Prolog


In dieser Nacht würde der Junge den Fluß bestehlen.

Das Licht des Vollmondes brach sich in weißen Kristallsplittern auf dem Wasser, als der Junge das Rheinufer erreichte. Sein Bruder, ein Jahr weniger vom Bartwuchs entfernt, lief an seiner Seite. Johlend, jubelnd, alle beide.

Vor zwei Tagen hatte unweit von hier ein alter Schuppen gestanden, in dem die Fischer ihre Netze aufbewahrten. Am Abend hatte das Hochwasser den Giebel verschluckt, und immer noch stieg es höher und höher; schon stand der halbe Hang unter Wasser, ganze Waldstücke waren in den Fluten versunken, wiegten sich lautlos in der reißenden Strömung.

Der Fluß würde noch weiter steigen, hatten die Alten prophezeit. Der Pfaffe hatte gar vorgeschlagen, eine Arche zu bauen. Man hatte ihn ausgelacht.

Der Junge und sein Bruder ließen sich erschöpft vom Fangenspiel ins Gras fallen. Aus den Mauern der Burg, weit oberhalb des Hangs, ertönte gedämpft der Trubel der Feier: das Fiedeln der Spielleute, das Gröhlen der Betrunkenen, das Kreischen der Weiber. Manchmal hörte der Junge seinen Vater heraus; als Burgherr war es an ihm, polternde Trinksprüche auszubringen, die das Singen und Brüllen übertönten. Das fiel ihm keineswegs schwer, denn seine Stimme - davon waren beide Söhne überzeugt - reichte von hier bis zur nächsten Stadt, ganze zwei Tagesritte entfernt.

Hier unten, am neuen Ufer, klangen die Laute der Feierlichkeiten wie Echos aus einer anderen Welt, weit, weit entfernt. Das wilde Rauschen der Strömung, das Wimmern des Windes: beides nahezu ohrenbetäubend. Dem Jungen war fröhlich zumute, fast beschwingt; er wußte, er tat etwas Verbotenes.

Deutlich, vor allem aber stimmgewaltig, waren die Worte seines Vaters gewesen: »Geht nicht hinab zum Fluß, nicht solange er über die Ufer tritt!«

Sie waren trotzdem hergekommen, sein Bruder ein wenig zögernd und mit verstohlenen Blicken zur Burg hinauf, der Junge aber frohgemut und stolz auf seine Kühnheit. Viele waren schon von den Fluten fortgerissen worden, unvorsichtige Fischer, Mägde beim Wäschewaschen, arglose Holzsammler, die Äste aus dem Wasser angeln wollten. Sie alle hatte der Strom in die Tiefe gerissen, strudelnd, sprudelnd, alles verschlingend.

»Sieh nur, da vorne!« rief plötzlich sein Bruder und deutete flußaufwärts ins Dunkel.

Der Blick des Jungen folgte der ausgestreckten Hand seines Bruders. Er spürte sogleich, wie sein Herz schneller schlug.

Im fahlen Licht des Vollmondes wippte etwas Großes, Finsteres auf dem Wasser, auf und nieder, ohne sich dabei vom Fleck zu bewegen. Das Gebilde hatte sich in der Krone einer Buche verfangen, die mit starken Ästen danach krallte.

»Ein Boot!« stieß der Junge aufgeregt aus und sprang auf die Füße. »Das ist ein Boot!«

»Natürlich ist es das«, gab sein Bruder zurück; er wollte mürrisch und schlau erscheinen, zwei Eigenschaften, die in seinen Augen zusammengehörten. »Was denn sonst? Ein Riesenfisch?«

Die letzten Worte hörte der Junge schon gar nicht mehr, denn er lief ausgelassen am Ufer entlang nach Süden. Der Boden fiel steil zum Wasser hin ab; es war gefährlich, hier so schnell zu laufen. Das durchgeweichte Erdreich mochte absacken und ihn hinunter in den Rhein reißen, so wie den Sohn des Mundschenks, beim letzten Hochwasser vor acht Jahren.

Auf Höhe des Wracks hielt der Junge an und starrte angestrengt hinaus auf den Fluß. Es war ein großes Boot, fast ein kleines Schiff, mit überdachtem Unterdeck und einem Mittelgang zwischen den Ruderbänken. Der Mast war in Schulterhöhe abgebrochen; von ihm und dem Segel war keine Spur zu sehen. Auch gab es kein Leben an Deck, keinen Mensch weit und breit. Die Besatzung mußte an einer günstigen Stelle über Bord gegangen sein, in der Hoffnung, trotz der Strömung das Ufer zu erreichen. Der Junge bezweifelte, daß alle es geschafft hatten. Trotzdem blickte er vorsichtshalber nach Süden; nach dreißig, vierzig Schritten verschwand das mondbeschienene Gras in einem Wald, dessen tiefergelegene Teile bis zu den Wipfeln im Wasser standen. Das Gelände war verlassen.

Das Boot hatte sich längsseits zur Strömung in der Buche verkeilt. Das Wasser klatschte gegen seinen Rumpf, spritzte schäumend über die Reling, voller Wut über die Herausforderung. Der Bug war etwa fünf Schritte vom Ufer entfernt, wurde von den Wellen auf- und abgeschleudert.

Der Junge wagte nicht, mit den Füßen ins kalte Wasser zu steigen. Obgleich die Buche so nah am Ufer stand, war sie bis zu den oberen Ästen im Fluß versunken; unweit des Jungen befand sich unter der Wasseroberfläche eine jähe Steilwand. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, der Strömung standzuhalten, hätte er dennoch nicht bis zum Boot waten können. Er hätte schwimmen müssen, und das mochte übel enden.

Sein Bruder trat neben ihn und blickte gleichfalls zum Wrack. »Wem mag es gehören?«

»Und was mag es geladen haben?« Abenteuerlustig gab der Junge sich selbst eine Antwort: »Vielleicht einen Schatz.«

»Einen Schatz«, äffte ihn sein Bruder mit piepsiger Stimme nach und rollte mit den Augen. Im Mondlicht sah die Grimasse unheimlicher aus, als er ahnte. »Ein paar alte Fische werden drinliegen, wahrscheinlich schon angefault.«

»Sei nicht so langweilig.«

»Was willst du denn tun? Vielleicht rüberschwimmen?«

»Nein«, gab der Junge zurück, und gleich darauf verzogen sich seine Mundwinkel zu einem triumphierenden Grinsen. »Aber mit dem Baumstamm da vorne könnte es gehen.«

Sein Bruder folgte seinem Blick zu einer gefällten Birke; die Holzfäller würden sie erst am nächsten Morgen zur Burg hinaufbringen.

Der Junge war vor Begeisterung nicht mehr zu halten. Er lief zu dem Stamm hinüber und zerrte an den Ästen. Es war ein junger Baum, von Krankheit zerfressen, und er war nicht allzu schwer. »Komm schon, zu zweit können wir es schaffen.«

Auch in den Augen seines Bruders flackerte jetzt Wagemut, doch er gab sich Mühe, ihn sich nicht einzugestehen. »Wenn Vater davon erfährt, wird er -«

»Gar nichts wird er.« Der Junge hatte den Stamm schon ganz allein die halbe Strecke zum Ufer herabgezogen. »Vater und die anderen feiern, sogar die Wächter auf den Zinnen würfeln und trinken. Niemand wird etwas bemerken.«

»Wenn einer von uns ins Wasser fällt«, begann sein Bruder schwerfällig, verstummte aber sogleich. Natürlich reizte auch ihn das Abenteuer, und an einem gab es nichts zu rütteln: Die Gefahr einer Strafe war denkbar gering.

Mit einem kräftigen Atemholen - das hatte er dem Stallmeister abgeschaut, bevor der den Kindern etwas durchgehen ließ - trat er an die Seite des Jungen. Gemeinsam schleppten sie den Stamm das letzte Stück zum Wasser hinunter.

»Und nun?«

Der Junge runzelte altklug die Stirn. »Wir müssen ihn ein Stück weiter flußaufwärts ziehen. Wenn wir den Stamm dort ins Wasser schieben, treibt ihn die Strömung hierher. Vielleicht verkeilt er sich dann zwischen dem Boot und dem Ufer.«

»Hoffentlich.«

Ächzend vor Anstrengung setzten sie den Plan in die Tat um, und tatsächlich: Wenig später bildete der Birkenstamm eine wacklige Brücke zwischen Wiese und Wrack. Auf der schwarzen Flußoberfläche schimmerte er bleich wie ein mächtiger Knochen.

Die beiden zerrten an den Ästen und prüften, ob der Stamm festsaß. Fest genug.

»Ich geh’ zuerst«, sagte der Junge und kletterte flink ins Gehölz.

»He!« rief sein Bruder. »Wir sollten das auslosen.« Aber es war kein ernstgemeinter Widerspruch; in Wahrheit war er froh, daß er das Wagnis nicht als erster eingehen mußte.

Der Junge kletterte auf allen vieren über den Stamm. Der Baum lag zur Hälfte unter Wasser, die Strömung spülte über ihn hinweg. Es war schwierig, nicht den Halt zu verlieren. Die nasse Rinde war glatt und löste sich in breiten Fetzen, und mehrmals war der Junge nahe daran, kopfüber in die Fluten zu stürzen. Sein Herzschlag raste, vor Anspannung hielt er die Luft an. Er hatte schreckliche Angst.

Schließlich berührte seine ausgestreckte Hand den Bootsrumpf. Die Reling des Wracks schwankte hinauf und herunter, war mal in Schulterhöhe, mal hoch über seinem Kopf. Dem Jungen blieb nichts anderes übrig, als sich mit beiden Händen daran festzuhalten und sich bei der nächsten Woge mit nach oben ziehen zu lassen. Inmitten der schäumenden Gischt war das alles andere als ein Kinderspiel.

Sein Bruder rief ihm eine Warnung zu. Das Tosen des Flusses und der jammernde Wind rissen die Worte von seinen Lippen, verwehten sie im Nichts.

Die Finger des Jungen krallten sich um die Reling. Er schloß die Augen und zählte in Gedanken: eins, zwei, drei -

Die Woge kam mit entsetzlicher Wucht und schleuderte das Wrack nach oben. Der Ruck riß dem Jungen fast die Arme aus den Gelenken. Seine Füße wirbelten aus dem Wasser, er selbst rutschte am Rumpf empor, schrie auf - und hing plötzlich mit dem Oberkörper über der Reling. Geistesgegenwärtig ließ er sich nach vorne sacken, polterte aufs Deck. Gerade noch rechtzeitig, denn im selben Augenblick krachte das Boot zurück nach unten. Die Bewegung hätte ihn rückwärts ins Wasser geschleudert.

Benommen kämpfte sich der Junge auf Hände und Knie. Im Prasseln der Gischt, die ihm wie Hagel ins Gesicht schlug, schaute er sich um. Das Boot war nicht breit, fünf Schritte vielleicht. Der Bug war erhöht, dort führte eine Falltür unter Deck. Der Riegel hatte sich gelöst, die Klappe schlug bei jeder Woge auf und zu, auf und zu...

Er hatte sich nicht getäuscht. Das Deck war verlassen.

Ihm fiel ein, daß sein Bruder ihn hinter der Reling nicht sehen konnte und sich bestimmt schon Sorgen machte - vor allem um sein eigenes Sitzfleisch, denn falls dem Jungen etwas zustieß, würde die Strafe des Vaters zweifellos seinen Bruder treffen.

Abermals zog er sich an der Reling empor, diesmal an der Innenseite. Ein eisiger Wasserschwall klatschte in sein Gesicht. Täuschte er sich, oder war der Wind stärker, die Strömung noch schneller geworden? Hatte der Fluß auch vorhin schon mit solcher Wut am Rumpf gerissen?

Er erhaschte einen Blick aufs Ufer, ehe ihn die nächste Woge traf. Sein Bruder gestikulierte wild mit beiden Armen, schrie irgend etwas hinaus in das Donnern der Brandung.

Der Junge entdeckte, was er meinte, als er hinab auf die Oberfläche blickte.

Der Birkenstamm war verschwunden. Er mußte sich aus der Verkeilung gelöst haben, war vom Strom davongerissen worden. Es gab keine Verbindung mehr zum Ufer.

Eine eiskalte Faust legte sich um sein Herz. Seine Knie erbebten, seine Finger wollten sich zitternd von der Reling lösen. Panik griff nach seinem Denken. Er war allein hier draußen, dem Fluß und dem Sturm hilflos ausgeliefert, ohne Hoffnung auf -

Ein Knirschen riß ihn aus seiner Erstarrung. Holz knarrte lautstark, kreischte auf wie ein kleines Kind. Etwas brach und zerbarst. Gleichzeitig wurde das Wrack herumgeschleudert, schwenkte blitzschnell in die Strömung, löste sich aus der Umklammerung der Baumkrone.

Der Junge sah gerade noch durch einen Schleier aus Tränen und Rheinwasser, wie sein Bruder und das Ufer davonrasten. Dann begriff er, daß er selbst es war, der sich entfernte! Das Boot trieb flußabwärts davon!

Er verlor seinen Halt, polterte quer über Deck und schlug gegen die Reling auf der anderen Seite. Eine Ruderbank bremste seinen Sturz unsanft mit einer scharfen Kante. Einen Moment lang sah er nur Funken, die vor seinen Augen auseinanderstoben. Ein Gewitter aus Schmerz und Verzweiflung donnerte durch seinen Schädel.

Irgendwie gelang es ihm trotzdem, neuen Halt zu finden. Mühsam zog er sich an der Holzbank entlang zur Reling, blickte darüber hinweg. Durch Gischtschleier sah er das Westufer des Stroms, grau und farblos im Mondenschein. Als er sich umsah, erkannte er hoch über dem gegenüberliegenden Ufer auch die erleuchteten Fenster der Burg. Sie wurden mit erschreckender Geschwindigkeit kleiner. Sein Bruder war nicht mehr zu sehen, ebensowenig die Stelle, an der das Wrack festgesessen hatte.

Das Wrack trieb in der Mitte des Stroms. Der Fluß war durch das Hochwasser mehr als doppelt so breit wie sonst. Unmöglich, von hier aus an Land zu schwimmen.

Das Boot wird irgendwann zerschellen, durchfuhr es den Jungen. Er ahnte, daß das auch sein eigenes Ende sein würde.

Ein gutes hatte die rasende Fahrt den Strom hinunter: Das entsetzliche Auf- und Abwippen des Wracks hatte aufgehört, nicht gänzlich, aber doch soweit, daß nicht in jedem Augenblick die Gefahr bestand, über Bord geschleudert zu werden. Und so lange sich das Boot in der Flußmitte hielt, konnte es auch an keinen Felsen zerschmettern.

Gleichzeitig aber entfernte sich der Junge weiter und weiter von zu Hause. Nun peinigte ihn nicht nur die Angst zu sterben, auch die Furcht vor der Fremde überkam ihn.

Er war hilflos, der dämonischen Gewalt des Flusses und den knarrenden Planken unter seinen Füßen vollkommen ausgeliefert.

Ich werde ganz sicher sterben, dachte er mit kühler Klarheit, nicht heldenhaft von der Hand eines Feindes, sondern jämmerlich ersäuft durch meine eigene Schuld!

Ihm war, als raste er die halbe Nacht dahin, vor- und zurückgeschleudert, durchgeschüttelt, frierend, in Todesangst. Und er würde nicht einmal erfahren, was sich unter Deck befand. Hatte er dafür nicht überhaupt erst sein Leben aufs Spiel gesetzt? Einige Herzschläge lang spielte er mit dem waghalsigen Gedanken, die Reling loszulassen und sich hinüber zur Falltür zu tasten. Doch immer noch spülten Brecher über die Planken hinweg, einige stark genug, ihn mit sich über Bord zu reißen. Nein, entschied er bitter, von solch tollkühnem Vorhaben hatte er wahrlich genug.

Die Falltür schlug auf und zu.

Auf und zu.

Der Junge schlief ein.

Einen Augenblick später, noch bevor seine Umklammerung sich lösen konnte, riß ihn ein mörderischer Ruck zurück in die Wirklichkeit. Knirschen, Brechen, Bersten - dieselben Laute hatte er gehört, als sich das Schiff aus der Buche gelöst hatte.

Nun ertönten sie wieder. Als er aufblickte, sah er, daß das Wrack abermals still stand. Erneut bot es seine Längsseite der tobenden Strömung dar.

Diesmal aber hatte es sich fester verkeilt. Das Ostufer war nur noch fünfzehn Schritte entfernt. Weit genug, um bei dem Versuch, hinüberzuschwimmen, zu ertrinken. Zu nahe aber, um alle Hoffnung fahrenzulassen.

Er entdeckte auch, wem er das vorläufige Ende seiner Irrfahrt zu verdanken hatte.

Der Bootsrumpf war seitlich gegen die Wipfel zweier starker Tannen getrieben. Zwar bogen sie sich unter der Last, schienen aber kräftig genug, dem Druck des Schiffes standzuhalten. Beide Bäume ragten kaum bis zum Rand der Reling aus dem Wasser, der Rest war im Fluß versunken.

Die Gedanken des Jungen wirbelten wild in seinem Kopf umher. Er brauchte eine Weile, ehe es ihm gelang, ein wenig Klarheit in sein Denken zu bringen.

Das Boot wippte wieder auf und ab, doch die Strömung schien an dieser Stelle nicht ganz so stark zu sein. Es war durchaus möglich, unbehelligt bis zur Falltür zu kriechen und einen Blick unter Deck zu wagen. Wenn er schon sterben sollte, so wollte er wenigstens erfahren, wofür.

Flach an die glitschigen Planken gepreßt schob er sich auf die Klappe zu. Sie hob sich bei jeder Welle nur noch wenige Fingerbreit, schlug nicht mehr gänzlich auf und zu. Der Junge würde sie selbst öffnen müssen.

Als er nahe genug heran war, streckte er vorsichtig die Hand aus, packte den Griff der Falltür und klappte sie zurück. Darunter lag ein schwarzes, schier bodenloses Loch.

»Ist da wer?« rief er mit schwacher Stimme nach unten. Die Worte klangen hohl im Inneren des Schiffsrumpfes wider.

Niemand antwortete.

Du mußt es tun, redete er sich tapfer zu, deshalb bist du doch hergekommen. Einfach über die Kante kriechen, dich hinunterschwingen - ja, und dann?

Das Boot hob und senkte sich im Rhythmus des Flusses, aber immer noch schienen die beiden Tannenwipfel es fest in seiner Längslage zu halten. Aus der Falltür drang dumpfes Flüstern herauf, das Glucksen der Strömung unter dem Kiel.

Mach schon! sagte er sich ungeduldig. Ein lahmer, widerwilliger Wunsch.

Er legte beide Hände um die Kante der Öffnung, zog sich ächzend heran. Sein Gesicht schob sich über das Loch. Er erwartete, daß ihm etwas entgegenschießen, nach ihm greifen würde, doch nichts dergleichen geschah. Der Laderaum roch muffig, ein wenig wie verfaultes Obst.

Er gab sich einen Ruck, glitt mit einem leisen Aufschrei in die Tiefe und spürte schon einen Augenblick später Holz unter den Füßen. Gleichzeitig wurde das Boot nach oben gewirbelt, senkte sich dann schlagartig wieder. Der Junge verlor sein wackliges Gleichgewicht, fiel zur Seite und rollte quer durch den Laderaum. Fort von dem hellen Viereck aus Mondlicht, das durch die Luke hereinfiel, tiefer hinein in die Finsternis des Bugraums. Seine Schulter prallte gegen die Schiffswand. Erst allmählich dämmerte ihm, daß es in der ganzen Länge des Laderaumes nichts gab, das seinen Sturz hätte aufhalten können. Das Boot war leer, dessen war er nun trotz der Dunkelheit sicher. Keine Menschen, keine Ladung. Wahrscheinlich hatte die Strömung es vom Ufer fortgerissen, als niemand an Bord gewesen war. So einfach war das - und so unspektakulär. Dafür also hatte er mit seinem Leben gespielt. Dafür mochte er bald sterben.

In der Schwärze begann der Junge zu weinen. So saß er dort lange Zeit, verzweifelt, enttäuscht, von Furcht gepeinigt.

Irgendwann wischte er sich die Tränen aus den Augen und krabbelte auf allen vieren zurück zur Falltür. In einem ruhigen Moment gelang es ihm, sich schwankend auf die Füße zu stellen und mit ausgestreckten Armen nach der Kante zu greifen. Er war kräftig genug, sich nach oben zu ziehen. Wasser spritzte ihm entgegen, und einen Moment lang kämpfte er strampelnd um seinen Halt. Dann gelang es ihm, erst ein Knie, dann das zweite aufs Deck zu heben. Den Göttern sei Dank, er war wieder im Freien!

Immer noch preßte sich der Bootsrumpf längsseits gegen die beiden Tannen. Gedankenverloren hielt der Junge sich wieder an der Reling fest, als ihm plötzlich in einem der Baumwipfel etwas auffiel.

Etwas glänzte zwischen den Ästen.

Neugier verdrängte die dumpfe Gleichgültigkeit in seinem Schädel. Mit beiden Händen zog er sich an der Reling entlang bis zu jener Stelle am Heck, wo sich das Boot an den gebogenen Wipfel drängte. Zitternd streckte er eine Hand aus. Ohne größere Mühe gelang es ihm, das Glitzerding zu umfassen.

Es war ein Goldreif, und als er erst einmal die Nadelzweige beiseite geschoben hatte, entdeckte er, daß dort, ganz nah am Stamm des Baumes, noch weiteres Geschmeide hing. Eine Kette aus hauchdünnen Goldplättchen; eine edelsteinbesetzte Krone, würdig einer Fürstin; mehrere Ringe, die mit einer Schnur zusammengebunden waren; dazu ein Diadem, wie seine Mutter kein schöneres besaß.

Es gab keinen Zweifel: Dies waren Reichtümer, wie selbst Edelleute sie sich erträumten.

Der Junge konnte sein Glück kaum fassen. Vergessen waren für den Moment die Gefahren des Rheins, vergessen auch jeder Gedanke ans Alleinsein, an die Heimat, ans Sterben.

Ihm kam ein kühner Geistesblitz: Wenn es in diesem Baum solche Schätze gab, dann vielleicht auch in dem anderen!

So schnell er konnte schob er sich an der Brüstung entlang zum Bug. Hier mußte er sich weit hinauslehnen, ehe die Zweige des Tannenwipfels zu fassen bekam. Mit angestrengtem Stöhnen zog er sie auseinander wie einen Vorhang.

Und da war noch mehr Gold!

Reife, Ringe, Ketten. Sogar eine kunstvoll verzierte Schatulle, faustgroß, an einem Band um den Stamm verharkt. In ihrem Inneren fand der Junge ein gutes Dutzend Ohrringe, manche mit funkelnden Steinen besetzt.

Er häufte seine Schätze vor sich auf, in einem Winkel der Reling, wo die Brecher, die über das Deck fegten, sie nicht fortspülen konnten. Er überlegte einen Augenblick, dann streifte er trotz der Kälte sein Wams ab; darunter trug er nur ein dünnes Leinenhemd. Er machte einen Knoten in den oberen Teil des Kleidungsstückes, damit die Öffnungen für Kopf und Arme verschlossen waren. Dann häufte er mit beiden Händen das Geschmeide hinein, sicherte es mit einem zweiten Knoten. Das fertige Bündel befestigte er an seinem Gürtel, zog und zerrte daran, bis er Gewißheit hatte, daß er es nicht verlieren würde.

Dann erst schaute er sich um.

Keuchte auf, atemlos vor Freude.

Da waren drei weitere Tannen. Sie bildeten zusammen mit den beiden, die das Boot hielten, einen Kreis aus Wipfeln auf der Wasseroberfläche. Es sah aus wie ein Zirkel zusammengekauerter Zauberer in schwarzen Roben, mit schwarzen, spitzen Hüten. Der Durchmesser des Kreises betrug etwa zwölf Schritte, je fünf lagen zwischen den einzelnen Bäumen.

Einen Moment lang fragte sich der Junge, wer die Bäume in so perfekter Kreisform gepflanzt und aufgezogen hatte. Ihre Anordnung war viel zu gleichmäßig, viel zu gewollt, als daß der Zufall sie hätte schaffen können.

Ein seltsames Unbehagen überkam ihn mit der Plötzlichkeit eines Blitzschlages.

Und ebenso schnell verging es wieder. Denn auch in den drei übrigen Wipfeln sah er es nun glänzen. Mehr, noch mehr Gold!

Wütend über seine Hilflosigkeit blickte er über die rasende Wasseroberfläche. Zwischen den Wipfeln, die etwa schulterhoch aus dem Fluß ragten, hatte sich nicht nur das Boot verfangen; armdicke Stränge aus Wasserpflanzen reichten von Baum zu Baum.

Ohne Zögern, den Geist vom nahen Reichtum verschleiert, hangelte sich der Jung über die Reling, streckte einen Fuß ins Wasser. Das schwankende Schiff zog ihn hoch und wieder herunter, doch der kurze Moment, in dem sein Bein bis zum Knie unter der Oberfläche verschwand, reichte aus, ihm erneut die Kälte des Wassers ins Gedächtnis zu rufen.

Trotzdem, er mußte es wagen!

Wenn er mit all diesen Schätzen nach Hause käme, würde sein Vater sicher auf eine Strafe verzichten. Und er konnte immer noch genug davon für sich selbst verstecken, um irgendwann ein gemachter Mann zu sein - auch ohne den Besitz seiner Familie, der nach dem Tod des Vaters an seinen älteren Bruder fallen würde.

Er schloß die Augen und ließ sich fallen.

Die Kälte war wie ein Schlag mit einem Streithammer, hart und kraftvoll und mitten ins Gesicht. Vielleicht verlor er einen Herzschlag lang das Bewußtsein, vielleicht auch nicht; auf jeden Fall wußte er kurz darauf nicht mehr, wie er innerhalb eines Augenblicks plötzlich auf die andere Seite des Tannenkreises geraten war, beide Fäuste um einen der Pflanzenstränge geklammert.

Die Strömung! Sie war viel stärker, viel schneller, als er angenommen hatte. Und schon spürte er, wie sie an seinen Armen zerrte, wie sie ihn mit sich reißen wollte.

Irgendwie gelang es ihm trotzdem, sich an dem Strang aus verschlungenen Wasserpflanzen entlangzuhangeln, bis er einen der Tannenwipfel erreichte. Er dachte nicht mehr an die Gefahr, in der er schwebte, nicht ans Ertrinken, Zerschellen, an eine tödliche Erkältung. An nichts von alledem. Der Gedanke an das Gold beherrschte sein ganzes Denken. Dafür mochte es sich lohnen zu sterben, damit konnte er auch vor sich selbst rechtfertigen, warum er überhaupt für dieses Abenteuer sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Plötzlich war es kein Kinderstreich mehr; wenn er das hier überlebte, dann war er ein Held!

Er klammerte sich mit Armen und Beinen an den Baum, der sich leicht mit der Strömung vornüberbeugte. Mit einer Hand pflückte der Junge das Geschmeide aus den Zweigen wie goldene Früchte. Er stopfte es im Chaos der Gischt in seinen Hosenbund, in der Gewißheit, daß seine Hosenbeine in den Stiefeln steckten und er seinen Schatz nicht verlieren würde.

Weiter hangelte er sich an den Pflanzensträngen, und das Wasser, das er dabei schluckte, hätte den Durst einer halben Armee gestillt. Doch er erreichte auch diesmal sein Ziel, packte den Wipfel, hielt sich fest und zog das Gold aus den Zweigen.

Nur einmal kam ihm die Frage in den Sinn, wie das Geschmeide hierhergekommen war. Elstern, sagte er sich; sicher hatten sie es in den Bäumen versteckt, lange vor dem Hochwasser.

Er zweifelte nicht an seinem Tun, glaubte auch nicht, daß er etwas Unrechtes tat. Wem auch immer das Gold einst gehört hatte, nun hatte der Fluß es für sich beansprucht. Der Fluß! Was sollte der schon damit anfangen?

Noch ein Tannenwipfel stand aus, der fünfte und letzte. Der Weg dorthin war schnell überwunden. Schneller noch war das Gold eingesteckt. Schwer und kantig füllte es die Hosenbeine des Jungen, zog ihn merklich nach unten. Er aber dachte nur: Ich bin reich genug, um mir eine eigene Burg zu bauen.

Etwas veränderte sich, schlagartig.

Von einem Moment zum nächsten machte die reißende Strömung einen Bogen um das Innere des Tannenkreises. Sie teilte sich rechts und links des Bootswracks und floß zu beiden Seiten an den Baumwipfeln vorüber. In der Mitte des Kreises aber glättete sich die Oberfläche, bis sie so ruhig dalag wie ein riesiger Spiegel. Das Abbild des Vollmondes schimmerte darin wie eine weiße Pupille in einer schwarzen Iris.

Entgeistert bemerkte der Junge, wie der Druck auf seinen Körper nachließ. Er befand sich im Inneren des Kreises. Nur eine Armlänge von ihm entfernt schossen die Fluten mit ungehemmter Wut nach Norden; hier aber, auf seiner Seite des Pflanzenstranges, war das Wasser so still und glatt wie ein Bergsee.

Da, plötzlich, entstand im Zentrum des Zirkels eine Bewegung, genau dort, wo das Spiegelbild des Mondes schwebte wie eine leuchtende Scheibe. Das Wasser begann sich zu drehen, erst ganz langsam, dann schneller, bis ein gewaltiger Strudel entstand. Seine scheinbare Trägheit täuschte, seine Kraft war jener der Strömung um ein Vielfaches überlegen. Dem Jungen blieb nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen. Er wurde vom äußeren Arm des Strudels gepackt, verlor den Pflanzenstrang aus den Händen und trieb in einer rasenden Kreisbewegung zum Mittelpunkt des Tannenzirkels. Einen Herzschlag lang war ihm, als beugten sich die schwarzen Wipfel einander zu, um verstohlen miteinander zu flüstern; dann drang Wasser in seine Augen, schäumte kalt in seinen Mund.

Er wußte, er würde ertrinken.

Doch er täuschte sich abermals. Der Strudel erstarb im selben Augenblick, da er den Jungen in das Zentrum des Kreises gezogen hatte. Das Wasser glättete sich wieder, die Spiegelung des Mondes festigte sich erneut - der Junge schwamm genau in ihrer Mitte, ein Dorn im Herzen des Lichtauges.

Er wollte schreien, um Hilfe brüllen, Gnade erflehen. Doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. Das Entsetzen knebelte ihn mit Schweigen, der Mond fesselte ihn im Zentrum der wispernden Wipfel.

Er spürte, wie die Kälte des Flusses immer noch eisiger wurde. Sie schien aus der Tiefe emporzusteigen, ganz genau unter ihm, kam immer höher und höher, so als gefriere das Innere des Kreises zu einer mächtigen Säule aus Eis.


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