Kapitel 1


Als er erwachte, war er blind. Da waren auch Schmerzen, starke Schmerzen. Mit ihnen konnte er umgehen; die Blindheit aber war etwas anderes. Es war lange her, daß etwas ihm solche Angst gemacht hatte, mehr als zwanzig Jahre. Damals, allein im Wasser, da war er genauso hilflos gewesen.

Aber das war lange her, und die Zeit hatte das Gefühl der Angst in seiner Erinnerung zum Verblassen gebracht. Er wußte noch, daß er sich gefürchtet hatte, aber wie es genau gewesen war, das hatten die Jahre für ihn verdrängt.

Jetzt aber war die Furcht wieder da, und er erkannte sie wieder wie einen bösen, alten Feind.

Er konnte nichts sehen, nichts als tiefe, formlose Schwärze. Keinen Schimmer von Licht, kein Glühen in der Ferne, nicht einmal den Nachhall dessen, was er vor seiner Bewußtlosigkeit erblickt hatte. Nur Finsternis.

Hagen von Tronje schrie auf, gellend und lang und verzweifelt. Seine Finger fuhren in Panik hoch zum Gesicht, die Lederkappen seiner Handschuhe berührten die Lider. Seine Augen waren noch da, keines war ausgestochen oder von einem Hieb zerfetzt. Aber die Berührung tat weh, weh genug, um ihn abermals aufschreien zu lassen.

Blind! dachte er immer wieder, während das Entsetzen in ihm tobte.

Blind.

Er lag am Boden, unter seinem Rücken war hartes Gestein.

Die Felsen! Er erinnerte sich. Die Schlacht hatte unten in der Ebene begonnen und sich immer weiter hinauf in die Berge verlagert. Er war mit seinem Trupp aus Söldnern und Halsabschneidern in einen Hinterhalt geraten, wo andere Söldner und Halsabschneider ihnen den Garaus gemacht hatten. Er erinnerte sich, daß ihn der Angriff zweier Gegner nach hinten geschleudert hatte, er war gestürzt, vielleicht mit dem Kopf aufgeschlagen. Möglicherweise war seine Blindheit nur eine zeitweilige Auswirkung des Aufpralls. Das konnte sein; ja nur ein Moment noch, bis sich seine Sinne klärten und er wieder -

Blind.

Seine Hoffnungen lösten sich in Nichts auf. Die Schmerzen in seinen Augen, vor allem im linken, waren zu stark. Das war mehr als eine leichte Verwirrung seiner Sinne. Er führte eine Fingerspitze an die Zunge, leckte Blut vom Handschuh. Blut aus seinen Augen? Es schmeckte so stählern wie eine Schwertklinge, roch wie geschlachtetes Vieh. Hagen hörte den Wind in den Felsspalten klagen. Seine übrigen Sinne waren demnach nicht geschädigt. Nur seine Augen. Seine Sehkraft.

Er wälzte sich schwerfällig herum, kämpfte sich auf die Knie. Sein Kettenhemd klirrte leise, die schützenden Eisenschalen um seine Schultern und Gelenke knirschten. Seine Hände tasteten über den Boden, viel zu schnell, viel zu ungelenk. Sie berührten etwas Weiches, Regloses. Ein Leichnam, gleich neben ihm. Er tastete weiter, schob sich auf allen vieren vorwärts. Noch ein Toter und noch einer.

Er verharrte, wagte nicht, weiterzukriechen. Die Felsen, das wußte er noch, waren schroff und steil. Er mochte zu nahe an eine der Kanten geraten, zwanzig Schritte in die Tiefe stürzen, hilflos am Boden zerschellen.

Ein Krüppel, dachte er, erst verächtlich, dann verzweifelt. Es war gleichgültig, ob er in einer oder zwei oder drei Wochen wieder sehen konnte; er würde nicht einmal heil von den Felsen herunterkommen, ohne sich sämtliche Knochen zu brechen. Ein Fressen für die Raben.

Vielleicht war das der richtige Zeitpunkt, um wieder mit dem Weinen zu beginnen. Wenn nicht jetzt, wann sonst? Hatte er nicht allen Grund dazu? Er war kein Krieger mehr, es wäre keine Schande gewesen, wenn man ihn heulend gefunden hätte.

Unwillkürlich fragte er sich, ob seine blicklosen Augen überhaupt noch Tränen zustande brachten.

Er straffte sich abrupt. Sein Selbstmitleid brachte ihn nicht weiter. Er mußte irgendwie hier herunterkommen, zurück auf festen Boden, wo nicht jeder Schritt sein Leben bedrohte.

Seine Finger fanden beim Umhertasten einen Schwertgriff. Beinahe hätte Hagen laut aufgelacht. Ein Schwert, in seiner Lage! Er nahm es und wollte es in einer Aufwallung von Haß (auf sich, auf die Welt) davonschleudern, als ihm einfiel, daß es ihm doch noch weiterhelfen mochte. Wie oft hatte er mitangesehen, wie Blinde sich ihren Weg mit Hilfe von Stöcken suchten. Wie ungemein passend, daß ihm nun zum selben Zweck ein Schwert dienen sollte. Ihm, der er sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als das Leben anderer mit Schwertern auszulöschen.

Er hielt die Klinge weit vorgestreckt und klopfte mit der Spitze auf den Boden. Sie klirrte leise, wo sie auf Fels traf, schwieg, wenn sie gegen weitere Leichen stieß. Der Stein war an manchen Stellen feucht und rutschig, mehrfach verlor Hagen fast seinen Halt. Auf allen vieren kletterte er über reglose, verrenkte Körper, ohne sicher zu sein, ob es nicht immer wieder dieselben waren und er sich im Kreis bewegte. Aber, nein, das Gelände war leicht abschüssig, und irgendwann fand er auch den Pfad, dem er und die anderen gefolgt waren, geradewegs in die Falle ihrer Feinde; er erkannte ihn an der seichten Grasböschung, die ihn zu beiden Seiten begrenzte.

Hagen forschte in der Schwärze nach einem Hoffnungsschimmer - Schimmer im buchstäblichen Sinne -, doch da war nichts als absolute Dunkelheit. Unvermittelt wurde ihm klar, daß er nicht einmal wußte, ob es noch Tag oder schon tiefste Nacht war.

Er folgte dem Weg auf Händen und Knien, das Schwert weit vorgestreckt. Immer noch stieß er auf weitere Leichen. Obgleich er sie nicht zählte, war er doch sicher, daß es mehr waren als nur jene Männer, mit denen er die Felsen erklommen hatte. Die beiden Gruppen mußten sich gegenseitig aufgerieben haben. Die Erkenntnis verschaffte ihm keine Befriedigung, nicht einmal bittere Genugtuung. Er hatte ausreichend mit sich selbst zu tun, um nur einen Gedanken an den Sinn der Schlacht zu verschwenden, an Ziele, die nie seine eigenen gewesen waren. Er dachte wieder an das Angebot seines Bruders, und zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte es angenommen. Jetzt war es zu spät dazu. Blind war er für niemanden mehr von Nutzen. Ein lästiger Krüppel, nur ein weiterer Bettler am Wegesrand. Er schwor sich, daß es soweit nicht mit ihm kommen würde. Niemals.

Gerade schob er sich über einen weiteren Leichnam, als eine helle Stimme sagte:

»Sie kommen.«

Hagen erstarrte in der Bewegung. Riß dann das Schwert hoch und hielt es aufrecht vor sein Gesicht.

Links von ihm ertönte ein leises Rascheln. Füße, die von irgendwoher auf den Boden sprangen, ganz leicht, wie auf Zehenspitzen.

»Nimm das Schwert herunter«, flüsterte die Stimme. »Du wirst uns noch beide damit verletzen.« Es war ein Mädchen, sehr jung.

»Wer bist du?« Es fiel ihm schwer, seine Panik zu unterdrücken. Er war hilflos, ausgeliefert. Einem Kind.

»Jemand, der dich retten will.« Sie sagte das sehr leise, sehr sanft. Hagen spürte, wie er zu dieser Stimme Vertrauen faßte. Früher hatte er niemandem vertraut. Früher: bis vor wenigen Momenten.

»Vor wem?« Seine Stimme klang nicht wie seine eigene. Schnarrend, krächzend. Elend.

Etwas berührte ihn an der Schulter, ganz leicht nur. Er zuckte zurück, fuchtelte mit dem Schwert.

»Laß das«, sagte das Mädchen erneut. »Ich will dir helfen.«

Ich brauche deine Hilfe nicht, wollte er entgegnen, aber das war so lächerlich, daß er die Worte verschluckte.

»Wer kommt?« fragte er statt dessen. »Du hast gesagt, jemand -«

»Deine Feinde«, fiel sie ihm ins Wort. »Sie kommen den Weg herauf und töten alle, die noch am Leben sind. Die Verletzten, die Erschöpften.« Sie legte ihm abermals die Hand auf die Schulter, und diesmal wehrte er sich nicht. »Die Blinden.«

Er horchte und erkannte, daß sie recht hatte. Aus der Ferne erklangen scharrende Schritte, leise Stimmen. Das Stöhnen von Sterbenden. Stahl, der auf Leiber einhieb.

»Wie nahe sind sie?«

»Viel zu nahe, um noch mehr Zeit mit Gerede zu vertun.«

Schmale, erstaunlich kräftige Hände packten ihn unter den Achseln, halfen ihm beim Aufstehen. Er stützte sich auf das Schwert wie auf einen Krückstock.

»Komm!« Sie nahm ihn bei der Hand, zog ihn vorsichtig mit sich. Ihre Finger waren sehr dünn, sehr verletzlich. Hin und wieder zischte sie ihm eine Warnung zu; dann hob er die Füße, um nicht über Dinge zu stolpern, die sich ein ums andere Mal als Leichen erwiesen.

Sie hatten den Weg verlassen. Gelegentlich schlugen ihm Äste ins Gesicht, doch so lange sie seine Augen nicht berührten, vermied er jede Klage. Das Gelände führte hangaufwärts, sie stiegen also höher in die Berge. Er überlegte, ob er das Mädchen nach ihrem Ziel fragen sollte, nahm aber an, daß es besser sei zu schweigen, solange die Feinde in der Nähe waren.

Irgendwann - er hatte festgestellt, daß er mit seinem Augenlicht auch jedes Gefühl für die Zeit verloren hatte - hielt das Mädchen an. »Ich glaube, hier sind wir sicher.«

»Wo sind wir?«

»Weiter oben in den Felsen.« Er bemerkte zum ersten Mal, daß man eine Stimme fühlen konnte; ihre war wie Katzenpfoten, so unendlich leicht und sanft. »Zwischen uns und den Männern befindet sich ein Waldstück aus toten Bäumen. Wenn sie nicht gezielt nach dir suchen, werden sie uns nicht finden.«

»Sie werden nicht suchen. Sie kennen mich gar nicht.«

»Du bist ein Söldner.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Na und?« Er wollte energisch klingen, vielleicht ein wenig zornig, aber der Versuch mißlang kläglich. »Manchmal Söldner, manchmal -«

»Sag nicht ›Ritter‹! Du bist keiner.« Sie kicherte leise, der Lage keineswegs angemessen.

»Nein«, erwiderte er knapp. »Kein Ritter.«

Sie zog wieder an seiner Hand. Mit einemmal ging es sanft bergab. Ihre Schritte auf trockenem Geröll klangen hohler, die Luft wurde muffig und abgestanden.

»Ist das eine Höhle?« Er hoffte inständig, sie würde nein sagen, denn seine Augen hatten keine Änderung der Lichtverhältnisse wahrgenommen. Schwarz blieb Schwarz blieb Schwarz...

»Ja. Du kannst dich hier ausruhen.«

»Nur ich? Was ist mit dir?«

»Ich bin nicht erschöpft.«

Er gestand sich ein, daß er sich ausgebrannt fühlte, leer und nutzlos. Von seiner Blindheit ganz zu schweigen. Außerdem war er verwundet. Ja, Hagen war erschöpft, nicht nur von der Schlacht und ihren Folgen, auch von dem Marsch zur Höhle.

Das Mädchen war nicht einmal außer Atem.

Hagen hörte Stoff rascheln, dann half sie ihm, sich auf den Boden zu setzen. Unter sich spürte er weiches Leinen.

»Was ist das?«

»Mein Mantel.« Die Richtung, aus der ihre Stimme kam, veränderte sich. Sie schien sich vor ihm niederzulassen. Wieder raschelte etwas. Es verwirrte ihn, daß er sie nicht sehen konnte. Es machte ihn zornig.

»Beschreib mir immer, was du tust«, fuhr er sie an, grob in seiner Hilflosigkeit.

Sie zögerte einen Augenblick, vielleicht beleidigt über seinen Ton, dann sagte sie leise: »Ich packe mein Bündel aus. Ich habe Kräuter und Salben für deine Verletzungen dabei, auch ein paar Verbände. Aber ich glaube nicht, daß sie reichen werden.«

Ihm wurde bewußt, daß ihm zwar der ganze Körper weh tat, er aber nicht ausmachen konnte, wo er wirkliche Wunden davongetragen hatte. Er hätte sich ausziehen und von oben bis unten betasten müssen, und das würde er vor den Augen des Mädchens ganz gewiß nicht tun.

»Zieh dich aus«, sagte sie im selben Moment.

Er schnaubte abweisend und schüttelte den Kopf; sogleich schmerzte sein ganzer Schädel. Womöglich war er schwerer verletzt, als er angenommen hatte.

»Wenn du es nicht tust, kann ich deine Wunden nicht behandeln.« Nun wirkte sie fast erheitert, spöttisch sogar. Ihm fiel auf, daß jedes ihrer Worte ein wenig wie Gesang klang, seltsam melodiös; es war fast, als müßte jeder ihrer Sätze mit einem Reim enden. »Wenn ich deine Wunden nicht behandeln kann, wirst du verbluten.«

Deshalb also fühlte er sich so schwach. »Gut«, sagte er widerwillig. »Du wirst mir helfen müssen.«

»Tue ich das nicht schon die ganze Zeit?« Ein Tonfall wie die Unschuld leibhaftig. Er stellte sich große, braune Augen vor, mochten die Götter wissen, weshalb. Er wünschte sich, er könnte erkennen, wie sie aussah. Ihr Gesicht, die feinen Hände. Ihre Lippen, über die die Worte mal spöttisch, mal sanftmütig drangen.

Als sie ihm half, das Kettenhemd und das naßkalte Wams vom Leib zu ziehen, die hohen Lederstiefel und die Beinkleider, sogar seine Handschuhe, da wurde ihm bewußt, wie sehr er auf ihre Hilfe angewiesen war.

»Ohne dich hätte ich es nicht geschafft«, gestand er, als er nackt vor ihr lag. Nackt auf ihrem Mantel.

»Das war doch nur Kleidung.« Sie bestrich eine Verletzung an seinem Oberschenkel mit etwas Kühlem, das wie feuchter Waldboden roch.

»Das meine ich nicht. Du hast mir das Leben gerettet.«

Darauf schwieg sie, fuhr stumm mit ihrer Behandlung fort. Wortlos ließ er alles geschehen, was sie mit ihm tat. Sie bedeckte ein gutes Dutzend Wunden mit ihrer Salbe, einige bandagierte sie.

»Was ist mit meinen Augen?« fragte er schließlich, nachdem sie sich um alles andere gekümmert hatte.

»Willst du eine ehrliche Antwort?«

Seine Faust schoß vor, bekam durch einen Zufall ihr Handgelenk zu packen; gut, dadurch sah er nicht allzu hilflos aus. »Sag mir, was mit meinen Augen passiert ist!«

»Das linke wird blind bleiben, es ist so rot wie ein Herbstapfel.«

»Und das rechte?« fragte er mit schwankender Stimme.

»Nicht so blutunterlaufen wie das linke. Wenn du Glück hast, wirst du in ein paar Tagen oder Wochen wieder damit sehen können.«

Er schloß die Lider, als würde das irgend etwas zur Heilung beitragen. »Das linke, also...«

»Bleibt blind.« Ihre Traurigkeit klang aufrichtig.

Er bemerkte, daß er immer noch ihr Handgelenk festhielt, und ließ es schlagartig los, als hätte er sich daran die Finger verbrannt. Statt dessen tastete seine Hand vorsichtig nach ihrem Gesicht. Sie schien ihm auszuweichen, denn seine Finger fühlten ins Leere.

Draußen vor der Höhle erklang das heisere Krächzen von Raben. Anscheinend waren sie doch nicht so weit von den Leichen entfernt, wie er geglaubt hatte. Merkwürdig, nach solch einem Marsch.

»Wie siehst du aus?« fragte er leise.

Ganz sanft und fast noch melodiöser als zuvor erwiderte sie: »So wie du es wünschst.«

Das verwirrte ihn nur noch mehr. »Warum hilfst du mir?«

»Damit du mir hilfst.«

»Ich?« Häme kroch in seine Stimme. »Wie sollte ich irgendwem helfen können? Ich bin ein Krüppel, zu nichts mehr nütze als zum Flennen und Betteln und -«

»Das ist nicht wahr«, unterbrach sie ihn sanft. Und wiederholte noch einmal, viel, viel leiser: »Nicht wahr.«

Einen Moment lang wurde er unsicher, ein ungewohntes Gefühl. »Wobei könnte ich dir schon helfen?«

Er spürte, wie sich ihre Lippen an sein Ohr senkten. »Später«, wisperte sie. Er fühlte die Wärme ihres Atems, aber als er die Hand hob, um ihre Wange zu berühren, da war sie abermals verschwunden.

»Schlaf jetzt«, säuselte sie, so, wie Mütter es zu ihren Kindern sagen.

Er hörte am Rascheln ihrer Kleidung, daß sie sich zurückzog und in ein paar Schritten Entfernung niederlegte.

»Eins noch«, fragte er, als ihn bleierne Müdigkeit überkam. »Wie ist dein Name?« Es war plötzlich so schwer, die richtigen Worte zu formen.

»Mein Name?«

Diese Trauer in ihrer Stimme - warum nur?

»Mein Name«, sagte sie noch einmal, und diesmal war es keine Frage.

Hagen schlief ein, sein Bewußtsein glitt langsam davon. Trotzdem hörte er ihre Stimme.

Das Mädchen sagte: »Nimmermehr.«



Etwas war anders, als er erwachte. Er vermochte nicht genau zu bestimmen, was es war, aber er spürte es deutlich.

Sie war anders. Gelöster, fast fröhlich.

»Gut geschlafen?« fragte sie. Es roch nach aufgebrühten Pflanzen, und es war warm in der Höhle.

»Ich koche Kräutersud«, erklärte sie.

Hagen schlug die Augen auf. Sah nichts als Finsternis. Ein Alptraum?

Diese Schwärze! Diese tiefe, bodenlose Schwärze! Ihm war, als stiege etwas daraus empor, wie aus einem Abgrund; irgend etwas kam ihm aus der Tiefe entgegen, brachte die Erinnerung an etwas anderes mit sich, das genauso zu ihm aufgestiegen war, vor langen, langen Jahren...

Hagen riß den Mund auf und schrie, schlug um sich, schrie noch lauter, gellender...

Eine zarte Hand schnellte aus dem Nichts heran und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht.

Er verstummte. Sammelte sich. Ganz allmählich kehrte seine Ruhe zurück, und mit ihr die Vernunft.

Er war wach, und Nimmermehr war bei ihm.

»Geht es?« Ihre Stimme war voller Sorge.

Er suchte nach Worten, doch alle, die er fand, waren: »Ja, ich glaube.«

»Ich bringe dir den Kräutersud. Er wird dir guttun.«

Er fürchtete, sie könnte fortgehen, könnte ihn zurücklassen. Allein, gefangen im Abgrund seiner Blindheit. Im Angesicht einer lichtlosen Tiefe, in der irgend etwas lauerte.

»Geh nicht fort!« Es war, als riefe seine Stimme ohne sein Zutun.

»Ich gehe nicht fort. Ich verspreche es dir.«

Sie kehrte zurück und stellte etwas mit blechernem Scheppern auf dem Felsboden ab. Ein Topf. Der Dampf, der ihm daraus entgegenschlug, war so heiß, daß er ihm den Atem nahm.

Nachdem sie ihm etwas davon eingeflößt hatte, ging es ihm bald ein wenig besser. Sein Körper erwärmte sich, und Nimmermehr half ihm, sich aus ihrem Mantel zu wickeln und seine Kleidung überzustreifen. Er wollte auf das Kettenhemd verzichten, doch sie bestand darauf.

»Warum?« fragte er matt. »Wer mich erschlagen will, wird sich durch ein Kettenhemd nicht abschrecken lassen.«

»Du könntest ein wenig mehr Selbstvertrauen zeigen«, wies sie ihn zurecht. »Wenn du deinen Helm trägst, wird niemand merken, daß du blind bist.«

Er lachte auf, ein verbitterter, böser Laut. »Bis ich über den erstbesten Stein stolpere, meinst du.«

»Du wirst nicht stolpern. Du wirst reiten.«

»Reiten? Auf deinen Schultern?«

»Laß deine Wut nicht an mir aus, Hagen von Tronje«, gab sie erbost zurück und seufzte. »Wir werden natürlich auf einem Pferd reiten.«

Das machte ihn stutzig. Er hatte geglaubt, seine Ohren seien gut genug, um zu bemerken, wenn ein Pferd in der Nähe war. Das Schnauben, das Klappern der Hufe...

Doch da war noch etwas, das ihn alarmierte:

»Woher kennst du meinen Namen?«

Sie schwieg einen Augenblick, womöglich, weil sie erkannt hatte, daß sie zuviel preisgegeben hatte.

Dann aber sagte sie nur leise: »Das Pferd steht draußen vor der Höhle.« Kleiderrascheln verriet, daß sie aufstand.

»Nimmermehr!« fuhr er auf. Es war eigenartig, diesen Namen auszusprechen. »Woher weißt du, wie ich heiße? Wir haben nie darüber gesprochen.«

Sie klang weit entfernt, als sie sagte: »Du hast im Schlaf geredet.«

»Ist das wahr?«

»Warum sollte ich dich belügen?«

Er hörte am schwindenden Hall ihrer Schritte, daß sie die Höhle verlassen hatte. Wenig später kehrte sie zurück, und aus der Ferne erklangen genau jene Laute, die er eben noch vermißt hatte: das Schnauben eines Roßes, der harte Schlag seiner Hufe auf Stein. Im Hintergrund kreischten die Raben.

Mit einemmal war das Mädchen wieder neben ihm und ergriff seine Hand. »Komm mit.«

»Wohin reiten wir?« Er fühlte sich wie ein Greis, so abhängig war er von ihrem Wohlwollen - sogar, was die Aufrichtigkeit ihrer Antworten anging.

»Ich erklär’s dir, wenn wir von hier fort sind.«

Stolpernd folgte er ihr über die Geröllhalde, die vom Grund der Höhle hinauf zum Ausgang führte. »Warum die plötzliche Eile?«

»Die Gegend ist immer noch voller Krieger. Wenn wir hierbleiben, werden sie uns finden.«

Es gab wenig, das er dem entgegensetzen konnte. Wieder mußte er ihr einfach glauben.

Es war kälter geworden, als sie ins Freie traten. Der Vortag und sogar die Nacht waren einigermaßen warm gewesen. Jetzt aber drang die Luft beim Atemholen empfindlich kühl in Hals und Nase.

Das Pferd war groß; das spürte er, als er seinen Rücken berührte, ein hohes, kräftiges Tier.

»Ein Schlachtroß?« fragte er. Es hatte einen einfachen Sattel ohne Verzierungen, doch an der Seite hingen Gurte für Schwertscheide und andere Waffen.

»Kann sein«, erwiderte sie nur. »Ich habe ihn schon länger.«

»Woher hast du ihn?«

»Es ist mir zugelaufen, genau wie du. Und ich kenne auch seinen Namen.« Sie kicherte; es klang hell und ehrlich. »Er heißt Paladin.«

Zugelaufen? Das Streitroß eines Kriegers? Noch eine Merkwürdigkeit. Aber er gestand sich ein, daß alles, was ihm an Nimmermehr seltsam vorkam, ebensogut eine Folge von Zufällen sein mochte. Zudem, so sagte er sich, sorgte seine Blindheit dafür, daß er sich über Kleinigkeiten viel mehr Gedanken machte als früher. Er würde sich noch zum Grübler entwickeln.

»Woher kennst du seinen Namen?« fragte er, dennoch ein wenig mißtrauisch.

Nimmermehr lachte auf. »Ich habe ihn ihm gegeben, Dummkopf.«

Sie sagte das so freundlich, daß er ihr nicht böse sein konnte. Hagen der Dummkopf - vielleicht war es ja genau das, was sie aus ihm gemacht hatte; nein, er war ungerecht. Die Blindheit hatte ihm das angetan, nicht das Mädchen.

»Warte, ich helfe dir in den Sattel.«

Unwirsch lehnte er ab. »Das kann ich allein.«

Sofort zog sie ihre Hände zurück und ließ ihm seinen Willen. Hagen ertastete den Sattelknauf und zog sich nach oben. Er spürte, wie einige der kleineren Wunden abermals weh taten, wahrscheinlich sogar aufbrachen, doch der Triumph, wenigstens diese Hürde ohne Hilfe bewältigt zu haben, machte den Schmerz bedeutungslos.

Nimmermehr knotete ihr Bündel am Sattel fest und reichte ihm seinen Helm: »Setz ihn auf.« Dann, ehe er sich versah, saß sie hinter ihm, legte die Arme um seinen Oberkörper und schmiegte sich eng an seinen Rücken.

»Und nun?« Das Gefühl, wieder im Sattel zu sitzen, festigte ihn ein wenig.

»Gib mir die Zügel«, sagte sie.

Er tastete nach dem Lederband und drückte es ihr widerwillig in die Hände. Es gefiel ihm nicht, daß sie den Hengst lenken würde, aber sie hatte natürlich recht; er allein hätte sich nur auf den Instinkt des Tieres verlassen können, um nicht samt Pferd und Mädchen in der nächstbesten Felsspalte zu verschwinden.

Das Tier - Paladin hatte sie es genannt - setzte sich in Bewegung. Loses Geröll prasselte unter seinen Hufen talwärts. Sie waren noch lange nicht in Sicherheit.

Der Ritt ging bergauf. Nimmermehr sagte, sie wolle den Abstieg erst auf der anderen Seite der Berge wagen. Wenn Hagens Orientierungssinn ihn nicht im Stich ließ, dann lag irgendwo dort drüben der Rhein, gar nicht weit von hier. Der Gedanke erfüllte ihn mit dumpfer Panik, aber nur einen Augenblick lang.

»Was habe ich heute nacht noch gesagt?« fragte er unvermittelt.

»Oh, nicht viel«, versicherte sie ihm, eine Spur zu schnell. Wieder überkam ihn Argwohn. Doch dann sagte sie etwas, das sie tatsächlich nur von ihm selbst erfahren haben konnte: »Du hast von deinem Bruder gesprochen, von Dankwart, und davon, daß du zu ihm willst, nach Worms.«

Niemand konnte von Dankwarts Angebot wissen, ihm in die Stadt des Königs zu folgen und sich am Hof zu verdingen, niemand außer Hagen und Dankwart selbst. Hagen hatte es damals abgelehnt, aber seit einigen Monden schon trieb ihn das Schicksal immer näher zum Königshof, als wollte es dafür sorgen, daß er doch noch die richtige Entscheidung traf. Dankwart war Stallmeister des Königs, und er hatte Hagen versichert, auch für ihn eine angemessene Stellung zu finden. Doch welche Stellung war schon einem Söldner angemessen, einem Mann, der freiwillig auf die Ritterwürde verzichtet hatte?

Nimmermehr hatte beide Arme fest um seine Seiten gelegt, damit sie die Zügel besser fassen konnte. Ihre Ellbogen rieben an seinem Kettenhemd. Das mußte weh tun, aber sie erduldete es stumm.

Nach einer Weile erreichten sie ebenen Grund, wahrscheinlich eine Hochebene weit oben in den Bergen. Paladin schnaubte wie ein Mensch, der einen schweren Aufstieg hinter sich gebracht hatte.

»Wobei soll ich dir helfen?« fragte Hagen endlich, als das Mädchen keinerlei Anstalten machte, von sich aus die Sprache darauf zu bringen.

»Ich suche etwas«, erwiderte sie leise, fast als schäme sie sich dafür.

Hagen lachte grimmig auf. »Hoffentlich ist es groß genug, daß ich es bemerke, wenn ich dagegenlaufe.«

»Aber ja doch.« Ohne auf seinen sarkastischen Tonfall einzugehen, nahm sie eine Hand vom Zügel und legte sie auf seinen Oberschenkel, ganz unschuldig, wie er annahm. »Vielleicht kannst du auf dem rechten Auge wieder sehen, bis wir es gefunden haben.«

»Was ist es denn?«

Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Das Herbsthaus.«

»Herbsthaus?« Er überlegte, ob und wann er diesen Begriff schon einmal gehört hatte. »Was ist das?« fragte er schließlich.

»Ein...« Sie lachte plötzlich. »... nun, ein Haus. Ich weiß nicht, wo es steht, aber ich werde es wissen, wenn wir in seiner Nähe sind.«

Sie war ein wenig verdreht im Kopf, kein Zweifel. Vielleicht nicht völlig verrückt, wenn auch alles andere als gewöhnlich. Blieb jedoch die Tatsache, daß sie sein Leben gerettet hatte.

»Wie soll ich dir dabei helfen?« wollte er wissen.

»Du mußt mich beschützen.« Sie erklärte eilig, was sie damit meinte, bevor er abermals auf seine Blindheit anspielen konnte: »So lange sich uns niemand direkt entgegenstellt, wird keiner bemerken, daß du nichts sehen kannst. Jeder wird glauben, ich sei in der Begleitung eines mächtigen Kriegers. Wenn du auch kein Ritter bist, so siehst du doch wenigstens aus wie einer.«

»Vielen Dank«, brummte er dumpf unter seinem Helm.

»Das ist mein Ernst. Keiner wird bemerken, daß ich es bin, die das Pferd lenkt. Alle werden glauben, daß ich hinter dir sitze, weil ich unter deinem Schutz stehe.«

Er fand das reichlich albern, widersprach aber nicht. »Denkst du dabei an jemanden, den du kennst?«

Es war nur ein Verdacht gewesen, aber er traf genau ins Schwarze.

Sie klang merklich kleinlaut, als sie antwortete: »Es gibt da jemanden... Er verfolgt mich.«

»Wer? Und viel wichtiger: Warum?«

»Sein Name ist Morten von Gotenburg.«

»Ein verflossener Liebhaber?«

»Nein.« Sie machte eine lange Pause, bis Hagen schon glaubte, sie wolle gar nichts mehr sagen. Die Erinnerung an den Mann schien ihr weh zu tun. Schließlich aber fuhr sie fort: »Er ist Magier.«

»Magier?« entfuhr es Hagen belustigt. »Ein Kerl mit spitzem Hut und bunten Pulvern, die zischen, wenn man sie anzündet?« Er traute sich zu, eine solche Gestalt sogar blind zu bezwingen.

Ihr Kinn stieß an seinen Rücken, als sie den Kopf schüttelte. »Er nennt sich nicht selbst so. Andere haben ihn einen Magier geschimpft, einen Hexer, Teufelsanbeter - und Schlimmeres.«

»Was will er von dir?«

»Mich vernichten.« Das war es tatsächlich, was sie sagte: vernichten, nicht töten.

»Aus welchem Grund?«

»Morten braucht keinen Grund, um etwas zu tun.« Das klang wenig überzeugend, und sie bemerkte es selbst, denn gleich darauf fügte sie hinzu: »Zumindest sind es Gründe, die niemand sonst versteht.«

Hagen schnaubte. »Hör zu, Mädchen. Wenn ich für dich kämpfen soll, dann mußt du -«

Sie schnitt ihm mit spitzer Zunge das Wort ab: »Du sollst nicht für mich kämpfen. Du kannst gar nicht kämpfen, Hagen von Tronje - schon vergessen? Ich will nur, daß du mit mir gesehen wirst. Deine Anwesenheit allein -«

Er riß ihr grob die Zügel aus der Hand und brachte abrupt das Pferd zum Stehen. Der Hengst gehorchte mit widerwilligem Schnauben. Obwohl Hagen nur Schwärze sah, fuhr er im Sattel herum.

»Wenn dir daran liegt mich zu demütigen, können wir unsere Reise hier und jetzt beenden.« Er sprach leise, mit gefährlicher Eindringlichkeit.

Sie preßte ihren Oberkörper enger an seinen Rücken, doch durch das Kettenhemd fühlte er sie kaum. Vielleicht war sie noch jünger, als er angenommen hatte. Oder einfach nur mager.

»Du mußt bei mir bleiben.« Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton bekommen, der Hagen noch weniger gefiel als ihre herausfordernde Keßheit; er erinnerte Hagen daran, daß er in ihrer Schuld stand. »Es genügt, wenn man sieht, daß du bei mir bist«, fuhr sie fort. »Kein Wegelagerer wird sich heranwagen, und damit ist schon viel gewonnen. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich auf meiner Reise alles erdulden mußte. Immer auf der Flucht, wenn nicht vor Morten, dann vor Kerlen, die glaubten, ich sei Freiwild für ihre Begierde. Du mußt mir helfen, Hagen.«

Er zögerte einen Moment, dann gab er ihr die Zügel zurück. »Ja«, sagte er nur.

Sein Grimm war keineswegs verflogen, aber seine Ehre gestattete keine andere Entscheidung. Und noch war seine Dankbarkeit ihr gegenüber mehr als eine lästige Pflicht. Er konnte nicht abstreiten, daß er sie mochte.

»Wie alt bist du?« fragte er, als sie weiterritten. Er hoffte, sie würde es nicht falsch verstehen.

»Alter als du denkst.«

»Was für eine Antwort ist das

»Eine ehrliche.« Sie kicherte spielerisch. »Aber um die ganze Wahrheit zu sagen, so genau weiß ich mein Alter gar nicht.«

»Wer waren deine Eltern? Wo bist du aufgewachsen?«

Es wurde allmählich zur schlechten Angewohnheit, daß sie eine kleine Ewigkeit schwieg, bevor sie sich zu einer Erwiderung auf seine Fragen durchrang. Lange ritten sie wortlos dahin, und Hagen lauschte auf den ruhigen Trab des Pferdes. Sie mußten sich wieder auf grasbewachsenem Boden befinden, denn die Hufschläge klangen gedämpfter, nicht mehr so hart wie auf Stein. Ein scharfer Wind pfiff über das Bergland. Ein Rascheln von Blättern war nirgends zu vernehmen, so daß Hagen vermutete, daß es hier keine Bäume gab.

Er nahm sich vor, Nimmermehr zu bitten, ihm das Gelände zu jeder Zeit zu beschreiben - auch um etwaigen Hinterhalten zu entgehen.

Bevor er aber den Gedanken aussprechen konnte, sagte sie unvermittelt: »Meine Eltern sind tot. Und tot ist auch der Ort, an dem sie lebten.«

Er sagte nicht, daß es ihm leid tat. »Ich dachte schon, du seist vom Pferd gefallen. Ich hab dich gar nicht mehr gehört.«

»Ich schlage dir einen Handel vor«, sagte sie.

»Ich glaube nicht, daß ich viel für einen Handel übrig habe, den du mir vorschlagen könntest.« Sein linkes Auge begann wieder zu schmerzen. »So, wie ich es sehe, ist noch nicht einmal unser erster Handel beendet.«

»Wie meinst du das?«

»Du hast mir das Leben gerettet, damit ich in deiner Schuld stehe. Sie ist noch nicht abgetragen. Ist das etwa kein Handel?«

Sie widersprach nicht, obgleich er das erwartet hatte. Das kleine Biest war aufrichtig - wenigstens in diesem Punkt. »Ich meine nicht diese Art von Geschäft«, sagte sie. »Es ist viel einfacher. Wir werden nur reden.«

»Das tun wir doch längst.« Der Drang, sein schmerzendes Auge zu massieren, wurde übermächtig, aber der Helm war im Weg. »Ich rede zuviel und du zuwenig.«

Sie lachte leise. »Hör zu: Du erzählst mir ein Geheimnis aus deiner Vergangenheit, und dafür wirst du eines von mir erfahren.«

»Wer sagt dir denn, daß mir überhaupt der Sinn nach deinen Geheimnissen steht?«

Sie ließ das Pferd langsamer laufen, wahrscheinlich wurde das Gelände wieder schwieriger. »Wir können uns auch anschweigen, bis dein Auge besser wird. Wenn dir das lieber ist...«

Er seufzte schwer. Hoffte, das würde ihr zeigen, daß er sich nur auf ihren Vorschlag einließ, um ihr einen Gefallen zu tun. »Einverstanden. Erzähl mir dein Geheimnis.«

»Du fängst an«, widersprach sie.

»Warum ich?«

»Weil mein Geheimnis das Aufregendere ist.«

Er überlegte, ob er sich wirklich auf dieses Kinderspiel einlassen sollte. Sicher, er hätte ihr einfach irgendeine Lüge auftischen können, aber er dachte sich, daß sie das nicht verdient hatte.

Sie hat dir das Leben gerettet, wiederholte eine lästige Stimme in seinem Kopf, immer wieder und wieder: dein Leben gerettet.

»Was willst du hören?« preßte er schließlich hervor.

»Die Wahrheit.« Sie schien genau zu wissen, was in seinem Inneren vor sich ging.

»Unter einer Bedingung«, verlangte er. »Du wirst mich nicht unterbrechen und keine Fragen stellen, die über das hinausgehen, was ich dir erzähle.«

»Mein Ehrenwort«, sagte sie.

»Vorher will ich ganz genau wissen, durch was für eine Landschaft wir reiten. Und sobald sich etwas daran ändert, muß ich es erfahren.«

»Ich dachte, ich soll dich nicht unterbrechen«, bemerkte sie spöttisch. Dann schien sie sich umzuschauen, denn es dauerte eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Über den Boden kriechen Eidechsen. Sie sind ziemlich klein und gelb und haben schwarze Punkte. Sie verstecken sich in kleinen Erdspalten, wenn wir vorbeireiten, und ihre Krallen auf den Steinen machen lustige Geräusche. Die Ränder der Spalten sind dunkelbraun, aber ihr Inneres ist schwarz und -«

»Ich wollte es nicht so genau wissen.«

Nimmermehr kicherte, ganz das junge Mädchen. »Wir reiten durch ein Talkessel, oben in den Bergen. Alles ziemlich felsig und zerklüftet, kaum Bäume, nur Heidekraut und Steine, dazwischen Büsche mit langen Dornen; ich weiß nicht, wie sie heißen. Es ist bald Mittag, die Sonne steht schon hoch am Himmel. Von Süden ziehen dunkle Wolken auf, kann sein, daß es am Nachmittag regnen wird.« Sie stockte, holte tief Luft und fragte dann: »Recht so?«

Als Hagen nickte, klirrte sein Helmrand auf das Kettengewebe seines Rüstzeugs. Nimmermehr lachte abermals, sagte aber nichts mehr. Sie schien mit einemmal in alberner Stimmung zu sein, als freue sie sich über irgend etwas.

»Was ist los?« fragte Hagen mürrisch. »Irgendwas, das ich wissen sollte?«

»Ich bin gespannt auf dein Geheimnis.« Sprach’s und kicherte erneut.

»Es ist nicht besonders erheiternd«, zischte er böse.

Sie räusperte sich und wurde ernst. »Verzeih mir.«

Hagen zögerte ein letztes Mal, dann sagte er sich erneut, fast beschwörend, daß es nichts ausmachte, wenn er ihr die Wahrheit sagte. Sollte sie es sich anhören und selbst entscheiden, was davon zu halten war. Sie war der erste Mensch, dem er davon erzählte; nicht einmal Dankwart kannte die ganze Geschichte.

Hagen holte tief Luft, begann.

Er erzählte ihr von der Nacht, als in der Burg seiner Ahnen ein großes Fest begangen wurde. Er und sein Bruder waren vor dem Trubel geflohen und hatten vor den Toren herumgetollt. Nach wochenlangem Regen und der Schneeschmelze im Gebirge war ein verheerendes Hochwasser über die Länder am Fluß hereingebrochen, und die Kinder hatten es als besonderes Wagnis angesehen, sich dem verbotenen Ufer zu nähern.

Hagen berichtete Nimmermehr von dem angetriebenen Wrack, von seinem Plan, hineinzuklettern, und schließlich von seiner Irrfahrt den Strom hinab. Er sprach auch, stockend, von seiner Kletterpartie in den leeren Rumpf und dem unheimlichen Tannenzirkel, dessen Wipfel das Wrack aufgehalten hatten. Er beschrieb ihr das goldene Geschmeide in den Ästen, den Reiz, den es auf einen kleinen Jungen ausgeübt hatte, die unbändige Freude, als es ihm gelungen war, den Schatz für sich zu gewinnen.

Dann aber verfiel er in Schweigen.

Nimmermehr rutschte ungeduldig auf dem Pferderücken umher, wagte aber nicht, ihre Vereinbarung zu brechen: keine Fragen, bevor die Erzählung nicht zu Ende war.

Es dauerte lange, ehe Hagen sich überwandt, seinen Bericht fortzuführen. Der eisige Wind, der den Talkessel peitschte, kroch durch die Eisenmaschen seines Kettenhemdes, durch sein ledernes Wams bis zur Haut. Er fror plötzlich erbärmlich, und die Finsternis vor seinen Augen gewann an neuerlicher Tiefe. Seine Blindheit wurde wieder zum Abgrund, schwarz und hungrig und bodenlos.

Und während er sprach, glaubte er erneut zu spüren, wie etwas daraus zu ihm emporblickte, wie es langsam begann, zu ihm aufzusteigen, ohne Beine, ohne Augen, die Kehrseite seiner Seele.

Oder, viel schlimmer noch: die Seele selbst.


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