Ezekiel Mudge, Segelmeister und Steuermann der Undine, saß gemütlich in einem von Bolithos Sesseln und studierte die auf dem Tisch ausgebreitete Karte. Ohne seinen Hut wirkte er sogar noch älter; aber seine Stimme klang frisch und selbstsicher.»Der Wind wird in ein, zwei Tagen auffrischen, Sir. Denken Sie an meine Worte. «Er tippte mit seinem eigenen Messingzirkel, den er gerade aus den Tiefen seiner Tasche gefischt hatte, auf die Karte.»Im Moment kommt uns der Nordostpassat gerade recht, und mit ein bißchen Glück sind wir in einer Woche vor den Kapverdischen Inseln. «Er lehnte sich zurück und wartete gespannt darauf, was Bolitho wohl dazu sagen würde.
«Das ist auch meine Meinung. «Bolitho trat ans Heckfenster und stützte die Hände auf das Sims. Das Holz war brandheiß, und hinter dem kurzen, schäumenden Kielwasser der Fregatte lag die See in blendendem Glanz. Sein Hemd stand bis zum Gürtel offen, juckend rann ihm der Schweiß zwischen den Schultern hinab, und seine Kehle war staubtrocken.
Es war fast Mittag; die Midshipmen mußten sich gleich auf dem Achterdeck bei Herrick melden, um den Sonnenstand für das Besteck zu nehmen. Nur ein paar Stunden fehlten, dann waren sie eine volle Woche unterwegs. Jeden Tag hatte die Sonne sie ausgedörrt, und die ständige leichte Brise hatte keine ausreichende Kühlung bringen können. Jetzt hatte der Wind leicht aufgefrischt, die Undine segelte über Backbordbug und glitt geistergleich dahin, alle Segel zogen ausreichend. Aber trotzdem empfand Bolitho nur geringe Befriedigung. Denn die Undine hatte ihren ersten Mann verloren, einen jungen Matrosen, der am Vortag kurz vor Einbruch der Dunkelheit über Bord gegangen war. Bolitho hatte dem spanischen Kapitän entsprechend signalisiert und die Suche nach dem Unglücklichen begonnen. Der Mann hatte hoch oben auf der Großmarsrah gearbeitet, Bolitho hatte ihn noch gesehen: wie eine Bronzestatue hob er sich gegen die untergehende Sonne ab. Aber er war zu selbstsicher gewesen, auch wohl zu leichtsinnig in den letzten entscheidenden Sekunden, als er seine Stellung wechselte. Ein Schrei im Fallen, und dann war er mit dem Kopf voran aufs Wasser geprallt, fast auf der Höhe des Großmastes; wild mit den Armen rudernd, versuchte er, dem Schiff zu folgen, Davy hatte gesagt, der Matrose sei ein guter Schwimmer; so konnte man hoffen, ihn aufzufinden. Sie hatten zwei Boote ausgesetzt und den Großteil der Nacht nach ihm gesucht, jedoch vergeblich. Bei Morgendämmerung lagen sie wieder auf Kurs, aber Bolitho mußte zu seinem Ärger feststellen, daß die Nervion keineswegs Segel gekürzt hatte oder sonstwie in der Nähe geblieben war; erst vor einer halben Stunde hatte der Ausguck ihre Bramsegel wieder gesichtet.
Der Verlust des Matrosen bestärkte Bolitho in seinem Bemühen, die Mannschaft in Form zu bringen. Er hatte gesehen, wie die spanischen Offiziere seine ersten Versuche beim Geschützexerzieren durch ihre Ferngläser beobachteten und sich vor Schadenfreude auf die Schenkel schlugen, wenn etwas nicht klappte — und das war oft der Fall. Für sie schien diese Fahrt eine Art Vergnügungsreise zu sein. Sogar Raymond hatte eine dumme Bemerkung gemacht:»Was plagen Sie sich mit Geschützexerzieren ab, Captain? Ich verstehe ja nicht viel von solchen Dingen — aber Ihre Leute finden das doch sicher höchst lästig bei dieser verdammten Hitze?»
Er hatte entgegnet:»Das ist meine Pflicht, Mr. Raymond. Möglich, daß wir auf dieser Reise die Geschütze überhaupt nicht brauchen — aber man kann nie wissen.»
Mrs. Raymond hatte sich hochmütig von allen ferngehalten; tagsüber saß sie meistens unter einem kleinen Sonnensegel, das Herrick für sie und die Zofe an der achteren Reling hatte anschlagen lassen. Wenn sie zusammenkamen, was vorwiegend bei den Mahlzeiten der Fall war, sprach sie nur wenig, und dann über private Dinge, die Bolitho kaum begriff. Es machte ihr anscheinend Spaß, ihren Mann zu kritisieren, er sei zu saumselig, es fehle ihm im entscheidenden Augenblick an Entschlossenheit. Einmal hatte sie ihm wütend vorgeworfen:»Du läßt dich dauernd beiseite schieben, James! Ich kann mich ja in London überhaupt nicht mehr sehen lassen, wenn du ständig Demütigungen einsteckst! Margarets Mann wurde neulich geadelt, und er hat fünf Dienstjahre weniger als du!«So ging es weiter.
Als Bolitho sich jetzt nach Mudge umdrehte, überlegte er, was dieser und die anderen wohl von ihrem Kommandanten denken mochten. Daß er Offiziere und Mannschaft zu hart herannahm, ohne Sinn und Zweck? Daß er sie mit stupidem Geschützexerzieren schikanierte, während auf dem Spanier die Männer von der Freiwache herumlungerten, schliefen oder Wein tranken wie Passagiere? Aber unvermittelt sagte Mudge, als hätte er seine Gedanken gelesen:»Lassen Sie die Leute ruhig reden, Sir. Sie sind noch jung, aber Sie haben den richtigen Instinkt für das Notwendige — wenn Sie mir die Freiheit gestatten. «Er zupfte an seiner großen Nase.»Ich habe manchen Käpt'n mit langem Gesicht dastehen sehen, weil er nicht bereit war, wenn's darauf ankam. «Er lachte in sich hinein, daß die kleinen Augen in den Falten und Runzeln seines Gesichts fast verschwanden.»Und Sie wissen ja — wenn was schiefgeht, hat's keinen Zweck, die Fäuste zu schütteln und allen anderen die Schuld zu geben. «Damit zerrte er eine kohlrübengroße Uhr aus einer Innentasche.»Ich muß hinauf an Deck, wenn Sie mich nicht mehr brauchen. Mr. Herrick möchte, daß ich dabei bin, wenn die Bestecks verglichen werden. «Das schien ihn zu amüsieren.»Wie gesagt, Sir, Ihr Standpunkt ist ganz richtig. Es ist durchaus nicht nötig, daß die Mannschaft den Kapitän liebt, aber bei Gott, Sir, sie muß Vertrauen zu ihm haben. «Er stapfte aus der Kajüte, daß die Decksplanken unter seinem Schritt knarrten.
Bolitho setzte sich und strich sein offenes Hemd glatt. Mudge war wenigstens ein Lichtblick.
Allday steckte den Kopf durch die Tür.»Kann ich Ihnen jetzt den Steward schicken, Captain?«Er warf einen raschen Blick auf den Tisch.»Er wird Ihr Essen servieren wollen.»
«Na schön«, lächelte Bolitho. Es wäre dumm gewesen, sich über Kleinigkeiten den Kopf zu zerbrechen. Aber das mit Mudge war wichtig. Er hatte vermutlich unter mehr Kapitänen gedient, als Bolitho in seinem ganzen Leben kennengelernt hatte.
Sie blickten sich beide um, denn Midshipman Keen stand in der Tür. Er war schon stark gebräunt und sah so gesund und kräftig aus wie ein alter Fahrensmann.
«Kompliment von Mr. Herrick, Sir, und der Ausguck hat ein Schiff auf Gegenkurs zum Spanier gesichtet. Könnte eine Brigg sein. Ziemlich klein.»
«Ich komme sofort an Deck«, sagte Bolitho und fuhr dann lächelnd fort:»Die Reise scheint Ihnen zu bekommen, Mr. Keen.»
Der junge Mann grinste verschmitzt.»Aye, Sir. Allerdings hat mein Vater nicht wegen meiner Gesundheit, sondern aus ganz anderen Gründen zur See geschickt, fürchte ich.»
Er verschwand eiligst, und Allday murmelte hinter ihm her:»Dieser junge Teufel! Hat bestimmt ein armes Mädchen in Schwierigkeiten gebracht — da möcht' ich wetten!»
Bolitho verzog keine Miene.»Es kann ja nicht jeder so tugendhaft sein wie Sie, Allday.»
Er trat an dem Wachtposten vor der Tür vorbei hinaus und stieg hinauf zum Achterdeck. Obgleich er darauf gefaßt war, fuhr ihn die Hitze an wie aus einem Brennofen. Der Teer in den Ritzen der Decksplanken klebte an seinen Schuhsohlen, Gesicht und Nacken brannten ihm, als er zur Wetterseite hinüberging und sein Schiff prüfend musterte. Die Undine lief gut unter ihrer sonnengebleichten, leichten Besegelung. In der mäßigen Brise krängte sie nur schwach. Spritzwasser stäubte hoch und netzte den Klüver, und hoch oben wehte der Wimpel waagrecht wie eine Peitschenschnur.
Mudge und Herrick waren in ein leises Gespräch vertieft. Ihre Sextanten glänzten wie Gold. Armitage und Penn, die beiden Midshipmen, verglichen ihre Notizen, in den jungen Gesichtern stand sorgenvolle Konzentration.
Soames an der Achterdeckreling wandte sich um, als Bolitho ihn fragte:»Dieses fremde Schiff — was halten Sie davon?»
Soames schien sehr unter der Hitze zu leiden, das Haar klebte ihm in der Stirn, als käme er vom Schwimmen.
«Wird wohl irgendein Handelsschiff sein, Sir. «Es klang, als sei es ihm ziemlich gleichgültig.»Vielleicht wollen sie den Spanier nach der Position fragen. «Er verzog grimmig das Gesicht.»Was der schon davon weiß!»
Bolitho nahm ein Fernglas aus der Halterung und enterte ein Stück in die Großmastwanten auf. Nach einigem Suchen fand er die Nervion weit voraus an Steuerbord, ein Bild der Schönheit mit ihren mächtigen Segeln über dem metallisch glänzenden Rumpf. Er schwenkte das Glas etwas weiter nach Steuerbord auf das andere Schiff. Es war in der flirrenden Hitze kaum auszumachen, aber die bräunlichen Segel konnte er doch gut erkennen: Rahsegel am Vormast, Schratsegel am Großmast. Unbestimmter Ärger stieg in ihm auf.
«Eine Brigantine, Mr. Soames.«»Aye, Sir.»
Bolitho sah ihn düster an und kletterte dann wieder an Deck.»In Zukunft wünsche ich eine vollständige Meldung über alles, was in Sicht kommt, wie unwichtig es Ihnen im Moment auch erscheinen mag.»
Soames biß die Zähne aufeinander.»Jawohl, Sir!»
Herrick rief dazwischen:»Es war meine Schuld, Sir. Ich hätte Mr. Keen sagen sollen, daß er Ihnen eine genaue Schiffsansprache zu geben hat.»
Bolitho ging nach achtern.»Mr. Soames hat doch die Wache?»
Herrick kam hinter ihm her.»Gewiß, Sir, allerdings.»
Die beiden Rudergänger nahmen Haltung an, als Bolitho zum Kompaß trat. Die Windrose lag ganz stetig: Südwest und Seeraum genug. Irgendwo an Backbord lag die afrikanische Küste, mehr als dreißig Meilen entfernt. Nichts weiter auf dem Ozean als diese drei Schiffe. Zufall oder Absicht? Vielleicht war eine Kontaktaufnahme notwendig? Soames' Gleichgültigkeit irritierte Bolitho wie Wespengebrumm, und er sagte ärgerlich:»Sorgen Sie in Zukunft dafür, daß die Wachhabenden wissen, wozu sie da sind, Mr. Herrick!«Er deutete auf Keen, der an den Netzen lehnte.»Schicken Sie den mit einem guten Glas nach oben. Er hat junge Augen, vielleicht sieht er mehr.»
Mudge kam steifbeinig herbei und knurrte:»Wir müssen ziemlich genau auf der Höhe von Kap Blanco sein. «Er rieb sich das Kinn.»Der westlichste Punkt dieses wilden Erdteils. Und wir sind reichlich dicht dran, wenn Sie mich fragen. «Ein pfeifendes Winseln entrang sich seiner Brust, die sich heftig hob und senkte: seine Art zu lachen.
Vom Mast her kam Keens Stimme:»An Deck! Die Brigantine hält immer noch Kurs auf die Nervion.»
Herrick legte die Hände um den Mund und rief hinauf:»Hat sie ihre Farben gesetzt?»
«Keine, Sir.»
Herrick enterte ein Stück mit seinem eigenen Glas auf. Nach einer Weile rief er hinunter:»Die Dons scheinen sich nicht viel daraus zu machen, Sir!»
Mudge knurrte:»Was sollen sie sich auch über diesen kleinen Pott aufregen?»
Bolitho sagte:»Gehen Sie einen Strich mehr an den Wind, Mr. Mudge. Besser, wenn wir der Nervion wieder etwas näher kommen.»
In seinem Rücken hörte er eine Stimme:»Machen Sie sich etwa Sorgen, Captain?«Er fuhr herum. Mrs. Raymond stand am Fuße des Großmastes, das Gesicht von dem riesigen Strohhut beschattet, den sie sich in Teneriffa gekauft hatte.
Er schüttelte den Kopf.»Nein, Ma'am, ich bin nur neugierig. «jn Hemd und Hose, die noch dazu zerknittert waren, fühlte er sich auf einmal unbehaglich und unsicher.»Tut mir leid, daß ich Ihnen nichts Unterhaltenderes bieten kann.»
Sie lächelte.»Das kann sich ja immer noch zum Besseren ändern.»
«An Deck!«Beim Klang von Keens heller Stimme sahen sie alle nach oben.»Die Brigantine geht über Stag, Sir.»
«Stimmt«, bestätigte Herrick.»Sie segelt dem Spanier direkt vor den Bug!«Mit breitem Grinsen wandte er sich ihnen zu.»Da werden die wohl ein bißchen lebendig werden!»
Aber sein Grinsen war auf einmal wie weggewischt, denn ein dumpfes Krachen hallte übers Wasser, und Keen brüllte:»Sie hat auf die Nervion gefeuert, Sir!»
Ein zweites Krachen. Keen kreischte fast vor Aufregung:»Ein Schuß durch die Fock!»
Bolitho kletterte zu Herrick in die Wanten.»Lassen Sie mich sehen!»
Er ergriff das große Teleskop und richtete es auf die beiden Schiffe. Die Brigantine stand jetzt, optisch verkürzt, mit dem Heck zur Undine und segelte langsam am mächtigeren Umriß der Nervion vorbei. Sogar auf diese Entfernung sah er die Verwirrung an Bord des Spaniers, das Glitzern der Sonne auf den Waffen, als die Besatzung auf Stationen eilte.
Heiser sagte Herrick:»Der Kapitän der Brigantine muß verrückt sein; nur ein Irrer kann sich mit einer Fregatte einlassen!»
Bolitho antwortete nicht. Er strengte sein Auge an. um das Drama zu beobachten, das die Linse des Teleskops ihm zeigte. Die Brigantine hatte zwei Schuß abgefeuert und damit einen, wenn nicht sogar zwei Treffer erzielt. Jetzt entfernte sie sich in rascher Fahrt; und da die Nervion mehr Segel zu setzen begann, wollte Triarte vermutlich die Verfolgung aufnehmen.
«Innerhalb einer Stunde wird er sie eingeholt haben. Sie gehen beide über Stag.»
«Vielleicht hat dieser Narr gedacht, die Nervion sei ein fetter Kauffahrer?«Davy war an Deck gekommen.»Aber nein, das ist unmöglich.»
Herrick sprang nach Bolitho aus den Wanten und sah ihn zweifelnd an.»Sollen wir uns an der Jagd beteiligen, Sir?»
Aber Mudge stieß ihn fast beiseite und blaffte:»Von wegen Jagd!«Überrascht blickten sie ihn an.»Wir müssen den Spanier warnen, Sir!«Er deutete mit seiner riesigen Hand nach Lee.»Vor Kap Blanco, Sir, liegt ein mächtiges Riff, es zieht sich beinahe hundert Meilen in die See hinein. Die Nervion ist zwar jetzt schon in Gefahr, aber wenn der Steuermann nur noch einen Strich mehr an den Wind geht, dann ist sie über dem verdammten Riff, ehe sie sich's versieht!»
Bolitho starrte ihn entsetzt an.»Mr. Herrick, lassen Sie die Royals setzen! Schnell jetzt!«Rasch trat er zum Ruder.»Wir brauchen mehr Fahrt.»
Soames rief:»Sieht so aus, als ob der Don einen Strich mehr an den Wind geht, Sir!»
Mudge starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Kompaß.»Jesus, er steuert tatsächlich Südsüdost!«Beschwörend sah er Bolitho an.»Wir erreichen ihn nicht mehr rechtzeitig!»
Bolitho rannte zwischen Reling und Ruder auf und ab. Mattigkeit, glühende Hitze — alles war vergessen außer jener fernen Pyramide aus weißen Segeln, vor der die kleine Brigantine wie ein lockendes Irrlicht einherhüpfte. Ein Verrückter? Ein Pirat, der sich im Gegner geirrt hatte? Das war jetzt einerlei.
«Buggeschütz klar!«befahl Bolitho.»Mr. Herrick, wir werden versuchen, die Nervion abzulenken.»
Herrick beobachtete soeben, die Augen mit dem Sprachrohr beschattend, wie die Toppgasten die Royals setzten.
«Aye, aye, Sir!«Dann rief er:»Mr. Tapril zu mir!«Aber der Stückmeister war bereits im Vorschiff und wies die Bedienung des langen Neunpfünders ein.
Bolitho sagte scharf:»Die Nervion ist noch höher an den Wind gegangen, Mr. Mudge!«Vergeblich bemühte er sich um einen ruhigen Ton. Wie konnte so etwas geschehen? Das Meer war so weit, so leer. Und doch, von dem Riff hatte er schon früher von Seeleuten gehört, die diese Gewässer kannten. Manches gute Schiff war an seinem harten Rücken leckgeschlagen und gesunken.
«Steuerbordgeschütz klar, Sir!»
«Feuer!«Es krachte, brauner Rauch trieb nach Lee und zerflatterte, lange bevor die Gischt des Einschlags weit achteraus von der anderen Fregatte sichtbar wurde.
«Nochmals feuern!«Er sah Mudge an.»Einen Strich höher!»
Mudge protestierte.»Das kann ich nicht verantworten, Sir.»
«Nein. Ich verantworte es.»
Bolitho schritt wieder zur Reling; sein offenes Hemd flatterte im Wind, aber er verspürte keine Kühlung. Er blickte hoch und sah, daß die Segel prall gefüllt waren — wie die des Spaniers. Bei diesem Segeldruck mußte das Riff der Nervion den Kiel herausreißen, wenn Triarte nicht etwas unternahm, und zwar sofort.
Das Deck erzitterte beim zweiten Schuß, und die Kugel jaulte über die Wellenkämme.
«Ausguck!«schrie Bolitho.»Was geschieht?»
Der Ausguck antwortete mit rauher Stimme:»Die Dons holen auf, Sir! Eben rennen sie ihre Geschütze aus. «Bolitho zweifelte nicht daran, daß der Mann richtig gesehen hatte. Vielleicht hatten die Spanier ihr Buggeschütz gehört und sogar den Einschlag gesehen, dachten jedoch, Bolitho wäre wieder einmal beim Exerzieren. Oder vielleicht glaubten sie auch, er sei, weil die Undine die Jagd nicht mitmachen konnte, so verärgert, daß er auf diese unmögliche Entfernung feuerte, um seine Wut abzureagieren.»Wie weit noch, Mr. Mudge?«hörte er sich fragen.
Und Mudge antwortete:»Sie müßte eigentlich schon aufsitzen, Sir. Die verfluchte Brigantine muß ohne Schaden drübergekommen sein. Kein Wunder bei dem geringen Tiefgang.»
Bolitho blickte ihn an.»Aber wenn sie durch ist, dann kann vielleicht… »
Mudge schüttelte den Kopf.»Nicht die geringste Chance,
Sir.»
Der Mann im Ausguck stieß einen Schrei aus. Als Bolitho sich umdrehte, sah er mit Entsetzen, wie die spanische Fregatte hochgehoben wurde, noch etwas weiterrutschte und dann auf dem überspülten Riff querschlug. Auf dem ganzen Schiff splitterten Masten und Rahen, stürzten Stagen, Wanten und Segel in einem fürchterlichen Chaos an Deck. So stark war der Aufprall gewesen, daß sie mit der Backbordseite auf dem Riff lag. Durch die offenen Stückpforten mußte die See in triumphierendem Schwall einströmen. Die Männer waren im Durcheinander der Takelage gefangen, wurden von zersplitterten Spieren durchbohrt oder plattgedrückt von den Kanonen, die sich aus den Halterungen gerissen hatten und über Deck rutschten.
Die Brigantine war auf den anderen Bug gegangen. Sie nahm sich nicht einmal Zeit, das Ausmaß ihrer Übeltat anzusehen.
«Kürzen Sie die Segel, Mr. Herrick!«befahl Bolitho heiser.»Sobald wir dort sind, beidrehen und alle Boote zu Wasser! Wir müssen alles tun, um sie zu retten.»
Ein paar Matrosen am Buggeschütz redeten laut durcheinander und deuteten auf die Nervion, die sich noch stärker überlegte, wobei noch mehr zu Bruch gegangene Spieren und Planken in die Grundseen über dem Riff stürzten.
«Und nehmen Sie die Leute ran, Mr. Herrick!«Bolitho wandte sich ab.»Das ist kein Jahrmarktspektakel!»
Er ging noch einmal zur anderen Seite hinüber; und als er auf das Riff sah, erwartete er fast, die stolze Silhouette der Nervion vor dem Wind stehend zu erblicken. Es war ein böser Traum. Ein Alptraum.
Aber warum? Warum? Diese Frage setzte sich in seinem Hirn fest, als wolle sie ihn narren. Wie konnte das geschehen?
«Ich möchte mich nicht näher heranwagen, Sir«, sagte Mudge verbissen.»Wenn wir auch nur eine Mütze mehr Wind kriegen, können wir leicht selbst auflaufen.»
Bolitho nickte langsam.»Auch meine Meinung. «Er wandte den Kopf ab.»Und ich danke Ihnen.»
Ruhig entgegnete Mudge:»Es war nicht Ihre Schuld, Sir. Sie haben alles getan, was Sie konnten.»
«Beidrehen, Mr. Herrick!«Bolitho konnte kaum seine Stimme beherrschen.»Lassen Sie die Boote aussetzen!»
Soames warf ein:»Das wird ein langer Pull, Sir. Mindestens drei Meilen. «Aber Bolitho hörte gar nicht hin. Er sah nur die kleine Brigantine. Das war kein Zufall und auch kein spontaner Streich gewesen.
«Viele werden nicht überleben, Sir«, sagte Mudge, die Hände tief in den Manteltaschen.»In diesen Gewässern gibt's 'ne Menge Haifische.»
Unter dem protestierenden Knattern und Killen der noch stehenden Segel drehte die Undine bei, und die Boote wurden mit überraschender Schnelligkeit abgefiert. Es war, als hätte etwas Unheimliches über die drei Meilen friedlich daliegende
See zu ihnen herübergegriffen und jeden einzelnen angerührt: ein Flehen um Hilfe, ein Warnschrei — es war schwer zu definieren. Aber als das erste Boot von der Bordwand klarkam und die Rudergasten den Schlag aufnahmen, sah Bolitho, daß die Männer grimmig und mit plötzlicher Entschlossenheit pullten. So hatte er sie noch nie gesehen.
Allday sagte:»Ich nehme die Gig, wenn Sie erlauben, Sir.»
«Ja. «Sie sahen sich an.»Tun Sie, was Sie können.»
Allday wandte sich ab und schrie nach seiner Besatzung.
«Sagen Sie dem Arzt, er soll sich bereithalten, Mr. Herrick. «Bolitho sah, wie Herrick mit den Umstehenden rasche Blicke wechselte, und fuhr kalt fort:»Und wenn er nachher zu betrunken ist, lasse ich ihn auspeitschen.»
Alle Boote waren jetzt zu Wasser, und über die kraftvoll streichenden Riemen hinweg konnte er die Trümmer der spanischen Fregatte über dem unsichtbaren Riff treiben sehen; das große Vormarssegel mit seinem Kreuz in Rot und Gold lag über dem Wrack wie ein Leichentuch.
Die Hände auf dem Rücken, das unregelmäßige Rollen des Schiffes automatisch ausbalancierend, schritt Bolitho ruhelos bei den Finknetzen auf und ab.
Er fing eine Bemerkung Raymonds auf:»Das war eine Dummheit von Triarte! Er hat die Situation total falsch beurteilt.»
Bolitho blieb stehen und sah ihn an.»Schließlich hat er teuer dafür bezahlt, Raymond!»
Raymond erkannte die Geringschätzung in Bolithos grauen Augen und ging weiter.»Ich wollte nur sagen…«Aber niemand beachtete ihn.
Herrick sah zu, wie Bolitho ununterbrochen auf und ab schritt und hätte ihm gern etwas gesagt, was seine Verzweiflung lindern konnte. Aber besser als andere wußte er, daß sich Bolitho in solchen Momenten nur selbst helfen konnte.
Stunden später, als die Boote müde zum Schiff zurückkehrten, stand Bolitho immer noch an Deck; sein Hemd war dunkel von Schweiß, der Kopf tat ihm weh vom Grübeln.
Herrick meldete:»Nur vierzig Überlebende, Sir. Und manchen geht es sehr schlecht, fürchte ich. «Er verstand die Frage in Bolithos Augen und nickte.»Der Schiffsarzt ist bereit, Sir. Ich habe dafür gesorgt.»
Bolitho trat langsam an die Netze, beugte sich weit über Bord und schaute in das erste Boot, die Gig, die eben festmachte. Ein Mann, der gekrümmt an Alldays Beinen lehnte und von zwei Matrosen festgehalten wurde, schrie wie eine gemarterte Frau. Ein Hai hatte ihm ein Loch in die Schulter gerissen, so groß wie eine Kanonenkugel. Bolitho wurde es übel, er wandte sich ab.
«Um Gottes willen, Thomas, schicken Sie mehr Leute zum Helfen!»
«Schon geschehen, Sir.»
Bolitho blickte auf den flatternden Wimpel an der Gaffel.»Himmel, wenn so etwas mitten im Frieden passieren kann, dann wäre mir schon lieber, wir hätten Krieg!»
Er beobachtete einige Rudergasten, die an Bord kletterten, die Hände voller Blasen, Rücken und Gesichter knallrot vom Sonnenbrand. Fast wortlos gingen sie unter Deck.
Vielleicht hatte sie das, was sie da beim Riff gesehen hatten, mehr gelehrt als alles Exerzieren; die Erinnerung daran würde eine Warnung für sie alle sein.
Wieder schritt Bolitho auf und ab. Und für mich auch, dachte er.
Bolitho trat in seine Kajüte und blieb unter dem Skylight stehen. Die Sonne ging eben unter, und die offenen Heckfenster glühten im ersterbenden Glanz wie poliertes Kupfer. Im Rhythmus der stetigen Schiffsbewegungen und der schaukelnden Deckenlampe schwankten die Schatten in der Kajüte; er sah die kleine Gruppe an den Fenstern und konnte kaum glauben, was er sah.
Don Luis Puigserver saß unbeholfen auf der Polsterbank, einen Arm in der Schlinge, die Brust dick bandagiert. Als man ihn vor Stunden mit anderen Überlebenden an Bord gehievt hatte, war er zuerst nicht erkannt worden, bis ein Leutnant, der einzige Gerettete der spanischen Offiziere, Atem genug hatte, um ihn zu identifizieren. Und dann hatte Bolitho gedacht, es sei zu spät. Der untersetzte Spanier war bewußtlos und über und über mit Abschürfungen, Wunden und Beulen bedeckt. Er sah furchtbar aus; und wenn Bolitho an die letzten Minuten der Nervion dachte, schien es kaum glaublich, daß er noch am Leben war. Von den etwa vierzig Mann, die an Bord der Undine Zuflucht gefunden hatten, waren zehn bereits gestorben, und mehrere schwebten in Lebensgefahr. Die ursprünglich zweihundertsiebzig Mann starke Besatzung war auf die Katastrophe, die sie auf dem Riff erwartete, gänzlich unvorbereitet gewesen: sie wurde von fallenden Spieren zerschmettert, von der einströmenden See halb ertränkt; und dann, als das Schiff gekentert und völlig in Trümmer geschlagen war, tauchten im wirbelnden Wasser die dunklen Schatten der Haie auf und fielen über die Schiffbrüchigen her. Mit Entsetzen hatten die Männer zusehen müssen, wie ihre Gefährten in blutige Fetzen zerrissen wurden — noch vor ein paar Minuten hatten sie mehr Segel gesetzt und die Geschütze bemannt, um die freche Brigantine zu stellen.
Als die Boote der Undine kamen, war fast alles vorbei. Ein paar Männer schwammen verzweifelt zu ihrem gekenterten Schiff zurück, aber als die Fregatte vom Riff glitt und sank, gerieten sie in den Sog und wurden mit hinabgezogen. Andere hatten sich an treibende Spieren und gekenterte Boote geklammert, wurden aber einer nach dem anderen von den silbergrauen Haien angefallen und unter Entsetzensschreien in das brodelnde, blutigrote Wasser gezogen.
Und nun saß Puigserver in Bolithos Kapitänskajüte und nippte beinahe gelassen an einem Becher Wein. Er war nackt bis zum Gürtel, so daß Bolitho einige von den blutunterlaufenen Prellungen sah, lauter Zeugnisse seines unbeugsamen Willens zum Überleben.»Ich bin dem Schicksal dankbar, daß Sie sich wieder erholt haben, Senor«, sagte Bolitho. Der Spanier setzte zu einem Lächeln an, aber das bereitete ihm offenbar Schmerzen. Er winkte den Arzt und einen Sanitätsgasten heran und fragte:»Wie viele von meinen Leuten leben noch?»
Bolitho starrte über seinen Kopf hinweg auf die Kimmung: ein kupferfarbener Streifen, der vor seinen Augen bereits verblaßte.
Der Arzt hob die Schultern.»Dreißig. Viele waren sehr schwer verletzt.»
Puigserver trank einen Schluck.»Es war furchtbar anzusehen. «Seine dunklen Augen wurden hart. »Capitan Triarte war so wütend über den Beschuß, daß er wie ein Besessener hinter der Brigantine hersegelte. Er war zu heißblütig. Anders als Sie.»
Bolitho lächelte nachdenklich.»Anders als Sie. «Aber wenn er keinen Segelmeister wie Mudge gehabt hätte? Keinen befahrenen Mann, der dank seiner reichen Erfahrung die Drohung dieses Riffes in den Knochen spürte? Dann hätte die Undine vermutlich das Schicksal des Spaniers geteilt. Obwohl sich kein Luftzug in der Kajüte regte, lief es ihm kalt den Rücken hinunter.
Irgendwo hinter dem Schott schrie ein Mensch: ein dünner, langgezogener Laut, der plötzlich abriß, als sei eine Tür zugeschlagen worden. Whitmarsh wischte sich die Hände an der Schürze ab und richtete sich auf; er mußte den Kopf einziehen, um nicht an die Decksbalken zu stoßen. Dann sagte er:»Don Puigserver wird in nächster Zeit Ruhe haben; ich muß mich um meine anderen Patienten kümmern. «Er schwitzte furchtbar, und an seinem linken Mundwinkel zuckte ständig ein Muskel.
Bolitho nickte.»Ja, danke. Und lassen Sie es mich bitte wissen, wenn Sie irgend etwas brauchen.»
Vorsichtig betastete der Arzt die Verbände des Spaniers.»Gottes Hilfe vielleicht. «Er lächelte melancholisch.»Hier draußen haben wir wenig anderes.»
Als er und der Sanitätsgast gegangen waren, murmelte Puigserver:»Ein Mann mit eigenen Problemen, Capitan.«Schmerzlich verzog er das Gesicht dabei.»Aber immerhin ein sanfter Mann, trotz seines Berufs.»
Allday war dabei, ein Handtuch zusammenzufalten und ein paar unbenutzte Binden aufzurollen.»Mr. Raymond wollte Sie sprechen, Captain«, sagte er stirnrunzelnd.»Aber ich habe ihm erklärt, daß laut Ihrem Befehl die Kajüte gesperrt ist, bis der Arzt mit Don Puig — «, er hüstelte,»- mit dem spanischen Gentleman fertig ist.»
«Was wollte er?«Bolitho war so erschöpft, daß ihm ganz gleichgültig war, was Raymond wollte. Er hatte wenig von ihm gesehen, seit die Überlebenden aufgenommen worden waren, hatte nur gehört, daß er in die Offiziersmesse gegangen sei.
«Er wollte sich beschweren, Captain«, erwiderte Allday.»Seiner Frau hat es nicht gepaßt, daß Sie sie aufgefordert haben, bei den Verwundeten zu helfen. «Wieder runzelte er die Stirn.»Ich sagte ihm, Sie hätten Wichtigeres zu tun. «Damit nahm er seine Sachen und ging hinaus.
Puigserver lehnte sich zurück und schloß die Augen. Da sie jetzt allein waren, schien es ihm nichts mehr auszumachen, daß Bolitho sah, welche Schmerzen er wirklich litt.
«Ihr Allday ist ein bemerkenswerter Bursche«, meinte er.»Mit ein paar hundert Männern von seiner Sorte könnte ich mir vorstellen, in Südamerika wieder einen Krieg anzufangen.»
Bolitho seufzte.»Er macht sich zu viele Sorgen.»
Puigserver öffnete die Augen wieder und entgegnete lächelnd:»Anscheinend denkt er, Sie sind es wert, daß man sich um Sie Sorgen macht, Capitan.«Er lehnte sich vor und fuhr mit plötzlichem Nachdruck fort:»Aber ehe Raymond und die anderen hereinkommen, muß ich mit Ihnen sprechen. Ich will Ihre Meinung über den Schiffbruch hören.»
Bolitho ging zum Schott hinüber und berührte seinen Degen, der dort hing.»Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, Senor«, sagte er.»Zuerst glaubte ich, die Brigantine sei ein Piratenschiff, dessen Kapitän so unter Druck stehe, daß er ein Gefecht brauchte, um seine Mannschaft zusammenzuhalten. Aber das kann nicht stimmen. Irgend jemand weiß von unserem Vorhaben.»
Der Spanier wandte kein Auge von ihm.»Die Franzosen vielleicht?»
«Kann sein. Wenn die französische Regierung unsere Schiffsbewegungen so genau verfolgt, dann müssen ihr die Depeschen der Fortunate unbeschädigt in die Hände gefallen sein. Es muß schon um etwas äußerst Wichtiges gehen, wenn sie sich auf ein so gefährliches Spiel einlassen.»
Puigserver griff nach der Weinflasche.»Ein Spiel, das sie gewonnen haben.»
«Dann sind Sie also derselben Meinung, Senor«. Bolitho beobachtete den Mann genau; jetzt, nachdem es dunkler geworden war, kam er ihm bleicher vor.
Puigserver gab keine direkte Antwort.»Falls — und ich sage ausdrücklich falls — jemand dies geplant hatte, dann muß dieser Jemand auch gewußt haben, daß es sich um zwei Schiffe handelte. «Er hielt einen Moment inne und befahl dann scharf:»Sagen Sie etwas, Capitan — schnell!»
Bolitho erwiderte:»Das würde keinen Unterschied machen. Dem Betreffenden wäre klar, daß es sich um eine gemeinsame Mission handelt. Ein Schiff kann ohne das andere nichts ausrichten, und… »
Puigserver klopfte sich mit dem Becher auf die Hüfte; der Wein schwappte über und befleckte seine Hose wie Blut.
Erregt rief er aus:»Und? Weiter, Capitan! Was nun?»
Bolitho blickte zur Seite; er sagte nachdenklich:»Ich muß entweder nach Teneriffa oder nach England zurückkehren und weitere Befehle abwarten. «Er wandte sich wieder dem Spanier zu. Der saß zusammengesunken da; sein kantiges Gesicht war aufs Äußerste gespannt, die Brust hob und senkte sich wie nach schwerem Kampf. Mit dumpfer Stimme erwiderte er:»Schon in Santa Cruz wußte ich sofort, Sie sind ein Mann, der nicht nur redet, sondern auch denkt. «Er schüttelte abwehrend den Kopf.»Lassen Sie mich zu Ende sprechen. Dieser Kapitän der Brigantine und sein Hintermann — wer es auch immer sein mag, der meine Landsleute in einen so schrecklichen Tod gejagt hat — , die wollen, daß Sie umkehren!»
Fasziniert von der Kühnheit seines Denkens blickte Bolitho ihn an und wandte dann den Kopf ab.»Wenn Sie nicht hier säßen, Senor, dann hätte ich auch keine andere Wahl.»
«Sehr richtig, Capitan.«Puigserver sah Bolitho über den Becherrand hinweg prüfend an; im Licht der Deckenlampe glänzten seine Augen wie brauner Bernstein.
Bolitho fuhr fort:»Bis ich wieder in England bin, bis man dort neue Pläne macht und sich über sie geeinigt hat, könnten in Ostindien oder anderswo Dinge geschehen, die wir nicht mehr beeinflussen können.»
«Geben Sie mir die Hand, Capitan!«Puigserver beugte sich vor, sein Atem ging schärfer.»In ein paar Minuten werde ich schlafen. Es war ein scheußlicher Tag für uns, aber für viele andere noch weit schlimmer.»
Bolitho nahm die ausgestreckte Hand; Puigservers offenbare Aufrichtigkeit beeindruckte ihn mächtig.
«Wieviel Mann sind auf diesem Schiff?«fragte der Spanier.
Bolitho dachte an das Gesindel, das in Spithead an Bord gekommen war: zerlumptes Volk aus den Gefängnishulken, flüchtige Verbrecher aus London; der Geschützführer mit nur einer Hand. Alle diese Männer.»Es läßt sich etwas aus ihnen machen, Senor«, antwortete er.»Alles in allem zweihundert, einschließlich der Marineinfanterie. «Er lächelte, um die Spannung etwas aufzulockern.»Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich auch Ihre Überlebenden anmustern, ja?»
Puigserver schien das nicht zu hören. Aber sein Händedruck war wie Eisen.»Zweihundert, eh?«Er nickte grimmig.»Genügt.»
Bolitho sah ihn scharf an.»Wir machen also weiter, Senor?»
«Sie sind jetzt mein Capitan. Was sagen Sie dazu?»
Bolitho lächelte.»Das wissen Sie schon, Senor.»
Puigserver seufzte erleichtert auf.»Wenn Sie diesen Narren Raymond zu mir schicken und Ihren Schreiber, dann werde ich mein Siegel unter diese neue Aktion setzen. «Seine Stimme wurde härter.»Heute habe ich gesehen und gehört, wie viele
Männer in Angst und Schrecken umkamen. Wer auch hinter dieser Gemeinheit steht, ich werde mit ihm abrechnen. Und dann, Capitan, wird es eine Rechnung sein, an die unsere Feinde lange denken werden.»
Es klopfte — Midshipman Armitage erschien im Türrahmen, von der Deckenlampe draußen auf dem Gang wie ein Schattenriß angeleuchtet.
«Empfehlung von Mr. Herrick, Sir. Auffrischender Wind aus Nordest. «Wie ein Schüler, der dem Lehrer seine Lektion aufgesagt hat, stand er da.
«Ich komme gleich an Deck. «Bolitho mußte plötzlich an Mudge denken, der besseren Wind prophezeit hatte. Er würde bei Herrick an Deck sein und auf Befehle für die Nacht warten. Das und noch mehr hörte er aus Armitages Meldung heraus. Was jetzt beschlossen wurde, entschied das Schicksal des Schiffes und jedes Mannes an Bord. Bolitho blickte Puigserver noch einmal an.»Es steht also fest, Senor!».
«Ja, Capitan.«Der Spanier wurde immer schläfriger.»Sie können mich jetzt ruhig allein lassen. Aber schicken Sie mir Raymond, ehe ich schnarche wie ein betrunkener Ziegenhirt.»
Bolitho trat hinter dem Midshipman aus der Kajüte und sah, wie ungeschickt der Wachtposten an der Tür seine Muskete hielt. Wahrscheinlich hatte er gelauscht; bis zur Nacht würde das ganze Schiff Bescheid wissen: das war eine Reise, die nicht nur die Macht der britischen Flotte demonstrieren sollte, sondern eine, bei der mit wirklicher Gefahr zu rechnen war. Er lächelte grimmig, als er die Treppe zum Achterdeck hinaufstieg. Vielleicht würden sie in nächster Zeit nicht mehr so über das häufige Exerzieren an den Geschützen schimpfen.
Herrick und Mudge standen beim Ruder; der Steuermann hielt eine Blendlaterne über seine Schiefertafel, auf welcher er Berechnungen in überraschend sauberer Schrift gemacht hatte.
Bolitho ging auf die Luvseite, blickte prüfend zu den vollen Segeln auf und horchte auf die Bugwelle, die weiß schäumend wie das Wasser in einem Mühlenschacht am Rumpf entlangströmte. Dann trat er zu den beiden wartenden Männern und sagte:»Sie können die Segel zur Nacht kürzen, Mr. Herrick. Morgen mustern Sie von der Nervion-Mannschaft alle an, die Ihnen tauglich scheinen. «Er hielt inne, denn aus dem Orlopdeck drang wieder ein wilder Schrei an sein Ohr.»Viele werden es nicht sein, fürchte ich.»
Herrick fragte gespannt:»Wir gehen also nicht auf Gegenkurs, Sir?«Mudge rief dazwischen:»Und das ist auch gut so, wenn ich das sagen darf, Sir!«Er rieb sich den vorspringenden Bauch.»Mein Rheumatismus wird sich verziehen, wenn wir in heißeres Klima kommen.»
Bolitho sah Herrick bedeutsam an.»Wir segeln auf altem Kurs weiter, Thomas, und führen zu Ende, was da auf dem Riff angefangen hat.»
Herrick war hoch befriedigt.»Dafür bin ich auch!«Er wollte zur Reling, wo schon ein Bootsmannsmaat auf seine Befehle wartete, aber Bolitho hielt ihn zurück:»Von heute nacht an, Thomas, müssen wir scharf auf der Hut sein. Kein unnötiger Aufenthalt, um Trinkwasser aufzunehmen, wenn neugierige Augen in der Nähe sind. Wir werden notfalls jeden Tropfen rationieren, um mit unserem Bestand auszukommen. Aber wir müssen uns klar von Land halten, wo der Feind unsere Absichten und unseren Kurs ausspionieren könnte. Wenn, wie ich jetzt glaube, jemand im Geheimen gegen uns arbeitet, müssen wir ihn mit seinen eigenen Methoden schlagen. Wir müssen, um Zeit zu gewinnen, jede nur mögliche List gebrauchen.»
Herrick nickte.»Das scheint mir durchaus angebracht, Sir.»
«Unseren Leuten hoffentlich auch. «Er schritt nach Luv hinüber.»Weitermachen!»
Herrick wandte sich um.»Alle Mann der Wache — Segel kürzen!»
Während der Befehl weitergegeben wurde und die Matrosen die Decksgänge entlangliefen, sagte Herrick:»Beinahe hätte ich es vergessen — Mrs. Raymond macht sich Sorgen um ihr Quartier.»
«Das ist bereits erledigt. «Bolitho schwieg einen Moment und beobachtete die aufenternden Männer.»Don Puigserver schläft in der Hauptkajüte. Mrs. Raymond kann die Kajüte mit ihrer Zofe teilen.»
«Ob ihr das recht sein wird?«fragte Herrick zweifelnd.
Bolitho schritt weiter auf und ab.»Wenn nicht, soll sie es sagen, Mr. Herrick. Und dann werde ich ihr erzählen, was ich von einer Dame halte, die so zimperlich ist, daß sie keinen Finger rührt, um einem sterbenden Seemann zu helfen!»
Ein Steuermannsmaat trat auf den Decksgang.»Alles klar zum Manöver, Sir!«Herrick blickte Bolitho an, der immer noch auf und ab schritt. Das offene weiße Hemd hob sich deutlich gegen die Netze und die See dahinter ab. In den nächsten Tagen würde es auf der Undine noch viel enger werden, dachte er.»Schön, Mr. Fowlar. Reffen Sie die Bramsegel. Wenn der Wind weiter auffrischt, müssen wir vor Tagesanbruch auch noch die Marssegel reffen.»
Der alte Mudge rieb sich den schmerzenden Rücken.»Dieses Wetter ist unberechenbar. «Aber niemand antwortete ihm. Fast wortlos kamen die Toppsgasten wieder aus den Wanten herunter und sammelten sich vor den Deckoffizieren. Um den vibrierenden Bugspriet flog Gischt wie eine Salve weißer Pfeile; hoch oben über Deck arbeiteten die prallgefüllten Marssegel knatternd gegen Takelage und Blöcke.
«Wache abtreten. «Herricks Stimme war so ruhig wie sonst, er verließ sich blindlings auf Bolithos Worte.
Bolitho lächelte in der Dunkelheit. Vielleicht war es besser so.
In der Kajüte saß Don Puigserver am Tisch und sah zu, wie der Federkiel des Schreibers über das Papier kratzte. Raymond stand mit völlig ausdruckslosem Gesicht an einem Heckfenster und starrte in die Nacht. Schließlich sagte er über die Schulter:»Sie nehmen eine große Verantwortung auf sich, Don Puigserver. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen dazu raten kann.»
Unter Schmerzen lehnte sich der Spanier im Stuhl zurück und horchte auf die regelmäßigen Schritte oben an Deck.»Es ist nicht allein meine Verantwortung, Senor Raymond. Ich befinde mich dabei in sehr guter Gesellschaft, glauben Sie mir.»
Über ihnen und um sie herum arbeitete das Schiff flüsternd im Gleichtakt mit See und Wind. Vorn, unter dem Bugspriet, blickte die goldene Nymphe starren Auges gegen den dunkel gewordenen Horizont. Entscheidung und Schicksal, Triumph oder Enttäuschung bedeuteten ihr gar nichts. Ihr gehörte die See und damit das Leben selbst.