V Teufelswerk

Lässig stand Bolitho an der Achterdeckreling, wo ihm der Großmast etwas Schatten spendete; kritisch beobachtete er die täglichen Routinearbeiten des Schiffsdienstes. Eben erklangen vom Vorschiff her acht Glasen,[9] und er hörte, wie Herrick und

Mudge ihr Mittagsbesteck verglichen, während Soames, der Wachoffizier, ruhelos am Niedergang herumstrich und auf seine Ablösung wartete.

Zuzusehen, wie langsam und müde die Männer auf den Decksgängen und dem Geschützdeck umherschlichen, war anstrengend genug. Vierunddreißig Tage waren vergangen, seit die Nervion auf dem Riff zerschellt war, und fast zwei Monate, seit sie in Spithead Anker gelichtet hatten. Die ganze Zeit hatten sie hart arbeiten müssen; seit dem Tage, an dem das spanische Schiff gesunken war, herrschte an Bord eine so gespannte und drückende Atmosphäre, daß es kaum zu ertragen war.

Am schlimmsten waren die letzten Tage gewesen. Vorher hatte die Mannschaft bei der Äquatortaufe und den damit verbundenen althergebrachten Bräuchen einigen Spaß gehabt. Bolitho hatte eine Extraration Rum ausgeben lassen, und eine Zeitlang hatte sich die Abwechslung ganz segensreich ausgewirkt. Die Neuen hatten die Äquatorüberquerung als eine Prüfung angesehen, die sie nun bestanden hatten. Die Befahrenen kamen sich noch befahrener vor und erzählten allerlei wahre oder erlogene Geschichten von früheren Reisen in diesen Gewässern. Ein Mann hatte sich als Fiedler entpuppt und nach kurzem, verlegenem Vorspiel mit seiner Musik ein bißchen Fröhlichkeit in das tägliche Einerlei gebracht.

Aber dann starben dicht nacheinander die letzten schwerverletzten Spanier, und das drückte stark auf die allgemeine Stimmung. Whitmarsh hatte getan, was er konnte, hatte mehrere Amputationen ausgeführt, und bei den Schmerzensschreien der Unglücklichen schwand Bolithos kurze Befriedigung darüber, daß es ihm gelungen war, seine Mannschaft zusammenzuschweißen. Der Todeskampf des letzten Spaniers hatte tagelang gedauert. Beinahe einen Monat hatte er sich quälen müssen, schluchzend und stöhnend, oder auch friedlich schlafend, während Whitmarsh stundenlang bei ihm wachte. Es war, ais wolle der Arzt seine Kräfte erproben, als erwarte er, daß wieder etwas in ihm zerbräche. Die letzten Opfer unter seinen Patienten waren jene gewesen, die von den Haien besonders schlimm zerfleischt worden waren oder so schwere Brüche und Quetschungen erlitten hatten, daß auch eine Amputation sie nicht mehr retten konnte. Wundbrand hatte bei ihnen eingesetzt, und durch das ganze Schiff zog ein so furchtbarer Gestank, daß selbst die Mitleidigsten für einen baldigen Tod der Ärmsten beteten.

Unterhalb des Achterdecks wurde eben die Nachmittagswache gemustert, während Leutnant Davy achtern darauf wartete, daß Soames seinen Bericht im Logbuch unterzeichnete. Selbst Davy sah erschöpft und leicht schmuddelig aus, sein gutgeschnittenes Gesicht war in den langen Dienststunden so tief gebräunt, daß er einem Spanier glich.

Alle mieden Bolithos Blick. Als ob sie Angst vor ihm hätten oder ihre ganze Energie brauchten, um auch nur einen weiteren Tag hinter sich zu bringen.

«Wache achtern angetreten«, meldete Davy.

Soames funkelte ihn böse an.»Bißchen spät, Mr. Davy.»

Aber Davy warf ihm nur einen angewiderten Blick zu und wandte sich an den Steuermannsmaaten.»Rudergasten ablösen!»

Wütend stapfte Soames zum Niedergang und verschwand unter Deck.

Bolitho preßte die Hände hinterm Rücken zusammen und machte ein paar Schritte vom Mast weg. Das einzig Gute war der Wind. Tags zuvor, als sie beim Kreuzen auf Ostkurs gegangen waren und der Ausguck weit querab Land in Sicht gemeldet hatte, machte sich der Westpassat bemerkbar. Bolitho beschattete die Augen mit der Hand, blickte nach oben und sah, wie der Wind ungeduldig und kraftvoll in jedes Segel drückte und die Großrah unter dem Druck vibrierte wie eine gigantische Armbrust. Dieser verschwommene Fleck Land war Cap Agulhas[10] gewesen, die südlichste Spitze des afrikanischen Kontinents. Nun dehnte sich vor dem Wirrwarr der Wanten und Schoten die blaue Leere des Indischen Ozeans; und ebenso wie viele seiner neuen Matrosen stolz darauf waren, daß sie den Äquator überquert hatten, konnte er sich mit einigem Stolz vor Augen halten, was sie alle zusammen geleistet hatten, um überhaupt so weit zu kommen. Seiner Vorausberechnung nach hatte das Kap der Guten Hoffnung etwa die Hälfte ihres Weges bezeichnen sollen, und bis jetzt schien seine Rechnung zu stimmen. Meile um Meile, einen sonnendurchglühten Tag nach dem anderen, auf wilder Fahrt in brausenden Stürmen oder mit reglosen Segeln in den Kalmen, hatte er auf jede Weise versucht, seine Leute bei Laune zu halten. Als das nicht mehr wirkte, hatte er den täglichen Dienst verschärft, Geschütz- und Segeldrill befohlen und für die wachfreie Mannschaft allerlei

Wettbewerbe veranstaltet.

Der Zahlmeister und sein Gehilfe standen bei einem Faß Pökelfleisch, das soeben aus dem vorderen Laderaum hochgehievt worden war. Midshipman Keen stand daneben und versuchte so auszusehen, als verstünde er etwas davon, während Triphook das Faß öffnete und jedes einzelne Vierpfundstück Schweinefleisch prüfte, bevor er es für die Kombüse freigab. Keen, der voll jugendlicher Würde als Midshipman der Wache bei solchen Gelegenheiten den Kapitän vertrat, hielt das vermutlich für Zeitverschwendung. Aber Bolitho wußte aus Erfahrung, daß dem keineswegs so war. Manche Schiffsausrüster waren für ihre unredlichen Praktiken bekannt; sie wogen zu knapp oder packten unten in die Fässer verdorbenes Fleisch hinein, manchmal sogar Fetzen von altem Segeltuch. Denn sie wußten: wenn der Schiffszahlmeister den Betrug entdeckte, war er weit weg und konnte sich nicht beschweren. Auch die Zahlmeister selbst wirtschafteten manchmal in die eigene Tasche, indem sie mit ihren Partnern an Land allerlei krumme Geschäfte machten.

Bolitho sah, wie der hagere Zahlmeister kummervoll nickte, seine Liste abhakte — offenbar war alles in Ordnung — , und dann der kleinen Prozession zur Kombüse folgte; seine Schuhsohlen quietschten, weil sie an dem heißen Pech der Decksnähte hängenblieben. Die Hitze, die erbarmungslose Eintönigkeit waren schon schlimm genug; aber Bolitho wußte: eine Andeutung von Korruption, der kleinste Verdacht, daß die Mannschaft von ihren Offizieren betrogen wurde — und die ganze Crew explodierte. Er hatte sich immer wieder gefragt, ob er nicht zu oft an seine letzte Reise dachte. Schon das bloße Wort Meuterei füllte das Herz manchen Kapitäns mit Furcht, besonders wenn er nicht im Geschwaderverband, sondern ganz allein segelte. Bolitho tat ein paar Schritte an der Reling und verzog das Gesicht, als seine Hand gegen das Schanzkleid stieß. Das Holz war knochentrocken, die Farbe blätterte trotz regelmäßiger Pflege ab. Er blieb einen Moment stehen und beschattete seine Augen, um einen großen Fisch zu beobachten, der weit voraus hochsprang. Wasser. Darum machte er sich die meisten Sorgen. Bei den vielen neuen Leuten und dem unvorhergesehenen zusätzlichen Verbrauch für die Pflege der Kranken und Verwundeten würde das kostbare Trinkwasser selbst bei strenger Rationierung bald knapp werden.

Er sah zwei schwarze Matrosen sich auf dem BackbordDecksgang ausstrecken; wirklich eine gemischte Mannschaft. Schon bei der Ausreise von Spithead war sie bunt gewesen, aber seit die überlebenden Spanier dazugekommen waren, hatte sich die Zahl der verschiedenen Hautfarben noch erhöht. Außer dem Leutnant Rojart, der stets melancholisch dreinblickte, bestand die überlebende Crew des Spaniers aus zehn Matrosen, zwei Schiffsjungen und fünf Soldaten. Diese letzteren, so froh sie zuerst gewesen waren, daß sie überhaupt noch lebten, waren jetzt mit ihrem neuen Status offensichtlich unzufrieden. Sie hatten an Bord der Nervion zu Puigservers Leibwache gehört; jetzt waren sie weder Fisch noch Fleisch, und während sie sich als Matrosen versuchten, schielten sie mit einer Mischung von Neid und Verachtung nach den schwitzenden Marineinfanteristen der Undine.

Herrick unterbrach seine trüben Gedanken mit der Meldung:»Mein Besteck und das des Steuermanns stimmen überein. «Er hielt Bolitho seine Schreibtafel hin.»Wenn Sie kontrollieren wollen, Sir?«Sein Ton war ungewöhnlich zurückhaltend.

Mudge schlurfte in den Schatten der Finknetze und sagte:»Wenn Sie über Stag gehen wollen, Sir, dann können wir das ebensogut jetzt tun. «Er zog sein Taschentuch hervor und schnaubte sich heftig die Nase.

Herrick warf eilig dazwischen:»Ich möchte einen Vorschlag machen, Sir.»

Mudge trat beiseite und nahm geduldig beim Rudergänger Aufstellung. Es war schwer zu sagen, ob Herricks Vorschlag auf einem spontanen Einfall beruhte, oder ob er ihn mit den anderen abgesprochen hatte.»Es hat einige überrascht, Sir«, begann er,»daß Sie Cape Town nicht angelaufen haben. «Seine Augen leuchteten blauer denn je in der hellen Sonne.»Wir hätten die Kranken an Land bringen und Trinkwasser überne hmen können. Ich bezweifle, daß der holländische Gouverneur sich groß darum gekümmert hätte, was wir vorhaben.»

«Tatsächlich, Mr. Herrick?»

Von der Kombüse stieg eine mattgraue Rauchwolke auf. Bald würde die Freiwache in der brütenden Hitze des Mannschaftslogis' ihr Mittagessen bekommen, Skillygolee, wie sie es nannten: eine Mischung aus Roggenschleim, zerklopftem Schiffszwieback und Fleischresten vom Vortag; dazu eine volle Ration Bier zum Hinunterspülen.

Bolitho drehte sich in plötzlichem Ärger zu Herrick um.

«Und wie kommen Sie zu dieser bemerkenswerten Ansicht?«Er sah recht wohl, wie Herricks Miene sich verdüsterte, aber trotzdem fuhr er fort:»Ich bin so etwas von Ihnen nicht gewöhnt.»

Herrick entgegnete:»Es ist nur, daß ich nicht zusehen mag, wie Sie sich kaputtmachen, Sir. Mir geht der Verlust der Nervion ebenso an die Nieren wie Ihnen, aber es ist nun einmal passiert. Sie haben für die Leute getan, was Sie konnten.»

«Danke für Ihr Mitgefühl«, sagte Bolitho,»aber ich strapaziere weder mich noch die Mannschaft ohne bestimmten Grund. Ich glaube, daß wir gebraucht werden, schon jetzt, in diesem Moment.»

«Vielleicht, Sir.»

Bolitho sah ihn forschend an.»Eben — vielleicht. Aber das habe ich zu verantworten und kein anderer. Wenn ich falsch gehandelt habe, dann werden Sie vielleicht eher befördert, als Sie denken. «Er wandte sich ab.»Wenn die Leute gegessen haben, wird Kurs gewechselt. Nordost zu Ost. «Er blickte zum Wimpel im Topp auf.»Sehen Sie nur, wie es weht! Wir werden die Royals setzen und mit diesem Wind unter unseren Rockschößen laufen, solange es geht.»

Herrick biß sich auf die Lippen.»Ich bin immer noch der Meinung, wir sollten Land anlaufen, Sir, wenigstens um Wasser zu fassen.»

«Ich auch, Mr. Herrick. «Bolitho sah ihm kalt ins Gesicht.»Und ich tue das, sobald es möglich ist, ohne daß uns jemand dabei sieht. Ich habe meine Befehle. Und die führe ich aus, so gut ich kann — verstanden, Mr. Herrick?»

Sie starrten einander an, zornig, beunruhigt, betroffen über die plötzliche scharfe Kontroverse.

«Gewiß, Sir. «Herrick trat zurück und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne.»Sie können sich auf mich verlassen.»

«Schön. Ich dachte schon… «Er war mit ausgestreckter Hand einen Schritt vorgetreten; aber in diesem Moment wandte sich Herrick ab, das Gesicht ganz starr, so verletzt war er.

Bolitho hatte seine Worte keineswegs böse gemeint. Er mochte in seinem Leben an vielem gezweifelt haben, aber nicht an Herricks Loyalität. Er war beschämt und wütend über sich selbst. Vielleicht machten ihn der ewige Druck dieser leeren Einförmigkeit, das ständige Zutunhaben mit Leuten, die nichts weiter wollten, als sich vor der Arbeit und der Sonne drücken, dazu die ständigen Pläne und Zweifel, doch mehr kaputt, als er glaubte.

Er drehte sich auf dem Absatz um und sah Davy, der ihn neugierig anblickte.»Mr. Davy«, sagte er scharf,»Sie haben zwar eben erst die Wache übernommen, und es sollte mir leid tun, Sie in Ihren Gedanken zu stören. Aber sehen Sie sich bitte die Fock an! Setzen Sie ein paar Leute an, damit das in Ordnung kommt!«Er sah das betroffene Gesicht des Leutnants und fügte noch hinzu:»Das Segel sieht genauso schlapp aus wie die ganze Wache!«Als er zum Kajütniedergang schritt, sah er, wie der Leutnant nach vorn eilte. Immerhin — das Focksegel zog zwar nicht ganz so, wie es sollte; aber das als Vorwand zu nehmen, um seine Wut an Davy auszulassen, war auch nicht richtig gewesen.

Am Wachtposten vorbei trat Bolitho in die Kajüte und knallte böse die Tür hinter sich zu. Aber auch hier fand er keine Ruhe. Hoddall war dabei, den Tisch zu decken, und machte ein ärgerliches Gesicht, weil Mrs. Raymonds Zofe dauernd hinter ihm hertrippelte wie ein Kind, das sich amüsiert.

Raymond lag schlaff in einem Stuhl bei den Heckfenstern; seine Frau saß auf der Sitzbank, fächelte sich und sah Noddall mit einer Miene zu, die äußerste Langeweile verriet.

Bolitho wollte wieder gehen, aber sie rief:»Bleiben Sie doch, Captain! Wir sehen Sie ja überhaupt nicht mehr!«Sie tippte mit dem Fächer neben sich auf die Holzbank.»Setzen Sie sich doch einen Moment. Ihr geliebtes Schiff wird's schon überstehen.»

Bolitho nahm Platz und stützte den Ellbogen auf das Fenstersims. Es war gut, wieder Leben und Wind zu spüren, das Wirbeln und Schäumen des Kielwassers zu sehen, wie es glatt von der Gillung abfloß oder blubbernd unter dem Ruder hervorkam.

Dann wandte er sich Mrs. Raymond zu und sah sie an. Die ganze Zeit war sie schon an Bord, aber er wußte wenig von ihr. Sie beobachtete ihn amüsiert und forschend. Sie mochte zwei, drei Jahre älter sein als er selbst, war nicht ausgesprochen schön, hatte aber etwas Aristokratisches an sich, das sofort fesselte. Sie hatte schöne gleichmäßige Zähne, und ihr Haar, das ihr offen über die Schultern fiel, war braun wie Herbstlaub. Während er und seine Offiziere ständig schwitzten und Mühe hatten, nach der Tyrannei der Sonne oder nach einer wilden Bö ein sauberes Hemd zu finden, war sie stets untadelig gekleidet.

Wie jetzt auch. Sie trug ihr Kleid nicht nur, sie hatte es arrangiert, so daß nicht sie hier beim Heckfenster fehl am Platze wirkte, sondern er. Ihre schweren Ohrringe mußten mindestens den Jahressold eines Seesoldaten gekostet haben.

Mrs. Raymond lächelte.»Gefällt Ihnen der Anblick, Captain?»

Bolitho fuhr zusammen.»Entschuldigung, Ma'am. Ich bin müde.»

«Wie galant!«rief sie aus.»Und wie bedauerlich, daß Sie mich nur aus Müdigkeit ansehen. «Sie klappte den Fächer auf und fuhr fort:»Das war ein Scherz, Captain. Machen Sie nicht ein so betroffenes Gesicht!»

Bolitho lächelte.»Vielen Dank. «Plötzlich mußte er an eine andere Frau denken, damals vor drei Jahren in New York. Und an ein anderes Schiff: sein erstes Kommando. Die Welt hatte offen vor ihm gelegen, da hatte ihm jene andere Frau klargemacht, daß das Leben nicht so freundlich war und nicht so einfach.

«Ich habe allerlei Sorgen«, räumte er ein.»Die meiste Zeit meines Lebens habe ich mit Kämpfen und raschen Entschlüssen zu tun gehabt. Aber das jetzt — Tag für Tag nur Segel trimmen und auf die leere See starren — ist mir ungewohnt. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich einen Kauffahrer und kein Kriegsschiff.»

Sie sah ihn nachdenklich an.»Das glaube ich Ihnen. Ich hätte das eher merken müssen. «Die Augen hinter den langen Wimpern verborgen, bot sie ihm ein zögerndes Lächeln.»Dann wäre ich vielleicht nicht so verletzend zu Ihnen gewesen.»

Bolitho schüttelte den Kopf.»Es ist größtenteils meine Schuld. Weil ich so lange auf Kriegsschiffen gefahren bin, setze ich automatisch bei jedem die gleiche Dienstauffassung voraus wie bei mir. Wenn es brennt, erwarte ich, daß alle herbeirennen und löschen. Wenn ein Mann sich gegen mich wendet, Meuterer oder Feind, lasse ich ihn niedermachen oder tue es selbst. «Er blickte ihr ernst ins Gesicht.

«Deswegen hatte ich von Ihnen erwartet, daß Sie den verletzten Schiffbrüchigen helfen würden. «Er zuckte die Schultern.»Wie gesagt, ich hatte es erwartet und bat Sie nicht erst darum.»

Sie nickte.»Dieses Eingeständnis muß Sie ebenso überraschen wie mich, Captain. «Lächelnd zeigte sie ihre schönen Zähne.»Hat es die Luft ein bißchen gereinigt?»

«Ja. «Unwillkürlich wischte er die rebellische Locke beiseite, die ihm an der verschwitzten Stirn klebte. Er sah, wie sich beim Anblick der Narbe unter dem Haar ihre Augen weiteten, und sagte rasch:

«Entschuldigen Sie mich, Ma'am. Ich muß mir vor dem Essen noch die Seekarte ansehen.»

Als er aufstand und gehen wollte, blickte sie ihn wohlgefällig an.»Sie verstehen Ihre Autorität zu tragen, Captain. «Und mit einem Seitenblick auf ihren schlafenden Mann:»Besser als gewisse andere Leute.»

Bolitho wußte nicht recht, was er dazu sagen sollte.»Das ist wohl kaum ein Gesprächsgegenstand für mich, Ma'am«, brachte er schließlich heraus. Von Deck her hörte man Fußgetrappel, und Schatten glitten rasch über das Oberlicht. Er blickte hoch.

«Was ist das?«fragte sie. Er merkte nicht, daß sie sich über die Unterbrechung ärgerte.

«Ich weiß nicht. Ein Schiff vielleicht. Ich habe befohlen, daß mir dann Meldung gemacht wird, denn ich will jede Begegnung vermeiden.»

Noddall hielt in seiner Arbeit inne, zwei Gabeln in der Hand.»Hab' keine Meldung vom Ausguck gehört, Sir.»

Es klopfte, und Herrick stand keuchend in der Tür.

«Entschuldigung, daß ich so hereinplatze. «Er blickte an Bolitho vorbei auf Mrs. Raymond.»Es wäre besser, wenn Sie mitkämen, Sir. «Bolitho trat hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Im Gang zur Offiziersmesse stand eine kleine Gruppe Männer, die offensichtlich auf ihn warteten. Sie sahen verwirrt und betroffen aus, wie Fremde: Bellairs und sein riesiger Sergeant; Triphook, die Pferdezähne entblößt, als wolle er nach einem unsichtbaren Angreifer schnappen; und hinter ihm versteckt der Küfer, ein kleiner, unscheinbarer Deckoffizier namens Joseph Duff. Er war der zweitälteste Mann an Bord und trug bei der Arbeit eine stahlgeränderte Brille, die er jedoch meist vor seinen Messegenossen zu verbergen wußte.

Herrick sagte fast überstürzt:»Duff hat festgestellt, daß unser Trinkwasser zum größten Teil ungenießbar ist, Sir. «Er schluckte mühsam.»Entdeckte es soeben bei einer Routineinspektion und meldete es sofort dem Schiffskorporal.»

Kopfschüttelnd murmelte Triphook:»So etwas habe ich im ganzen Leben noch nicht gesehen.»

Bolitho winkte den Küfer heran.»Nun, Duff, was haben Sie also entdeckt?»

Duff blinzelte ihn durch seine ovalen Brillengläser an; er sah aus wie ein grauer Maulwurf.»Es war eine Routineinspektion, Sir. «Alle drängten sich um ihn, und er schien immer kleiner zu werden. Soames war aus seiner Kajüte hinzugekommen und ragte hinter Bellairs wie ein Baum auf. Zitternd sprach Duff weiter:»Alles gute Fässer, Sir, dafür habe ich gesorgt. Das ist immer das erste, worauf ich achte. Hab' mein Geschäft bei einem erstklassigen alten Küfer auf der Gladiator gelernt, und… »

«Himmeldonnerwetter, sagen Sie es dem Captain endlich!«rief Herrick verzweifelt.

Duff ließ den Kopf noch tiefer hängen.»In den meisten Fässern ist das Wasser faul, Sir. Ist auch kein Wunder.»

Sergeant Coaker trat vor; seine Stiefel knarrten, als das Schiff plötzlich in ein Wellental tauchte. Er trug ein kleines Bündel in der Hand, hielt es aber von sich ab, als sei es lebendig.

«Aufmachen!»

Mit steinernem Gesicht faltete der Sergeant das Bündel auseinander. Bolitho hatte ein Gefühl, als stiege das Deck rasend schnell in die Höhe; Brechreiz würgte ihn, denn das Bündel enthielt eine menschliche Hand, verkrümmt wie im Zustand der Amputation.

Erstickt rief Soames:»Jesus Christus!»

Leise sagte Duff:»Und das in allen Fässern, Sir. Außer in den letzten beiden am Schott.»

«Stimmt, Sir«, bestätigte Triphook dumpf.»Überall Leichenteile drin. «Er zitterte heftig. Schweiß strömte über sein Gesicht.»Da war ein Teufel am Werk, Sir!»

Ein kurzer Schreckensschrei erscholl, und Bolitho trat rasch vor den Küfer; Mrs. Raymond, die unbemerkt herzugekommen war, keuchte:»Mir wird schlecht!«Sie lehnte sich an den Seesoldaten vor der Tür, das Gesicht kreideweiß, und starrte entsetzt die Gruppe an.

«Schaffen Sie das weg!«befahl Bolitho scharf. Und zu dem herumgeisternden Noddall:»Rufen Sie diese alberne Zofe und kümmern Sie sich um die Dame!«Sein Verstand wehrte sich noch gegen Duffs furchtbare Entdeckung, gegen ihre Bedeutung und die Maßnahmen, die er jetzt treffen mußte.»Der Schiffsarzt zu mir!»

Bellairs betupfte sich die Lippen mit seinem Taschentuch.»Übernehmen Sie, Sa'rnt Coaker! Lassen Sie den Doktor holen!«Er blickte die anderen bedeutungsvoll an.»Zweifle allerdings, ob er… Na ja.»

«Vielleicht gehen wir lieber hier hinein, Sir?«fragte Herrick und machte einen Schritt zur Seite, so daß Bolitho in die Offiziersmesse treten konnte. Dort war es eng und stickig; der für das Dinner gedeckte Tisch wirkte ziemlich deplaziert neben den beiden Zwölfpfündern. Bolitho sank schwer auf eine Seekiste und starrte durch die nächste Stückpforte. Der frische Wind und die tanzenden Wellen freuten ihn jetzt nicht mehr. Gefahr lauerte an Bord seines Schiffes.

«Ein wenig Wein, Sir?«schlug Herrick vor.

Als Bolitho sich umdrehte, sah er, daß die anderen kein Auge von ihm wandten. Soames stand am Kopf der Tafel, Bellairs und Triphook an ihrem anderen Ende. In diesen flüchtigen Sekunden erinnerte er sich an seine Zeit als junger Leutnant: In der Offiziersmesse speiste man nicht nur miteinander, sondern man teilte auch seine Zweifel und Befürchtungen und rechnete auf die Hilfe der Kameraden. Achtern, hinter dem Besanmast, war der Kapitän eine ferne, gottähnliche Gestalt und unerreichbar. Niemals, so lange er zurückdenken konnte, hatte er geglaubt, daß ein Kapitän mehr brauche als Gehorsam.

Man fühlte sich sogar anders in der Messe; Pistolen hingen in einem Wandgestell und auf einer Leine ein paar Hemden, die der Messejunge eben gewaschen hatte; dazu Essensgeruch aus einem leise brodelnden Topf.

«Danke sehr«, entgegnete Bolitho.»Ein Glas Wein wüßte ich im Augenblick durchaus zu schätzen.»

Sie entspannten sich etwas, und Soames sagte:»Wir müssen also umkehren, Sir. «Er überlegte einen Moment.»Oder lieber die afrikanische Küste anlaufen.»

Stiefel knarrten draußen, und Mudge schob sich herein; sein graues Haar stand ihm starr vom Kopf ab, als er den Hut in die Ecke warf.»Verdammt sollen meine Augen sein, aber was höre ich da für eine blutige Schweinerei?«Er sah Bolitho und murmelte:»Pardon, Sir. Wußte nicht, daß Sie hier sind.»

Herrick hielt Bolitho ein Glas Weißwein hin. Er lächelte nicht, wirkte jedoch gelassen.»Der ist noch ziemlich frisch,

Sir.»

Dankbar nippte Bolitho.»Sehr nett von Ihnen. «Er spürte die Säure des Weines in der Kehle.»Nach dem Anblick von vorhin… «Er fuhr herum, als der Arzt schlurfend durch die Tür trat, mit offenem Hemd und verschwommenen Augen.

«Sie wissen Bescheid, Mr. Whitmarsh?«Des Doktors Kinn war voller Stoppeln, und es kostete ihn augenscheinlich Mühe, geradeaus zu blicken. In aller Stille hatte er sich offenbar für die Zeit, in der er wegen seiner angestrengten Tätigkeit nicht hatte trinken können, schadlos gehalten.»Nun?«fragte Bolitho.

Whitmarsh tastete sich zu einem der Geschütze hin, hielt sich mit beiden Händen daran fest und sog durch die offene Stückpforte wie ein Erstickender die frische Luft ein.

«Ich habe es gehört, Sir. Ich weiß Bescheid.»

Bolitho sah ihn unbewegt an.»Da die Wasserfässer in Ordnung waren, als wir sie in Spithead an Bord nahmen, liegt es nahe; daß diese Leichenteile aus Ihrem Operationsraum stammen. «Er hielt inne; der Arzt tat ihm leid, aber Eile war nötig.»Meinen Sie nicht auch?»

«Vermutlich. «Whitmarsh wankte zum Tisch und schenkte sich ein großes Glas Wein ein. Scharf sagte Bolitho:»Wenn Sie das jetzt trinken, Mr. Whitmarsh, dann sorge ich dafür, daß Sie keinen Tropfen mehr kriegen, so lange Sie unter meinem Kommando sind!«Er stand auf.»Jetzt denken Sie nach, Mann! Wer kann das getan haben?»

Whitmarsh stierte das Glas in seiner Hand an; er schwankte stark, obwohl das Schiff nur schwach rollte.

«Ich hatte ununterbrochen zu tun, Sir, die Verwundeten waren in einem furchtbaren Zustand. Dabei halfen mir die Sanitätsgasten und mein Maat. «Er verzerrte das Gesicht vor angestrengtem Nachdenken; Schweiß tropfte ihm vom Kinn.»Sullivan war es. Er hatte amputierte Gliedmaßen und andere Abfälle fortzuschaffen. Er war sogar recht willig dabei. «Der Arzt nickte unsicher.»Jetzt weiß ich es wieder: Sullivan. «Er sah Bolitho starr an.»Der Mann, den Sie auspeitschen ließen,

Sir.»

«Seien Sie nicht so verdammt unverschämt zum Captain!«sagte Herrick grob.

Plötzlich war Bolitho völlig ruhig.»Ist das Wasser Ihrer Meinung nach für uns noch zu gebrauchen, Mr. Whitmarsh?»

«Auf keinen Fall. «Der Arzt starrte ihn immer noch an.»Es muß über Bord gegossen, die Fässer müssen sofort ausgescheuert werden. Ein Schluck Wasser, in dem verfaultes Fleisch war, und Sie haben eine Seuche an Bord! Ich hab' das schon erlebt. Da ist keine Heilung möglich!»

Ganz langsam stellte Bolitho sein Glas auf den Tisch, damit er Zeit hatte, sich zu beruhigen.

«Anscheinend sind Sie nicht der einzige, der auf Heimatkurs zu gehen wünscht, Mr. Herrick. Und nun schnappen Sie sich Sullivan und stellen ihn unter Bewachung, damit er nicht noch mehr Unheil anrichtet!«Er wandte sich wieder an Whitmarsh.»Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen.»

Schritte hasteten über das Achterdeck, dann trat Herrick wieder ein.»Sir, dieser verdammte Sullivan sitzt oben auf der Großbramrah und spielt verrückt! Keiner kann an ihn ran!»

Bolitho hörte Rufe an Deck und noch mehr Schritte.»Ich gehe hinauf!«sagte er.

Die Decksgänge waren voller Matrosen und Soldaten; Don Puigserver und sein spanischer Leutnant waren auch dabei und beobachteten zusammen mit Davy einen Bootsmannsmaat, der in den Großmast aufenterte, um Sullivan zu erreichen.

Der Matrose hockte auf der Rah; anscheinend machte ihm weder das mächtige geschwellte Segel noch die glühende Sonne auf seinem Rücken etwas aus. Er war bis auf. einen Gürtel völlig nackt, in dem der breite Dolch steckte, für dessen Gebrauch er ausgepeitscht worden war.

Nervös sagte Davy:»Ich weiß nicht, was ich machen soll, Sir. Der Kerl hat offenbar einen Sonnenstich oder Schlimmeres.»

Der Bootsmannsmaat brüllte:»Jetzt scher dich an Deck, oder, beim lebendigen Jesus, ich schmeiß dich eigenhändig von der

Rah!»

Aber Sullivan warf nur den Kopf zurück und lachte schrill, nervenzerreißend.»Aber, aber, Mr. Roskilly! Was wollen Sie denn machen? Mich mit Ihrem kleinen Tampen verhauen?«Er lachte wieder und riß den Dolch aus dem Gürtel.»Na, dann komm doch, Kleiner! Auf dich warte ich gerade, du verdammter Arschkriecher!»

«Kommen Sie herunter, Roskilly!«rief Bolitho.»Es hat keinen Sinn, sich umbringen zu lassen!»

Sullivan spähte unter der vibrierenden Rah hervor.»Hoppla, Leute — wen haben wir denn da? Keinen Geringeren als unseren schneidigen Käpt'n!«Er schüttelte sich vor Lachen.»Und er ist ganz durcheinander, weil ihm der arme alte Tom Sullivan sein schönes Wasser versaut hat!»

Ein paar Matrosen hatten über das seltsame Schauspiel gegrinst, aber als die Rede auf Wasser kam, wurden sie schnell wieder ernst. Bolitho musterte die erhobenen Gesichter und spürte die sich ausbreitende Betroffenheit wie den Anhauch einer Flamme. Laut dröhnten seine Schritte in der plötzlichen

Stille, als er nach achtern ging. Unter der Rahe blieb er stehen und blickte hoch.»Komm herunter, Sullivan!«Er stand im prallen Sonnenlicht, denn das bauchige Segel bot ihm keinen Schatten; er spürte Schweiß auf Brust und Schenkeln und auch den Haß des Mannes dort oben.»Für heute hast du genug angestellt!»

Sullivan kicherte.»Habt ihr das gehört, Jungs? Genug angestellt!«Er beugte sich über die Rah, das Sonnenlicht spielte über die Narben auf seinem Rücken, die weißlich von der gebräunten Haut abstachen. -»Sie haben genug mit mir angestellt, Käpt'n Bluthund Bolitho!»

«Sergeant Coaker!«befahl Herrick.»Lassen Sie einen Scharfschützen nach achtern kommen! Der Kerl da oben ist gemeingefährlich.»

«Befehl belegt!«rief Bolitho scharf, die Augen immer noch auf die Großbramrah gerichtet.»Ich will nicht, daß er abgeschossen wird wie ein toller Hund. «Er merkte, daß Puigserver ihn und nicht den Mann auf der Rah beobachtete, und daß Allday, ein Entermesser in der Hand, dicht neben ihm stand. Aber sie hatten alle nichts damit zu tun, es war eine Sache zwischen Sullivan und ihm. Er rief nach oben:»Ich bitte dich, Sullivan!«Er dachte an das Gesicht der Frau in der Kajüte. Ich bat Sie nicht erst darum, hatte er zu ihr gesagt.

«Zur Hölle mit Ihnen, Käpt'n!«Sullivan kreischte jetzt schrill, sein nackter Körper wand sich auf der Rah wie in qualvollen Krämpfen.»Und dabei helfe ich jetzt nach!»

Bolitho sah kaum die Handbewegung, nur das kurze Aufblitzen des Sonnenlichts auf der Klinge; dann entfuhr ihm ein leiser Ausruf: das Messer ritzte seinen Ärmel und fuhr dicht neben seinem rechten Schuh mit solcher Kraft in die Planken, daß sich fast ein Zoll der Klinge ins Holz bohrte.

Sullivan war wie erstarrt; ein langer Faden Speichel wehte von seinem Kinn. Ungläubig starrte er zu Bolitho hinab, der regungslos am Fuß des Mastes stand, während ihm Blut über Ellenbogen und Unterarm lief und aufs Deck tropfte. Bolitho ließ Sullivan nicht aus den Augen, und die Konzentration half ihm, den brennenden Schmerz der Schnittwunde zu ignorieren.

Plötzlich erhob sich Sullivan und begann, auf der Rah außenbords zu kriechen. Wildes Geschrei erscholl an Deck; Herrick griff nach Bolithos Arm, um den jemand ein Tuch wickelte, so daß der Schmerz dumpfer wurde.

Whitmarsh war bei den Netzen aufgetaucht und schrie ebenfalls dem Mann etwas zu, dessen Gestalt sich nun scharf vom blauen Himmel abhob. Sullivan drehte sich um und rief zum erstenmal mit jetzt normaler Stimme:»Und Sie auch, Doktor! Gott verdamme Sie zur Hölle!«Dann sprang er in hohem Bogen ins Leere und schlug Sekunden später laut aufklatschend ins Wasser. Ein paar Augenblicke trieb er noch achteraus, doch als der große Schatten des Besansegels über ihn hinwegglitt, warf er die Hände hoch und ging unter.

«Den hätten wir nie auffischen können«, sagte Herrick.»Wenn wir bei diesem Wind beidrehen, kommt alles von oben.»

Bolitho wußte nicht, zu wem Herrick sprach, vielleicht zu sich selbst. Er schritt zum Niedergang, den blutigen Arm mit der anderen Hand umklammernd, und sah noch, wie Roskilly, der Bootsmannsmaat, den Dolch aus den Planken zog. Roskilly war ein kräftiger Mann, aber er mußte zweimal ansetzen, bis die Waffe freikam.

Puigserver war Bolitho gefolgt.»Das war tapfer von Ihnen, Capitan.«Er seufzte.»Aber er hätte Sie töten können.»

Bolitho nickte. Die Schmerzen wurden stärker.»Wir haben harte Zeiten vor uns, Senor, Wir müssen Wasser finden, und zwar bald. Aber umkehren werde ich nicht. «Er biß die Zähne zusammen.

Puigserver sah ihn melancholisch an.»Es war eine schöne Geste, aber sie hätte Sie das Leben kosten können. Und alles wegen eines Verrückten.»

Bolitho betrat seine Kajüte.»Vielleicht waren wir beide nicht ganz klar im Kopf.»

Herrick kam ihm eilig nach, und sie sahen, daß in der Kabine direkt unter dem Oberlicht ein Stuhl stand: Raymond mußte hinaufgestiegen sein, um das Drama oben zu beobachten.

Mrs. Raymond stand am Heckfenster. Sie war sehr blaß, kam ihm jedoch entgegen.»Ihr Arm, Captain!«Dann befahl sie ihrer Zofe:»Verbandszeug!»

Jetzt erst merkte Bolitho, daß Herrick in der Kajüte war.»Nun?»

Herrick blickte ihn besorgt an.»Was Sie da taten…»

«Hätte mich das Leben kosten können. Ich weiß. «Er zwang sich zu einem Lächeln.»Das habe ich bereits von anderer Seite gehört.»

Herrick atmete langsam aus.»Und ich glaubte, Sie zu kennen,

Sir.»

«Aber jetzt, Thomas?»

Herrick grinste.»Ich weiß nur, daß Sie mich immer wieder überraschen. Mich und andere auch. «Er machte eine Handbewegung zum Deck hin.»Eben habe ich gehört, wie ein Matrose, der fast einen Monat lang nur geschimpft und über den Dienst geflucht hat, Sullivans schwarze Seele in die tiefste Hölle wünschte, weil er Sie umbringen wollte. «Sein Grinsen verschwand.»Aber mir wäre es lieber, Sie würden die Mannschaft auf andere Weise gewinnen, Sir.»

Die Zofe brachte eine Schüssel zum Tisch, und Bolitho hielt ihr den Arm hin.

«Wenn Sie etwas wissen, Thomas, womit man sie bei guter Stimmung halten kann, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie's mir sagten. Inzwischen lassen Sie» Alle Mann «pfeifen und setzen Sie die Royals. Ich brauche jeden Fetzen Leinwand, den das Schiff tragen kann. «Herrick wollte gehen, aber Bolitho hielt ihn zurück.»Und geben Sie bekannt: die Ration wird auf eine Pinte[11] Wasser pro Tag gekürzt. «Er blickte sich in der Kajüte um.»Auch für Offiziere und Passagiere.»

Herrick zögerte.»Und der Schiffsarzt, Sir?»

Bolitho schaute auf die Zofe hinab, die den tiefen Schnitt in seinem Arm säuberte. Sie erwiderte seinen Blick ohne Scheu.

«Ich bin einstweilen in guten Händen«, sagte er.»Über Mr. Whitmarsh werde ich nachdenken, wenn ich mehr Zeit habe.»

Bolitho stand wartend am offenen Heckfenster. Das Mondlicht zeichnete einen glitzernden Pfad auf das Wasser. Die See war ungewöhnlich bewegt, aber das rührte, wie er wußte, von einer Tiefenströmung her, die sich noch viele Meilen von der afrikanischen Küste entfernt bemerkbar machte. Eben kamen, hörte er, die anderen in die Kajüte und nahmen am Tisch Platz. Gläser klirrten, Wein wurde eingeschenkt; Noddall tat seine Arbeit. Trotz der Kühle nach des Tages Sonnenglut fühlte er sich ausgedörrt und steif. Um ihn herum knarrte und stöhnte das Schiff in seinen ausgetrockneten Planken; ein Wunder, daß es nicht leckte wie ein alter Bottich.


Eine Woche war jetzt vergangen, seit Sullivan in den Tod gesprungen war. Sieben lange Tage, in denen sein Schiff wieder und wieder die Küste angesteuert hatte; aber jedesmal war irgendwo ein Segel oder auch nur ein Eingeborenenfahrzeug gesichtet worden, und er hatte wieder abgedreht.

Jetzt durfte er es nicht länger aufschieben. Nachmittags war Whitmarsh bei ihm gewesen. Der Mann hatte so viele eigene Probleme, daß eine Unterredung mit ihm schwierig gewesen war.

Immerhin hatte der Arzt klar und deutlich erklärt, daß er die Verantwortung für die Gesundheit der Mannschaft nicht mehr übernehmen konnte, wenn Bolitho weiter darauf bestand, sich vom Land fernzuhalten. Die beiden verbliebenen Fässer Trinkwasser waren fast leer, und der Rest konnte kaum noch Wasser genannt werden — es war eher Schlamm. Immer mehr Männer lagen krank im Orlopdeck; und die, welche noch dienstfähig waren, durfte man keine Minute lang unbewacht lassen. Ständig gab es Streit und Wutausbrüche; und die Deckoffiziere mußten auch im Hinterkopf Augen haben, damit sie nicht ein Messer in den Rücken bekamen.

Herrick meldete:»Alle anwesend, Sir. «Er war wie die anderen gespannt und argwöhnisch.

Bolitho wandte sich um und musterte seine Offiziere. Alle waren da außer Soames, der die Wache hatte, sogar die drei Midshipmen. Er sah sie nachdenklich an. Das Kommende mochte ihnen eine Lehre für später sein.

«Ich beabsichtige, morgen wieder Kurs aufs Land zu nehmen.»

Don Puigserver und sein Leutnant standen beim Schott; Raymond, etwas entfernt von ihnen, rieb sich das Kinn mit ruckartigen, nervösen Bewegungen.

Davy sagte:»Ausgezeichnet, Sir«, und trank einen Schluck Wein.»Wenn wir den Leuten noch mehr Rum und noch weniger Wasser geben«, fuhr er fort,»sind sie bald zu blau, um auch nur einen Finger zu rühren. «Er zwang sich ein Lächeln ab.»Eine schöne Bescherung wäre das.»

Bolitho wandte sich Mudge zu. Der saß im breitesten Sessel, trug wie immer seinen dicken Rock und starrte zum offenen Oberlicht hinauf, wo eine Motte im Licht der Deckenlampe tanzte. Dann blickte er in Bolithos Gesicht und seufzte.

«Ich war nur einmal an dieser Küste, Sir. Als Steuermannsmaat auf der Windsor, einem Indienfahrer. Wir steckten damals in derselben Klemme: kein Wasser, wochenlang Flaute, die halbe Mannschaft verrückt vor Durst.»

«Aber es gibt dort tatsächlich Wasser?«fragte Bolitho.

Der Alte rutschte in seinem Stuhl mit kurzen knarrenden Rucken zum Tisch hinüber und tippte auf die dort ausgebreitete Karte.»Wir sind jetzt in der Straße von Mozambique, das wissen wir alle. «Wütend glotzte er Midshipman Armitage an.»Abgesehen von ein paar, die zu blöd sind, um Navigation zu lernen. «In etwas milderem Ton fuhr er fort:»Die afrikanische Küste ist hier ziemlich wild und noch wenig erforscht. Schiffe laufen sie natürlich hin und wieder an, wegen Wasser. Oder vielleicht 'n bißchen Handel. Und manchmal auch, um schwarzes Elfenbein zu laden.»

Midshipman Keen, der einzige, dessen Gesicht nicht von Überanstrengung gezeichnet war, blickte Mudge erstaunt an.»Schwarzes Elfenbein, Sir?»

«Sklaven«, sagte Herrick scharf. Mudge lehnte sich behaglich zurück.»Folglich müssen wir vorsichtig sein. Mit 'ner ausreichenden Truppe an Land gehen, das Wasser einnehmen, wenn ich tatsächlich noch weiß, wo welches ist, und dann gleich wieder auf See.»

«Meine Soldaten machen das schon«, warf Hauptmann Bellairs ein.

Mudge warf ihm einen zornigen Blick zu.»Genau, Sir! In ihren hübschen roten Röcken, mit Trommeln und Pfeifen — ein schönes Bild, stelle ich mir vor. «Grob fügte er hinzu:»Die Wilden werden sie zum Frühstück fressen, ehe sie auch nur ihre verdammten Stiefel putzen können!»

«Hören Sie mal!«Bellairs war ehrlich schockiert.

Bolitho nickte.»Also gut. Der Wind steht richtig, wir müßten morgen gegen Mittag ankern können.»

«Aye«, stimmte Mudge zu.»Aber nicht zu dicht unter Land, Sir. Denn ein ganzes Stück vor der Landspitze liegt ein Riff. Das heißt: alle Boote zu Wasser und ein langer Pull für die Leute.»

«Ja. «Bolitho sah Davy an.»Sie besprechen mit dem Stückmeister die Bewaffnung der einzelnen Boote. Drehbassen für Pinaß und Kutter, Standmusketen für die anderen Boote. «Er blickte in die aufmerksamen Gesichter.»Und ein Offizier pro Boot. Auf manche von unseren Leuten müssen wir scharf aufpassen, und sei es auch nur zu ihrem eigenen Besten. «Er ließ die Worte wirken.»Denken Sie immer daran: die meisten sind in solchen Unternehmungen völlig unerfahren; nur weil wir jetzt zwei Monate zusammen sind, kommen sie Ihnen vielleicht wie befahrene Seeleute vor. Doch das sind sie nicht; also behandeln Sie sie entsprechend! Führen Sie sie und überlassen Sie das nicht anderen weniger Qualifizierten.»

Er bemerkte, daß die Midshipmen Blicke tauschten wie Schuljungen vor einem Streich. Keens Augen glitzerten vor Erregung. Der kleine Penn war offensichtlich stolz, für voll genommen zu werden. Dem unglückseligen Armitage hatte die Sonne die Stirn verbrannt, weil er ein paar Minuten lang ohne Hut an Deck gewe sen war. Diese beiden Kerlchen waren leider noch unerfahrener als die meisten Matrosen.

Bolitho sah auf die Karte. Wenn Sullivan nicht gewesen wäre, hätten sie die ganze Reise bis Madras ohne Unterbrechung geschafft, trotz der Ausfälle durch Krankheit. Herrick hatte ihm helfen wollen, indem er sagte, es sei eben Pech; Puigserver hatte ihm versichert, er stehe bei jeder Entscheidung über das Wohl des Schiffes hinter ihm. Aber es waren eben seine Entscheidungen, daran konnte niemand etwas ändern.

Unter den Anwesenden waren mehrere, die mit dem Schiffsarzt überhaupt nicht mehr sprachen; und vielleicht nur aus diesem Grund hatte Bolitho nichts weiter dazu gesagt, daß Whitmarsh sich ausgerechnet Sullivan als Helfer ausgesucht und ihm, mochte er nun verrückt gewesen sein oder nicht, Gelegenheit gegeben hatte, das Wasser zu verderben. Er sah den Doktor nur beim Krankenstandsbericht und war jedesmal erschüttert über den Zustand des Mannes: verbittert, innerlich kochend und dabei unfähig, seine Probleme mit anderen zu besprechen. Er versuchte es nicht einmal.

Bolitho hörte eine Frauenstimme, und die anderen sahen zum Oberlicht hoch, wo an Deck Schritte zu vernehmen waren: Mrs. Raymond und ihre Zofe beim gewohnten Spaziergang unter dem Sternenhimmel. Hoffentlich paßte Soames auf, daß sie das Achterdeck nicht verließen. Er konnte für ihre Sicherheit nicht garantieren, wenn sie gewissen Matrosen vor die Hände liefen. Bolitho wußte genau, welche Gefühle die Mannschaft hegte.

Den Freiwilligen mußte es ziemlich anders vorkommen, als die Rekrutierungsplakate ihnen versprochen hatten; und die Männer von den Gefängnishulken meinten jetzt vielleicht, sie hätten einen schlechten Tausch gemacht. Selbst flüchtige Verbrecher mochten von Zweifel und Reue geplagt werden. Ihre Verbrechen kamen ihnen nun, da sie Festnahme und Prozeß nicht mehr zu fürchten hatten, wohl weniger bedrohlich vor als Hitze, Durst und die tägliche Qual von Dienst und Disziplin.

Er sah, wie Raymond sich auf die Lippen biß, während seine Augen dem Klang der sich entfernenden Schritte folgten, als könne er durch die Decksplanken sehen. Gerade in der Enge des Schiffes entfremdeten sich seine Frau und er immer mehr. Es war schon eine seltsame Ehe.

Bolitho erinnerte sich an ein Vorkommnis der letzten Tage. Im Kartenraum, der ihm als Behelfskajüte diente, hatte Allday ihm soeben den Arm neu verbunden. Mrs. Raymond war ohne vorher anzuklopfen eingetreten; weder er noch Allday hatten sie kommen gehört. Gelassen stand sie an der offenen Stückpforte und sah wortlos zu. Bolitho war bis zum Gürtel nackt, und als er nach seinem frischen Hemd griff, hatte sie leise bemerkt:»Wie ich sehe, haben Sie noch eine andere Narbe, Captain.»

Bolitho hatte sich an die Rippen gefaßt und war sich plötzlich des rissigen Wundmales bewußt geworden, das von einem Pistolenschuß zurückgeblieben war. Grob hatte Allday gesagt:»Der Captain ist beim Anziehen, Madam! An Land sind die Sitten anscheinend anders als an Bord!«Aber sie war ruhig stehengeblieben und hatte ihn mit halbgeöffneten Lippen angesehen. Doch wie konnte sie verstehen, woran er dachte? An den Gegner, der auf ihn geschossen hatte: ein Offizier seines eigenen Bruders, der ein Verräter war, ein steckbrieflich gesuchter Renegat. Jetzt war Hugh tot und von den meisten, die ihn gekannt hatten, vergessen. Aber nicht von mir.

Er schüttelte seine trüben Gedanken ab. Wichtig war nur das unmittelbare Vorhaben: Wasser. Nur das brauchte er, um nach Madras zu kommen. Was dann kam, war eine andere Sache, die warten konnte.

«Das ist alles, meine Herren!«Er merkte, daß er schärfer gesprochen hatte, als in seiner Absicht lag, und fügte hinzu:»Wir haben ein gutes Schiff, eines der modernsten und seetüchtigsten Fahrzeuge, das je gebaut wurde. Wir können es mit jedem Schiff aufnehmen, es sei denn mit einem Linienschiff. «Herrick sah ihn bei diesen Worten lächelnd an, und die gemeinsame Erinnerung schloß die Kluft zwischen ihnen. Er machte eine kleine Pause und sprach dann weiter:»Und auch dabei gibt es seltene, allerdings nicht empfehlenswerte Ausnahmen. Aber ohne Trinkwasser sind wir Krüppel ohne die Kraft und den Schwung, einem neuen Tag ins Auge zu sehen. Denken Sie an meine Worte: Seien Sie wachsam! Im Augenblick ist das alles, was ich von Ihnen will.»

Sie verließen die Kajüte, und er blieb mit Puigserver und Raymond allein. Raymond blickte hoffnungsvoll den Spanier an, doch als dieser keine Anstalten machte, seinen üblichen Abendspaziergang an Deck anzutreten, verließ er die Kajüte.

Bolitho setzte sich ans Fenster und betrachtete das Mondlicht, das auf dem schäumenden Kielwasser der Undine spielte.

«Was stimmt nicht mit ihm, Senor!«Merkwürdig, wie leicht man mit Puigserver reden konnte. Noch vor einem knappen Jahr war er ein Feind gewesen, einer, den Bolitho im Gefecht getötet hätte, es sei denn, er hätte sich ergeben. Oder umgekehrt. Puigserver war ein kraftvoller Mann, soviel stand fest, und ließ sich nicht in die Karten sehen. Aber Bolitho vertraute ihm. Der größte Teil der Mannschaft hatte ihn ebenfalls akzeptiert — wie Allday, der es schon lange aufgegeben hatte, sich um die richtige Aussprache seines Namens zu bemühen; sie nannten ihn Mr. Pigsliver,[12] aber es klang beinahe wohlwollend.

Puigserver musterte ihn amüsiert.»Mein lieber Capitan, Raymond ist wie ein Wachhund. Er hat Angst wegen seiner Frau — nicht so sehr, daß andere ihr etwas tun, sondern davor, was sie selbst tun wird. «Ein tiefes Lachen stieg aus seinem Bauch empor.»Sie selbst, glaube ich, bekommt allmählich Spaß an diesem Spiel und weiß ganz genau, daß jeder Mann an Bord sie mit heißen Augen ansieht. Sie steht stolz wie eine Tigerin da.»

«Sie scheinen ja eine ganze Menge über sie zu wissen, Senor.»

Das Lächeln wurde noch breiter.»Von Schiffen verstehen Sie sehr viel, Capitan. Aber über Frauen haben Sie zum Unterschied von mir noch eine Menge zu lernen, fürchte ich.»

Bolitho wollte protestieren, ließ es aber lieber. Die Erinnerung war noch zu frisch und schmerzhaft, als daß er Puigservers Behauptung hätte bestreiten können.

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