geworfen, um auch bei Niedrigwasser genügend Seeraum und Tiefe zu haben. Immerhin sah es ziemlich flach aus; er konnte sogar den mächtigen Schatten erkennen, den der kupferbeschlagene Rumpf der Undine am Meeresgrund warf. Heller Sand auch hier wie in den zahlreichen, weitgeschwungenen Buchten, die sie bei ihrer vorsichtigen Annäherung gesehen hatten.
Lange Fahnen fremdartigen Seegrases wiegten sich in der Strömung wie in einem müden Tanz. Aber wenn das Schiff an seiner Ankerkette nach Backbord schwojte, sah Bolitho andere Gebilde — braun und grün, wie Flecken im Wasser: Riffe. Mudge hatte mit seiner Vorsicht durchaus recht gehabt. Und nach dem Schiffbruch der Nervion fand man sie an Bord auch ganz selbstverständlich.
Längsseits waren die ersten Boote bereits ausgebracht, und Shellabeer, der Bootsmann, schimpfte fäusteschüttelnd mit einigen spanischen Matrosen, die eines davon lenzten. Es würde für die ausgetrockneten Fahrzeuge gut sein, wieder ins Wasser zu kommen, dachte Bolitho.
Beiläufig sagte er:»Ich gehe mit an Land; passen Sie hier gut auf. «Er konnte Herricks unausgesprochenen Protest spüren und sprach deshalb rasch weiter:»Wenn an Land etwas schiefgeht, wird es ganz gut sein, wenn ich mit dabei bin. «Er wandte sich um und klopfte Herrick auf die Schulter.»Außerdem habe ich das Bedürfnis, mir die Beine zu vertreten. Das ist mein Privileg als Kapitän.»
Auf dem Geschützdeck schritt Davy bereits auf und ab, musterte die Bootsmannschaften, sah die Waffen nach und kontrollierte das Geschirr für das Verladen der Wasserfässer. Der Himmel über ihnen war bleich, wie von der Sonne zerkocht, und alle Farben beschränkten sich auf den glitzernden Küstenstreifen. Die Ruhe über diesem Landstrich beeindruckte Bolitho stark. Nur hier und da rollte eine Welle wie ein weißes Schaumkollier auf den Strand, bis an den Fuß der Dünen. Es war, als hielte das Land den Atem an; Bolitho konnte sich vorstellen, daß tausend Augen, zwischen den Bäumen versteckt, die vor Anker liegende Fregatte belauerten. Mit dumpfem Ton setzten die Drehgeschütze, von Bord abgefiert, auf dem Bug von Barkasse und Kutter auf, während die Standmusketen mit ihren trichterförmigen Mündungen in Gig und Pinasse untergebracht wurden. Die Jolle war zu klein für die großen Wasserbehälter und sollte auch für den Notfall reserviert werden.
Bolitho rieb sich das Kinn und starrte auf die Küste. Notfall? Alles wirkte doch so ruhig. Während sie aufs Land zugeschlichen waren, an zahlreichen Buchten vorbei, die eine wie die andere aussahen (nur Mudge konnte sie allenfalls unterscheiden), hatte er unbewußt auf ein Anzeichen, eine Andeutung von Gefahr gewartet. Aber nirgends lag ein Boot auf dem Sand, nirgends stieg Rauch von einem Feuer empor, nicht einmal der Ruf eines Vogels hatte die Stille unterbrochen.
«Boote klar, Sir!«meldete Shellabeer und wandte dabei sein fleischiges Gesicht von der blendenden Sonne ab.
Bolitho trat zur Reling und schaute hinunter auf das Geschützdeck. Die Matrosen schienen sich verändert zu haben — vielleicht wegen der Entermesser an ihren Gürteln oder weil sie über dem Tatendurst vorübergehend den wirklichen Durst vergaßen. Die meisten hatten sich überhaupt sehr verändert, seit sie an Bord waren. Ihre nackten Rücken waren von der Sonne tief gebräunt; hier und da verriet eine Brandnarbe, daß der Mann unvorsichtig oder einfach dumm gewesen war.
«Da drüben liegt Afrika, Jungs!«rief Bolitho. Ein Raunen der Erregung ging durch die Reihen wie Wind durch ein Kornfeld.»Ihr werdet dergleichen noch oft sehen, ehe wir wieder auf Heimatkurs gehen. Tut, was euch befohlen wird, bleibt bei eurer Abteilung, dann kann euch nichts passieren. «Und in schärferem Ton:»Aber es ist ein gefährlicher Küstenstrich, und die Eingeborenen haben wenig Veranlassung, fremden Seeleuten zu trauen. Also paßt gut auf und beeilt euch mit dem Wasserfassen!«Er nickte ihnen zu.»Und jetzt in die Boote!»
Als die ersten Männer hinunterkletterten, trat Mudge zu Bolitho ans Fallreep.»Ich müßte eigentlich mit an Land, Sir. Aber ich habe Fowlar, meinem besten Maat, die Lage der Wasserstelle beschrieben, und er ist ein tüchtiger Mann, Sir, wirklich.»
Bolitho hob die Arme, damit Allday ihm das Degengehänge umschnallen konnte.»Na, was macht Ihnen dann Sorgen, Mr. Mudge?»
Der Alte zog die Brauen zusammen.»Es gab 'ne Zeit, da konnte ich 'ne halbe Meile schwimmen und danach eine Meile mit vollem Gepäck marschieren… »
Herrick grinste.»Und hatten dann noch genug Atem für 'ne Nummer mit einer hübschen Deern, wie?»
Mudge blitzte ihn wütend an.»Ihre Zeit kommt auch noch, Mr. Herrick. Altwerden ist kein Spaß!»
Bolitho lächelte.»Hier an Bord gelten Sie immer noch eine ganze Menge. «Und zu Herrick gewandt:»Riggen Sie Enternetze auf, solange wir weg sind. Mit nur einer Ankerwache und den paar Seesoldaten könnten Sie in Schwierigkeiten kommen, wenn jemand einen Überraschungsangriff versucht. «Er legte ihm die Hand auf den Arm.»Ich weiß, ich bin übervorsichtig. Ich sehe Ihnen am Gesicht an, was Sie denken. Aber besser zu vorsichtig als tot. «Er warf einen kurzen Blick auf die Küste.»Besonders hier.»
Auf dem Weg zur Schanzpforte fügte er noch hinzu:»Die Boote kommen jeweils zu zweien zurück. Wechseln Sie nach Möglichkeit die Leute aus. Sie werden schnell ermüden bei dieser Hitze.»
Er sah noch, wie Puigserver ihm vom Decksgang her zunickte und daß Raymond vom Achterschiff, neben dem kleinen Sonnendach seiner Frau, herüber spähte. Die Abteilung für die Ehrenbezeugung stand angetreten; er faßte grüßend an seinen Hut und kletterte rasch in die Gig, wo Allday schon an der Ruderpinne saß.
«Ablegen!»
Ein Boot nach dem anderen kam gemächlich aus dem Schatten der Fregatte heraus und nahm mit gleichmäßigem Riemenschlag Kurs auf das Land. Bolitho blieb in der Gig stehen, um die kleine Flottille zu mustern: voran Leutnant Soames in der Barkasse, dem größten Boot der Undine, und um ihn jeder Kubikzoll Raum vollgepackt mit Männern und Fässern, während im Bug ein Geschützführer an der geladenen
Drehbasse hockte. Dann kam Davy im ebenfalls tiefbeladenen Kutter: schlank neben Mr. Pryke, dem rundlichen Schiffszimmermann der Undine, wie es sich gehörte, ging Pryke mit an Land, in der Hoffnung, passendes Holz für die ständigen Reparaturen am Schiff zu finden. Midshipman Keen, von dem kleinen Penn begleitet, hatte die Pinasse; die beiden zappelten buchstäblich vor Aufregung in dem ruhig durchs Wasser gleitenden Boot. Bolitho blickte über das Heck seiner Gig zum Schiff zurück. Die Gestalten an Deck wirkten bereits klein und unpersönlich. Jemand war in der Kajüte, Mrs. Raymond wahrscheinlich. Vielleicht sah sie den Booten nach, vielleicht wollte sie ihrem Mann aus dem Weg gehen, vielleicht hatte sie auch ganz andere Gründe. Dann blickte er auf die Männer in der Gig hinab, auf die Waffen zwischen ihren gespreizten Beinen, die verlegen abgewandten Gesichter. Vorn hockte ein Mann und schwenkte den Lauf der Standmuskete hin und her, um das Gestell von verkrustetem Salz zu befreien. Das war Turpin, der damals in Spithead so verzweifelt versucht hatte, Davy zu täuschen. Er spürte Bolithos Blick und hob den Arm; ein Haken aus glänzendem Stahl saß statt der Hand daran.»Der Stückmeister hat's mir machen lassen, Sir!«rief er grinsend.»Besser als die richtige Hand!»
Bolitho lächelte zurück. Der wenigstens war guter Laune. Er beobachtete die langsam dahinziehenden Boote: insgesamt achtzig Mann mit Offizieren, und noch mehr würden übersetzen, sobald er die Boote für ihren Transport entbehren konnte. Er setzte sich und zog den Hut tiefer über die Augen. Dabei rührte er an die Stirnnarbe und erinnerte sich an jenes andere Wasserbeschaffungsunternehmen, an dem er vor so langer Zeit beteiligt gewesen war… Der plötzliche Angriff damals, Schreie von überallher, der riesige Wilde, der das Entermesser schwang, das er soeben einem sterbenden Matrosen entrissen hatte. Bolitho hatte es noch aufblitzen sehen, dann war er mit blutüberströmten Gesicht besinnungslos zu Boden gestürzt. Sein Bootsmann hatte sich dazwischen-geworfen, sonst wäre es aus mit ihm gewesen.
Herrick paßte es vermutlich nicht, daß Bolitho die Landetruppe selbst befehligte. Das war normalerweise Sache des Ersten Leutnants. Aber die Erinnerung an den Kampf damals mahnte ihn daran, daß jederzeit unvermutet etwas schiefgehen konnte.
«Noch eine Kabellänge, Captain«, sagte Allday und ließ die Gig etwas abfallen. Bolitho fuhr auf; er mußte geträumt haben. Die Undine war jetzt weit weg und sah wie ein zierliches Spielzeug aus, während vor ihrem Bug das Land seine riesigen grünen Arme nach ihnen ausstreckte.
Wieder einmal erwies es sich, daß man auf Mudges Gedächtnis bauen konnte. Zwei Stunden, nachdem die Boote auf den Strand gezogen und die Arbeitskommandos eingeteilt waren, meldete Fowlar, der Steuermannsmaat, er habe einen Bach mit wunderbar frischem Wasser gefunden.
Sofort gingen sie an die Arbeit. Bewaffnete Wachen wurden an sorgfältig ausgewählten Punkten mit guter Sicht postiert und Späher auf die kleine Anhöhe geschickt, unter der Mudges Bach durch den dichten Dschungel rann. Nach den ersten unsicheren Schritten auf dem festen Land, das ihre Seebeine nicht mehr gewohnt waren, machten sich die Matrosen eifrig ans Werk. Pryke, der Schiffszimmermann, baute mit seinen Helfern rasch ein paar kräftige Schlitten, auf welchen die vollen Wasserfässer hinunter zu den Booten gezogen werden sollten; und während der Küfer wachsam am Bach wartete, hieben die anderen unter Fowlars Aufsicht mit Äxten einen Pfad durch den Wald.
Bolitho hielt Verbindung zwischen Bach und Strand. Mehrmals ging er hin und her, um sich zu vergewissern, daß alles gut lief, und Midshipman Penn trabte treulich mit ihm, um im Bedarfsfall als Befehlsüberbringer zu fungieren. Am Strand hatte Leutnant Soames das Kommando; er sollte auch den Nachschub einteilen, der später vom Schiff herüberkommen würde. Davy war für den Betrieb an der Wasserstelle zuständig, und Keen tauchte ab und zu an der Spitze einiger Bewaffneter auf, mit denen er die arbeitende Abteilung gegen unwillkommene Besucher sichern sollte. Fast sofort hatte Fowlar zwei Feuerstellen von Eingeborenen entdeckt; aber sie waren schon verrottet und auseinandergeweht und wohl seit Monaten nicht mehr benützt worden. Trotzdem spürte Bolitho eine Bedrohung im Nacken, wenn er stehenblieb, um zu kontrollieren, wie weit die einzelnen Abteilungen waren: eine schwer zu definierende Feindseligkeit.
Einmal mußte er auf dem Weg landeinwärts beiseitetreten, als ein plumper Schlitten, von zwei Dutzend lästerlich fluchenden Matrosen geschoben, an ihm vorbeidonnerte und dabei das Unterholz wegdrückte. Da flogen unter mißtönendem Gekreisch mehrere große Vögel auf. Bolitho sah ihnen nach und trat dann in die breite Schleifspur zurück. Wenigstens gab es hier doch etwas Lebendiges, dachte er. Unter den Bäumen, die den Himmel verdeckten, war die Luft schwer und stank nach faulenden Pflanzen. Hier und da raschelte und knackte etwas, oder ein Auge blitzte wie ein kleiner schwarzer Knopf kurz in der Sonne auf und verschwand ebenso schnell.
«Das könnten Schlangen sein«, keuchte Penn. Sein Atem ging schwer, das Hemd klebte ihm am Körper, denn er mußte sich mächtig anstrengen, um Bolithos Tempo durchzuhalten.
Davy stand unter einem Felsüberhang und machte einen Strich in seiner Liste, denn eben hämmerte Duff wieder ein Wasserfaß sorgfältig zu, damit auf dem holprigen Weg kein Tropfen verlorenging- Er richtete sich auf, nahm Haltung an und meldete:»Alles klar, Sir.»
«Gut. «Bolitho bückte sich, schöpfte mit den hohlen Händen Wasser aus dem Fluß und trank. Es schmeckte erfrischend wie Wein, trotz der schwärzlich-fauligen Wurzeln, die von beiden Ufern ins Wasser wuchsen.»Kurz bevor es dunkel wird, machen wir Schluß«, sagte er und blickte hoch zu einem Fleck blauen Himmels, als die Bäume leise zu rauschen begannen. Am Boden, unter den verfilzten Zweigen, war die Luft unbeweglich, aber oben wehte ein stetiger Landwind.
«Ich steige auf den Hügel, Mr. Davy. «Es kam ihm vor, als höre er Penn hinter sich verzweifelt aufstöhnen.»Hoffentlich sind Ihre Ausguckposten wach.»
Es war ein langer, anstrengender Marsch, und als sie aus den Bäumen heraus waren und das letzte Stück Weg frei vor ihnen lag, fühlte Bolitho die Hitze auf seinen Schultern und ein Brennen unter seinen Schuhsohlen, als schritte er über einen glühenden Rost. Aber die beiden Posten oben schienen sich ganz wohl zu fühlen. In ihren fleckigen Hosen und Hemden, die tiefgebräunten Gesichter von mächtigen Strohhüten fast verborgen, glichen sie eher Schiffbrüchigen oder Ausgesetzten als ehrlichen britischen Seeleuten.
Aus einem Streifen Segeltuch hatten sie sich ein kleines Sonnendach aufgeriggt; dahinter lagen ihre Waffen, die Wasserflaschen und ein großes Fernrohr. Der eine tippte sich grüßend an die Stirn und meldete:»Alles klar, Käpt'n.»
Bolitho zog sich den Hut tiefer in die Stirn und blickte aufmerksam in die Ebene hinunter. Die Küste war zerrissener, als er vermutet hatte. Hier und da, in einer kleinen Bucht oder einem schmalen Meeresarm, den keine Karte verzeichnete, glitzerte Wasser durch Stämme und Laubwerk. Landeinwärts erstreckte sich überall, in der Ferne von einer hohen dunklen Felsbarriere begrenzt, dichter Baumbewuchs wie die Dünung einer grünen See. Und so verfilzt waren die Wipfel, daß es aussah, als könne man festen Schrittes darübermarschieren.
Bolitho nahm das Fernrohr und richtete es auf das Schiff. Die Umrisse der Undine änderten sich ständig in der hitzeflirrenden Luft, aber er sah die Boote langsam wie müde Wasserkäfer hin und her fahren. Staub und Sand an seinen Fingern verrieten ihm, daß das Teleskop mehr am Erdboden gelegen als zur Beobachtung gedient hatte. Er hörte Penn laut glucksend aus der Wasserflasche trinken und konnte sich vorstellen, daß die Posten ihn zu allen Teufeln wünschten, damit sie wieder ihre Ruhe hätten. Zwar machte ihr Dienst hier oben recht durstig, aber er war immerhin leichter, als die Schlitten mit den Wasserfässern durch den Urwald zu zerren. Bolitho senkte das Glas. So viele Männer, Schlitten, Fässer — doch von hier aus sah man überhaupt nichts. Sogar der Strand war verdeckt. Sobald die Boote sich der Küste näherten, schienen sie von den Bäumen verschluckt zu werden.
Bolitho wandte sich so plötzlich nach rechts, daß die Männer erschraken. Sorgfältig suchte er das Terrain ab. Bäume und Wasserstreifen tauchten in der Linse des Fernrohrs auf und verschwanden wieder. Irgend etwas war da gewesen, eine flüchtige Reizung am Rande seines Blickwinkels — aber was? Die Posten sahen ihn zweifelnd an, bewegungslos, erstarrt, wie hypnotisiert.
Ein Reflex in der Linse? Er blinzelte und rieb sich das Auge. Nichts. Noch einmal begann er zu suchen, ganz langsam. Dichter, geschlossener Urwald. Oder sah er nur, was er zu sehen erwartete? Und daher… Er versteifte sich, hielt den Atem an. Als er das Glas sinken ließ, verschwamm das Bild in der Ferne. Er wartete, zählte die Sekunden, bis sein Atem wieder regelmäßig ging.
Die Posten flüsterten miteinander, und Penn trank schon wieder. Wahrscheinlich glaubten sie, ihr Kommandant sei zu lange in der Sonne gewesen. Sehr vorsichtig hob er das Glas erneut ans Auge. Dort, etwas nach rechts, wo er bereits Wasser blinken gesehen hatte, war etwas Dunkleres, das nicht zum Grün und Braun des Waldes paßte. Er starrte hin, bis ihm das Auge tränte und er nichts mehr sehen konnte.
Dann schob er das Fernrohr mit lautem Schnappen zusammen und sagte:»Dort drüben liegt ein Schiff. «Penn starrte ihn offenen Mundes an.»Im Süden von uns. Es muß ein kleiner Meeresarm sein, den wir bei der Anfahrt übersehen haben. «Er beschattete die Augen, versuchte, die Entfernung zwischen dem Liegeplatz des Fremdlings, der Undine und ihrer Landungsstelle am Strand zu schätzen.
«Muß blind gewesen sein, Sir«, rief einer der Wachtposten verängstigt — und mehr als das.
Doch Bolitho starrte an ihm vorbei und versuchte, nachzudenken.»Dann nehmt jetzt das Glas und sucht so lange, bis ihr es seht!»
Selbstverständlich hatte der Mann mehr Angst vor seinem Kommandanten oder einer Strafe wegen Nachlässigkeit als davor, was diese Entdeckung bedeuten konnte. Die Gedankengänge waren Bolitho durchaus klar.»Hast du es gefunden?»
«Aye, Sir«, nickte der Mann eifrig, aber unglücklich.»Is'n Mast, ganz klar.»
«Na also«, sagte Bolitho trocken.»Dann behalte ihn gefälligst im Auge, damit er nicht wieder verschwindet.»
Penn ließ die Feldflasche sinken und trabte hinter Bolitho her, der schon mit großen Schritten bergab ging.»Was kann das zu bedeuten haben, Sir?«stotterte er.
«Verschiedenes. «Bolitho spürte jetzt unter den ragenden Bäumen etwas Erleichterung nach der brennenden Sonnenglut.»Vielleicht haben sie uns gesichtet und halten sich versteckt, bis wir Anker lichten. Vielleicht führen sie auch irgend etwas gegen uns im Schilde — ich weiß es nicht.»
Ungeachtet der Ranken und Dornen, die an ihm rissen und zerrten, schritt er schneller aus. Wäre nicht diese kleine Irritation im Blickfeld der Linse gewesen, hätte er nichts gesehen, nichts gewußt von dem fremden Schiff. Vielleicht wäre das sogar besser gewesen; vielleicht machte er sich unnötig Sorgen.
Er fand Davy, wie er ihn verlassen hatte: gelangweilt überwachte er das Füllen der Wasserfässer.
«Wo ist Mr. Fowlar?»
Mit einem Ruck fuhr Davy aus seinem Dösen hoch.»Äh — am Strand, Sir.»
«Verdammt!«Also noch eine gute Meile, bis er sich Fowlars Karte und Mudges Notizen ansehen konnte. Er warf einen Blick zum Himmel: noch Stunden bis zum Sonnenuntergang, der dann aber sehr rasch kommen und das Licht wie ein Vorhang auslöschen würde.»Ich habe ein Schiff gesichtet, Mr. Davy. Gut versteckt, im Süden von uns. «Eben kam der Zimmermann aus dem Unterholz, die blinkende Säge in der Faust.»Übernehmen Sie hier die Aufsicht, Mr. Pryke. «Er winkte Davy.»Wir gehen zum Strand.»
Pryke nickte, sein feistes Gesicht glühte wie ein reifer Apfel.
«Aye, Sir. «Prüfend blickte er zu Duff hinüber.»Nur noch fünf Fässer, meiner Rechnung nach.»
«Schön. Treiben Sie die Leute zur Eile. Und lassen Sie sie am Strand antreten, sobald das letzte Faß voll ist.»
Eilig schritt Davy an Bolithos Seite dahin. Man sah seinem gutgeschnittenen Gesicht an, daß er tief betroffen war.
«Halten Sie es für ein feindliches Schiff, Sir?»
«Eben das müssen wir herausfinden.»
Stumm schritten sie weiter; Bolitho wußte recht gut, daß Davy genau wie oben der Posten der Ansicht war, er mache zuviel Aufhebens von der Sache.
Unten am Strand hörte Fowlar gelassen zu und studierte dann seine Karte.»Wenn es dort liegt, wo ich annehme, dann ist die Stelle hier nicht eingezeichnet. Irgendwo zwischen diesem Strand und der nächsten Bucht. «Er machte ein Kreuz.»Hier ungefähr, möchte ich sagen, Sir.»
«Können wir vor Dunkelheit dort sein — über Land?»
Fowlar machte große Augen.»Es sieht ziemlich nahe aus, Sir. Nicht mehr als drei Meilen entfernt. Aber im Dschungel bedeutet es das Vierfache. «Unter Bolithos festem Blick schlug er die Augen nieder.»Sie könnten es schaffen, Sir.»
«Und wenn wir bis morgen warten, Sir?«warf Davy ein.»Wir könnten dann mit der Undine näher an dieses Schiff heran.»
«Das würde zu lange dauern. Vielleicht lichten sie noch in der Nacht Anker und sind morgen früh weg. Und wenn sie über unsere Anwesenheit und unser Vorhaben informiert sind, wäre ein Bootsangriff bei Tage und in einem so schmalen Gewässer sinnlos. Das sollte Ihnen eigentlich klar sein, Mr. Davy.»
Davy blickte auf seine Schuhe nieder.»Jawohl, Sir.»
Eben schleiften die Männer keuchend ein weiteres Faß zum Boot hinunter. Soames, der durch den tiefen Sand herbeigestapft war, um zuzuhören, sagte unvermittelt:»Das kann ein Sklavenschiff sein. Und dann ist es bestimmt gut bewaffnet. «Er rieb sich das Kinn und nickte.»Ihr Plan ist gut, Sir. Wir könnten am Fuß des Berges vorrücken, wo er bis an die See heranreicht, und uns dann südwärts halten. «Mit einem verächtlichen Blick auf Davy setzte er hinzu:»Ich suche mir gute Männer dazu aus, die nicht gleich schlapp machen, wenn es mal ein bißchen rauh wird.»
Davy sagte nichts, aber offenbar wurmte es ihn, daß Soames gleich mit einem Plan bei der Hand war, nachdem er selbst ohne weitere Überlegungen zum Abwarten geraten hatte.
Bolitho blickte zur Undine hinüber.»Gut. Eine halbe Stunde Rast, dann geht es los. Vierzig Mann sollten bei einiger Vorsicht genügen. Vielleicht ist es auch bloße Zeitverschwendung. «Er dachte an das stumme Lauern des Dschungels.»Aber ein Schiff, das so gefährlich weit landeinwärts ankert? Nein, das muß etwas zu bedeuten haben. «Er winkte Penn herbei.»Ich schreibe jetzt Befehle für den Ersten Leutnant nieder, die Sie ihm sofort überbringen werden. Die Undine soll morgen früh die Boote dorthin ausschicken und uns abholen. Bis dahin müßten wir Bescheid wissen. «Er warf Davy einen Blick zu.»So oder so.»
Keen trat, eine Pistole lässig im Gürtel, aus dem Wald. Nach einem Blick aufs Meer blieb er stehen und deutete mit erhobenem Arm hinaus. Die Jolle schoß mit Höchstgeschwindigkeit heran, in der Sonne glänzten ihre Riemen wie Silber.
Das Boot stieß ans Ufer; ohne das Festmachen abzuwarten, sprang Midshipman Armitage heraus und fiel natürlich der Länge nach in den Sand. Allday, der die Szene kritisch beobachtet hatte, rief aus:
«Mein Gott, Captain! Dieser junge Herr stolpert noch mal über ein Samenkorn!»
Mit hochrotem Kopf hastete Armitage an den grinsenden Matrosen vorbei den Strand herauf.»Mr. Herrick läßt mit Respekt melden, Sir — «, er machte eine kleine Pause, um sich den Sand vom Kinn zu reiben,»- daß einige kleine Fahrzeuge nördlich von hier gesichtet worden sind. «Er deutete aufs Geratewohl irgendwo in den Dschungel.»Ein ganzes Geschwader. Mr. Herrick meint, sie halten auf uns zu; allerdings sind sie… «Er machte eine Pause und verzerrte das Gesicht wie immer, wenn er eine schwierige Meldung loswerden mußte,»…nicht mehr zu sehen. «Dann fiel ihm der Schluß ein, und er nickte erleichtert.»Mr. Herrick meint, sie haben irgendwas an Land vor, laufen aber eine andere Bucht an.»
Bolitho preßte die Hände auf dem Rücken zusammen. Das war genau das, was er befürchtet hatte. Und es hätte zu keinem schlimmeren Zeitpunkt eintreffen können.»Danke, Mr. Armitage.»
Leise sagte Davy:»Dann wird es nichts mit unserem Unternehmen, Sir. Wir können uns nicht aufsplittern, wenn feindliche Eingeborene in der Nähe sind.»
Verächtlich fuhr Soames dazwischen:»Die Pest darauf, Mr. Davy! Wir haben Munition genug, um tausend lausige Eingeborene zu verscheuchen!»
«Schluß jetzt!«Bolitho starrte die beiden zornig an, während seine Gedanken immer noch mit diesem Problem beschäftigt waren.»Mr. Herrick hat wahrscheinlich recht. Kann sein, sie gehen nur an Land, um zu jagen oder zu lagern. So oder so, unsere Aktion wird dadurch um so wichtiger. «Nachdenklich blickte er Soames an und las in dessen tiefliegenden Augen Ärger und Triumph zugleich.»Suchen Sie Ihre Leute sofort aus.»
Steif fragte Davy:»Und ich, Sir?»
Bolitho wandte sich ab. Im Kampf Mann gegen Mann würde Soames besser sein. Andererseits benötigte Herrick, wenn ihm selbst etwas zustieß, auf der Undine eher einen Mann mit Hirn als einen mit Muskeln, falls er in eigener Verantwortung weitersegeln mußte.
«Sie kehren mit dem letzten Arbeitskommando an Bord zurück. «Er kritzelte ein paar Zeilen auf Fowlars Block.»Und Sie werden, so gut Sie können — «, absichtlich übersah er die Enttäuschung auf Davys Gesicht,»- Mr. Herrick klarmachen, was ich vorhabe.»
Gepreßt erwiderte Davy:»Ich bin dienstälter als Soames, Sir. Es ist mein gutes Recht, an dieser Aktion teilzunehmen.»
Bolitho blickte ihn gelassen an.»Aber was Ihre Pflicht ist, entscheide ich. Ihre Loyalität setze ich dabei voraus. «Er warf einen Seitenblick auf Soames, der vor einer Doppelreihe Matrosen auf und ab schritt.»Sie kommen auch noch dran, dessen seien Sie sicher.»
Ein Schatten fiel über Fowlars Karte — es war Rojart, der spanische Leutnant mit den ewig traurigen Augen.
«Ja, Tenientel»
Er mußte in einem der anderen Boote an Land gekommen sein.
«Ich möchte mich Ihnen zur Verfügung stellen, Capitan.«Stolz blickte er zu Davy und Allday hinüber.»Don Luis hat mir befohlen, Sie nach besten Kräften zu unterstützen.»
Bolitho seufzte. Rojart hatte sich bereits des öfteren als Träumer erwiesen. Vielleicht kam das von seinen furchtbaren Erlebnissen beim Schiffbruch. Immerhin — ein weiterer Offizier, auch wenn er Spanier war, würde von Nutzen sein. Außerdem war damit noch ein Offizier weniger an Bord.»Sie sehen also, Mr. Davy, daß Mr. Herrick Ihre Hilfe mehr denn je benötigt. «Und zu Rojart:»Ich nehme Ihr Angebot mit Dank an, Teniente.»
Der Spanier lächelte mit blitzenden Zähnen und verneigte sich.»Zu Ihren Diensten, Capitan!»
Grinsend murmelte Allday:»Na, dann helfe uns Gott!»
Wieder wurde ein Wasserfaß aus dem Wald an den Strand geschleift; keuchend klappte Duff seine Brille zusammen und rief:»Das letzte, Sir!«Strahlend musterte er die Umstehenden.»Eine volle Ladung!»
Soames schnallte sich den Gürtel enger und meldete:»Abteilung klar zum Abmarsch, Sir. «Er deutete auf die angetretenen Matrosen.»Alle bewaffnet, aber ohne überflüssiges Gepäck. «Davy übersah er einfach.
Keen sammelte seine Patrouille soeben am anderen Ende des Strandes, und an einer flachen Stelle stand Pryke bei einem Haufen Bauholz, das die Helfer nach seinen Angaben zurechtgesägt hatten.
Davy legte formell die Hand an den Dreispitz.»Viel Glück,
Sir!»
Lächelnd entgegnete Bolitho:»Danke, Mr. Davy. Werden wir hoffentlich nicht allzu nötig brauchen. «Und zu Fowlar:»Gehen Sie voran, und machen Sie sich dabei Notizen. Wer weiß — vielleicht kommen wir wieder.»
Damit wandte er sich um und schritt auf den Waldrand zu.
«Kurze Rast!«Bolitho zog die Uhr aus der Tasche seiner Kniehose und sah nach der Zeit. Die Stundenziffern waren jetzt schon schwerer zu erkennen als vorhin. Er blickte hoch. Der Himmel war bereits dunkler, und über den Bäumen lag es nicht mehr wie Gold, sondern wie Purpur. Erschöpft ließen sich die Matrosen nieder oder lehnten sich an Bäume, um sich von dem
Gewaltmarsch zu erholen. Anfangs war es nicht allzu schwer gewesen. Mit Äxten hatten sie sich einen Pfad gehauen und waren ganz gut vorangekommen; aber als sie sich der Stelle näherten, wo nach Bolithos und Fowlars Schätzung die schmale Bucht liegen mußte, ließen sie die Äxte stecken und bahnten sich ihren Weg durch Busch und Schlingengewächse mit bloßen Händen.
Nachdenklich betrachtete Bolitho seine Leute. Ihre Hemden waren zerschlitzt, Gesichter und Arme blutig von den Rissen tückischer Zweige und Dornen. Hinter ihnen wurden die verschlungenen Äste dunkler und schienen im Dunst verrottender Vegetation zu zittern wie in einem Wind, den man nicht spürte.
Soames trocknete sich Gesicht und Nacken mit einem Tuch.»Ich habe Späher vorausgeschickt, Sir. «Er riß einem Mann die Feldflasche vom Mund.»Langsam, Idiot! Das muß vielleicht noch eine ganze Weile reichen!»
Bolitho sah Soames jetzt mit anderen Augen. Die Männer zum Beispiel, die er als Späher ausgesucht hatte, waren nicht die Stärksten oder die Befahrensten, wie man es bei einem Leutnant seiner Herkunft erwartet hätte. Beide Späher waren ganz frische Rekruten der Undine und ohne jede seemännische Erfahrung. Der eine hatte auf einer Farm gearbeitet, und der andere war Jagdgehilfe in Norfolk gewesen. Doch beide waren sehr gut ausgewählt. Fast lautlos waren sie zwischen den Bäumen verschwunden.
«Was halten Sie davon, Captain?«murmelte Allday.
Beim Anblick dieses kraftvollen, zuverlässigen Mannes ließ Bolithos Spannung etwas nach.»Wir sind jetzt schon ziemlich dicht dran. «Wie Herrick wohl zurechtkam? Und ob er noch mehr Eingeborenenboote gesichtet hatte? Wie die meisten seiner Männer fühlte er sich an Land unbehaglich — abgeschnitten vom Schiff.
Fowlar zischte:»Achtung, da kommt jemand.»
Musketenläufe richteten sich ziellos aufs Gebüsch, und ein paar Männer griffen nach ihren Entermessern.
«Nur einer von unseren Spähern!«rief Soames und trat auf die schattenhafte Gestalt zu.»Bei Gott, Hodges, du hast dich beeilt!»
Der Mann kam auf die kleine Lichtung und blickte Bolitho an.»Ich habe das Schiff gefunden, Sir. Es liegt 'ne knappe halbe
Meile entfernt. «Er zeigte in die Richtung.»Wenn wir etwas abdrehen, sollten wir in 'ner knappen Stunde dort sein.«»Was noch?»
Hodges hob die Schultern. Er war ein mageres Kerlchen, und Bolitho konnte sich gut vorstellen, wie er als Wildhüter in den Marschen von Norfolk herumgestreift war.
«Ich bin nicht zu nahe 'rangegangen, Sir«, sagte er.»Aber sie liegen ziemlich dicht unter Land. Einige Leute waren an Land, auf einer Lichtung. Ich habe… «Er zögerte.»Ich habe so eine Art Stöhnen gehört. «Er schüttelte sich.»Lief mir richtig kalt über den Rücken, kann ich Ihnen sagen, Sir.»
«Wie ich dachte«, sagte Soames wütend.»Sklavenjäger, verfluchte! Sie haben wahrscheinlich ihr Lager an Land, fangen die armen Teufel ein und teilen sie in Gruppen. Mädchen in der einen, Männer in der anderen. Dann werden die Kräftigsten ausgesucht.»
Fowlar spuckte ins Laub und nickte grimmig.»Den übrigen schneiden sie die Hälse durch, um Pulver und Blei zu sparen, und lassen sie liegen.»
Bolitho blickte den Späher an; Fowlars brutalen Kommentar wollte er nicht hören. Daß diese Dinge geschahen, war allgemein bekannt, aber anscheinend wußte niemand, was dagegen zu tun war. Besonders da viele einflußreiche Persönlichkeiten Profite aus dem Sklavenhandel zogen.»Haben sie Wachen aufgestellt?«fragte er.»Zwei hab' ich gesehen, Sir. Aber sie fühlen sich anscheinend ganz sicher. Das Schiff hat zwei Kanonen ausgefahren.»
«Natürlich«, knurrte Soames.»Wenn einer versucht, die armen Teufel zu befreien, kriegt er den Bauch voll Schrapnell.»
Der spanische Leutnant trat zu ihnen. Trotz des Gewaltmarsches brachte er es irgendwie fertig, in seinem gefältelten Hemd mit den weiten Ärmeln elegant auszusehen.»Vielleicht sollten wir umkehren, Capitan.«Vielsagend hob er die Schultern.»Hat keinen Sinn, dieses Schiff zu alarmieren, wenn es bloß ein Sklavenhändler ist, oder?»
Soames wandte sich wortlos ab. Sicher war er, ebenso wie der Großteil der Matrosen, empört darüber, daß Rojart die Sklaverei für eine ganz normale Einrichtung hielt.
«Wir gehen weiter vor, Teniente. Unsere Boote treffen sowieso nicht vor morgen früh ein. Mr. Soames, übernehmen Sie das Kommando hier. Ich will mir das selbst ansehen. «Bolitho winkte Midshipman Keen.»Sie kommen mit. «Und während er auf den Wald zuging, sagte er noch:»Die anderen machen sich bereit, mir zu folgen. Kein Wort; und haltet Tuchfühlung, damit ihr nicht getrennt werdet. Wer einen Schuß abfeuert, mit Absicht oder aus Versehen, kann sich auf was gefaßt machen!»
Hodges setzte sich an die Spitze.»Mein Kamerad, Billy Norris«, sagte er,»ist dort geblieben und beobachtet weiter, Sir. Bleiben Sie dicht hinter mir. Ich hab' den Weg markiert. «Und Bolitho glaubte ihm aufs Wort, obwohl er nirgends ein Zeichen sehen konnte.
Erstaunlich, wie nahe sie waren. Schon nach kurzer Zeit tippte Hodges ihn auf den Arm und bedeutete ihm, unter einem scharfblättrigen Busch Deckung zu suchen. Und da lag auch schon, wie auf offener Bühne, der Meeresarm vor ihnen. Hier war es viel lichter als im Wald; die letzten Sonnenstrahlen spielten noch im Laub und malten schillernde Reflexe auf die träge Dünung. Langsam schob sich Bolitho vorwärts und versuchte, die schmerzhaften Stiche in Brust und Händen zu ignorieren. Dann erstarrte er und vergaß alle Unbequemlichkeiten, denn jetzt konnte er das Schiff deutlich sehen. Hinter sich hörte er, wie Allday seine eigenen Gedanken aussprach:»Bei Gott, Captain, es ist der Schuft, der die Dons auf das Riff gelockt hat!»
Bolitho nickte. In dem engen Meeresarm wirkte die Brigantine größer, aber sie war nicht zu verkennen. Er hätte sie, das wußte er genau, auf Jahre hinaus nicht vergessen. Dann hörte er auch das klägliche Stöhnen, von dem Hodges berichtet hatte; ein scharfer, metallischer Klang drang vom anderen Ufer der Bucht herüber.
«Sie legen den armen Teufeln Handschellen an«, flüsterte Allday. Bolitho zwängte sich noch etwas vor und erkannte die Ankerkette der Brigantine, ein längsseits liegendes Boot und ein glimmendes Licht an der Kampanje. Keine Flagge, ebenso wie damals. Aber zweifellos war die Mannschaft auf der Hut. Zwei Geschütze waren schußbereit ausgefahren, die Mündungen gesenkt, um etwaige Angreifer mit einer Salve zu empfangen.
Langsam glitt ein Boot vom Ufer zum Schiff hinüber, und Bolitho fuhr zusammen, als er den Aufschrei einer Frau hörte. Schrill, nervenzerreißend hallte der Ton von den Bäumen wider.
«Sie schaffen die Sklaven an Bord«, knirschte Allday.»Werden bald ablegen, schätze ich.»
Bolitho nickte und befahl Keen:»Holen Sie die anderen. Aber sie sollen leise sein. «Er sah sich nach dem zweiten Späher um, der dumpf im Busch hockte.»Du gehst mit!«Und zu Allday:»Wenn wir sie schnappen, werden wir endlich erfahren, wer hinter der Sache mit der Nervion steckt.»
Allday hatte beide Hände an seinem Entersäbel.»Bin sehr dafür, Captain!»
Dumpfe Laute drangen von der Brigantine herüber, dann folgte ein schriller Aufschrei, der in ein langgezogenes Kreischen überging, das aber plötzlich wie abgeschnitten verstummte. Wie weit mochte es wohl bis zur offenen See sein? Der Sklavenfänger mußte so unauffällig, wie er hereingekommen war, auch wieder hinaus und sich alle Mühe geben, jedes Aufsehen zu vermeiden, bis sein Schiff klar von der Küste war.
Bolitho konnte kaum glauben, daß er hier saß und ausgerechnet dieses Schiff beobachtete. Während die Undine lange nach den Überlebenden der Nervion gesucht und dann noch weite Umwege gemacht hatte, um das Land und andere Schiffe zu meiden, war dieser Sklavenfänger in aller Ruhe seinen Geschäften nachgegangen, als sei nichts geschehen. Er mußte eiserne Nerven besitzen.
Jetzt waren wieder Schreie zu hören, wie von Tieren im Schlachthaus. Slavenhändler hatten keine Empfindungen. Und schon gar kein Mitleid.
Bolitho hörte ein schwaches Geräusch hinter sich und dann Soames' leise, unbewegte Stimme:»Der junge Keen hat recht. Es ist tatsächlich dasselbe Schiff. «Prüfend blickte er über die Brigantine hinweg zu den Baumwipfeln empor.»Nicht mehr viel Zeit, Sir. In einer Stunde ist es stockfinster, vielleicht schon früher.»
«Glaube ich auch. «In der Lichtung wurden jetzt die Sklaven zusammengetrieben. Ein paar Rauchfetzen stiegen von einem Feuer auf; vielleicht hatte daran ein Schmied an den Handfesseln gearbeitet. Dort war der schwächste Punkt.»Nehmen Sie zwanzig Mann und umgehen Sie das Lager. Beim ersten Alarmzeichen feuern Sie mit allem, was Sie haben. Das sollte wenigstens eine Panik verursachen.»
«Aye. So wird's gehen.»
Bolithos Kopf war eiskalt vor Erregung. Bei solchen Gelegenheiten überkam ihn stets eine Art Besessenheit.»Ich brauche zehn Mann, die schwimmen können. Wenn wir es schaffen, an Bord zu kommen, solange sie noch verladen, müßten wir das Achterdeck halten können, bis Sie die Boote gestürmt haben und uns zu Hilfe kommen.»
Er hörte, wie Soames sich das stoppelige Kinn rieb.»Ein tollkühner Plan, Sir — aber jetzt oder nie!»
«Also dann… Sagen Sie Rojart, er soll mit ein paar Mann als Flankenschutz den Platz hier halten. Denn wenn alles schiefgeht, müssen wir wieder hierher zurück.»
Soames kroch zurück und gab flüsternd die Befehle weiter. Weitere Gestalten krochen raschelnd heran, und Keen meldete:»Unsere Abteilung ist klar, Sir.»
«Unsere Abteilung?»
Keens weiße Zähne blitzten in dem schwindenden Licht.»Ich schwimme ausgezeichnet, Sir.»
Besorgt murmelte Allday:»Hoffentlich gibt es hier keine von diesen verdammten Wasserschlangen!»
Bolitho blickte in die Gesichter der Männer. Wie gut er inzwischen die meisten von ihnen kannte! Er sah alles in diesen letzten Augenblicken. In manchen Augen glitzerte Angst, Erregung, auch die gleiche Wildheit, die ihn selber überkommen hatte. Und manche Gesichter waren von schierer brutaler Kampfeslust verzerrt.
Kurz befahl er:»Wir gehen unter diesen überhängenden Büschen ins Wasser. Laßt Schuhe und Strümpfe und alles andere bis auf die Waffen hier. Allday, Sie sorgen dafür, daß die Pistolen gut eingewickelt werden, damit sie trocken bleiben!»
Er inspizierte den Himmel. Es wurde schnell dunkel, nur an den Baumwipfeln hielt sich noch der sanfte Widerschein der Abendsonne. In der Bucht und bei der Brigantine war das Wasser schwarz und glanzlos wie flüssiger Schlamm.
«Los!»
Er hielt den Atem an, als ihm das Wasser über den Gürtel und dann bis zum Hals stieg. Es war sehr warm. Noch ein paar Sekunden wartete er, etwa auf einen Alarmruf oder Musketenschuß. Aber die erstickten Schreie vom Lager her verrieten, daß er den Zeitpunkt gut gewählt hatte. Die Sklavenfänger waren jetzt zu beschäftigt, um überall zugleich aufzupassen.
Die anderen schwammen mit hochgehaltenen Waffen, nur Keen überholte ihn mit gleichmäßigem Kraulen.»Ich schwimme zur Ankerkette, Sir«, flüsterte er und grinste tatsächlich dabei.
Weiter, immer weiter… Dann hatten sie den halben Weg hinter sich, und Bolitho wußte: wenn sie jetzt entdeckt wurden, waren sie verloren. Hoch ragten die Masten und Rahen über ihnen auf, die gerefften Segel hoben sich scharf gegen den Himmel ab. In der Dämmerung leuchtete die Ankerlaterne besonders hell. Nackte Füße platschten über die Decksplanken, und ein Mann lachte wild auf: ein trunkenes Lachen. Vielleicht brauchte man eine Extraration Rum für solche Arbeit, dachte Bolitho.
Und dann klammerten sie sich am Schiff fest; die Strömung zerrte an ihren Beinen und drückte sie gegen die rauhen Planken, so daß sie unter dem Überhang des Schiffsrumpfes verborgen blieben.
«Hier kann man uns von den Booten aus nicht sehen, damit sind wir erst mal sicher«, keuchte Allday.
Da schallte ein furchtbarer Schrei über das Wasser; Bolitho dachte im ersten Moment, es sei ein Todesschrei. Aber der Matrose neben ihm deutete zum Ufer, das sie eben verlassen hatten, und wäre dabei fast abgetrieben.
Im letzten Abendschein war dort Rojarts gefalteltes Hemd deutlich zu erkennen. Er stand offen und ungedeckt da, die Arme weit ausgebreitet, als wolle er die ganze Bucht mit allem, was darin war, umarmen. Wieder und wieder schrie er, dann drohte er mit den Fäusten und stampfte mit den Füßen, als sei er verrückt geworden.
Bei Rojarts plötzlichem Erscheinen wurde es an Bord der Brigantine schlagartig still; dann hörte Bolitho Stimmengewirr und Schritte auf den Planken und wußte, daß es mit der Überraschung vorbei war. Keen hing am Wasserstag unter dem Bugspriet, ließ sich jetzt aber zu Bolitho hintreiben. Verzweifelt keuchte er:»Niemand hat Rojart darauf vorbereitet, daß es das Schiff ist, das die Nervion vernichtet hat. Er muß es eben erst entdeckt haben… »
Das Krachen des Schusses so dicht über ihren Köpfen war betäubend. Rauch stieg empor und wirbelte übers Wasser, so daß mancher Mann untertauchte, um nicht husten zu müssen.
Ehe der Qualm ihm die Sicht versperrte, sah Bolitho noch, wie Rojart von einer vollen Ladung gehackten Bleis weggeschleudert wurde: ein blutiger Fetzen, an den nichts mehr an einen Menschen erinnerte. Bolitho klammerte sich an das
Tau, das Allday um das Wasserstag geschlungen hatte, und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Achtern krachte ein zweiter Schuß, und er fuhr zusammen, denn der Schiffsrumpf erzitterte unter seinen Händen wie ein lebendes Wesen. Diesmal war es eine Kugel; er hörte sie durch die Bäume zischen und in der Ferne einschlagen.
Und in diesem Moment eröffneten Soames und seine Leute an der anderen Seite des Lagers das Feuer.