Kapitel 6


»Das kannst du nicht tun, Vater!« brüllte Hagen, fuhr auf dem Absatz herum und stürmte zur Tür.

Graf Adalmar war groß und schwer, aber er war auch weit schneller, als ihn sein behäbiger Leib erscheinen ließ. Innerhalb eines Atemzuges holte er Hagen ein und verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Tu das nie wieder!« raunte er im Tonfall eines Todesurteils. »Erhebe nie wieder deine Stimme gegen deinen Vater, oder, das schwöre ich dir, du wirst nicht länger ein von Tronje sein.«

Hagen überspielte Schmerz und Furcht mit einem jugendlichen Trotz, den er selbst für Kühnheit hielt. »Bin ich das denn überhaupt noch? Warum sonst schickst du Dankwart als Knappen an den Hof des Königs, nach Worms, mich aber zu diesem... diesem...« Er verstummte, als ihm klar wurde, daß Tränen in seine Augen stiegen.

Sein Vater funkelte ihn zornentbrannt an. »Otbert von Lohe ist ein treuer Untertan des Königs, ein großer Krieger und ganz sicher jemand, von dem du vieles lernen kannst, mein Sohn.«

»Seine Grafschaft ist so groß wie unser Pferdestall.«

»Sein Lehen mag nicht das größte im Reich sein, aber ganz sicher eines der am besten geführten.«

Hagen versuchte vergeblich, dem Blick seines Vaters standzuhalten. Er schaute zu Boden, als er sagte: »Die Leute erzählen sich, er sei verrückt.«

Die Augen des Grafen weiteten sich. »Wer erzählt das?« brüllte er empört. »Nenne mir einen Namen, und ich schlage dem Kerl den Schädel ab!«

Hagen aber hielt seine Zunge im Zaum und schüttelte nur stumm den Kopf.

Dankwarts Stimme erklang von der anderen Seite der Halle. »Ich war es, Vater. Ich habe das gesagt.«

Adalmar gab Hagen einen Stoß, der ihn drei Schritte nach hinten taumeln ließ, und fuhr mit hochrotem Gesicht zu seinem Ältesten herum: »Du lügst! Du willst deinen Bruder in Schutz nehmen!«

»Nein, Vater«, sagte Dankwart leise. Auch er wagte nicht, dem Grafen in die Augen zu blicken. »Man hört viel Seltsames über Otbert von Lohe. Die Leute -«

»Die Leute?« schrie Adalmar und tobte wie ein Unwetter auf Dankwart zu. »Ihr seid die Söhne eines Grafen, und ihr hört auf die Leute

Hagen starrte zu Dankwart hinüber, der vor der heranstampfenden Masse seines Vaters schrecklich klein und schmächtig wirkte. »Vater!« rief Hagen dem Grafen nach, bevor er Dankwart erreichen konnte. »Warte, Vater! Entehre nicht auch noch deinen Ältesten. Mich schlage ruhig, wenn es dein Wille ist, aber füge Dankwart nicht solche Schmach zu. Er ist der Erbe deines Hauses!«

Adalmar blieb wie angewurzelt in der Mitte der Halle stehen. Er blickte wild von einem Sohn zum anderen und sah einen Moment lang aus, als wolle er beide dem Scharfrichter vorführen lassen.

Dann aber, von einem Herzschlag zum nächsten, legte sich sein Zorn. Er hörte auf, wie ein Stier zu schnauben, schlug sich mit der Pranke vor die Stirn - und begann aus vollem Hals zu lachen.

Dankwart hob vorsichtig seinen Blick, schaute erst zu Hagen, dann zu seinem Vater hinüber. Der Graf schüttelte sich in brüllendem Gelächter wie ein Opfer der Tanzwut.

Schließlich, als Adalmar sich allmählich in den Griff bekam, winkte er seine beiden Söhne zu sich. Aus gegenüberliegenden Ecken der Halle traten sie an seine Seite, erst zögernd, dann aufrecht und gefaßt. Ihr Vater zog sie mit kraftvollen Armen an sich.

»Ich bin sehr stolz auch euch«, sagte er laut und würdevoll, so daß auch das horchende Gesinde hinter der Tür es hören konnte. »Ihr beiden, Hagen und Dankwart, seid würdige Söhne unseres Geschlechtes, und euch soll versichert sein, daß ich nur das Beste für jeden von euch will.« Er sah Dankwart an, der ihm, ebenso wie Hagen, bis zur Nase reichte. »Du, Dankwart, bist der Erstgeborene und wirst einst dieses Lehen erben. Deshalb mußt du mit den Gepflogenheiten am Hof zu Worms vertraut sein. Für dich kann es keine bessere Schule auf dem Weg zur Ritterwürde geben als die Königsburg.« Er lächelte Dankwart aufmunternd zu, dann blickte er Hagen an. »Du aber, Hagen, wirst deinem Bruder dereinst als Führer seiner Krieger zur Seite stehen, und deshalb wirst du vor allen Dingen lernen müssen, wie ein Ritter mit Waffen und Armeen und mit dem Blutdurst seiner Feinde umgeht. Was schert dich das höfische Spiel von Umwerben und Schmeicheln und Leisetreten? Du sollst der mächtigste Krieger an den Gestaden des Rheines sein, und wenn es einen gibt, der dir dabei helfen kann, dann ist es mein alter Kampfgefährte Otbert von Lohe. Er versteht nichts von Getändel und Diplomatie, aber wenn es um den Kampf Mann gegen Mann geht, dann ist er einer der Besten.«

Hagen war tiefberührt von den Worten seines Vaters, und obgleich ihm der Gedanke, an Otberts Hof zu reisen, nach wie vor zuwider war, suchte er nach einer freundlichen Erwiderung.

»Man hört«, sagte er, »Graf Otbert sei ein Meisterschütze mit dem Langbogen.«

»Aber ja«, rief Adalmar begeistert und sein Blick verklärte sich, als alte Erinnerungen in ihm aufstiegen. »In so manchem Kampf hat seine Bogenkunst das Blatt für uns gewendet. Otbert vermochte es, einem feindlichen Heerführer über hundert Mannslängen das Auge auszuschießen.«

»Hast du ihm deshalb Waffenbrüderschaft gelobt?« fragte Dankwart.

»Nicht wegen seiner Künste«, entgegnete Adalmar und krallte die Hände in die Schultern seiner Söhne. »Wir wurden Brüder, weil Otbert mir ein Freund war wie kein zweiter. Er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet - so wie ich ihm -, und wir schworen uns, derlei nie zu vergessen.«

Mit einem Seufzen löste er sich von den beiden und trat an eines der hohen Spitzbogenfenster. Gedankenverloren blickte er hinaus über das Land, über Wälder und Fluß, als warte irgendwo dort draußen die Vergangenheit auf ihn.

»Wenn du morgen zu ihm abreist, Hagen, dann wird das sein, als kehre sein bester Freund zu ihm zurück.«



An einem Kreuzweg, unweit des Rheinufers, trennten sich die Reitergruppen. Dankwart warf Hagen einen letzten, sorgenvollen Blick zu, dann ritt er inmitten seines Gefolges davon. Hagens Bewacher, ein Trupp aus sechs Kriegern, angeführt von einem Vetter seines Vaters, wandten ihre Pferde gen Süden und wollten ihren Weg fortsetzen, doch Hagen hielt sie mit einem knappen Befehl zurück. Angespannt folgte sein Blick seinem Bruder.

Dankwart und seine Männer ritten zum Ufer hinab. Unweit der Anlegestelle stiegen sie von ihren Pferden und gaben dem Fährmann ein Zeichen. Das flache Boot näherte sich dem Ufer, und wenig später schon führte Dankwarts Trupp seine Tiere aufs Deck.

Hagens Herzschlag raste. Er hatte nur Augen für die grauen Wogen, die gegen den Rumpf der Fähre klatschten. Er sah den hellen Schaum auf den Wellenkämmen und glaubte Augen darin zu erkennen, Augen, die ihn höhnisch anglotzten.

Mehr als zwei Jahre lang hatte Hagen sich an seine Abmachung mit den Wasserfrauen gehalten, hatte Mond für Mond seinen Tribut an den Fluß gezollt. Anfangs waren es winzige Schmuckstücke gewesen, Ohrringe und Anhänger, die er aus dem Gemach seiner Mutter gestohlen hatte. Weil der Pfaffe der Gräfin gepredigt hatte, es gezieme einer demütigen Christin nicht, sich mit Gold und Silber zu behängen, war der Diebstahl unbemerkt geblieben. Im letzten Monat war das Goldopfer bereits angewachsen zu einem Säckchen von der Größe einer Männerfaust, entwendet aus der gräflichen Schatzkammer. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe sein Verschwinden auffallen würde, und Hagen war mehr als dankbar, daß er dann nicht mehr in der Burg weilen würde.

Er also hatte sich an seinen Teil der Abmachung gehalten. Trotzdem leckte der Fluß am Rumpf der Fähre empor, hier und da schlugen gischtende Wellengipfel über die Reling und brachten Unruhe unter die Pferde. Dankwart wirkte bekümmert, denn obgleich er nicht um die wahre Natur von Hagens Handel mit dem Rheingeist wußte, so ahnte er doch, daß von dem Fluß eine unbestimmte Gefahr ausging.

Einen Augenblick lang wurde Hagen von Panik überwältigt. Er sah Dankwarts düsteres Gesicht, sah die graue, strudelnde Strömung, die scheuenden Pferde, die ahnungslosen Krieger, und er wußte plötzlich, daß dies kein gutes Ende nehmen würde. Wenn nicht an diesem Tag, dann an einem anderen. Wie sollte er auf Otberts Burg seine Goldopfer fortsetzen, an einem Ort, wo man ihn, einen Fremden, nicht so leichtfertig in der Nähe der Schätze dulden würde? Wen würde der Siebenschläfer als erstes bestrafen? Dankwart, seine Eltern, alle anderen, die ihm teuer waren?

Er hätte heulen mögen, war sich aber der Blicke seiner Begleiter bewußt, die nur auf ein Zeichen von ihm warteten, um die Reise nach Süden fortzusetzen.

Hagen hob noch einmal die Hand, um Dankwart zuzuwinken, dann wandte er sich abrupt ab und schloß zu den anderen auf. Er würde nicht zulassen, daß der Flußgeist mit ihm spielte.

Später, als sie bereits ein gehöriges Stück der Uferstraße zwischen sich und die Anlegestelle gebracht hatten, schaute Hagen sich noch einmal widerwillig um.

Die Fähre hatte auf der anderen Seite angelegt, die Reiter verließen das Deck. Der Fährmann sah ihnen zu. Er stand starr auf einen Stab gestützt im Heck des Bootes und wandte Hagen den Rücken zu.

Als der letzte Reiter im Wald verschwunden war, der Straße nach Worms entgegen, wandte der Fährmann plötzlich den Kopf.

Hagens Züge gefroren.

Wo das Gesicht des Mannes hätte sein sollen, war nichts als ein kreisender Wasserstrudel, außen grau und schäumend, in der Mitte aber schwarz wie ein wirbelndes Auge.

Höhnisches Gelächter drang vom Fluß herüber.

Alle außer Hagen hielten es für das Tosen der Strömung.



Drei Tage später passierte Hagens Reitertrupp den ersten Grenzstein zum Lehen des Otbert von Lohe. Die Burg des Grafen lag auf einem schroffen Felsen oberhalb des Flusses. Auf den umliegenden Hängen wurde Wein angebaut, am Ufer lagen Fischerboote. Die Sonne wanderte dem Horizont entgegen und tauchte den Rhein und die Weinberge in Gold. Ein Omen, dachte Hagen alarmiert, ohne jedoch die Bedeutung zu erkennen.

Die Pferde trugen sie bergauf, über einen geschlängelten Hohlweg, der vor einem zerklüfteten Felsgraben endete. Ein Horn ertönte auf den Zinnen der Burg, dann senkte sich mit einem erbärmlichen Quietschen die Zugbrücke über die Kluft. Die Hufe schlugen hart auf die Holzbohlen, als Hagen und seine Garde in die Festung einritten.

Denn eine Festung war es wohl, mehr noch als die Burg derer von Tronje. Dies war das Heim eines Kriegers, ganz ohne Zweifel. Hoch und mächtig überschauten drei Türme das Land am Fluß, und die Mauern waren dick genug, um einem Ansturm der Götter selbst standzuhalten (so wenigstens erschien es Hagen, der in seinem Leben erst zwei Burgen gesehen hatte, und diese war eine davon).

Auf dem Hof herrschte reges Treiben. Krieger putzten im Licht der Abendsonne ihre Waffen, Pferde wurden abgebürstet, Mägde balancierten Krüge und Körbe von den Nebengebäuden ins Haupthaus. Der Geruch von gebratenem Fleisch hing in der Luft. Otbert von Lohe wollte seinen neuen Schützling mit einem Festmahl willkommen heißen.

Der Graf trat ihnen persönlich entgegen, in seinem Gefolge seine Gemahlin Laurine, seine älteste Tochter Malena und die Jüngste Nane. Am Burgbrunnen in der Mitte des Hofes trafen sie aufeinander.

Otbert war ein großer Mann, breit wie Hagens Vater, wenngleich ein wenig rundlicher um die Hüften. Man sah ihm an, daß es eine Weile her war, seit er zum letztenmal in die Schlacht gezogen war. Seine Züge aber waren hart und unbeugsam, das Haar schlohweiß. Als er lächelte, sah Hagen, daß dem Grafen ein Schneidezahn fehlte.

Seine Frau Laurine war zweifellos einst ein schönes Weib gewesen, mit wallendem graugoldenem Haar, und was das Alter ihr an Schönheit abgefordert hatte, hatte es ihr an Würde und Stolz hinzugegeben. Sie war schlank und hochgewachsen und verbreitete Anmut mit jedem ihrer Schritte. So ganz anders war sie als Hagens Mutter, die die Jahre an Adalmars Seite in die Arme eines Pfaffen getrieben hatten. Laurine trug ein rotes, enganliegendes Kleid und einen braunen, silberdurchwirkten Überwurf. Ihr langes Haar war mit mehreren Goldspangen hochgesteckt. Ihr Blick war gütig und voller Wärme.

Was die beiden Töchter anging - nun, Nane war zu jung, um irgendeinen Eindruck bei Hagen zu hinterlassen; sie hatte höchstens vier Sommer gesehen. Malena aber war in Hagens Alter, vielleicht ein wenig jünger. Sie war schlank und anmutig wie ihre Mutter, ihr weißblondes Haar war mit Silberfäden zu einer Unzahl langer Zöpfe geflochten. Ihr Gesicht war schmal, der Mund klein und von bezaubernder Röte. Rot aber waren auch ihre Augen, und das war das Eigenartigste, das Hagen je an einem Menschen beobachtet hatte - Malena hatte tatsächlich leuchtend rote Augen wie ein Wolfshund in der Nacht. Malenas Haut war von einem zarten Weiß, so rein wie Milch, nur klarer, fast durchscheinend. Der Eindruck unbeschreiblicher Schönheit und der Hauch des Gespenstischen überlagerten sich in ihrer Erscheinung.

Graf Otbert hieß sie willkommen, erst förmlich, ganz dem höfischen Zeremoniell entsprechend, dann mit Schulterschlag und lautem Gelächter. Jeder, auch die niedersten Krieger in Hagens Gefolge, erhielten einen heftigen Handschlag und den überschwenglichen Dank, daß sie Adalmars Sohn sicher hergebracht hatten. Sie sollten am Abend gemeinsam mit der ganzen Burg feiern, ausschlafen und sich erst am nächsten oder gar übernächsten Tag auf den Heimweg machen, ganz wie es ihnen beliebte. Die Krieger waren sichtlich von soviel Freundlichkeit angetan, und Hagen begriff, daß dies bereits seine erste Lektion war: Sei immer gut zu jenen, von denen dereinst dein Leben abhängen mag.

Auch die Gräfin nahm Hagen in den Arm wie die Mutter, die sie ihm für die nächsten Jahre sein wollte. Die kleine Nane kicherte und schaute zu Boden, als Hagen ihr zur Begrüßung über das helle Blondhaar strich, während Malena, die schöne, geheimnisvolle Malena, ihm einen Blick aus ihren roten Augen schenkte, der ihn bis ins Mark erschauern ließ; es war ein wohliger Schauer, der für Hagen eine gänzlich neue Empfindung bedeutete. Er beschloß, daß es ihm in der Burg derer von Lohe gut gefiel, ja, nun war er seinem Vater sogar dankbar für die Entscheidung, ihn hierher zu schicken. Die Menschen begegneten ihm großherzig und voller Freundschaft, und die Mauern der Festung waren so hoch und standhaft, daß nicht einmal der Rhein ihnen etwas anzuhaben vermochte. Ein glühendes Hochgefühl machte sich in Hagen breit, und für eine Weile vergaß er sogar seinen Pakt mit dem Flußgeist.

Gräfin Laurine führte ihn in sein Gemach, eine großzügig angelegte Kammer mit Ausblick auf die bewaldeten Berge. Im stillen war Hagen dankbar, daß er von hier aus nicht auf den Rhein sehen mußte. Es bestärkte ihn nur in dem Glauben, daß sein Geschick sich jetzt zum Guten wenden würde.

Während ihres Weges durch die steinernen Flure der Burg war Nane fröhlich hinter ihnen dreingesprungen. Jetzt erst fiel Hagen auf, daß auch sie rote Augen und schneeweiße Haut hatte; wenn auch nicht so stark ausgeprägt wie bei ihrer älteren Schwester.

Zu Hagens Enttäuschung war Malena nach der Begrüßung verschwunden. Er hoffte sehr, er würde sie später beim Festmahl wiedersehen.

Laurine ließ ihn eine Weile allein, damit er sich frischmachen und die staubige Reisekleidung ablegen konnte. Hagen warf sich langgestreckt auf sein Lager - es war hart und erstaunlich ungemütlich nach all der Behaglichkeit, aber ihm dämmerte gleich, daß auch dies auf Otberts Veranlassung geschehen war. Der Graf wollte gar nicht erst davon ablenken, daß Hagen vor allen Dingen hier war, um die Erziehung eines Kriegers zu genießen. Es war üblich, daß ein Junge von Adel solch eine Lehre nicht am elterlichen Hof genoß, sondern in der Fremde, wo, so nahm man an, seine besten Tugenden zutage treten würden.

Er war wohl eingeschlafen, als es an der Tür klopfte, und eine Kammerzofe ihm mitteilte, daß es an der Zeit für die Feierlichkeiten sei.

Hagen dankte ihr, kleidete sich um und machte sich frohgemut auf den Weg, um an der Tafel seiner neuen Familie die eigene Ankunft zu feiern.



Drei Tage vergingen. Tage voller Lehrstunden im Umgang mit Waffen, Rüstzeug und den ersten Grundzügen der Kriegsführung. Otberts Stallmeister zeigte sich erfreut, wie geschickt Hagen im Umgang mit Pferden war und welch große Geduld er bei der Pflege der Tiere zeigte. In ihm hatte Hagen schnell seinen ersten Fürsprecher und väterlichen Freund gefunden.

Was den Schwertkampf anging, so entdeckte der zuständige Lehrmeister, ein düsterer Ritter mit Namen Adalwig, zahlreiche Mängel in Hagens Fertigkeiten - kein Wunder, denn daheim war der Junge nur oberflächlich in die Kampfkunst eingewiesen worden. Adalwig versicherte Hagen jedoch mit finsterer Miene, daß er die feste Absicht habe, solche Schwächen schnell zu beheben. Hagen stellte sich notgedrungen auf harte Übungsstunden ein.

Die Gräfin selbst prüfte eingehend Hagens Manieren, sein Benehmen bei Tisch und - zu seiner Verblüffung und ihrer Erheiterung - seine Stimmgewalt. Hierzu verlangte sie ihm allerlei Lieder ab, die er krächzend und falsch für sie zum besten gab. Er schämte sich sehr, als sie wie unter Schmerzen das Gesicht verzog, doch gleich darauf brach sie in helles Gelächter aus, umarmte ihn herzlich und lobte ihn über alle Maßen für seine Bereitwilligkeit, seine Fertigkeiten zu schulen. Bald schon war Hagen gewiß, daß Laurine ihm eine bessere Mutter sein würde, als seine eigene es je gewesen war. Er begann sich zu wünschen, nie mehr von hier fortgehen zu müssen.

Graf Otbert sah er während der ersten drei Tage nur zum Essen, das die Familie gemeinsam an einer großen Eichentafel einnahm. Bei diesen Gelegenheiten warf Hagen immer wieder verstohlene Blicke zu Malena hinüber, die ihm jedesmal ein glutäugiges Lächeln schenkte.

Schließlich, am späten Abend des dritten Tages, klopfte es an Hagens Kammertür. Helles Mondlicht erhellte die Fensterscheibe aus dickem, trübem Glas, ein Nachtvogel schrie in den Wäldern. Hagen hatte bereits geschlafen und brauchte einen Moment, ehe er begriff, daß jemand Einlaß begehrte.

Das Klopfen wiederholte sich, ungeduldiger diesmal. Hagen zog sein langes Nachthemd zurecht und rief: »Ja, bitte?«

Die Tür ging auf - und Hagens Träume von einem Besuch der schönen Malena zerstoben.

Im Schein der Korridorfackeln stand Graf Otbert.

»Komm, Junge«, sagte er düster, »ich will dir etwas zeigen.« Er trug ein Lederwams mit dem Wappen seiner Familie. Auf seinem Rücken hing ein prallgefüllter Köcher. Das Gefieder der Pfeile schimmerte bei jeder Bewegung.

Hagen sprang pflichtbewußt aus dem Bett und drehte sich eilig mit dem Rücken zur Tür, damit Otbert nicht bemerkte, daß seine Zuneigung für Malena sich deutlich unter seinem Nachtgewand abzeichnete. Schnell schlüpfte Hagen in seine Beinkleider, versuchte dabei, das Gesicht des Mädchens aus seinen Gedanken zu vertreiben, und zog sein Wams über.

Wenig später eilte er an Otberts Seite den Gang hinunter, bemüht, mit dem Grafen Schritt zu halten. Die Wandfackeln in ihren Halterungen warfen vereinzelte Lichtinseln in den Korridor, gelbes Flakkern spielte auf den Gesichtern der beiden. Otbert hielt einen reichverzierten Langbogen in der Rechten.

»Wo gehen wir hin?« wollte Hagen wissen.

»Das wirst du schon sehen.«

»In den Wald?«

»Du bist neugierig, Junge.«

»Nein, wißbegierig.«

Otbert schmunzelte, sagte aber nichts darauf. Sie traten durch eine niedrige Bogentür und stiegen eine enge Wendeltreppe nach oben. Hagen versuchte vergeblich, seinen Atem im Zaum zu halten, doch schon auf halber Strecke gab er auf und japste erbärmlich. Der Graf dagegen atmete trotz seiner schnellen Schritte regelmäßig und ruhig.

Sie erreichten die obere Plattform. Es war der Nordturm, wie Hagen jetzt erkannte. Ein einsamer Wächter stand hinter den Zinnen und blickte höchst erstaunt, als der Graf persönlich aus der Bodenluke stieg.

»Warte unten auf uns«, wies Otbert ihn an.

Der Wachtposten salutierte mit seiner Lanze, dann eilte er durch die Luke nach unten - nicht ohne Hagen vorher einen fragenden Blick zuzuwerfen.

Als die beiden allein auf dem Turm standen, hob Otbert langsam den Arm und wies hinauf in den Nachthimmel.

»Sieh, mein Junge, der Vollmond.«

Hagens Blick folgte Otberts ausgestrecktem Zeigefinger. Strahlend weiß und kugelrund hing der Mond in der Schwärze.

»Bevor dir irgend jemand anders davon erzählt, will ich dir etwas verraten«, sagte Otbert. »Ich weiß, daß hinter meinem Rücken darüber geflüstert wird, doch auch das gehört zum Leben eines Kriegers: Kümmere dich nie um das, was andere über dich sagen mögen.«

Hagen nickte und tat sehr überzeugt von des Grafen Rede. In Wahrheit wunderte er sich, worauf Otbert hinaus wollte. Wiewohl, er stellte keine Fragen, sondern wartete geduldig ab.

»Der Mond ist der älteste Feind der Menschheit«, erklärte Otbert voller Überzeugung. »Viele wissen es nicht, oder sie wollen es nicht wahrhaben. Dennoch gibt es keinen Zweifel, daß es so ist. Der Mond ist unser Feind, er will uns Böses, wo er nur kann. Er weckt Triebe und Gelüste in uns, die uns von Natur aus fremd sind. Er will uns weh tun, und er jubelt stumm, wenn es ihm gelingt. Er lockt die Flut aus den Meeren, läßt das Wasser steigen, bis es ganze Landstriche verschlingt. Er läßt uns nicht schlafen, und manche von uns zieht er magisch an.«

Hagen lauschte mit offenem Mund. Erzählte man sich deshalb, Otbert von Lohe sei verrückt? Er konnte sich vage erinnern, daß Bärbart einmal ähnliche Dinge über die Macht des Mondes gesagt hatte.

Otbert setzte sich zwischen zwei Zinnen und blickte Hagen eindringlich an. »Du hast meine Töchter gesehen. Dir ist etwas an ihnen aufgefallen, nicht wahr?«

»An Euren Töchtern?« stammelte Hagen. Liebe Güte, sollte er sich vorhin doch nicht schnell genug abgewandt haben? Hatte der Graf erraten, was er für Malena empfand?

»Red’ nicht drumherum, Junge, und gib mir eine Antwort.« Immer noch war der Blick des Grafen ernst und düster.

Hagen dachte, daß er Otbert Ehrlichkeit schuldete, auch dann, wenn es unangenehm war, die Wahrheit auszusprechen. »Nun, Nane wird sicher einmal ein hübsches Mädchen, und Malena ist jetzt schon... sie ist, nun ja, wunderschön...« Er spürte, wie sein Gesicht rot anlief.

Der Graf hob die rechte Augenbraue so hoch, daß Hagen schon glaubte, sie würde jeden Augenblick gegen seinen weißen Haaransatz stoßen. Dann, völlig unvermutet, überkam den alten Krieger Heiterkeit.

»Ach, mein Junge, die Frauen verdrehen uns Männern die Köpfe wenn sie nur mit den Schultern zucken. Sie mögen sich nichts dabei denken, aber wir... ja, wir werden ihr Lächeln nicht mehr los.« Er brach ab, als ihm klar wurde, daß er eigentlich auf etwas ganz anderes hinauswollte. »Malena ist wunderschön. Aber das meinte ich nicht.«

Hagen, der sich vor Beschämung am liebsten vom Turm gestürzt hätte, wich dem Blick des Grafen aus. »Dann meint Ihr ihre Augen?«

»Allerdings.« Otbert sah an Hagen vorbei zum Mond. Um seine Mundwinkel legte sich ein Zug der Verbitterung. »Die Alten flüstern über die Augen meiner Töchter. Sie raunen sich Dinge darüber zu, auch über das Weiß ihrer Haut. Eine Vettel verkündete hinter meinem Rücken, die Kinder könnten verhext sein, und es sei für alle besser, wenn man die Mädchen fortschicke oder« - er zog scharf die Luft ein - »sie sogar töte.«

Hagen mußte unwillkürlich an das denken, was ihm selbst widerfahren war, an den grausamen Ratschlag Bärbarts, und er war drauf und dran, Otbert davon zu erzählen. Doch es stand ihm nicht zu, den Grafen zu unterbrechen.

»Ich habe die Alte verbrennen lassen«, fuhr Otbert fort. »Vorher brachte ich sie dazu, ihre Worte zu widerrufen. Seitdem höre ich nur noch wenig von dem, was gemunkelt wird, aber ich habe keinen Zweifel, daß die alten Vorurteile immer noch genährt werden.« Er zog Hagen an der Schulter herum, damit ihnen beiden das weiße Licht des Mondes geradewegs in die Gesichter fiel. Hagen erschrak, riß sich aber zusammen. »Schuld an allem ist nur der Mond«, sagte Otbert.

»Wie meint Ihr das?«

»In der Nacht, als Malena geboren wurde, schien der Vollmond vom Himmel. Und es war genauso, als Nane zur Welt kam. Beide sind Mondkinder, verstehst du?«

Hagen verstand nicht, nickte aber trotzdem.

»In manchen Nächten steigen Malena und Nane aus ihren Betten und wandeln schlafend durch die Burg. Es zieht sie zum Mond hinauf, sie geistern durch die Flure und Hallen, bis sie ein Fenster finden, durch das der Mondschein hereinfällt. Dort stehen sie dann die ganze Nacht, lächeln verträumt zum Mond empor und baden in seinem Licht. In einer Nacht wurde die Gräfin von den Wachen alarmiert: Malena tanzte nackt auf den Zinnen der Burg, schien niemanden wahrzunehmen, und als Laurine sie weckte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Sie wußte nicht einmal, wie sie hinauf auf die Mauern gekommen war.«

Die Vorstellung jagte Hagen einen warmen Schauer über den Rücken. Er fragte sich, weshalb Graf Otbert ihm überhaupt davon erzählte. Wollte er ihn nur auf mögliche Seltsamkeiten vorbereiten, die er in der Burg erleben mochte?

Otbert packte Hagen an beiden Schultern. »Bevor du ein wahrer Krieger wirst und mit Schwert und Axt auf die Schlachtfelder ziehst, sollst du wissen, daß kein Feind in Menschengestalt die Bösartigkeit des Mondes übertrifft. Er ist unser ewiger Widersacher, unser Gegner jetzt und immerdar.«

Er ließ Hagen los, packte seinen Bogen und zog einen Pfeil aus dem Köcher. In einer einzigen, blitzschnellen Bewegung legte er den Pfeil auf die Sehne, spannte die Waffe und zielte geradewegs auf den Vollmond.

»Was -«, begann Hagen verwirrt, doch Otbert unterbrach ihn:

»Still«, zischte er. »Sieh einfach nur hin.«

Der Graf ließ die Sehne los, der Pfeil surrte hinaus in die Nacht, genau auf die Mondscheibe zu. Hagen sah, wie er im Zentrum des weißen Lichtes verschwand.

»Getroffen!« rief Otbert aus, doch in seiner Miene war keine Freude. »Ich treffe ihn immer, wieder und wieder. In jeder Vollmondnacht schieße ich ihm einen ganzen Köcher voller Pfeile in sein verfluchtes leuchtendes Herz, und doch ist es mir nie gelungen, ihn vom Himmel zu holen.«

»Kann denn ein Pfeil bis zum Himmelszelt fliegen?« fragte Hagen verwundert.

»Diese hier schon.« Otbert griff stolz zum Köcher und zog einen zweiten Pfeil hervor. »Ich habe sie von einem alten Waffenmacher anfertigen lassen. Es sind die besten und zielsichersten Pfeile, die die Welt je gesehen hat. Ich habe noch nie ein Ziel damit verfehlt.«

»Dann sind es magische Pfeile?«

»Mir jedenfalls scheinen sie so. Der Mann, der sie hergestellt hat, ist lange tot, und jene in meiner Waffenkammer sind die letzten aus seiner Werkstatt. Ich benutze sie nur noch, um den Mond damit zu verletzen, zu nichts anderem.«

»Aber wenn sie nie fehlgehen, wäre es dann nicht gut, sie zur Jagd zu verwenden?«

Otberts Züge verhärteten sich, als er abermals auf den Vollmond zielte. Einen Augenblick später schien auch der zweite Pfeil im Zentrum des Mondlichts zu verglühen.

»Keine Jagd ist wichtiger als die auf den Mond«, sagte der Graf voller Überzeugung, während er schon zum dritten Pfeil griff. »Kein Krieg ist nötiger. Kein Kampf ehrenvoller. Töte den Mond, und du tötest den Feind jedes Menschen.«

»Aber wenn ihn all Eure Pfeile nicht zerstören können, was bleibt da noch für eine Möglichkeit?«

»Es gibt nur den nächsten Versuch. Und den übernächsten. Und den darauf. Immer und immer wieder.« Otbert lächelte kühn. »Irgendwann werde ich ihn besiegen.«

Pfeil um Pfeil schoß er nun zum Mond empor, und vom Turm aus sah es tatsächlich aus, als treffe jeder genau ins Ziel.

Hagen brauchte eine Weile, ehe er all seinen Mut gefaßt hatte und fragte: »Habt Ihr je versucht, einen Faden an einen Eurer Pfeile zu binden?«

»Warum sollte ich das tun?«

»Um gewiß zu sein, daß sie ihr Ziel wirklich erreichen.«

Otbert dachte nach. »Welcher Faden könnte so lang sein?«

Eine berechtigte Frage, gestand Hagen sich ein, und schalt sich selbst einen Esel für seinen dummen Vorschlag.

Fortan schwieg er und sah zu, wie Otbert seinen Köcher leerte.

Schließlich, zwischen zwei Schüssen, sagte der Graf: »Du kannst jetzt zurück in deine Kammer gehen, Junge. Deine Lektion ist für heute beendet.«

Darauf verabschiedete sich Hagen geschwind und kletterte durch die Falltür. Von unten blickte er noch einmal zu dem Krieger hinauf, sah zu, wie Otbert einen Pfeil nach dem anderen in den Himmel schoß, um jedesmal genüßlich den Mund zu verziehen, wenn er seinem Erzfeind gefiederten Stahl in den Glutleib jagte.



Bald schon setzte das Vergessen ein.

Hagen ging nicht mehr hinab zum Ufer, er wurde die meist Zeit im Innenhof der Festung geschult. Die Ausritte an der Seite des Stallmeisters führten ihn tiefer ins Hinterland der Burg, durch die Weinberge und grünen Hügel, über ihre Gipfel und Kämme hinweg auf die andere Seite. Wenn er aus dem Fenster seiner Kammer sah, dann blickte er hinaus auf die Wälder, nicht auf den Fluß, und kaum jemand, mit dem Hagen zu tun hatte, erwähnte den Strom am Fuße des Felsens, kaum jemand ging gar selbst dort hinunter. In der Burg galt der Rhein kaum mehr als jedes Weizen- oder Rübenfeld, man labte sich nicht an seinem Anblick und überließ es den Fischern, seine Schätze zu bergen.

So kam es, daß Hagens Furcht vor dem Fluß in immer weitere Ferne rückte. Es war aber kein völliges Vergessen. Hagen entsann sich sehr wohl seiner Abmachung mit den Wasserfrauen, des Tributes, den sie verlangt hatten - und ihrer Drohung. Doch je länger sein letztes Opfer zurücklag, desto diffuser wurde auch seine Erinnerung daran. Er schob seine Ängste von sich, fühlte sich in der Burg sicher und geborgen, und obgleich er sich sagte, es müsse bald an der Zeit für ein neues Goldopfer sein, so ließ er doch den rechten Zeitpunkt verstreichen.

Ein voller Mond verging, ohne daß Hagen sich an seinen Handel mit den Wasserfrauen hielt, ein zweiter brach an, und nichts geschah. Keine Racheengel mit Gesichtern aus Wasserstrudeln, keine zürnenden Geister, die über ihn und die seinen kamen. Hagen gewann die Gewißheit, daß ihm der Fluß nichts mehr anhaben konnte, seit er ihn mied. Die Worte der Wasserfrauen waren nichts als leere Drohungen gewesen.

Der dritte Mond ging über der Burg auf, und Hagen glaubte allmählich sicher sein zu dürfen, daß Malena seine Zuneigung erwiderte. So faßte er sich schließlich ein Herz und bat sie scheu um einen gemeinsamen Ausritt. Malena tat, als überlege sie einen Augenblick, dann stimmte sie zögernd zu. Nicht gerade stürmisch, dachte Hagen, aber das mochte in ihrer zarten Natur liegen. Es war völlig unmöglich, sich dieses verletzliche Geschöpf in einem Zustand von Euphorie oder nur verhaltenem Jubel vorzustellen. Ihr ganzes Wesen war leise und zurückhaltend, lautlos waren sogar ihre Schritte, und oft stand sie ganz unvermittelt neben einem, ohne daß man ihr Nahen bemerkt hätte.

An einem Herbstnachmittag, gegen Ende seines dritten Mondes in der Burg, sattelte Hagen ihre Pferde, und wenig später schon ritten sie Seite an Seite durch die rotgelbe Pracht der Wälder. Malenas Mutter hatte den Ausflug gestattet und den beiden sogar zugestanden, auf Wachen zu verzichten. Sie nahm wohl an, daß die zarte Malena über genügend innere Stärke verfügte, den Schmeicheleien des stürmischen Hagen zu widerstehen.

Sonnenstrahlen fielen durch das Laubdach der Wälder, während sich die beiden langsam von der Festung entfernten. Malena wurde mit jedem Schritt, der sie von der Burg fortbrachte, gesprächiger. Das Herbstlicht färbte das Weiß ihrer Wangen golden und ließ sie gesünder als sonst erscheinen. Sie gestand Hagen, daß sie bislang das Sonnenlicht gemieden habe, ohne besonderen Grund, einfach so, daß sie nun aber froh sei, es an seiner Seite wiederzuentdecken.

Hagen schmeichelte das sehr, obgleich er sie nicht wirklich verstand - vielleicht war er bereits zu sehr Krieger, um die feinsinnigen Empfindungen junger Edeldamen nachzuvollziehen. Sein Blick hing gebannt an Malenas Lippen, an ihrem Körper, der hellen Schimmerflut ihres Haars. Während sie über die Schönheit der Bäume sprach und über die Tatsache, daß diese Schönheit doch nur verschleiere, daß gerade ein großes Sterben - das des Laubes - im Gange war, hatte Hagen nur Augen für sie selbst. Freilich, wenn sie auf einen besonders schön gefärbten Baum wies, dann folgte sein Blick ihrem Wink, doch in Wahrheit sah er dabei nicht den Baum, sondern nur Malenas Elfenfinger.

Er ertappte sich dabei, daß er die meiste Zeit über schwieg und einfach nur lauschte, was sie zu sagen hatte. Er genoß, wie sie aus sich herausging, Schale um Schale ihrer Zurückhaltung abwarf und ihm einen Blick auf die wahre Malena gestattete, ein aufgewecktes, auf seine Art sogar heiteres Mädchen, das sich - vielleicht aufgrund der Vorurteile anderer - freiwillig in ein Gefängnis der Stille und Weltflucht zurückgezogen hatte. Hagen nahm sich insgeheim vor, ihr bei der Befreiung aus diesen Fesseln zu helfen - falls sie seine Hilfe annehmen wollte.

Es dämmerte bereits, als sie beschlossen, zur Burg zurückzukehren. Malena schien ein wenig erschrocken, als ihr klar wurde, wie spät es bereits war, und Hagen hatte ein schlechtes Gewissen; er hatte den heraufdämmernden Abend sehr wohl bemerkt, jedoch nichts gesagt, um das Zusammensein mit Malena so lange wie möglich auszudehnen.

»Werden deine Eltern wütend sein?« fragte er.

»Mutter nicht«, erwiderte Malena und hieb ihrem Pferd die Fersen in die Flanken, »aber bei Vater kann man nie sicher sein.«

Das hatte Hagen befürchtet, und es machte ihn bange. Bislang war er von Otberts Zorn verschont geblieben, doch er hatte von anderen gehört - vor allem von den Stalljungen -, daß die Wutausbrüche des Grafen das Ausmaß von Unwettern annehmen konnten. Wer sich nicht schnell genug in Sicherheit brachte, den trafen sie mit schrecklicher Gewalt.

Da sagte Malena: »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde sagen, wir hätten uns verirrt. Ich bin so selten hier draußen, daß mir jeder glauben wird, wenn ich behaupte, ich hätte mich nicht mehr an den rechten Weg erinnert.«

»Ich habe keine Angst«, empörte sich Hagen.

»Natürlich nicht.«

»Glaubst du mir nicht?«

»Oh, sicher doch. Du hast bestimmt keine Angst.«

Er wußte, daß sie ihn ärgern wollte, und sogar daran erfreute er sich. Wer hätte gedacht, daß Malena ihm einmal solche Aufmerksamkeit entgegenbringen würde?

Als sie den Hügelkamm erreichten, von dem aus sie die Burg sehen konnten, war es beinahe dunkel geworden. Die laue Wärme des Tages wich, und die Kälte der Nacht kroch aus ihren Verstecken hervor.

»Es wird windig«, sagte Malena und raffte ihren Mantel enger um den zerbrechlichen Leib.

Hagen nickte zustimmend. In Wahrheit aber schien es ihm, als sei der Wind nicht ganz so plötzlich aufgekommen, wie Malena glaubte - vielmehr vermeinte er, der Wind habe vor ihnen auf sie gewartet. Schon von weitem hatte er gesehen, wie sich rund um die Burg die Baumkronen beugten, lange bevor Malena und er etwas davon zu spüren bekamen.

Malena war mit einemmal beunruhigt. »Was ist da los?« fragte sie verunsichert und deutete voraus zur Festung.

Finster hob sich das Gemäuer vom Abendrot ab. In keinem der Fenster brannte Licht, als hätte der Wind alle Fackeln ausgeblasen.

Malena wollte ihr Pferd erneut zum Galopp antreiben, doch Hagen stellte sich ihr in den Weg. »Laß mich vorausreiten«, sagte er und gab sich Mühe, seinen Zügen Entschlossenheit zu verleihen.

»Warum?« Ihre Stimme war eine Spur zu schrill. Ein Anflug von Panik schwang darin mit, in ihren roten Augen glomm ein zorniger Funke. »Weshalb sollte das nötig sein?«

Hagen verkniff sich eine Erklärung und sagte noch einmal: »Laß mich erst nachsehen. Bitte, Malena, warte hier auf mich.«

Ihr Pferd tänzelte, als es von der Unruhe seiner Herrin angesteckt wurde. Plötzlich trat Malena dem Tier in die Seiten, so daß es einen gewaltigen Satz nach vorne machte. Hagen konnte sein eigenes Pferd gerade noch zur Seite reißen, da sprengte Malena auch schon an ihm vorüber. Mit wehendem Kleid und flatterndem Umhang raste sie den Hügel hinunter, durch die Weinberge und auf die Burg ihrer Väter zu.

Hagen brüllte ihr hinterher, sie möge stehenbleiben, dann trieb er fluchend sein Tier zum Galopp. Im Abstand von zehn Mannslängen jagte er hinter ihr den Weg hinab, umwabert vom Rot der Abenddämmerung.

Als sie die Kluft rund um die Burg fast erreicht hatten, da war es Hagen, als höre er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Flüstern der Strömung, tief unten aus dem Tal herauf. Sie klang nicht länger verspielt oder höhnisch. Jetzt loderte eine Wut in ihr, die verzehrender war, als jede, die ein Mensch hätte fühlen können.

Da wußte Hagen, daß er Malena verlieren würde, wenn er sie nicht vor der Zugbrücke aufhielt.

Gellend rief er ihren Namen, doch sie dachte gar nicht daran, ihr Pferd zum Stehen zu bringen. Die Hufe wirbelten Schmutzfontänen auf, Schweif und Mähne wehten genauso wie Malenas weißblondes Haar. Noch zwanzig Schritte, dann war sie an der Kluft. Die Zugbrücke war heruntergelassen und unbewacht. Das hohe Tor dahinter klaffte schwarz wie ein schreiender Schlund.

Hagen trieb sein eigenes Pferd zu noch größerer Eile an. Aber er erkannte auch, daß es zu spät war, um Malena jetzt noch einzuholen. Das Mädchen preschte über die Zugbrücke, mit einer Entschlossenheit, die er ihr nicht zugetraut hätte. Augenblicke später war sie im Dunkel der Burg verschwunden.

Hagen schloß die Augen und folgte ihr blindlings. Er wußte genau: Was hier geschehen war - und noch geschehen würde -, war ganz allein seine Schuld. Wenn es eines gab, das er noch tun konnte, so war das, Malenas Leben zu retten.

Der Innenhof war menschenleer. Spuren aus Nässe und Wasserlachen trafen sich sternförmig in seiner Mitte, dort wo der alte Burgbrunnen stand. Was auch immer geschehen war, es hatte dort seinen Anfang und sein Ende genommen.

Malena stieg vom Pferd. »Mutter!« schrie sie laut zu den finsteren Gebäuden hinüber. »Vater!« Ihre Stimme hallte schrill von den Steinwänden wider.

Keiner gab Antwort.

»Wo seid ihr alle?« Malenas Gesicht war eine Maske der Verzweiflung. Sie fuhr zu Hagen herum, blickte ihm entgegen, als er durch den Torbogen preschte. »Was ist denn nur passiert?« Es klang flehentlich, als könnte Hagen das Unaussprechliche ungeschehen machen.

Auch er sprang vom Pferd, lief auf sie zu. Die beiden Tiere wieherten schrill, als hätten sie in den Schatten etwas wahrgenommen. Plötzlich warfen sie sich herum und galoppierten in heilloser Panik aus dem Tor. Hagen und Malena blieben allein auf dem verlassenen Burghof zurück.

»Ich weiß es nicht«, log er im Näherkommen. »Aber wir müssen hier weg!«

»Weg?« Ihre Züge bebten, Tränen flossen über ihre Wangen. Auch Hagen begann zu weinen.

»Sie müssen doch irgendwo sein«, schluchzte Malena.

Schlagartig drehte sie sich um und rannte quer über den Hof zum Haupthaus. Die doppelflügelige Tür stand offen.

Diesmal aber war Hagen schneller. Er erreichte sie, bevor sie in den Schatten des Hauses trat, riß sie zurück, hielt sie fest.

»Was immer das getan hat«, keuchte er atemlos, »es ist bestimmt noch in der Nähe.«

»Das was getan hat?« brüllte sie ihn an. Es war der Moment, in dem sie begriff, daß er mehr wußte, als er zugeben wollte.

»Sie sind fort, das siehst du doch«, gab Hagen zurück. Malena versuchte sich loszureißen, doch er hielt sie eisern fest und verachtete sich dafür. Es war, als täte er ihr Gewalt an.

»Ich will nachsehen!« schrie sie ihn an - und stieß zugleich das Knie vor!

Hagen wurde im Unterleib getroffen, bekam einen Moment lang keine Luft mehr und löste seinen Griff um ihre Arme. Malena schwankte erschöpft herum, stürmte weiter zur Tür.

»Nicht!« schrie Hagen hinter ihr her, doch abermals sah er sie im Dunkel verschwinden.

Er nahm all seine Kraft zusammen und taumelte hinter ihr auf das Haupthaus zu, der aufgerissenen Doppeltür entgegen. »Malena!« rief er immer wieder. »Malena!«

Sie aber gab keine Antwort. Er hört ihre leichten Schritte in den fernen Gängen, den Hall ihres Atems, ihre Rufe nach Mutter und Vater und anderen Vertrauten.

Doch als er selbst in die Finsternis des Gemäuers trat, da verstummten die Laute. Keine Schritte mehr, kein Atem, keine Rufe.

Verzweifelt lief er in die Richtung, aus der die Geräusche zum letzten Mal erklungen waren. Überall auf den Gängen, auf Treppenabsätzen und in den verlassenen Hallen traten seine Füße in Wasserpfützen. Er riß eine der erloschenen Fackeln aus ihrer Halterung, um sie als Knüppel zu benutzen; sie triefte vor Nässe. Es war so finster, daß er kaum mehr sehen konnte, wohin er seine Füße setzte, aber es war nicht die Dunkelheit, die ihm solche Furcht einjagte.

Immer wieder rief er Malenas Namen, doch sie antwortete nicht. Fast blind vor Tränen lief er durch die Festung, stieß Türen auf, blickte Treppenfluchten hinab, schrie in jeden Saal, in jede Kammer.

Es dauerte lange, ehe er sich die Wahrheit eingestand.

Malena war fort wie all die anderen.

Seine taumelnde Suche brachte ihn irgendwann zurück zum Eingang des Haupthauses. Durch Tränenschleier blickte Hagen nach draußen. Der Vollmond war aufgegangen und überzog den Innenhof mit silbrigem Glanz.

Am Rande des Brunnens standen drei Gestalten. Eine von ihnen hielt einen leblosen Körper im Arm.

Hagen kämpfte gegen seine Erstarrung an, trieb sich selbst unter Aufbietung aller Kräfte vorwärts. Die Fackel fiel aus seiner Hand, polterte zu Boden. Er brauchte sie nicht mehr.

»Was... was habt ihr getan?« stammelte er mit erstickter Stimme.

Die drei Wasserfrauen blickten ihm stumm entgegen. Ihre Gesichter lagen im Dunkeln, obgleich da nichts war, das den Schatten hätte werfen können. Eine von ihnen stand hoch auf der Ummauerung des Brunnens, sie trug die reglose Malena in den Armen. Die beiden anderen standen rechts und links von ihr am Boden.

»Bitte!« flehte Hagen. »Tut ihr nichts! Sie will doch niemandem etwas Böses!«

Der Mond spiegelte sich in der Wasserlache, die sich rund um die Frauen angesammelt hatte. Sein Abbild erbebte, als eine von ihnen mit einem grotesk weiten Schritt auf die Brüstung trat. Die letzte tat es ihr gleich, dann standen sie alle auf der Mauer, ihre Rücken dem Brunnenschacht zugewandt.

»Bitte!« rief Hagen noch einmal. »Ich tue alles, was ihr verlangt. Es muß Gold in der Burg geben, viel Gold. Der Fluß kann es haben. Aber, bitte, laßt mir Malena!«

»Gold«, wiederholte eine der Frauen abfällig. Es klang, als speie sie ihm vor die Füße.

Jene, die Malena hielt, drehte sich um und machte einen Schritt in den Brunnen, als sei dort eine unsichtbare Treppe, die in die Tiefe führte. Stufe um Stufe verschwand die Kreatur mit ihrem Opfer im Schacht.

»Nein!« Hagen hörte sich selbst wie einen Fremden aufschreien. Er stürmte vor, bereit, mit bloßen Händen auf die Wasserfrauen loszugehen. Er würde nicht zulassen, daß sie Malena forttrugen wie all die anderen!

Die erste Frau war schon im Abgrund des Brunnens versunken, die zweite folgte ihr. Jene aber, die noch auf der Ummauerung stand, hob eine Hand und streckte sie Hagen in einer herrischen Geste entgegen.

»Sie ist tot«, peitschte ihre Stimme über den Hof. »Alle sind tot.«

Wenige Schritte vor dem Brunnen kam Hagen zum Stehen.

Die letzte Wasserfrau wandte sich um, stieg in die Tiefe. Noch einmal drehte sie ihr Gesicht zu ihm um, das lange Haar öffnete sich wie ein Vorhang, die Schatten verdampften - zu kurz, als daß sie ihr Geheimnis offenbart hätten.

Hagen wandte die Augen ab. Stumm brach er zusammen, nicht bewußtlos, aber bar jeden Lebensmutes.

Die Frau folgte ihren Schwestern ins Dunkel.

Hagen hob das Gesicht. Der Hof lag leer im Mondlicht.

Als endlich der Morgen dämmerte, stolperte der Junge auf die Beine, suchte im Haus nach Waffen, nach Rüstzeug und Langbogen, fand Otberts Mondpfeile in der Waffenkammer und rüstete sich wie ein Krieger. Dann trat er aus dem Tor, wanderte hinaus in die Berge. Zurück blieben der Brunnen, die Brücke, die Burg. Seine Jugend.


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